Die Geschichte des Kokain

Transcrição

Die Geschichte des Kokain
THEMA
IM RAUSCH DER ZEIT
Schnee besteht nicht nur aus Wasser. Das Wort gilt auch als Synonym für Kokain:
Eine kurze Kulturgeschichte der Leistungs-Droge, die begehrter ist denn je
TEXT MARTIN SCHWARZBECK
L
os geht es mit dem ersten Kaffee. Er öffnet uns
die Augen. Die sechs Tassen danach erlauben
uns, konzentriert zu arbeiten. Die Zigarettenpause schafft ein Minimum an Abstand zum
zermürbenden Alltag. Die Tafel Schokolade sorgt
für gute Laune. Und das Feierabendbier lässt uns,
trotz langem Tag, noch scherzen und schwätzen.
Solange die Möglichkeit besteht, das Leben zu »verbessern«, zumindest für einige Stunden die Be schränkungen des Alltags, des Körpers und der
sozialen Scheu zu überwinden, so lange wird es
Menschen geben, die diese Chance nutzen. Koste es,
was es wolle.
Und diese Gelegenheit besteht nicht nur im legalen Bereich. Leistungssteigernde Drogen, allen vor-
an Kokain, verdrängen derzeit hippieeske Lustigmacher und Entspanner. Man ahnt vermutlich
kaum, welche Bilder nicht gemalt, Songs nicht
getextet, Theorien nicht entwickelt, Affären nicht
begonnen worden wären, gäbe es kein Kokain. Leise
rieselt der Schnee in Wohnzimmer, Schlafzimmer,
Partykeller und vor allem: Toiletten. Im Bundestag
fand ein Fernsehteam Anfang des Jahrtausends auf
22 von 28 Örtlichkeiten Spuren des Pulvers. Noel
Gallagher von der Band »Oasis« zweckentfremdete
sogar den Privatlokus der Queen. »Soweit ich mich
erinnere, war es sehr schön. Das Klo hatte einen
Samtsitz«, so der Sänger. Er ist nicht der einzige
Prominente mit einem Faible für Kokain. Michel
Friedmann, Christoph Daum, Jörg Immendorff,
Ein Gramm dieses »Schnees«
kostet zwischen 30 und 100 Euro
20 DAS MAGAZIN
Kate Moss, George W. Bush, Adolf Hitler und Pete
Dohertys Katze sind nur die Spitze des Eisbergs: Die
europäische Beobachtungsstelle für Drogen und
Drogensucht weist seit Jahren steigende Konsumentenzahlen aus. Zuletzt waren es über zwölf Millionen Europäer, die schon einmal die aufputschende
Wirkung in Anspruch genommen haben.
Denn die Erwartungen steigen. Druck und Wettbewerbsdenken auf dem Arbeitsmarkt, Brüchigkeit
in sozialen Beziehungen, Trophäenkult im Bett –
wer auf keiner Ebene versagen will, der braucht
übernatürliche Kräfte und ein geringes Schlafbedürfnis. Der Sozialwissenschaftler Günter Amendt
schreibt in seinem Buch »No Drugs, No Future«, dass
»die Lebensumstände der Menschen in den Gesellschaften des reichen Nordens den Gebrauch von
psychoaktiven Substanzen erforderlich ma chen,
weil anders die Arbeit nicht zu bewältigen und das
Leben nicht zu ertragen wäre«. Der Mensch als IchAG kann sich Auszeiten nicht leisten. Kokain
schafft die nötige Rastlosigkeit. Amendt erklärt:
»Mit Kokain schafft man Dinge, zu denen man im
Normalzustand nicht in der Lage wäre.« Das gibt
ein Gefühl von Macht. Ein reizvoller Halt in einer
Welt, die steuerlos vor sich hintrudelt.
Im Sport weiß man um die
Versuchung, die Grenzen des
Menschen pharmazeutisch
außer Kraft zu setzen. Des halb sind hier Dopingproben
selbstverständlich. Doch der
wirtschaftliche und soziale
Wettstreit kennt solche Regularien nicht. »Solange man
in bestimmten Strukturen
funktioniert, wirft einem ja
niemand den Drogenkonsum
vor«, so der Sachbuchautor Hans Christian Dany
(»Speed«). Und funktionieren tun die Konsumenten
oft sogar besser – für eine gewisse Zeit. Frederic
Beigbeder beschreibt in seinem kürzlich verfilmten
Roman »39,90« wie Werber auf Kokain Tag und
Nacht mit Hochdruck kreativ sein können. Die
Bochumer Forscherin der Managementpsychologie,
Dr. Annelen Collatz, sieht vor allem die rückgratstärkende Wirkung der Droge: »Kokain ist in
manchen Kreisen nicht gerade wenig verbreitet
als Mittel zur Stei ge rung der Leistungs fähigkeit. Menschen in exponierten Positionen,
wie Politiker oder auch Topmanager, stehen oft
unter einem enormen Druck.«
Wie Kate Moss sicher berichten könnte, verschönert man sich in der Welt der Models gern mit dem
Extraplus Selbstbewusstsein und modelliert sich mit
Der Kokastrauch gilt
als immergrüne Pflanze
WELT IM SCHNEESTURM
3000 v. Chr. Das Kauen von Kokablättern
erlaubt den Eingeborenen Südamerikas,
sich im Leben auf kargen Höhen zu behaupten. Sie schützen gegen Kälte und Müdigkeit,
verbessern die Sauerstoffaufnahme.
1560 Die spanischen Eroberer Südamerikas versuchen, den Konsum
von Koka zu unterbinden. Vergeblich. Der Leistungsabfall der
(zwangs-)arbeitenden Bevölkerung
ist zu groß.
1859 Der Chemiker Albert Niemann
isoliert als Erster Kokain aus den Kokablättern. Eine neue, weitaus potentere
Droge ist geboren.
1863 Der Chemiker Angelo Mariani
erfindet ein Gebräu aus Wein und
Koka-Extrakt, den »Vin Mariani«.
Zu seinen Genießern gehören bald
Jules Verne, Queen Victoria und Papst
Pius X., der Mariani umgehend zum
»Wohltäter der Menschheit« kürt.
1886 Vor dem Hintergrund der Alkoholprohibition in den USA entwickelt der Pharmazeut John Pemberton eine alkoholfreie
Variante des Vin Mariani und erfindet so
die Coca-Cola. Ein Liter enthielt ein Viertelgramm Kokain; fünf Liter waren eine tödliche
Dosis. Bis heute enthält sie (nicht wirksame)
Bestandteile des Kokablatts.
Ebenfalls 1886 Arthur Conan Doyle veröffentlicht einen weiteren Band der SherlockHolmes-Serie, in dem der Protagonist sich
Kokain spritzt, um besser denken zu können.
1889 Richard Willstätter, später Nobelpreisträger, beschreibt als Erster die
chemische Strukturformel von Kokain. >>
DAS MAGAZIN 21
MYTHEN
20er Jahre Berlin wird Kokainhauptstadt
der Welt. In sogenannten Kokainsalons
versammelt sich die Schickeria um das Pulver,
das in der Apotheke erhältlich ist und in
Mengen von bis zu 1,5 Kilo auf Rezept
verschrieben wird. Der russische Dichter
Andrei Belyi schreibt 1922: »Nacht! Tauentzien! Kokain! / Das ist Berlin!« Erst die Weltwirtschaftskrise beendet den Rausch.
1922 Der Roman »Kokain« von Dino Segre
erscheint und sorgt für Entrüstungsstürme. Segre zeichnet darin ein
Sittengemälde der Jahre, in denen
Kokain noch relativ frei verfügbar war.
Bis 1988 bleibt das Buch in Deutschland auf dem Index für jugendgefährdende Schriften.
1929 In Deutschland tritt das Opiumgesetz in Kraft, Kokain wird verboten.
Hitler soll es trotzdem regelmäßig
genommen haben.
70er Jahre In den Nachkriegsjahren
beinah ausgestorben, kehrt
Kokain im Glanz der Discokugeln
allmählich zurück.
80er Jahre Der Kapitalismus nimmt Fahrt
auf. Mit ihm die Droge für all die, die sie
sich leisten können. Gleichzeitig wird Crack,
ein Kokainderivat mit einem verkürzten
aber intensivierten Rausch, zur Modedroge.
2004 Die Journalistin Kitty Kelley
belegt in einem Buch über den Bush-Clan
die Kokainsucht von George W. Bush.
Dieser dementiert nicht.
2006 Evo Morales, Kokabauernsohn
und Führer der Bewegung für die Rechte
der Kokabauern, wird Präsident Boliviens.
2008 Nach den Anschlägen
in Indiens Hauptstadt wird bekannt,
dass sich die Terroristen u.a.
mit Kokain tagelang wach hielten.
22 DAS MAGAZIN
»UND WENN DU UNARTIG
BIST, WIRST DU SEHEN,
WER STÄRKER IST, EIN KLEINES
SANFTES MÄDCHEN ODER EIN
GROSSER WILDER MANN,
DER COCAIN IM LEIB HAT.«
Sigmund Freud in einem Liebesbrief
Selbstsicherheit, gepaart mit einer koketten Manie,
diese bacchantische Verkommenheit, ist offenbar
für viele einfach zu verlockend. Kokain ist zwar
weiß wie die Unschuld, jedoch nicht unschuldig,
wie man weiß.
Spektakulären Sex verspricht der Mythos um das
Pulver. Und der ist der heilige Gral unserer Zeit. Der
Sänger der Red Hot Chili Peppers erzählt: »Mit elf
habe ich angefangen, Kokain zu spritzen und die
Freundinnen meines Vaters zu verführen. Was
gewiss ein Fehler war. Wenn Sie so früh so guten
Sex haben, wiederholen sich die Stellungen schnell«,
so Anthony Kiedis. Man könnte sagen, beim Sex
unter Koksern geht es nicht gerade beschaulich zu.
Nicht nur die körperliche Taubheit, sondern auch
das massiv gesteigerte Ego erlauben und verlangen
Extreme statt Nähe. Der Spiegel wird das liebste
Sexspielzeug der Selbstüberzeugten. Unter Konsumenten heißt es: »Mit einem Penis auf Kokain kann
man ein gefrorenes Feld umpflügen.« Sigmund
Freud gibt in einem Brief an seine Verlobte eine
Ahnung davon: »... und wenn Du unartig bist, wirst
Du sehen, wer stärker ist, ein kleines sanftes
Mädchen oder ein großer wilder Mann, der Cocain
im Leib hat.« Kokain ist der Katalysator einer
kühlen, sexualisierten Liebe. Nicht umsonst wird es
immer wieder – und nicht erst seit Friedmann und
Immendorff – mit dem Sexbusiness in Beziehung
gebracht.
Nach circa 30 Minuten ist der Zauber, den der
Rausch verbreitet hat, schon fast wieder vorbei.
Dem Sturz in die Realität folgt innere Kälte. Eric
Clapton, selbst früher fleißiger Kokser, schreibt im
Song »Cocaine«: »If you wanna get down, down on
the ground; cocaine.« Auch Paul McCartney berichtet von »furchtbaren Tiefs«. Die abrupte und heftige
Bruchlandung nach dem Höhenflug lässt die Abhängigen mit einer zentralen Mission zurück: Mehr!
Noch mal! Nie wieder landen!
»Craving« heißt diese Gier unter Medizinern. Sie
ist es, die dafür sorgt, dass gegen Ende des Abends
die Dosierungen immer kleiner, die »Lines« immer
kürzer werden und mit den Resten des Häufchens
die Gelassenheit verschwindet. Stolz und auch körperliche Unversehrtheit werden angesichts des Glanzes des Rauschs nebensächlich. Der Horrorautor
Stephen King erzählt in seiner Autobiographie, dass
er lange Zeit nur mit Tampons in den Nasenlöchern
schreiben konnte, da die Blutungen aus seiner kokainzerfressenen Nase nicht mehr aufhören wollten. – Er aber auch nicht.
Folgt man dem Ruf des Pulvers lang genug, droht
die Kokainpsychose, bei der die Konsumenten ihre
Körper als insektengefüllt erleben. Aber auch wenn
man sich der Aufforderung zum Schneewalzer
irgendwann verweigert, muss man mit Folgen rechnen. »Ich lag eines Morgens auf dem Bett, weinte nur
noch, zitterte am ganzen Körper und konnte
schlichtweg nicht mehr aufstehen«, fasst der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre in einem Interview den Beginn seines Ausstiegs zusammen.
Längst, so hört man, ist er wieder dabei. Die Gier
kommt immer wieder. Rockstar Robbie Williams
weiß selbst nach einiger Abstinenz: »Wenn hier ein
Gramm Kokain auf dem Tisch liegen würde, müsste
ich rausgehen, oder das wär’s dann.« I
ANZEIGE
1914 Der Gebrauch von Kokain wird
in den USA unter Strafe gestellt.
appetitzügelnder Überdrehtheit. »No
snow, no show.« Mick Jagger fasste
zu seinen wilden Zeiten treffend zusammen, wie wichtig endlos gute
Laune auch für das Showbusiness ist.
Selbst unter Wissen schaftlern ist
Doping weit verbreitet. Die Zeit schrift »Nature« veröffentlichte eine
Studie, nach der über 60 Prozent von 1400 befragten
Wissenschaftlern schon einmal zu Leistungssteigerern gegriffen haben. Und zur erschreckenden
Krönung nimmt die Verschreibung von Ritalin an
Kinder, eines speedähnlichen Medikaments, Ausmaße an, auch wenn es vielleicht gegen mögliche
Unkonzentriertheiten hilft.
Die Frage nach der Nützlichkeit teilt dabei die
Palette der Drogen. Kokain und Speed katalysieren
Höchstleistungen. Andere Drogen, die schön
entspannt, fröhlich oder naturverbunden ma chen sollen wie LSD, Zauberpilze oder Hanf produkte, erlauben kaum eine produktive Teilnahme an der Arbeitswelt. Sie sind auf dem
Rückzug, vermeldet der Drogen- und
Suchtbericht der Bundes regie rung von 2008. Alkohol und
Ecstasy, die zwar nicht fleißig
machen, aber enthemmen,
sind wenigstens noch beim
Knüpfen von Kontakten
hilfreich. Aber auch sie haben im Ranking der sozialen Schmier mittel keine
Chance gegen Kokain.
Man kennt es als Staub der
Stars und Stern chen, als glamouröse Partydroge. Dabei gilt die
Kosten-Nutzen-Rech nung: Netzwerke
sind der Schlüssel zum Erfolg, und wer auf den meisten Partys ist, lernt die meisten Menschen kennen.
Und wer seine Hybris dabei wie eine Schicht Öl im
Scheinwerferlicht zur Schau trägt, kann sicher sein,
dass die eine oder andere Motte daran kleben bleibt.
Es ist ein urmenschlicher Trieb: geliebt werden wollen. Man darf nicht vergessen, dass die Erfahrung
intensiv gelebter Zwischen mensch lich keit auf
dem Rückzug ist, dabei ist die Sehnsucht danach
ungebrochen groß. Oft genug ermöglicht die Hemmungslosigkeit des Kokainrauschs Vertrautheit
zwischen Menschen, die sich sonst hilflos, aber
eisern angeschwiegen hätten. Und selbst wenn
keine Freundschaften daraus werden, so hilft es
doch, dies mit einer chemiegestützten Arroganz
zu ignorieren.
Dieser narzisstische Sog in den Mittelpunkt
kann sehr hässlich wirken. Doch die massive
ABB.: WWW.USDOJ.GOV/DEA/PHOTO_LIBRARY1.HTML / INTERNET
WELT IM SCHNEESTURM
GEFÄSS
SKULPTUR
Deutsche und internationale Keramik seit 1946
grassi
Ausstellung vom 29. 11. 2008 bis 1. 3. 2009
Johannisplatz 5–11 · 04103 Leipzig · www.grassimuseum.de
Geöffnet: Dienstag–Sonntag, Feiertage 10–18 Uhr, Montag geschlossen
DAS MAGAZIN 23