Wie Ratgeber Erfolg versprechen

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Wie Ratgeber Erfolg versprechen
Man muss nur
wollen ! (?)
Wie Ratgeber Erfolg versprechen
Die Wünsche und auch die Zwänge, in der Konkurrenz unserer
Leistungsgesellschaft zu bestehen, sind in den vergangenen Jahrzehnten immer grösser geworden. Das spiegelt auch die Zunahme
an Ratgeber-Büchern, Wochenendseminaren und selbst ernannten Erfolgscoachs wider. Sie alle versprechen, dass zwischen ihnen und einem erfolgreichen Leben nur ein paar Seiten Lektüre
oder ein paar Wochenenden «Fortbildungszeit» stecken. Die Preise für ihre Angebote reichen von wenigen Franken («Per Buch
zum Millionär» zum Beispiel für 19.90 Franken) bis zu vierstelligen Summen für glanzvoll inszenierte Vorträge und Seminare
oder Einzelberatung. Dabei wird in den meisten Büchern und
Motivationsveranstaltungen der Begriff Erfolg vor allem als beruflicher Erfolg verstanden.
Die Internetrecherche nach Büchern zum Thema «Erfolg»
ergibt eine lange Liste wohlklingender Titel. Ein paar Beispiele:
«Die Gesetze der Gewinner: Erfolg und ein erfülltes Leben»
/ «Machen – nicht denken!: die radikal einfache Idee, die Ihr
Leben verändert» / «Thinking Big: Von der Vision zum Erfolg»
/ «Denke nach und werde reich. Die Erfolgsgesetze» / «Der
Erfolg ist in dir» / «Das Erfolgs-Geheimnis der Millionäre.
Strategien zum Reichtum» – Bestimmt kannst du auf die
Schnelle noch mindestens zehn weitere googeln.
22 aktuell l Nr. 3 l 2014 l Erfolg
«Wenn Sie keinen Deut mehr tun, als Sie müssen, dann haben
Sie den sichersten Weg in ein erfolgloses, tränenreiches Leben
gewählt. Wenn Sie mehr arbeiten, als man von Ihnen erwartet,
werden Sie sich vermutlich bei einigen Kollegen unbeliebt machen. Diese Kollegen haben es sich anscheinend zu ihrem beruflichen Ziel gemacht, für ihr Geld so wenig wie möglich zu tun.
Aber das ist deren Problem, nicht Ihres. Wenn Sie jeden Tag mehr
arbeiten, als Sie müssen, tun Sie nicht nur etwas für sich selbst.
Sie werden erstaunt sein: Sobald Sie sich auf einem Gebiet unentbehrlich gemacht haben, werden sich plötzlich um Sie herum
neue Möglichkeiten eröffnen. Nach nicht allzu langer Zeit werden
Sie in der Lage sein, den Preis, zu dem Sie sich verkaufen, selbst
festzusetzen.»
Soweit ein Abschnitt aus dem Ratgeber «Besser leben. Neue Strategien für beruflichen und persönlichen Erfolg» des amerikanischen Bestsellerautors Og Mandino (1923 bis 1996). Über 50
Millionen Exemplare seiner Bücher sind seit den 1980er-Jahren
verkauft worden und noch immer sind sie ein Renner. Mandino
selbst und seinen Erben haben die Ratschläge also in jedem Fall
Erfolg gebracht.
Jeder kann fliegen!
Mandinos Botschaft und die vieler anderer Motivationstrainer klingt
einfach und logisch: Erledige immer noch etwas mehr, als erwartet
wird! Aber was genau ist dieses «Mehr» eigentlich in einer Zeit, in
der viele Firmen ohnehin schon verlangen, sich voll und ganz reinzuknien und immer ein paar Akten mit ins Wochenende zu nehmen? Bedeutet es, das Wochenende lieber ganz im Büro zu ver-
Übertriebene
­Erfolgsversprechen
sollte man unbedingt
hinterfragen.
bringen? Wie lässt sich das mit einem Familienleben vereinbaren? Wie mit einem
Freundeskreis? Wie soll man über die Runden kommen, wenn man keine Zeit für
Sport oder zum Abschalten hat? Auch auf
diese Fragen geben die Motivationsratgeber
eine Antwort: Ganz einfach – durch «Positives Denken»! Du grübelst zu viel und lässt
dich durch organisatorische Probleme
schnell runterbringen? Selber schuld!
«Bauen Sie jeden neuen Tag auf dem Fundament von heiteren Gedanken. Ärgern Sie
sich nie über Ihre Schwächen, die Ihren
Fortschritt zu behindern drohen. Denken
Sie so oft wie nötig daran, dass Sie ein
Geschöpf Gottes sind und die Kraft haben,
jeden Traum zu verwirklichen. Sie müssen
nur versuchen, Ihren Kopf ausschliesslich
mit guten Gedanken zu füllen. Sie können
fliegen, wenn Sie sich in den Kopf setzen,
dass Sie es wollen! Vergessen Sie den Gedanken an Niederlagen. Nehmen Sie das
Wunschbild Ihres Herzens in Ihren Lebensplan auf. Und lächeln Sie!»
Aus: Og Mandino, «Besser leben», Rentrop
Verlag, 1992
«Sie können fliegen, wenn Sie sich in den
Kopf setzen, dass Sie es wollen!» Was für
eine wunderbare Zukunftsaussicht! Und
wie praktisch, dass diese Versprechung
eigentlich nicht widerlegt werden kann.
Andersherum lässt es sich schliesslich
auch formulieren: Wenn dir das Fliegen
nicht gelingt, hast du es einfach nicht genug gewollt!
Fülle deinen Kopf ausschliesslich mit guten Gedanken – über diese Aufforderung
sind die Kritiker des «Positiven Denkens»
entsetzt. Der Psychologe Dr. Günter
Schleich ist sogar der festen Überzeugung,
dass es genau diese Ausschliesslichkeit
ist, die Leute krank machen kann.
«Vertreter des Positiven Denkens versuchen oft, bei ihren Zuhörern und Lesern
ein Schwarz-Weiss-Denken zu erzeugen.
Sie unterscheiden zwischen dem richtigen/guten und dem falschen/schlechten
Denken. Dass negative Gedanken und Gefühle für die seelische Gesundheit ebenfalls wichtig sind, wird ignoriert. Der
Mensch muss Grenzen setzen können, er
muss erkennen, dass er etwas zu verlieren
hat. Das Leben ist endlich und endet mit
dem Tod. Dazwischen gibt es auch noch
sehr viel zu verlieren, nicht nur zu gewinnen. Um gesund zu bleiben, braucht die
Seele phasenweise auch Negativismus.
Bei Verlusten kann man nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen, sondern muss
sich damit auseinandersetzen.»
Aus seinem Tagungsvortrag «Vom Schwindel mit gefährlichen ­Erfolgsversprechen»,
1998.
Vergiss den Gedanken an Niederlagen!
«Vergessen Sie den Gedanken an Niederlagen!» Diese Empfehlung grenzt einen
grossen Teil unseres Lebens aus, in dem ja
oft genug etwas schiefgeht. Wenn sich
zehn junge Männer und Frauen um ein und
dieselbe Ausbildungsstelle bemühen, gibt
es nach Unterzeichnung des Lehrvertrags
einen Erfolg und neun Misserfolge zu vermelden. Das ist eigentlich ganz normal.
Doch darüber geredet wird wenig. Während
die Erfolgreichen freudestrahlend über ihre neue Stelle berichten, bleiben die Geschichten der Erfolglosen unerzählt. Sie
sind einfach nicht spektakulär genug.
Könnte man mit Hilfe von Zauberkräften in
schriftlichen Lebensläufen auch die nicht
erreichten Ziele sichtbar machen, wären
die Ausdrucke wahrscheinlich dreimal so
lang.
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