Erzählen als Lügen: Die 131/2 Leben des Käpt n Blaubär von

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Erzählen als Lügen: Die 131/2 Leben des Käpt n Blaubär von
Erzählen als Lügen:
Die 13 1=2 Leben des Käptn Blaubär von Walter Moers
Hans-Edwin Friedrich
Das Romandebüt des bis dahin als Zeichner und Cartoonist bekannten Walter
Moers im Jahr 1999 war eine Überraschung. Dass ein Fantasy-Roman1 im Feuilleton besprochen wird, ihm sogar der SPIEGEL eine lange, überaus positive
Rezension widmet, gehört nicht gerade zu den Gepflogenheiten des Metiers. Die
Titelfigur des Romans hatte immerhin schon ein langes und wechselvolles
Schicksal in Kindermedien hinter sich. Moers Geschichten um Käptn Blaubär
waren ursprünglich für Das Sandmännchen geschrieben; später spannen sie andere Autoren, darunter Bernhard Lassahn, für Die Sendung mit der Maus weiter:
Da war zuerst die Erfindung von Walter Moers, der die ersten Blaubär-Geschichten
vorgelegt hat. Da waren weitere Geschichten von mir und Rolf Silber – ein Name, bei
dem natürlich jeder gleich an Long John Silver denkt. Da waren Zeichnungen von
Matthias Siebert, der die Helden so sympathisch zeigt, dass wir alles verzeihen. Nicht
zuletzt his masters voice, die Stimme des Bären: Wolfgang Völz. Später kamen noch
Rätselfragen von Bernd Flessner dazu und neuerdings für den ›Käptn-Blaubär-Club‹
Autoren aus dem Umfeld der Satirezeitschrift Titanic. Fertig war der Bär.2
Moers hatte die Rechte für Käptn Blaubär an den WDR verkauft, die weitere
Entwicklung der Figur dann aber eher verdrossen verfolgt:
Nein, beim Blaubär habe ich schon lange nichts mehr zu melden, da geht der WDR seine
eigenen (seufz!) unerfindlichen Wege. Neuerdings tritt der Blaubär mit zwei »Komikern« auf, deren Niveau ungefähr auf der Höhe von Schlammcatchen liegt.3
Für den Roman konzipierte Moers die Figur neu; er löste sie aus dem kinderliterarischen Kontext heraus und eignete sie sich in einem Akt der Piraterie wieder
1 Zur Gattungsdefinition vgl. Helmut Pesch: Fantasy. Theorie und Geschichte einer
literarischen Gattung. Passau 21984, S. 19 ff.; Hans-Edwin Friedrich: »Was ist Fantasy?
Begriff – Geschichte – Trends«, in: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinder- und
Jugendliteratur (2004), H. 1, S. 4 – 8.
2 Bernhard Lassahn: »Die Wahrheit über den berühmtesten Seebären«, in: http://
www.bernhard-lassahn.de/L/VENTANA—blauer_baer.html (gesehen am 31.10.07; um
Druckfehler bereinigt).
3 Walter Moers im Interview in: Falter Nr. 17 vom 23. April 2003.
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an. Die 13 1=2 Leben des Käptn Blaubär eröffnet die Reihe der Zamonien-Romane, zu denen bislang Ensel und Krete, Rumo, Die Stadt der träumenden Bücher
und Der Schrecksenmeister gehören. Zamonien ist eine Fantasy-Welt; die Romane unterscheiden sich von den gängigen Fantasy-Zyklen aber durch das ausgeprägte Formbewusstsein ihres Autors:
Bei der Arbeit am ersten Roman kam mir die fixe Idee für eine Buchreihe, bei der
eigentlich nicht die Protagonisten, sondern der Ort, an dem die Handlung spielt, der
eigentliche Held sein soll. Auf dieser Folie sollen unterschiedliche Genres und Literaturformen ausprobiert werden. Das erste war ein barocker fantastischer Roman, das
zweite eine Märchenparodie, »Rumo« ist ein Abenteuerroman, das nächste Buch wird
die Horror- und Schauerliteratur zur Grundlage haben, das übernächste die ScienceFiction, wenn ich so weit komme.4
Jeder dieser Romane greift ein anderes Gattungsmodell auf und stellt nicht die
jeweilige Hauptfigur (Käptn Blaubär, Ensel und Krete, den Wolpertinger Rumo,
Hildegunst von Mythenmetz und das Krätzchen Echo), sondern Zamonien ins
Zentrum. Das Formkalkül zeigt sich u. a. an der Gestaltung der Bücher. Moers hat
nicht nur den Text geschrieben, sondern auch Paratexte, Typographie und Illustration bis hin zum Schutzumschlag gestaltet:
Ich lege viel Wert darauf, dass meine Bücher in der gesamten Erscheinung stimmig sind.
Das geht vom Umschlagpapier über die Typographie bis zur Ausgewogenheit des Verhältnisses von Text und Illustration oder zur Farbe des Lesebändchens.5
I.
Die Kindergeschichten folgen einem zweischichtigen Schema: Ein Rahmen exponiert die Situation des mündlichen Erzählens, in der Käptn Blaubär seinen
beiden Neffen und seiner Nichte – offenbar Drillinge wie die Neffen Donald
Ducks – im Beisein des Matrosen Hein Blöd zum Einschlafen Geschichten erzählt, in denen er Erlebnisse aus seiner aktiven Zeit als Seemann zum Besten gibt.
Seine Erzählungen sind handwerklich solides Seeemansgarn, das die Kinder
aufgrund der Abenteuerlichkeit und Farbenprächtigkeit aller Geschichten fasziniert, der Zweifelhaftigkeit des Erzählten wegen aber auch skeptisch und belustigt verfolgen. Die Geschichten Blaubärs sind bramarbasierende Lügengeschichten. Der Roman übernimmt diese Grundsituation, lässt aber alle anderen
Figuren beiseite. Käptn Blaubär bewohnt ein »Haus auf einer hohen Klippe«,
4 Walter Moers im Interview in: Falter Nr. 17 vom 23. April 2003.
5 Walter Moers im Interview in: http://www.literaturschock.de/autorengefluester/
000085 (gesehen am 24.10. 07).
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»ein immer noch seetüchtiges Schiff«6, und schreibt seine Erinnerungen an eine
Hälfte seines Lebens. Die Grundsituation ist verändert, da an die Stelle mündlichen Erzählens im kleinen Kreis mit klarer Adressierung an bekannte Zuhörer
jetzt die Situation schriftlichen Erzählens für ein anonymes Publikum tritt. Der
Rahmen wird im Vorwort nur skizziert, am Ende des Buches noch einmal aufgegriffen; ansonsten kommt er im Verlauf der Erzählung nicht weiter zur Sprache.
Der Rahmen gibt den Gattungsbezug deutlich zu erkennen: die bis auf Lukian
von Samosata zurückreichende voyage imaginaire und Lügenliteratur. Ahnherr
des Käptns ist der Freiherr von Münchhausen, der seine Erlebnisse »bey der
Flasche Wein im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt«.7 Erzählende
und erzählte Figur sind hier zwar identisch, in ihren Lebensumstände jedoch
diametral verschieden: Das Leben des erzählenden Münchhausen scheint vollkommen ereignislos sich nur im Akt des Erzählens abzuspielen (nichts an seinem
Alltag ist offenbar berichtenswert) – der Erzähler ist der alte Münchhausen, der
die (gelogenen) Erlebnisse bestanden hat, während der Erzählte als junger
Münchhausen der Held der unglaublichen Abenteuer ist. In der Lügenliteratur
bleibt diese Konstellation häufig, aber nicht grundsätzlich (wie in Karl Immermanns Münchhausen, Paul Scheerbarts Münchhausen und Clarissa, dem unter
Regie von Josef von Baky nach einem Drehbuch Erich Kästners entstandenen
Film Münchhausen oder den Adventures of Baron Munchhausen von Terry Gilliam) unausgestaltet.8
Einzelne Motive und Handlungselemente sind bei Moers übernommen, etwa
der Aufenthalt auf der Feinschmeckerinsel (76 ff.), der auf die Erzählung
Münchhausens vom Aufenthalt auf der Käseinsel zurückgreift, die ihrerseits in
einer langen Tradition von Schlaraffendichtungen steht.9 Typische Münchhausiaden sind etwa, dass sich Blaubär mittels eines gezielten Tränenstrahls aus dem
6 Walter Moers: Die 13 1=2 Leben des Käptn Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen
eines Seebären, mit zahlreichen Illustrationen und unter Benützung des »Lexikons der
erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt am Main 1999, S. 6. Zitate aus dem
Roman werden künftig mit Seitenzahl nachgewiesen.
7 Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge
und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Nach der Ausgabe von 1788. Mit
einem Anhang älterer Lügendichtungen. Hg. von Irene Ruttmann. Stuttgart 2000, S. 3.
8 Im Animationsfilm Käptn Blaubär – Der Film wird dieser Unterschied deutlich
gemacht: Der junge »Blaubär wirkt extrem jugendlich und muskulös. Er hat volles Haar
und schnauft immer noch schwer, steckt sich aber trotzdem einen Zigarillo in den
Mundwinkel« (Walter Moers: Käptn Blaubär – Der Film. Frankfurt am Main 1999, S. 3;
vgl. die Bilddarstellungen S. 5 und S. 8 f.).
9 Vgl. Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Köln
1984.
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Netz der Waldspinnenhexe befreit10, über »den Scharfblick eines Adlers« verfügen will, »der durch ein Elektronenmikroskop blickt; ich erkenne die Geschlechtszugehörigkeit einer Ameise selbst bei Dämmerung aus fünfzig Meter
Entfernung ohne technische Hilfsmittel« (344), oder aber dass er eine Fata
Morgana einfangen kann (vgl. 316 f.).
Moers greift formal auf die Tradition zurück, indem er die Erzählungen Käptn
Blaubärs als Reise über den Kontinent Zamonien arrangiert. Die einzelnen Abschnitte folgen sequentiell aufeinander, d. h. der Roman ist episodisch strukturiert. Verbindungen zwischen den Episoden werden durch die Hauptfigur hergestellt, durch einzelne wiederkehrende Figuren und Situationen oder auch durch
Analepsen. Am Schluss befindet sich Blaubär im 13. Leben erneut in der Nähe des
Mahlstroms, vor dem ihn im ersten Leben die Zwergpiraten gerettet haben und
wo das Rätsel seiner Herkunft zwar nicht aufgelöst wird, aber wenigstens einer
Lösung näher kommt. Sein Itinerar ist ein Kreis, womit sich zur Füllung der
unerzählt gebliebenen zweiten Hälfte des Lebens der Doppelweg anbietet. Dass
Käptn Blaubär, der sein Kapitänspatent während der ersten Lebenshälfte nicht
erwirbt – (weshalb die Figur der Binnenhandlung ohne Titel bleibt), in die Tradition Münchhausens gehört, erweist sich schlagend, als er sich in Atlantis im
Kampf gegen den Champion (vgl. 530 – 592) als unangefochtener Meister der
Lügengladiatoren durchsetzt.
II.
In der Binnenerzählung ist vom Lügen immer wieder die Rede. Inwiefern es sich
bei den einzelnen Erlebnissen um erlogene Geschichten handelt, ist dennoch
nicht leicht zu entscheiden. Bei den Geschichten Münchhausens kann kulturelles
und empirisches Wissen zur Beurteilung des Wahrheitsgehalts herangezogen
werden. So können wir durchaus glauben, dass er im russisch-türkischen Krieg als
Offizier gedient hat, auch wenn es keinen Beleg dafür gibt; den Ritt auf der
Kanonenkugel werden wir aus physikalischen und biologischen Gründen aber
eher bezweifeln. Diese Möglichkeit fällt bei Blaubär häufig weg, da der gesamte
Handlungsort nicht realitätskompatibel ist. Das enzyklopädische Lexikon
10 »Die zwei bis drei Sekunden, in denen meine Tränen, die an ihrem Ziel vorbeigeschossen waren, von der Blüte einer Feuerlilie abprallten, geschlossen nach oben katapultiert wurden, gegen den dünnen Ast einer Birke schlugen, der dadurch den eingeklemmten Pflanzenarm eines Farns freigab, welcher wiederum in die Höhe schoß und von
unten gegen das Dach aus Kastanienblättern schlug, die über und über mit Regentropfen
des vergangenen Finsterberggewitters bedeckt waren und dadurch an mir abregneten
wie eine kalte Morgendusche – das war sicher einer von diesen besseren Momenten. Es
war nämlich der Augenblick, in dem sich meine Hände vom Spinnennetz lösten, und das
Starsignal fiel zum Marathonrennen vom Großen Wald.« (239/241).
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Nachtigallers, der als bedeutendster Wissenschaftler Zamoniens vorgestellt wird,
könnte eine autoritative Informationsquelle sein, die das nötige Wissen vermittelt
(allerdings wird gerade Blaubärs Behauptung, er habe ein sprechendes Lexikon
im Kopf, von anderen Figuren in Zweifel gezogen). Zudem bietet es Informationen zu Phänomenen, die Bestandteil von Lügen sind und von Volzotan Smeik,
dem Impressario in Atlantis, auch so bezeichnet werden. Aber – in welchem
Ausmaß wird gelogen? Nachtigallers Lexikon hat einen Eintrag zu den Zwergpiraten (19), von denen niemand weiß und die Smeik für Phantasie hält (vgl. 530).
Gibt es Zwergpiraten, hat also Nachtigaller (bzw. das redende Lexikon in Blaubärs Kopf) recht, ist die Geschichte also wahr? Falls es sie nicht gibt, dann ist
Nachtigaller unglaubwürdig. Gibt es sie aber vielleicht doch, und Blaubär ist
ihnen nie begegnet? Vielleicht gibt es Nachtigallers Lexikon gar nicht, vielleicht
aber doch, und das, was Blaubär aus ihm zitiert, ist eine Fälschung? In den späteren Zamonienromanen wird Nachtigallers Lexikon weiter verwendet; man
könnte also annehmen, dass das Lexikon tatsächlich in Zamonien existiert – aber
für den Blaubär-Roman gilt, dass man über Status und Ausmaß der Lügen keine
verlässliche Auskunft erhält, weil wir nur das erfahren, was Blaubär erzählt. Die
Atlanter jedenfalls sind als Publikum offenbar repräsentativ. Blaubär stellt resignierend fest: »Sie glaubten mir nicht. Die Tragik meines Lebens« (649).
Zur Topik der Lügendichtung gehören demonstrative Wahrheitsbekundungen.11 Münchhausen reagiert höchst gereizt auf den Vorzeiger des Museums in
Amsterdam, dessen Vortrag »Zusätze [enthält], von denen verschiedene Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in hohem Grade beleidigen«. Denn:
Leute, die mich nicht kennen, werden durch dergleichen handgreifliche Lügen in unserem zweifelsüchtigen Zeitalter leicht veranlaßt, selbst in die Wahrheit meiner wirklichen
Taten ein Mißtrauen zu setzen, was einen Kavalier von Ehre in höchstem Grade kränkt
und beleidigt.12
Als Lügenstrafer13 exponiert sich auch Käptn Blaubär:
Ich könnte jetzt mit Leichtigkeit an dieser blutrünstigen Legende weiterstricken und von
meinem lebensgefährlichen Kampf mit dem Monstrum berichten, aber mein Leben ist
mit atemberaubenden Erlebnissen so reichhaltig ausgestattet, daß ich es nicht nötig habe,
mich an der Fälschung des Finsterbergmadenbildes in der zamonischen Öffentlichkeit zu
beteiligen. Es gibt genügend »Literatur« dieser Sorte, Bücher mit Titeln wie Wie ich die
Finsterbergmade bezwang oder Satan aus Edelstahl, in denen selbsternannte Finsterbergmadenexperten von ihren angeblichen Kämpfen mit diesem Geschöpf berichten.
11 Vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur.
München 1981, S. 51.
12 Bürger: Münchhausen (Anm. 7), S. 48 f.
13 Vgl. Werner R. Schweizer: Münchhausen und Münchhausiaden. Werden und
Schicksale einer deutsch-englischen Burleske. Bern/München 1969, S. 62 f.
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Tatsache ist, daß keiner dieser Autoren jemals die Finsterberge betreten hat und daß sie
alle ihre Informationen über dieses friedliche Geschöpf aus zweiter und dritter Hand
beziehen, meist aus irgendwelchen mündlich überlieferten Legenden oder anderen
schlechten Büchern über Eisenmaden. (190 f.)
Die serielle Abfolge der einzelnen Erlebnisse ergibt eine (Aus-)Bildungsgeschichte, in der die Fähigkeit zu lügen verfeinert wird. Die Zwergpiraten, die
Blaubär aus dem Mahlstrom retten, sind aufgrund ihrer Winzigkeit in ihrem
Metier völlig erfolglos, was sie mit »grandiosen Aufschneidereien« (19) kompensieren. »Was ich von ihnen lernte, war, daß eine gute Notlüge oft wesentlich
aufregender ist als die Wahrheit. Es ist so, als würde man der Wirklichkeit ein
schöneres Kleid geben« (19). Bei den Klabautergeistern lernt er, auf Kommando
publikumswirksam zu weinen und Gefühle vorzutäuschen. Die Tratschwellen
gelten dem »populären Irrglauben« als »wellengewordene[] Gedanken eines
gelangweilten Ozeans« (54). Sie
brachten mir bei, wie man eine Rede hält, wie man Selbstgespräche führt, und weihten
mich in die Geheimnisse der Überredungskunst ein: wie man andere in Grund und Boden
quatscht, aber auch, wie man sich selber um Kopf und Kragen quasselt. […] Ich konnte
eine Rede schwingen, einen Toast ausbringen, einen Schwur schwören (und wieder
brechen), einen Fluch ausstoßen, einen Monolog deklamieren, einen Vers schmieden, ein
Kompliment schleimen, Stuß reden und Unverständliches lallen. Ich konnte frisch von
der Leber reden, mich entrüsten, über jemanden herziehen, mir das Maul zerreißen,
andere schlechtmachen, eine Tirade ablassen, referieren, eine Predigt halten und natürlich ab jetzt auch mein Seemannsgarn spinnen. (59 f.)
In der Nachtschule des Professor Abdul Nachtigaller soll man »denken lernen,
und zwar in möglichst viele verschiedene Richtungen« (127) – mit schlagendem
Erfolg.14 In Atlantis erntet Blaubär die Früchte und bringt es in seinem zwölften
Leben zum Lügengladiator, dem »Beruf […], der meinen Qualifikationen entsprach« (498 f.).15 Noch als Zuschauer hat er sich schon seine »eigenen Lügen14 »Auf die Gefahr hin, der Prahlerei verdächtigt zu werden: Ich war ein wandelndes
Lexikon des Allgemeinwissens. Ich beherrschte alle lebenden und toten Sprachen der
damals bekannten Welt, inklusive aller zamonischen Dialekte. Und das waren immerhin
über zwanzigtausend.« (153)
15 »Lügengladiatoren, atlantische, die: Populäre Idole mit der Fähigkeit, auf publikumswirksame Weise zu lügen. Die Gladiatoren treten auf professioneller und regelmäßiger Basis im atlantischen Megather in sogenannten Lügenduellen gegeneinander an,
wobei im gegenseitigen Austausch von erdachten Geschichten um die Krone des ›Lügenkönigs‹ gerungen wird. Mit Hilfe eines nicht ganz unkomplizierten Systems wird die
Unterhaltungsfähigkeit der Duellanten vom Publikum bemessen und bewertet. Um in
dieser Branche wirken zu dürfen, bedarf es einer intensiven Ausbildung vom Lügenstift
über den Assistenzlügner bis zum diplomierten Gladiator. Die Lügengladiatoren von AtMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2010, Jg. 57, ISSN 0418-9426
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geschichten zusammenphantasiert« (547) und ist der Auffassung, dass er »das, was
ich an diesem Abend gesehen hatte, genau so gut konnte. Wenn nicht sogar
besser« (547). Was einen Lügengladiator ausmacht – und Blaubär wird, sofern
man ihm da Glauben schenken darf, der beste -, zeigt sich während des Trainings:
Man war nicht einfach so Lügengladiator, dafür bedurfte es eines ständigen und intensiven Trainings, das hatte Smeik mir eingeschärft.
Jeder kann sich hinstellen und eine platte Lüge von sich geben, das ist keine Kunst. Das
Geheimnis besteht darin, den Zuhörer an sie glauben zu lassen. Und wie jede wirklich
große Kunst besteht auch die des Lügens aus Fleiß und zahlreichen Schichten. Der Maler
streicht Schichten von farbigen Pigmenten und Launen übereinander, der Musiker
komponiert Lagen aus Melodien, Rhythmen, Stimmen und Instrumenten, der Schriftsteller fügt Wortschicht für Wortschicht übereinander, und der Lügner stapelt Lügen zum
Meisterwerk. Ein guter Schwindel muß sein wie eine solide Backsteinmauer, geduldig
Lage auf Lage gefügt und darum als Ganzes unerschütterlich.
Dazu muß man behutsam Lüge und Wahrheit mischen, Erwartungen schüren und dann
wieder enttäuschen, falsche Fährten legen, erzählerische Haken schlagen, Schleichwege
gehen und vor allen Dingen: Das Gesicht muß mitlügen. Jede noch so kompliziert gebaute Flunkerei kann durch den falschen Gesichtsausdruck zusammenstürzen. Ein falsch
plaziertes Zucken der Augenbraue, ein unsicheres Zittern des Augapfels – und das
kunstvoll gewirkte Lügengespinst ist zerrissen. Ich habe große Lügengladiatoren scheitern sehen, weil sie im falschen Augenblick geblinzelt haben. (532 f.)
Sein Engagement beim Impressario Volzotan Smeik erhält Blaubär aber nicht
durch eine Probe seines Könnens, sondern aufgrund seiner Lebenserzählung: dass
er in einer Nussschale gefunden worden sei, hält Smeik für »eine der dreistesten
Lügen, die ich je gehört habe« (530), Zwergpiraten und Klabautergeister für
»Phantasie« (530) und die Behauptung, »ein sprechendes Lexikon im Kopf« (531)
zu haben, für den Einfall eines »Naturtalent[s]« (531), so dass er ihn vom Fleck
weg engagiert. »Plötzlich wurde mir bewußt, daß die Schilderung meines Lebens
in Kurzform den Eindruck von Geisteskrankheit vermitteln mußte« (532). Seine
Lebensgeschichte verwendet Blaubär in seinem Kampf in dem Moment, da das
Duell gegen den amtierenden atlantischen Meister auf der Kippe steht:
Ich brauchte irgendeinen Anhaltspunkt, aus dem ich meine nächste Geschichte entfalten
konnte.
Ich blieb bei Smeik hängen, der mich immer noch eiskalt musterte. Mit ihm hatte alles
angefangen, ich mußte daran denken, wie er damals gelacht hatte, als ich ihm meine
Lebensgeschichten erzählte. Er hatte sie für gut ausgedachte Lügen gehalten, das war der
Anfang meiner Karriere.
lantis gehören zur Zunft der autonomen Alleinunterhalter und vereinigen in sich die
Fähigkeiten eines Komikers, Theaterschauspielers, Trickbetrügers, Samurai, SchwerACHTUNGREgeACHTUNGREwichtsACHTUNGREboxers, Schachgroßmeisters und natürlich römischen Gladiators.« (511).
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Meine Lebensgeschichten.
Moment mal.
Wenn sie Smeik gefallen hatten, wieso nicht auch dem Publikum? Er hatte einen guten
Instinkt für das, was gefragt war. Es war nicht ganz fair, denn es waren ja keine Lügengeschichten, aber wer konnte das nachprüfen? (586)
Tatsächlich kommentiert er dann den Erfolg seiner Erzählung damit, dass das
Publikum »fast vergessen [hatte], was eine gute Lügengeschichte war« (596), gibt
also den Status seiner Lebenserinnerungen offen zu erkennen. Lügen spielen für
die Handlung des Romans eine entscheidende Rolle. Mittels seiner Lügen konstruiert Blaubär aber auch eine besondere Identität:
Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt – meins nicht. Zumindest weiß ich nicht,
wie ich ins Leben gekommen bin. Ich könnte – rein theoretisch – aus dem Schaum einer
Welle geboren oder in einer Muschel gewachsen sein, wie eine Perle. Vielleicht bin ich
auch vom Himmel gefallen, in einer Sternschnuppe.
Fest steht lediglich, daß ich als Findelkind ausgesetzt wurde, mitten im Ozean. Meine
erste Erinnerung ist, daß ich in rauher See trieb, nackt und allein in einer Walnußschale,
denn ich war ursprünglich sehr, sehr klein. (11)
Blaubär greift auf einen Topos zurück, der zu den traditionellen Elementen eines
Heldenlebens gehört. Die erste Lage, an die er sich erinnert, ist »so ziemlich die
aussichtsloseste Situation […], in die man auf See geraten konnte« (14) – viele
aussichtslose Situationen werden im weiteren noch folgen. Die Erzählung ist von
Beginn an als – zugegeben halbe – Vita eines Helden angelegt.16
III.
Im Blaubär-Roman werden die Elemente der Konstruktion einer Fiktion in besonderer Weise markiert. Ihm ist ein Motto vorangestellt, bei dem es im Gegensatz zu konventioneller Mottoverwendung17 weniger auf den aphoristischen
Satz »Das Leben ist zu kostbar, um es dem Schicksal zu überlassen« als vielmehr
auf seinen Autor ankommt: Deus X. Machina (5). Ein solcher Verweis auf eine
häufig, aber nicht immer wohl angebrachte, jedenfalls technisch anspruchslose
Methode der Lösung von Handlungskonflikten ist für einen Witz etwas vordergründig und erweist sich auch bald als Kniff, da es sich bei dem Genannten um
16 Vgl. Joseph Campbell: Der Held in tausend Gestalten. Frankfurt am Main/Leipzig
1999.
17 Vgl. Grard Genette: Paratexte. Frankfurt am Main/New York 1989; Jan Erik
Antonsen: Text-Inseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis
20. JahrACHTUNGREhundert. Würzburg 1998.
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eine Figur des Romans handelt, um eine Rekursion also, die – nomen est omen –
Blaubär in letzter Sekunde vor der Gourmetica Insularis (vgl. 89) rettet:
›Äh … vielen Dank für die Rettung!‹ hörte ich mich verdattert sagen. […]
›Schon gut!‹ sagte er. ›Das ist mein Beruf.‹
›Du rettest Leben? Das ist dein Beruf ?‹ Ich war erstaunt.
›Ich rette Leben in letzter Sekunde!‹ gab der Vogel etwas prahlerisch zurück. ›Das ist
mein Beruf!‹
Er schwieg eine Weile, anscheinend um die Nachricht auf mich wirken zu lassen. ›Gestatten: Deus X. Machina!‹ stellte er sich dann vor. (93)
Das Lexikon Nachtigallers erklärt dazu, es handle sich um die zamonische Spezies
eines »Pterodaktylus Salvatus«:
Ihnen allen eigen ist der Hang, bedrohten Lebensformen aus der Gefahr zu helfen.
Dieses Ziel verfolgen die Pterodaktylen mit geradezu professionellem Ehrgeiz. Die
Rettungssaurier operieren nach einem strengen Berufskodex. Sie streben danach, ihre
Aktionen so aufregend und dramatisch wie möglich zu gestalten, sie konkurrieren sogar
untereinander, wer am längsten wartet, bevor er zur Rettung ansetzt. Deshalb verweilen
sie so lange im Trudelflug über ihren Klienten und warten mit ihrer Hilfeleistung buchstäblich bis zur letzten Sekunde. (94)
Schon die erste erzählte Situation des Romans bietet mit der Nußschale, die einem
»brüllenden Abgrund entgegen« »tanzt« (14), einen kaum zu überbietenden
Cliffhanger. Der deus ex machina ist ein Kunstgriff, der dem Anspruch auf
Wahrscheinlichkeit der Handlung kaum entspricht. Er stellt gewissermaßen einen
unwahrscheinlichen Zufall dar. Strikt realistische Konzeptionen, die die aristotelische Wahrscheinlichkeitsnorm und also Handlungskausalität vorschreiben,
lehnen ihn daher ab. Insofern ist der Pterodaktylus salvatus in technischer Hinsicht eine Möglichkeit, das durch Wahrscheinlichkeitsanforderungen eingeschränkte Feld der Handlungsführung zu erweitern, zugleich aber den Zufall zu
vermeiden. Insofern weist er darauf hin, dass eine Fiktion streng genommen
keinen Zufall kennt. Der inneren Logik einer Lügengeschichte entspricht eine
solche Lösung, die das Augenmerk auf die Konstruktion der Fiktion lenkt und sie
reflexiv verfügbar macht, zumal man dann unbekümmerter den Zufall als handlungskonstituierende Größe verwenden kann. Die Figur, der diese Funktion zukommt, ist Qwert Zuiopü, dessen Name eine an sich zufällige Buchstabenkombination darstellt, die aber durch ihre Anordnung auf der oberen Buchstabenleiste der Schreibmaschine konventionalisiert ist. Er ist »Gallertprinz aus der
2634. Dimension, […] der Besonderste von uns allen« (132). Schon seine Anwesenheit in Zamonien ist Ergebnis eines Zufalls:
›Wir werden uns mit absoluter Sicherheit nicht wiedersehen‹, sagte Qwert beim Abschiednehmen mit bewegter Stimme. ›Ich werde mich in das erstbeste Dimensionsloch
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stürzen, das ich aufstöbere, und die Chance, daß wir uns danach noch mal begegnen,
stehen 1 zu 460 Billiarden!‹
›Eins zu 463 Billiarden‹, gab ich zurück, nachdem ich dieses statistische Problem kurz im
Kopf durchgerechnet hatte. Es war wirklich sehr unwahrscheinlich, die Chance, fünfzehntausendmal hintereinander im Lotto sechs Richtige zu haben (in der gleichen Annahmestelle!), war größer. (158 f.)
Da man sich, wie schon erwähnt, bei einem Dimensionslochsturz an jedem Ort gleichzeitig befindet, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann wir uns irgendwo begegneten. Qwert kam aus der Tiefe des Weltraums schwerelos und wie in Zeitlupe auf
mich zugesegelt, wobei er sich mehrmals um die eigene Körperachse drehte. Er grinste
mich im Vorbeisegeln blöde an. Auch er befand sich offensichtlich im Zustand der Saloppen Katatonie, daher gingen wir beide mit diesem unglaublichen Ereignis sensationell
lässig um.
›Hallo, Qwert!‹ sagte ich.
›Hallo, Blaubär!‹ winkte Qwert salopp zurück.
Dann segelte er weiter auf die Rigel-Sternennebel zu, während ich in die entgegengesetzte Richtung rauschte. Nach diesem ungeheuerlichen Zufall war es nun tatsächlich
komplett unmöglich geworden, daß wir uns jemals irgendwo wiedersehen würden, jedenfalls nach den allgemeinen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. (259)
Da Zufälle mittels der Wahrscheinlichkeitsrechnung mathematisierbar sind, gibt
es entsprechende Steigerungsmöglichkeiten. Blaubär tut dies, indem er beansprucht, letztlich Verursacher von Qwerts Schicksal zu sein:
Nicht Qwert war gestolpert, wie er immer geglaubt hatte, sondern ich. Ich war verantwortlich dafür, daß er in unserer Dimension landete. Wahrscheinlich rein rechnerisch das
unmöglichste Ereignis des Universums – das würde mir kein Mensch glauben (264).
Mit einer solchen kausalen Motivierung, die allerdings wieder einen unmöglichen
Zufall voraussetzt, ist zumindest dieser Zufall kein Zufall mehr. Der Erzähler
Blaubär spielt mit der schöpfergleichen Herrschaft über seine Fiktion.
Wie der Pterodakytlus Salvatus ist auch das Dimensionsloch eine innerfiktionale Motivierung, die besonders eklatante Verstöße gegen Wahrscheinlichkeit
und Kausalität glättet und zugleich den Mechanismus der Motivierung als solchen
akzentuiert:
Ist man einmal von einer Dimension in eine andere geraten, gehört es zum Unwahrscheinlichsten, was einem im bekannten Dimensionssystem widerfahren kann, auf dem
gleichen Weg wieder zurückzugelangen. Die Chancen, daß man in der Ausgangsdimension landet, stehen eins zu einer Nachtillion. […] Populär ausgedrückt ist eine
Nachtillion: unvorstellbar viel. (266)
Ich weiß, daß ich mich der Gefahr aussetze, an dieser Stelle auch noch den letzten
wohlmeinenden Leser zu verlieren, aber ich bin nun mal der Wahrheit verpflichtet und
kann nichts anderes berichten: ich plumpste genau aus demselben Dimensionsloch
wieder heraus, in das ich hineingefallen war. Das war bei allen denkbaren Möglichkeiten
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des Universums nicht nur die unwahrscheinlichste, sondern auch die unangenehmste
Stelle, denn bei dem Loch wartete die Waldspinnenhexe auf mich. (267)
Am Ende begegnen sie einander noch einmal: »Qwert war nur mäßig überrascht
von dem ungeheuerlichen Zufall, der uns widerfahren war, aber Leute, die gerade
aus Dimensionslöchern aufgetaucht sind, sind grundsätzlich schwer zu beeindrucken« (688). Das Dimensionsloch vermag als Erklärung für Unstimmigkeiten
fungieren – ob Blaubär tatsächlich nur zu einer andere Zeit wieder zur Waldspinnenhexe zurückgekommen ist oder ob er sich nicht in einem anderen Zamonien wiederfindet, darüber lässt sich trefflich spekulieren – die Möglichkeiten
sind jedenfalls unendlich groß.18
IV.
Käptn Blaubär stellt der Erzählung seiner 13 1=2 Leben ein Vorwort voraus. Er
kündigt aufmerksamkeitsheischend die Sensationen seiner Lebensgeschichte an,
von denen manche im Roman nicht erscheinen, weil sie offenbar aus den anderen
13 1=2 Leben stammen. Nur die eine Hälfte seines Lebens will er »preisgeben, über
die anderen werde ich schweigen. Ein Bär muß seine dunklen Seiten haben, das
macht ihn attraktiv und mysteriös« (6). »Meine Lebenserinnerungen müssen der
Nachwelt erhalten bleiben« (7). Das Vorwort wird mit einem Faksimile seiner
18 Das hat auch für die interne Kohärenz der Zamonien-Texte Folgen. So setzt Ensel
und Krete – in dem sich die beiden Kinder aus dem von Buntbären kultivierten Teil des
Großen Waldes hinaus begeben – den in den 13 1=2 Leben des Käpn Blaubär erzählten Tod
der Waldspinnenhexe zeitlich voraus. Blaubär entnimmt dem Lexikon Nachtigallers
»eine Sage, der Große Wald sei vor vielen Jahren, in seinen bewohnten Tagen, von einer
besonderen Sorte Bären bewohnt gewesen, einer Sorte mit farbigem Fell […]. Eines
Tages seien die Bären aus dem Wald verschwunden, berichtet sie Sage noch, aber niemand weiß, warum und wohin sie gegangen sind« (214). Am Ende des Romans findet er
seine Artgenossen als Sklaven der Moloch. Nach der Befreiung »beschlossen die Bären,
gemeinsam in den Großen Wald zurückzukehren. Die Waldspinnenhexe war tot. Wir
wollten den Wald mit neuem Leben erfüllen« (693). Sie verbrennen die Überreste der
Waldspinnenhexe (vgl. 697) und schaffen die Infrastruktur für Ensel und Krete. – Ensel
und Krete ist ein Werk des Hildegunst von Mythenmetz, dessen Gesamtwerk Blaubär
liest (vgl. 534), was dann aber die Vermutung nahelegt, der Autor sei zu Blaubärs Zeiten
bereits Geschichte. Diese chronologischen Unklarheiten bleiben bestehen, lassen sich
aber auch kohärent durch den Sturz ins Dimensionsloch ausräumen (»Zeitvergleichsvertunnelung von Dimensionen«; vgl. 265). Vgl. Lars Korten: »In 13 1=2 Leben um die
Welt. Walter Moers Zamonien global und regional betrachtet«, in: Martin Hellström/
Edgar Platen (Hg.): Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung
von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (V). München 2008,
S. 53 – 62; hier S. 53 ff.
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Erzählen als Lügen: Die 13 1=2 Leben des Käptn Blaubär von Walter Moers
Unterschrift bekräftigt. Das sind Gattungsmerkmale der Autobiographie; Käptn
Blaubär bietet dem Leser den autobiographischen Pakt an19 und bekräftigt
schließlich, daß Lügen »nicht meiner Natur entspricht« (7).
Wahrheitsbeteuerungen des Autobiographen folgen konventionellen Gattungsvorgaben. Der Roman ist eine Autobiographiefiktion, die Erzählmuster und
Regeln der Autobiographie für die Narration nutzbar macht. Damit werden zwei
einander überlappende, aber nicht deckungsgleiche Oppositionspaare exponiert:
auf der Ebene der Autobiographie wahr/falsch, auf der des Romans fiktional/
faktisch. Dieser poetologische Diskurs bestimmt die Struktur des Romans. Die
Autobiographie kennt eine Unterscheidung von Mikro- und Makrostruktur.20
Zur Mikrostruktur gehören referentialisierbare Fakten, zur Makrostruktur die
Gesamtorganisation und Ordnungsmuster, die nicht referentialisierbar sind wie
etwa Bildungsprozesse, Selbstbilder, Aufstieg und Fall. Vor diesem Hintergrund
erzählt Blaubär zwei Geschichten, von denen die eine eine Abfolge erlogener
Erlebnisse bietet. Auf der zweiten Ebene, wo es um die Makrostruktur seiner
Lebensgeschichte geht, erzählt er die wahre Geschichte von einem, der das Lügen
gelernt hat, und entwirft eine Poetik des Lügens.
Die Gattungsgeschichte der Lügendichtung reicht zurück bis auf die Wahren
Geschichten des Lukian von Samosata, das erste überlieferte Gattungsbeispiel.
Sie enthält bereits einen Rahmen, in dem die Erzählung der Lügengeschichten
legitimiert wird:
[I]ch sage doch wenigstens Eine Wahrheit, indem ich sage das ich lüge; und hoffe also um
so getroster, wegen alles übrigen unangefochten zu bleiben, da mein eignes freywilliges
Geständniß ein hinlänglicher Beweis ist, daß ich niemanden zu hintergehen verlange. Ich
urkunde also hiermit, daß ich mich hinsetze um Dinge zu erzählen, die mir nicht begegnet
sind; Dinge, die ich weder selbst gesehen noch von andern gehört habe, ja, was noch mehr
ist, die nicht nur nicht sind, sondern auch nie seyn werden, weil sie – mit Einem Worte –
gar nicht möglich sind, und denen also meine Leser […] nicht den geringsten Glauben
beyzumessen haben.21
19 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994,
S. 13 ff.
20 Vgl. Madeleine Salzmann: Die Kommunikationsstruktur der Autobiographie. Mit
kommunikationsorientierten Analysen der Autobiographien von Max Frisch, Helga M.
Novak und Elias Canetti. Bern [u.a.] 1988, S. 30 ff.
21 Lukian von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechischen
übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin
Wieland. Nördlingen 1985, S. 88 f. – Vgl. Hans-Edwin Friedrich: »Fiktionalität im
18. Jahrhundert. Zur historischen Transformation eines literaturtheoretischen Konzepts« , in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu
Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 338 – 373, hier
S. 348 ff.
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Lukian bezieht Stellung zu Platons Vorwurf an die Dichter, sie seien Lügner, die
Dinge erzählen, denen keine Wahrheit zukommt. Die Lösung ist so einfach wie
schlagend. Seine Lügendichtung ist wahr, weil der Erzähler am Beginn ganz klar
sagt, dass von dem, was er erzählt, nichts wahr ist. Gattungskonstitutiv für die
Lügendichtung ist, dass sie den Lügencharakter ihrer Erzählung offensiv für sich
reklamiert, »die Unglaublichkeit des Erzählten meist noch mit demonstrativem
Augenzwinkern herausgestrichen«22 wird. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist
sie latent poetologisch, auch wenn das nicht in jedem ihrer Gattungstexte artikuliert und reflektiert wird.
Aus dieser Perspektive betrachtet ist an einer Reihe von Stellen der 13 1=2 Leben
des Käptn Blaubär der Zusammenhang von Lügen und Dichten23 erkennbar. Die
Lebenserzählungen des Käptn Blaubär enthalten dort, wo vom Lügencharakter
die Rede ist, immer wieder Begriffe, die Schlüsselwörter der Poetik sind. Auf den
Zusammenhang von Dichten und Lügen wird deutlich hingewiesen. Die Stoßrichtung ist unverkennbar: Natürlich interessiert sich der Erzähler für die Engführung, weniger für Unterschiede von Lüge und Dichtung.
Mit dem Lob der Notlüge, die »der Wirklichkeit ein schöneres Kleid geben«
(19) kann, wird schon erkennbar, dass Käptn Blaubär die Lüge aus der pragmatischen Verankerung, aus der einfachen Alternative von ›wahr‹ vs. ›falsch‹ löst.
Entscheidend ist ihre Schönheit. Grundsätzlich reklamiert er »Phantasie« (530)
für sich; »die Welt der Phantasie« ist sein »sicheres Erzählgebiet« (559). Auf der
anderen Seite distanziert er sich von den problematischen Aspekten der Lüge und
veröffentlicht »ein Werk über die moralischen Aspekte des Lügens, in dem ich das
Lügen unter sportlichen Bedingungen pries, im persönlichen Umgang aber verdammte« (544). Die Karriere als Lügengladiator bietet ihm die Möglichkeit,
mittels seiner moralisch zweifelhaften Fertigkeit zu sozialer Anerkennung, zu
Glück, Glanz, Ruhm zu gelangen. »[I]ch war fasziniert von der Tatsache, daß man
aus einer verpönten Fähigkeit wie dem Lügen einen spannenden Sport machen
konnte« (517).
Das Leben als Lügengladiator in Atlantis führt die Nähe von Lügen und
Dichten vor Augen. Poesie nährt die Phantasie, denn »eine wohlgenährte Phantasie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lügengladiatorenberuf«
(535), wie sie es auch für die Dichtung ist. Schon das erste Duell, dem Blaubär als
Zuschauer beiwohnt, beginnt damit, dass der Gladiator Deng Po mit »einer
Geschichte aus seiner Heimat, einer filigran aufgebauten Märchengeschichte«
(515), beginnt. Er funktionalisiert also eine Dichtung zur Lüge. In seinem ersten
eigenen Duell gegen den Stollentroll, in das er ohne vorherige Erfahrung gerät,
22 Fricke, Norm und Abweichung (Anm. 11), S. 51.
23
Vgl. Monika Schmitz-Emans: »Zur Einführung«, in: Kurt Röttgers/Monika
Schmitz-Emans (Hg.): ›Dichter lügen‹. Essen 2001, S. 7 – 14; Ursula Kocher: »Wenn Erzähler lügen. Zum Problem des unwahrhaftigen Erzählens in Prosatexten der Frühen
Neuzeit«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52 (2005), S. 318 – 333.
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Erzählen als Lügen: Die 13 1=2 Leben des Käptn Blaubär von Walter Moers
gewinnt Blaubär: »Meine erste Geschichte kam wie von außen, als ob meine Idole
sie mir in mein Ohr geflüstert hätten, sie pulsierte durch mein Gehirn und kam als
makelloses Lügengespinst aus meinem Mund heraus« (541). In der zamonischen
Verfremdung ist unschwer die Topik der Inspiration des Genies erkennbar.
Schließlich erweist sich die Identität von Lügen und Dichten:
Eine weitere wichtige Trainingsmethode ist das Lesen großer, mittlerer und kleiner Literatur. Schriftsteller sind, abgesehen von Politikern, die besten Lügner, von ihnen kann
man am meisten lernen. Ich machte es mir zur Gewohnheit, jeden Tag nach dem Frühstück drei Bücher zu lesen, keins unter dreihundert Seiten, bevor ich mich ans Tageswerk
machte. Selbst nachts opferte ich die Hälfte meines Schlafes, um weitere Bücher zu lesen.
Ich las das Gesamtwerk von Hildegunst von Mythenmetz in zweihundert Bänden,
sämtliche Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Bühnenstücke, Notizen, Briefe, Reden
und experimentelle Lautgedichte, die er jemals geschrieben hatte, einschließlich seiner
zwölfbändigen Autobiographie. (534)
Für die Poetik des Lügens ist die Rekursion relevant, dass Blaubär dem Impresario seine Lebensgeschichte erzählt, die dieser dann ›fälschlich‹ als Lügenerzählung und Ausweis von Blaubärs Talent aufgreift. Schließlich wird die Lebensgeschichte vollends als entscheidender Schlag gegen den Meister-Lügengladiator eingesetzt, wo sie Blaubär den Sieg bringt. Eine weitere Parallelgeschichte bietet das Buch des entthronten Champions:
Das wichtigste Buch in der Ausbildung eines Lügengladiators aber war Die kürzesten
Beine von Zamonien, die Biographie des Meister-Lügengladiators Nussram Fhakir des
Einzigartigen. Er beschreibt darin seine märchenhafte Karriere vom Torfstecher in den
Friedhofssümpfen von Dull bis zum gefeierten Lügengladiator so mitreißend und detailversessen, daß man als angehendes Mitglied dieser Branche nicht umhin kann, dieses
Buch soweit wie möglich auswendig zu lernen. Ich erfuhr daraus alles über den Gladiatorenberuf, zumindest was die Theorie anging. (535 f.)
Blaubär überbietet Fhakir nicht nur im entscheidenden Duell, er bietet auch in
seinem Buch mehr als nur die Karriere des Lügengladiators, denn die umfasst nur
die ersten 12 Leben. Was auf der Ebene des Erzählers problematische Lüge ist, ist
auf der Ebene des Autors lügenreflexive Fiktion. Die 13 1=2 Leben des Käptn
Blaubär ist ein Künstlerroman.
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