Leseprobe

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Boris
Schumatsky
Die
Trotzigen
Boris
y
Schumatsk
Die
Trotzigen
ROMAN
Für I.
I. DER ANTRAG
Das Telefon gewährleistet nicht die Vertraulichkeit des Gesprächs
11
Die Partisanin
31
News Pub. Der Nataschismus mit menschlichem Gesicht
56
Was passiert, wenn man in Moskau einen Mercedesstern abbricht
73
II. EIN PUTSCH, UND ALLE GEHEN HIN
In weiblicher Handschrift
93
No Pasarán
122
Putana
143
Spazierfahrt mit einem BTR-60-Schützenpanzer
161
III. WUNDERBARE ANARCHIE
Der Judenpass: Abhärtungstraining für Zuwanderer
177
Die DDR -Babys
202
Homosexualitätstest
225
Kakerlaken im Kopf
247
Freiheit für Foucault
257
Betreten des Kohlenkellers auf eigene Gefahr
277
IV. DIE HOCHZEIT
Zu wenig zum Sterben
289
News Pub. Vieles wiederholt sich, aber nicht immer als Farce
317
Angriff der Rotbraunen
328
Barbie auf den Barrikaden
341
So enden die russischen Leidenschaften
353
Das Weiße Haus brennt
364
I.
DER ANTRAG
I.
g
Der Antra
----- Das Telefon gewährleistet nicht die
Vertraulichkeit des Gesprächs -----
»Dieser Apparat steht hier seit dem Krieg«, sagt die Inspektorin
mit violetter Dauerwelle, »niemand kam je daran vorbei.« Sascha
liegt festgeschnallt in einem Untersuchungssessel, nasse Saugnäpfe kleben an seinen Schläfen, Kabel laufen zum Messgerät. Er
muss einen Homosexualitätstest machen. Anna Iwanowna beugt
sich über ihn, die rosa Lippen leicht geöffnet, ihr Atem ist heiß.
»Nein«, will er noch sagen, »ihr kriegt mich nicht«, doch ein grüner Punkt blinkt bereits auf dem Monitor, das Papierband kriecht
aus dem Kurvenschreiber, und eine Krankenschwester erklärt:
»Fertig. Kann losgehn.« Von Anna Iwanowna ist jetzt nur noch der
Kopf zu sehen, aber es ist nicht ihr Kopf, sondern eine Glatze mit
Pickeln und einem Muttermal.
Eine Hand, breit und knochig, liegt schwer auf Saschas Brust.
Der Kahlkopf beugt sich noch tiefer herunter und küsst ihn langsam auf den Hals, genau auf das Grübchen über dem Schlüsselbein.
Die Zeiger des Kurvenschreibers schlagen aus. Die Inspektorin
beobachtet Saschas Reaktion. Trockene Lippen wandern langsam nach oben, schon berühren sie Saschas zusammengepressten
Mund. Endlich klingelt’s. Es ist vorbei. Die Inspektorin murmelt:
»Ausgemustert«, und der Kerl, der ihn geküsst hat, schluchzt
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plötzlich mit hoher, gebrochener Stimme: »Saschenka, leb wohl,
auf Nimmerwiedersehn!« Dann reißt die Krankenschwester die
Vorhänge auf, und ins Zimmer fällt helles weißes Licht.
Schon lange klingelte das Telefon. Ohne vom Bett aufzustehen,
griff Sascha zum Hörer, nahm ihn aber nicht ab. Er wartete, bis es
noch mal klingelte. Anna Iwanowna, wenn sie es denn war, würde
jetzt auflegen. Sie ließ nie so lange klingeln. Da, wo sie herkommt,
hält man das für aufdringlich. Sascha wartete zur Sicherheit noch
ein weiteres Klingeln ab, dann ging er ran. Es war seine Mutter.
»Wach auf, du lebst jetzt in einem anderen Land«, sagte sie.
»Heute Nacht ist Gorbatschow abgesetzt worden.«
Die Mutter erzählte in einem fort weiter, und Sascha hielt den
Hörer weg von seinem Ohr. Sie schien schon wieder einen Anfall ihrer demokratischen Hysterie zu haben: Kaum sagt jemand
etwas gegen Gorbatschow, ruft sie gleich »Militärputsch«. Aus
dem Hörer tönte es »Gorbatschow«, »Ausnahmezustand« und
wieder »Gorbatschow«, bis Sascha klar wurde, dass der Typ, der
ihn soeben geküsst hatte, Michail Sergejewitsch Gorbatschow
gewesen war. Der Präsident trug im Traum keine Brille, aber das
Muttermal war da. Gorbatschow schluchzte beim Abschied wie
ein altes Weib. Anna Iwanowna aber würde höchstens feuchte
Augen bekommen, sollte sie erfahren, dass Sascha sie verlassen
wolle.
»Du hast mich aus einem Alptraum geholt«, sagte Sascha zu seiner Mutter.
»Der kann nicht so schlimm gewesen sein wie der Alptraum, in
dem wir jetzt leben.«
»Ich habe geträumt, dass ich Anna Iwanowna verlasse.«
»Halt! Man darf böse Träume nicht erzählen, sonst werden sie
wahr. Was willst du jetzt tun?«
»Weiterschlafen.«
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»Du glaubst mir nicht, ja? Hör zu, als ich’s hörte, wollte ich
mich noch vor Ladenöffnung beim Bäcker anstellen, bevor alles
ausverkauft ist. Aber ich war spät dran. Ich gehe also rein, und
stell dir vor: Mehr Verkäuferinnen als Kunden, keine Schlangen,
die Leute verlassen mit vollen Taschen das Geschäft, und aus dem
Ladenradio hört man ständig: das Staatliche Notstandskomitee
GeKaTschePe, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Genossen
Gorbatschow. Ich habe nichts gekauft. Sie wollen, dass wir denken, alles sei wieder wie in guten alten Zeiten, die Läden voll wie
bei Breschnew und Stalin. Glaubst du mir jetzt? Und mach niemandem die Tür auf.«
»Niemand weiß, dass ich hier wohne.«
»Und deine Vermieterin, deine Nachbarn? Sie haben überall
Spitzel. Wenn sie kommen, machst du die Tür nicht auf. Versprich mir das.«
Sascha hatte am Abend die Vorhänge nicht zugezogen. Sein Bett
und er darin waren vom Haus gegenüber bestens einzusehen, aus
jedem Fenster der drei oberen Etagen.
»Ich fahre sowieso nach Berlin«, sagte er zu seiner Mutter, »und
wenn ich zurück bin, wird hier alles wieder seinen Gang gehen.«
»Du darfst nicht zurückkommen.«
»Ich muss jetzt mal«, antwortete Sascha, »ich rufe zurück.«
Er stand auf und machte die Vorhänge zu. Als er den Wasserhahn
im Bad aufdrehte, kam nur ein kurzes Zischen aus der Leitung. Das
Warmwasser war abgestellt. Sascha zog sich, ohne zu duschen,
an. Die Fernwärmeleitungen wurden jeden Sommer repariert,
und Saschas Bezirk kam immer im August an die Reihe. Dann
stellte man ihm das Warmwasser für mehrere Wochen ab. Anna
Iwanowna, in deren Land so etwas vermutlich nur nach Naturkatastrophen vorkam, fand es süß, dass die Russen einander zum
Duschen besuchten. Im Juni, als es in Anna Iwanownas Wohnung
kein Warmwasser gegeben hatte, hatte sie ihn besuchen müssen.
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Nach der Dusche kam sie barfuß aus dem Bad, in ein großes Handtuch gewickelt, und Sascha wickelte sie gleich im Flur wieder aus.
Im Juli hatte die Mutter in seiner Küche gesessen, das Gesicht vom
Baden gerötet, und über Gorbatschow schwadroniert.
Sascha machte die Vorhänge wieder auf, da summte die Klingel. Irgendjemand war schon an seiner Wohnungstür. Jemand, der
sich unten an der Sprechanlage nicht melden musste, einfach so
ins Haus reinkam. Post, Gas, Miliz. Oder hatte seine Mutter etwa
recht, und »sie« waren bereits unterwegs, um Leute abzuholen?
Leute wie seine Mutter ließen sich gerne verhaften, aber er? Wen
interessierte schon Sascha Potjomkin.
»Machen Sie auf!«, rief eine Männerstimme hinter der Tür. Sollte
der Militärkommissar herausgefunden haben, wo sich Sascha
versteckte, würde er ihm die Miliz mit dem Einberufungsbefehl
ins Haus schicken. Macht man denen nicht auf, treten sie die Tür
ein und verprügeln denjenigen, der sie nicht hereingelassen hat.
Dann bringen sie den Verweigerer zum Militärkommissariat. Da
kommt man erst nach zwei Jahren wieder raus, als Krüppel oder
im Zinksarg.
»Du bist zu Hause!«, rief die Stimme, »mach auf.« Die Post war
es jedenfalls nicht.
Sascha entriegelte das Schloss, und sofort drückte jemand von
außen gegen die Tür. Durch den Spalt sah Sascha einen Arm mit
rötlichen Härchen. Sascha sagte nichts, der Mann vor der Tür
schwieg auch. Er atmete schwer. Er war kein Milizionär. Es gibt
keine Bullen mit nackten Oberarmen. Sascha riss die Tür ganz auf
und machte einen Schritt über die Schwelle nach vorn, so dass
der Mann vor der Tür zurückweichen musste. Sein Schädel war
rasiert, die T-Shirt-Ärmel waren bis zur Schulter hochgekrempelt. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Sascha. Im Neonlicht
der Leuchtröhren, die auch tagsüber im Treppenhaus brannten,
erschien die Kopfhaut des Kerls leichenblass, der Schädel unför-14-
mig, Rasierkratzer glühten darauf. Hinter ihm war das Treppenhaus leer. Dort lauerte niemand.
»Sind Sie alleine?«, fragte Sascha dennoch, statt die Tür gleich
zuzumachen. Irgendwo hatte er diesen Kerl schon mal gesehen,
vielleicht bespitzelte er ihn schon länger.
»Hör mal, ich sitze wirklich in der Patsche wegen heute Nacht«,
er fasste Sascha an der Hand, sah kurz hoch, ließ sie sofort wieder
los und sprach weiter: »Halt dich fest, ich muss dir was erzählen.«
»Ich weiß bereits, was passiert ist.«
»Einen Dreck weißt du! Hey, es geht nicht um Politik, das ist
ernst. Sag, wie heißt du?«
Seine Augen waren zusammengekniffen. Eine ordentliche Alkoholfahne hatte er auch. Sascha nannte dem kleinen Alki einen
Namen: »Michail.«
»Wowa. Ich heiße Wladimir, aber alle sagen Wowa zu mir. Sehr
angenehm. Also, ich brauche Geld. Hundert Dollar.«
Sascha versuchte, die Tür zuzuziehen, aber der Kerl hielt sie fest.
»Es ist nicht, wie du denkst, Mischa. Hör mir doch einfach zu!«
Er stammelte etwas von Hektolitern Spiritus.
»Was machst du eigentlich, wenn du nicht säufst?«, riss Sascha
ihn aus seinem Delirium. »Arbeitest du für die Bullen, Wowa?«
»Sehe ich so aus? Komm, kannst du einem Menschen nicht einfach glauben?«
»Ich glaube, du solltest weniger trinken.«
»Ich bin Fahrer«, versuchte Wowa seinem Nachbarn zu erklären,
»ich trinke nicht.« Was für ein Pech, dass von allen Nachbarn nur
dieser Michail zu Hause war, der sich immer zur Seite drehte,
wenn man zusammen im Aufzug stand. Leider hatte Wowa keine
andere Wahl, als im eigenen Treppenhaus um Kohle zu betteln.
Was tut man, wenn man plötzlich so viel Geld braucht, wie man
in einem Monat verdient und auch noch das Telefon abgestellt
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ist? Heutzutage bist du nichts ohne Telefon. Er sagte: »Komm,
Mischa, nur bis heute Abend. Wenn du nur wüsstest, was für eine
Riesenkacke heut Nacht passiert ist!«
Am Abend zuvor hatte Wowa den Auftrag bekommen, einen
bereits vollbeladenen LK W in die Vorstadt Mitino zu fahren. Ausladen, Unterschrift, Computer einladen, Unterschrift, Träger bezahlen und tschüs, Feierabend. Der Chef hatte nicht darüber gesprochen, was in seinem Laster geladen war. Lebensmittel, hatte
Wowa gedacht, Fleischkonserven. Er dachte, er müsse nachts
fahren, weil das Zeug morgens in den Handel kommen solle. Der
Chef aber hatte ihn so spät losgeschickt, weil nachts weniger kontrolliert wurde. Ohne nachzuzählen, hatte er ihm die Rubelchen
in die Hemdtasche gesteckt und gemeint, das würde für die Träger
dicke reichen, die müssten nur fünf Tonnen abladen und dann die
Computer einladen, die eh so gut wie nichts wogen. Wowa fuhr
los, als es dunkel wurde. Die Stadt war jedoch voller Bullen. Es
waren mehr als an einem normalen Tag, mehr als während eines
Staatsbesuchs. Streifenwagen parkten an jeder Kreuzung, die
Verkehrsbullen standen überall am Straßenrand. Zu dritt oder zu
zweit führten sie Stichkontrollen durch. Sie trugen die Gummiknüppel, die Gorbatschow vor kurzem eingeführt hatte, aber
einer hatte immer ein Sturmgewehr umhängen. Kaum hatten sie
Gorbatschow in den Arsch getreten, winkten die Bullen schon
wieder mit Kalaschnikows.
»Ich habe keine Zeit«, sagte dieser hochnäsige Mischa und zog
plötzlich wieder an der Tür, diesmal aber ohne Kraft. Dabei suchte
er das leere Treppenhaus mit den Augen ab.
»Was glotzt du so?«, entfuhr es Wowa, »da ist niemand! Oder
trennst du dich nur von deinen Groschen, wenn man dir ein Messer an den Hals hält? Ich an deiner Stelle würde vor mir Schiss haben. Also, hast du die Kohle? Hab nichts zu verlieren nach heute
Nacht.«
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Erst hatten ihn die Bullen weiterfahren lassen, weil auf seinem
LKW »Lebensmittel« stand. In Mitino angekommen, sah er an
einer Ampel seine Nachbarin Lena stehen. Mit weißen Reflexionsstreifen auf der Uniform und mit einem Verkehrsstab in der
Hand. Er hatte sie in der letzten Zeit immer wieder vor dem Hauseingang getroffen, sie ging jeden Abend mit ihrem Schäferhund
spazieren. Lena war gerade geschieden worden, er auch. Sie arbeitete als Sekretärin beim Milizrevier Mitino. Er nannte sie »Genossin Leutnantin«. Nun stand sie auf der Straße. Ihm war klar, etwas
Besonderes musste passiert sein, und er, ein neugieriger Trottel,
hielt hinter der Kreuzung an. Lena und er quatschten ein Weilchen miteinander am Straßenrand, als dieser Arsch von einem
Hauptmann auf sie zukam, salutierte und mit starkem kaukasischem Akzent nach seinen Papieren verlangte. Da war die Sache
eigentlich schon gelaufen. Der Hauptmann fragte nur noch: »Ist
der Royal das, was ich denke?«
Plötzlich machte sein Nachbar den Mund auf. »Ich muss weg«,
jammerte er wie ein Kindergartenbengel mit voller Hose, »wie
lange wollen wir noch hier rumstehen?«
»Bis ich die Kohle hab.«
Sonst gab es niemanden, der Wowa helfen konnte. Lena auch
nicht. Der Hauptmann hatte sich wahrscheinlich schon ausgemalt, wie er Lena nach dem gemeinsamen Einsatz ficken würde,
und als er gesehen hatte, wie sie mit einem Bekannten sprach, wie
sie dabei lachte, ist er eifersüchtig geworden. Der Schwarzarsch
beschlagnahmte alles. Lena konnte ihn letztlich nur überreden,
die Ware für hundert Grüne freizugeben.
Das war die Lage. Am Milizrevier 5 des Stadtbezirks Mitino
stand nun ein Laster mit fünfzig Hektolitern Äthanol in Einliterflaschen. Was werden zweihundert Bullen nach einer schweren
Nachtschicht tun, wenn sie ein Etikett sehen, auf dem Trinkspiritus Royal. Hergestellt in Deutschland steht? Wenn also Wowa
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bis zehn Uhr morgens, und das war schon in anderthalb Stunden,
kein Geld vorbeibrachte, würde die Miliz von Mitino eine Woche
lang besoffen sein, und er selbst seinem Chef erklären müssen,
warum er statt mit einer Ladung Computer mit einem Beschlagnahmt-Stempel auf dem Lieferschein zurückkommt. Für diese
Computer waren der Firma Neuwagen versprochen worden und
für die noch etwas Besseres. Die ganze Kette, an deren Ende die
Firma vielleicht einen Eisenbahnwaggon Nickel nach Deutschland liefern und damit zehnfachen Profit machen sollte, war also
auseinandergerissen. Heutzutage wurde man für weniger umgelegt.
Die Treppenhauslampe spiegelte sich in den Brillengläsern seines Nachbarn, man konnte seine Augen nicht sehen.
»Aber eigentlich ist es mir schnuppe, ob du mir glaubst oder
nicht«, sagte Wowa. »Gib mir einfach die Kohle.«
»Willst du mir etwa drohen?«, fragte Mischa.
»Was stammelst du rum wie dein Gorbatschow vor dem Politbüro? Nachbarn sollten sich gegenseitig helfen, stimmt’s oder
nicht?«
»Wohnst du auch hier?«
»Klar, in diesem Stock, gegenüber auf dem Treppenflur, Wohnung 137. Siehst du die Tür, wo unten das zweite Schloss fehlt?
Mit Klebeband zugeklebt? Das ist meine. Komm schon.«
Mischa starrte auf die kaputte Tür, als hätte er sie noch nie gesehen, und sagte: »Übermorgen bin ich in Berlin …«
»Übermorgen bist du im Arsch!« Wowa hatte nun die Schnauze
gestrichen voll. »Wach endlich auf, Mann! Langsam kotzt mich
das an.«
Ihm war wirklich übel. Seit Stunden nichts gegessen, keinen
einzigen Brotkrümel, und blöderweise hatten der Hauptmann
und er jeweils einen Schluck aus der Royal-Flasche genommen.
Wowa hatte noch immer diesen ekligen Spiritusgeschmack im
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Mund, dabei hatte das gemeinsame Trinken den Bullen keinesfalls
besser gestimmt. Mit einem Russen hätte es perfekt funktioniert,
man hätte einen zusammen getrunken, man wäre sich dabei nähergekommen, und nach einer Weile hätte sich das Problem in
Luft aufgelöst. Aber wie alle Schwarzärsche hatte der Hauptmann
nicht gewusst, wie man Wodka trinkt, der Royal war ihm zu stark
gewesen. Er hatte genauso eine angewiderte Fratze geschnitten
wie jetzt sein Nachbar.
»Sag mal, Mischa, bist du überhaupt Russe? Oder bist du etwa
Deutscher? Ich meine, ich habe nichts gegen Deutsche, ich hatte
in der Schule Deutsch, und ich habe bei euch in der DDR sogar
gedient: ›Gut Schnaps, Wodka mehr gut.‹ Ich hab gesehen, dass
dich oft Deutsche besuchen.«
»Ist das vielleicht verboten?«
»Jetzt werden sie es wieder verbieten, du weißt ja, wie es früher
war: ›Unerlaubter Kontakt zum Ausland, Artikel soundso, fünf
Jahre mit Vermögenseinzug‹, aber ich werde einen Nachbarn nie
verpfeifen.«
»Nur zu. Ich bin Dolmetscher. Das sind alles meine Kunden.«
»Ein super Job! Übrigens, es kommt immer wieder eine zu dir,
die ihren Kopf so rasiert hat, so wie bei mir, aber mit einem Schopf.
Glückwunsch, ein klasse Mädchen, wir haben uns kennengelernt.
Die hat Humor. Wie hieß die noch gleich? Anna Iwanowna. Wie
die Zarin. Lustig, was?«
»Ja«, sagte Sascha. Es war typisch für seine Noch-Freundin, sich
in Moskau mit dahergelaufenen Säufern zu verbrüdern, was ihr
in Deutschland wohl nie in den Sinn gekommen wäre. Sascha
schwieg. Sein Nachbar fragte:
»Wie lange brauchst du, um einhundert Bucks zu verdienen?«
»Einen Tag.«
»Was bist du mir für einer, Mischa, sei doch ein Mann und keine
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verfickte Schwuchtel! Warst du überhaupt bei der Armee? Das
merkt man dir an, weißt du, und das sag ich dir als dein Nachbar, es hätte deinem Charakter gutgetan. Wer sich vom Kollektiv
absondert, den ficken sie dort so lange, bis ihm sein ganzer Egoismus ausgetrieben wird. Das sagt unser Militärkommissar, er ist
mein Kumpel.«
Also hatte Sascha recht. Mochte dieser Kerl auch wirklich sein
Nachbar sein, er stank aus dem Mund doch wie ein richtiger Milizzuträger.
»Hast du bei der Armee auch welche verprügelt?«, fragte Sascha.
»Ich war Fahrer in einer Transporttruppe, dort waren wir alle«,
er legte seine Hände ineinander, »so dick! Ich hab sogar einen General gefahren. Weißt du was? Das, was ich an einem Tag verdiene, das hätte ich einem Nachbarn einfach geschenkt.«
»Du kriegst hundert Rubel von mir, und dann will ich dich nie
wieder sehen, verstanden?«
»Ich verstehe dich nicht, Michail, warum bist du glitschig wie
ein herausgezogener Schwanz? Was bist du für ein Mensch?
Heißt du vielleicht Moischa?«
»Schön wäre es. Wenn ich Jude wäre, würde ich längst in
Deutschland herumspazieren.«
»Stimmt, uns Russen wollen sie nicht. Hilfst du mir?«
»Hundert Rubel«, wiederholte Sascha. Der Typ trat Sascha fast
schon auf die Zehen. Er murmelte zusammenhangslos, »Michail,
Nachbar …« Er packte Sascha wieder am Handgelenk.
»Lass los. Sofort.«
Der Kerl schüttelte den Kopf. »Das ist es, weswegen man euch
Jidden nicht mag, genau das …«
»Halt endlich die Klappe. Warte hier«, erwiderte Sascha. Er ging
ins Wohnzimmer und holte ein Bündel Dollarscheine, das er dem
Kerl in die Hand drückte. Der Kahlkopf fing an nachzuzählen.
»Eigentlich«, sagte er, »hättest du mich in die Wohnung bitten
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können, statt mich wie einen verdammten Bettler vor der Tür stehen zu lassen. Aber danke. Du kennst mich ja nicht. Ich werde die
Kohle schon heute Abend zurückzahlen.« Der kleine Mann plapperte glücklich weiter: »Vielleicht trinken wir einen zusammen,
wenn ich dir die Bucks vorbeibringe? Ich kann dir ein paar Geschichten erzählen, du wirst dir vor Lachen in die Hose machen.«
»Schmeiß das Geld einfach in den Briefkasten.«
Sein Nachbar sah ihn an wie geohrfeigt. Er taumelte zurück,
hielt sich an der Wand fest und blieb ein paar Schritte vor der Tür
stehen. Gleich würde er versuchen, Sascha eine mit der Stirn aufs
Kinn zu geben, aber Sascha war zu groß für ihn und könnte ihn
leicht wegstoßen, mit beiden Händen gegen die Brust, so dass er
richtig hinknallen würde mit seinem rasierten Schädel. Der Boden im Treppenhaus war mit Fliesen ausgelegt, von denen viele
fehlten, und manche waren lose oder rissig.
Der Nachbar stand schweigend da, die Scheine in der Hand,
und schaute Sascha in die Augen. Plötzlich sagte er auf Deutsch:
»Eins, zwei, drei, vier, Pioniere heißen wir. Ich mache heute Klassendienst.«
Da der Kerl immer noch keine Anstalten machte zu gehen, zog
Sascha die Tür mit einer kurzen Bewegung zu.
Der nicht ausgefüllte Antrag auf die Erteilung eines Besuchervisums steckte schon seit Tagen in seiner Erika-Schreibmaschine,
die er aus der DDR mitgebracht hatte. Sascha tippte seinen Namen ein und vertippte sich gleich beim »A«. Luft holen, konzentrieren, es holte ihn schon niemand ab. Noch gestern hatte Sascha
gedacht, mit dem Antrag habe er Zeit. Sein Termin bei der Botschaft war erst in zwei Wochen, doch jetzt war das viel zu lange
hin. Nächstes Mal würde er vielleicht nicht mit ein paar Dollar
davonkommen.
Sascha nahm den Telefonhörer in die Hand. Bei der Botschaft
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spielte Barockmusik, ewig lang, dann meldete sich ein Mann. Sascha erkundigte sich, ob er schon morgen kommen könne.
»Wo haben Sie diese Rufnummer her?«, fragte der Mann.
»Ich dachte, dort wäre die Auskunft der deutschen Botschaft.«
»Sind Sie Deutscher? Diese Rufnummer ist nur den Bürgern der
Bundesrepublik Deutschland vorbehalten. Wie haben Sie diese
Nummer in Erfahrung gebracht?«
Sascha hatte die Nummer von Anna Iwanowna, aber die Botschaft durfte das nicht erfahren. Anna Iwanowna bekam über die
Botschaft ihre Post, und sollte er sie verraten, würde man ihr diesen Gefallen nicht mehr tun.
Botschaften übernehmen immer das Schlimmste von ihren
Gastländern. Jedes Mal wenn Sascha die für Russen bestimmte
Nummer anrief, wimmelte man ihn ab, als wäre er einer von der
Sorte seines Nachbarn.
»Die Musik, die man hört, wenn man Sie anruft, das ist Haydn,
richtig?«, sagte Sascha. »Ich wäre Ihnen für eine schlichte Auskunft sehr verbunden. Darf ich meinen Antrag auf ein Besuchervisum morgen einreichen?«
»Damit Sie ganz in Deutschland bleiben? Mir ist schon klar,
warum Sie es so eilig haben.«
»Mir ist das bedauerlicherweise nicht klar.«
»Schalten Sie Ihren Fernseher ein.«
»Ich schaue nie fern.«
»Mir können Sie nichts vormachen, natürlich wissen Sie, was
los ist. Alle wissen das. Aber in den Anträgen gibt das niemand als
Reisegrund an. Da lesen wir immer etwas anderes. Sie beabsichtigen, Ihr Besuchervisum für ein Asylgesuch zu missbrauchen. Sie
können sich die Mühe mit dem Antrag sparen.«
Sascha legte den Hörer vorsichtig neben dem Telefon ab. Die
Stimme des Mannes verstummte, dann kam das Besetztzeichen.
Sascha ging zum Fernseher.
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Die Vermieterin hatte ihm einen vorsintflutlichen schwarzweißen Rekord-67 mit drei Programmen überlassen. Die Programme
schaltete man mit einem Drehknopf um, der aber fehlte. Aus
dem runden Loch ragte nur ein Eisenstift mit flacher Spitze. Die
Vermieterin hatte mit Hilfe einer Flachzange umgeschaltet. Die
Flachzange auf dem Fernseher war Sascha bei der Wohnungsbesichtigung als Erstes aufgefallen. Bei seinen Eltern zu Hause sah
es nämlich genauso aus: Ein uralter Rekord, ein fehlender Schalter, eine Flachzange. Die ersten Rekord-Fernseher hatte es bereits
in seinem Geburtsjahr gegeben, und seitdem wurden sie jahrzehntelang mit denselben brüchigen Programmschaltern ausgestattet.
Ihre Flachzange hatte die Vermieterin mitgenommen, und ohne
sie konnte Sascha das Programm nicht umschalten. Aber auch um
den eingestellten Kanal überhaupt reinzubekommen, musste er
mit dem Daumen fest gegen den Eisenstift drücken. Die alte Kiste
empfing dennoch entweder nur Bild oder nur Ton zu schwarzweiß flimmernden Streifen. Erst wenn er so stark drückte, dass
ihm sein Daumen weh tat, erschien hinter dem rauschenden
Schneesturm ein etwas dunklerer Fleck, ein dicker Weihnachtsbaum oder ein Kopf und Schultern. Sascha drückte und zog am
Stift, bis aus dem Bildrauschen eine Frauenstimme kam: »Sperrstunde«, »Schluss mit der zügellosen Propaganda von Sex und Gewalt«. Kurz füllte sich der Bildschirm wieder mit Schneerauschen,
dann verschwand auch der Ton. Sascha schlug mit der Handfläche auf den Fernseher, schließlich konnten Schwarzweiß-Fernseher nicht explodieren. Nur aus sowjetischen Farbfernsehern
kam manchmal Rauch, sie spuckten Funken, die Röhren platzten,
und Tausende Splitter fielen auf die Wohnzimmerteppiche. Man
musste Mitleid mit Anna Iwanowna haben: Sie kommt für ein
ganzes Jahr nach Moskau, sie will helfen, macht ein Praktikum bei
den Bürgerrechtlern, sie verteilt Lebensmittelpakete aus Deutsch-23-
land, dann kommt sie von einem ihrer ersten Tage bei Memorial
nach Hause, und ihr Fernseher explodiert.
Die Wohnung hatte Sascha für sie gefunden. Damals wusste er
noch nicht, wie Anna Iwanowna tickte, bisher hatten sie nur eine
kurze Romanze gehabt, zwei Wochen während Anna Iwanownas
erster Studienreise nach Moskau. Als sie im Jahr darauf wiederkam, fürchtete er, sie würde sich bei ihm einquartieren, nach dem
Motto: »Pennen kann ich doch erst mal bei dir, oder?« Aber das ist
nicht die Art dieser Anna Iwanowna. Sie nennt sich Feministin, sie
will unabhängig sein. Und obwohl Feministinnen sich nicht von
Männern helfen lassen, hatte sich Anna Iwanowna sehr gefreut,
als Sascha sie am Flughafen abholte und in die neue Wohnung
brachte. Die Vermieterin war auch da, eine Intelligenzlerin, die
aufgeregt ihre Verzückung über die deutsche Mieterin kundtat. Sie
fand es besonders süß, dass sie einen russischen Vornamen hatte.
Anna Iwanowna errötete. Dann sagte Sascha, dass sie russische
Vorfahren hätte. Anna Iwanowna fuhr ihn auf Deutsch an, wieso
er einen solchen Schmarrn erzähle?! Zur Vermieterin sagte sie nur
»Spassibo«, und diese quasselte weiter über die Vorzüge von deutschen Mietern. Die Deutschen würden die Küche sauber halten
und nichts aus der Wohnung klauen, weder die Kristallschüsseln
noch den Kühlschrank oder den Farbfernseher Rubin. Sie würden ihre Wohnung auch nicht »vollscheißen wie die Schwarzen«.
Solche betagten gebildeten Damen sind dem einen oder anderen
derben Ausdruck manchmal besonders zugeneigt. »Fotze« klingt
aus ihrem Mund trotzdem wie »Fresko«. »Schwarze« nannte die
Vermieterin alle Leute aus dem Süden. Für die sibirischen Nenzen oder Tschuktschen hatte sie die Bezeichnung »Schlitzaugen«,
die Bergbewohner aus dem Kaukasus nannte sie »Viecher«. Anna
Iwanowna musste sich das mit freundlicher Miene anhören.
Schließlich sagte sie: »Ich komme selbst aus dem Süden, aus den
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Bergen.« Die Vermieterin wechselte das Thema. Sie hatte für ihre
Einzimmerwohnung mit Küche und Bad zuerst hundert Dollar
pro Monat verlangt. Doch Sascha drückte die Miete auf hundert
DM : »Die Germanen mögen ordentlicher als Schwarzärsche sein«,
sagte er, »aber sie sind geizig.«
Anna Iwanownas ersten Tag in Moskau verbrachten sie zusammen, ihre Koffer ließen sie unausgepackt in der Wohnung und
spazierten den ganzen Tag durch Moskau. Auf den Bürgersteigen
lag noch Schnee. Anna Iwanowna drehte sich jedes Mal um, wenn
sie eine von diesen dicken alten Frauen in orangefarbenen Westen
überholten, die Sand auf den Schnee streuten.
»Endlich Geschlechtergerechtigkeit«, kommentierte Sascha.
»Nein. Ihre Westen, sie fallen auf«, erwiderte sie, »weil alles hier
so blass ist.«
Stundenlang gingen sie von Geschäft zu Geschäft. In einem
Laden war gerade Milch im Angebot, sonst nichts, in einem anderen nur Salz, aber es fand sich fast in jedem etwas, das sie kaufen konnten, manchmal bloß Streichhölzer oder Kernseife. Der
sowjetische Mangel musste für Anna Iwanowna ein Kulturschock
gewesen sein, aber sie hielt sich gut, sie freute sich über den
Schnee und den Sonnenschein und den alten Trolleybus, es war
ihre erste Fahrt in einem Bus mit elektrischer Oberleitung.
In einer Bäckerei kauften sie ein frisches Schwarzbrot, blieben
gleich draußen vor der Tür stehen, Sascha riss ein Stück von der
knusprigen Rinde ab und reichte es ihr. Danach knabberten sie die
Rinde einfach mit den Zähnen ab. Die Schwarzbrotrinde begeisterte Anna Iwanowna sogar mehr als die Fahrt mit dem Trolleybus. Aber über die Mädchen, die ihnen auf der Straße entgegenkamen, schüttelte sie nur den Kopf: Miniröcke bei minus zehn
Grad. Sie sagte: »Je weiter nach Osten, desto kürzer die Röcke.«
Sascha widersprach ihr nicht. Ihre Lippen waren an diesem Tag
sehr kalt. Am Abend aßen sie bei ihr Salzkartoffeln, am nächsten
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Morgen fuhr Sascha nach Hause, er hatte eine Übersetzung zu
erledigen, und am Abend wollte er mit Denis und Max ins News
Pub, das vor kurzem aufgemacht hatte. Stattdessen musste er wieder zu Anna Iwanowna. Sie heulte am Telefon, sie hatte nicht gewusst, dass Fernseher explodieren konnten.
Sein Rekord summte, hatte aber weiterhin weder Ton noch Bild.
Auch draußen hinter der Fensterscheibe ließ sich nicht erkennen,
wie schlimm es mit dem Putsch tatsächlich war: Alles grau, trübes
Wetter, fast schon herbstlich. Der Telefonhörer lag noch immer
neben dem Apparat. Es war sein neues Telefon aus Deutschland,
mit Tasten statt einer Wählscheibe und einer elektronischen Anzeige für die Nummern der Anrufer. In Moskau erschienen darauf
nur rote Achten. Seine Mutter hatte sicherlich schon mehrmals
vergeblich versucht, ihn zu erreichen, und machte sich jetzt Sorgen. Tatsächlich ging sie, als Sascha die Rufnummer seiner Elternwohnung wählte, gleich beim ersten Klingeln ran.
»Es ist schlimmer, als ich dachte«, sagte sie. »Du musst weg.
Morgen kann es zu spät sein.«
Die Mutter wollte aber nicht sagen, was noch passiert war, sie
wiederholte nur: »Was für ein Glück, dass du Anna Iwanowna
hast! Sie kann dir mit dem Visum helfen.«
»Sag mir einfach, was passiert ist«, bat Sascha, aber die Mutter
wollte es nicht am Telefon sagen. Sie suchte zweideutige Formulierungen, die man später notfalls verdrehen könnte.
»Wurde jemand verhaftet? Deine Larissa wieder?«, fragte Sascha.
»Keine Namen!«, unterbrach ihn seine Mutter, »nicht am Telefon! Bitte nicht am Telefon.«
Früher hatten die Eltern jedes Mal wenn Gäste bei ihnen waren, die Wählscheibe des Telefons bis zum Anschlag gedreht und
mit einem Bleistift blockiert. Das Telefonkabel führte direkt, ohne
Steckdose, in die Wand, und sie dachten, der KGB würde sie sogar
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belauschen, wenn der Hörer aufgelegt war. Nur die festgehakte
Wählscheibe könne das Abhören verhindern. Daran glaubten
sogar die Kollegen von Saschas Mutter, Ingenieure aus dem Forschungsinstitut für elektronische Rechenmaschinen. Später installierten sie Telefonsteckdosen und zogen den Stecker schon
heraus, wenn sie ausländische Sender hörten. Der Vater vergaß
meistens, das Telefon wieder anzuschließen, und Saschas Mitschüler beschwerten sich, bei ihm erreiche man ja nie jemanden.
Seit frühester Kindheit kannte Sascha den Aufdruck in der
Mitte der Wählscheibe: Achtung! Das Telefon gewährleistet nicht
die Vertraulichkeit des Gesprächs. Damals dachte er, das stehe auf
allen Telefonen in der Sowjetunion. Später erzählte ihm die Mutter, dass die Wählscheibe mit dem Aufdruck das Geschenk einer
Bekannten sei. Larissa, eine Freundin der Mutter, fand Gefallen
daran, mit Sascha zusammen, der noch gar nicht lesen konnte,
die grellroten Buchstaben zu entziffern: Ver-trau-lich-keit. Das
fette Ausrufezeichen hatte Sascha besonders fasziniert, zugleich
machte es ihm ein bisschen Angst.
»Benutzt du eigentlich immer noch euer altes Agententelefon?
Das Kabel muss doch längst ganz verdreht und verdreckt sein,
weil ihr beim Telefonieren so gern die ganze Wohnung abschreitet. Ich kann dir bald ein schnurloses Telefon aus Deutschland
schicken«, sagte er zu seiner Mutter.
Alla ging nicht darauf ein. In der Tat war das Telefon alt geworden. Von dem Wort Achtung! war die rote Farbe längst abgegangen, und die in durchsichtigen Kunststoff gepressten Buchstaben
waren kaum mehr zu entziffern. Die Wählscheibe mit der Abhörwarnung hatte ihr Larissa zum Dreißigsten geschenkt. Saschenka,
damals noch sehr klein, hatte sich hinter Allas Rücken versteckt,
weil Larissa, die keine eigenen Kinder hatte, ständig über den Jungen herfiel. Sie wollte ihm das Lesen beibringen.
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Larissa war mit ihrer Wählscheibe aufgetaucht, als alle anderen
Gäste bereits am Tisch saßen. Noch im Flur begann sie mit ihrem
Geschenk anzugeben, erzählte, was sie alles dafür riskiert habe.
Die Wählscheibe stammte aus dem Forschungsinstitut für
elektronische Rechenmaschinen, an dem Alla ebenfalls arbeitete
und wo sie erst kurz zuvor und durch viel Vitamin B eine Einstellung für Larissa organisiert hatte. Erst am heutigen Tag, erzählte
Larissa, sei es ihr gelungen, die Wählscheibe mit der Warnung
vom Telefon ihres Chefs abzuschrauben und gegen eine normale
auszutauschen. Danach musste sie die geklaute Wählscheibe aber
auch noch durch das Eingangsportal des Instituts schmuggeln.
An zwei pensionierten Gulagwärtern vorbei, die in alle Handtaschen reinschauten und stichprobenweise Leibesvisitationen
durchführten.
Eigentlich waren es bloß ehemalige Milizionäre, und Alla selbst
war nur zweimal am Ausgang durchsucht worden, aber die Sache war trotzdem heikel. Zwar wurde man nicht mehr wegen
Sabotage des sozialistischen Aufbaus eingesperrt, aber gefeuert
hätten sie Larissa auf jeden Fall. Sie war ganz rot, als sie im Flur
stand, Schweißtropfen hingen auf ihrer Stirn, aber statt ihren
Pelzmantel abzulegen, erzählte sie aufgeregt weiter: »Ich hab das
Ding in meiner Unterwäsche versteckt. Ausgezogen haben mich
die Wächter zum Glück nicht.«
Endlich legte Larissa Mantel und Schal ab. Sie knöpfte den Kragen ihrer Strickjacke weit auf und holte aus ihrem überdimensionierten BH die Plastikwählscheibe. Mit ernster Miene überreichte sie Alla das Geschenk, das von ihren Brüsten noch warm
war. Dann ging sie zum Tisch. Alla musste noch einen Stuhl für
sie besorgen, einen Kinderstuhl aus Saschenkas Zimmer, weitere
Sitzmöbel besaßen sie nicht.
Larissa verschwand fast völlig unter dem Tisch, und der hochgewachsene Igor Walischwili, ein galanter Kaukasier, bot ihr seinen
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Stuhl an. Larissa lehnte ab, sie sagte, dass sie große Männer über
alles in der Welt liebe. Ihr selbst gehe es auch auf dem Kinderstuhl
hervorragend, denn für sie zähle sowieso nur das Eine: Von »den
Unseren« umgeben zu sein. Sie rief in die Runde: »Wurde das Telefon schon ausgesteckt, meine Damen und Herren?« Seit ein paar
Monaten redete sie auch Unbekannte auf der Straße so an, um das
Sowjetvolk vom Gebrauch des bolschewistischen »Genossen« zu
entwöhnen.
»Ich will euch etwas sagen«, begann sie, stemmte sich mit dem
Busen gegen die Tischkante, hob ihr Glas Apfelsaft – sie trank
schon damals nie etwas Stärkeres – und brachte einen Trinkspruch
auf die Zeiten aus, »wenn wir unsere Telefone nicht mehr mit
Bleistiften abhörsicher machen müssen«, und »wenn du«, sagte
sie zu Alla, »meine Wählscheibe von deinem Telefon abnimmst!«
Alle stießen an, alle lachten. Damals lachte man noch über das,
was Larissa sagte.
Im Telefonhörer knackte und zischte es, und Saschenkas Stimme
wurde bis zur Unverständlichkeit verzerrt. Entweder hörten sie
nun wieder ab, oder das Kabel hatte sich überdehnt, wie es oft passierte, wenn man mit dem Hörer zum Fenster ging.
Auf der Straße sah man eine Kolonne Panzer, die über den
Wernadskiprospekt ins Zentrum fuhr. Grau und riesig, wie in
einem Fernsehfilm über die Schlacht um Moskau. Die Sowjetsoldaten, eine Handvoll Jungs mit ausrangierten Gewehren aus
dem Ersten Weltkrieg, stellen sich den faschistischen Tigern in
den Weg. Alle bis auf einen sterben. Die Panzer kehren um. Und
sechzig Jahre später brechen sie durch, da rollen sie durch die Straßen, als gehörte die Stadt ihnen.
»Sind bei euch auch …«, fragte sie Saschenka, und just in diesem Moment knackte es wieder ohrenbetäubend in der Leitung.
Die letzten beiden scherten aus der schwarzgrauen Panzerkolonne
aus, steuerten zum Straßenrand und hielten direkt unter dem
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Fenster an. Mit einer Raupenkette fuhren die riesigen Kriegsmaschinen auf den Rasen.
»Fährt bei euch auch die Raupentechnik, Saschenka?«
»Ich schau gleich«, antwortete er, »ich ruf dich zurück.«
»Ich bleibe dran.«, gelang es Alla noch zu sagen.
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