Son My - vor der Drohnen-Ära

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Son My - vor der Drohnen-Ära
Quelle:
, 16.03.2013/Ausland
Son My - vor der Drohnen-Ära
Das Massaker vor 45 Jahren in Vietnam rüttelte die Friedensbewegung auf
Foto: IAM/akg
Das Foto entstand vor 45 Jahren: Frauen und Kinder in Todesangst. Am 16. März
1968 überfielen USA-Soldaten die vietnamesische Gemeinde Son My, die auf
Militärkarten als My Lai verzeichnet war. Ihr Befehl: »Alles unschädlich machen!«
Was »alles« bedeute, wollen einige gefragt haben, worauf ihr Kompaniechef
wiederholt hatte: »Alles: Männer, Frauen, Kinder, Katzen, Hunde - alles.« Man könne
ja nicht sicher sein, wer ein »Vietcong« ist, und müsse verhindern, dass einem der
»Vietcong« in den Rücken fällt. 504 Dorfbewohner fielen den GIs zum Opfer.
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Die Kriegsführung hat sich seither verändert. Heute setzen die USA Drohnen im
»Krieg gegen den Terror« ein. Auch dabei kommen unschuldige Zivilisten ums Leben
- kann man wissen, wer ein Terrorist ist?
Von Max Böhnel, New York
»My Lai« rüttelte die USA-Bevölkerung wach
Das Massaker von Son My, das sich heute zum 45. Mal jährt, wurde zum Signal
für die Friedensbewegung
1969 war es, als Bilder und Berichte vom Massaker in »My Lai« bewiesen, dass die
Friedensbewegung in den USA Recht hatte. Sie trugen zu einem
Stimmungsumschwung in der Bevölkerung des Landes bei.
16. März 1968: Calleys Leute wüten in Son My.
Foto: Ronald L. Haeberle
Am Morgen des 16. März 1968 trieben Soldaten unter dem Kommando Leutnant
William Calleys die Bevölkerung des südvietnamesischen Dorfes Son My zusammen.
Auf den Karten der 11. Infanteriebrigade der USA-Armee waren die Weiler der
Gemeinde unter dem Namen My Lai verzeichnet und nummeriert - von My Lai 1 bis
My Lai 6. Was später als das »Massaker von My Lai« in die Geschichte eingehen
sollte, geschah in My Lai 4 und My Lai 2: 504 unbewaffnete Zivilisten, Frauen,
Kinder, Jugendliche und Greise, wurden von Calleys Leuten niedergemetzelt, mit
Sturmgewehren, Granaten, Bajonetten.
Es war nur eine von zahlreichen Search-and-Destroy-Operationen, durch
»Aufspüren und Vernichten« des »Vietcong« - Kurzwort für vietnamesische
Kommunisten - wollten die USA den Krieg gewinnen. Es gab in diesem Krieg weitere,
vielleicht noch schlimmere einzelne Verbrechen. Aber die Bilder und Berichte von
Son My-My Lai, die später in die Öffentlichkeit gerieten, wurden für die bis dahin
gutgläubigen US-Amerikaner zum ersten Schockerlebnis. Sie bestätigten die Kritik
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der noch jungen und vom Mainstream nicht ernst genommenen Friedensbewegung.
Für die linke Radiojournalistin Amy Goodman stellt My Lai einen »Wendepunkt in der
Wahrnehmung des Vietnamkriegs in der Öffentlichkeit« dar.
Wie bei vielen anderen Militäreinsätzen in Vietnam war auch in My Lai ein
Armeefotograf dabei. Der damals 28-jährige Ronald Haeberle machte Bilder in
Schwarz-Weiß mit einer Armeekamera und weitere in Farbe mit seiner eigenen. Die
Fotos mit Aufnahmen von unverfänglichen Szenen gab er als Dokumente an seine
Armee-Oberen weiter. Die Farbbilder, die die verstümmelten Opfer zeigten, behielt er
für sich. Die Beweisstücke wären »sonst von der Armee zerstört worden«, sagte
Haeberle später aus. Er hielt darauf Momente fest von zu Tode erschrockenen
Dorfbewohnern, kurz bevor Soldaten sie hinrichteten, und von Leichen.
Es dauerte jedoch mehr als ein Jahr, bis das Massaker in der USA-Öffentlichkeit
wahrgenommen wurde. Ein Soldat, der selbst nicht daran teilgenommen hatte, hörte
von mehreren Kompanieangehörigen von dem Geschehen am 16. März 1968 und
schrieb empört einen Brief an Washingtoner Politiker. Gegen Zugführer Leutnant
Calley wurde auf dieser Grundlage ein Verfahren eingeleitet. Erst als der Journalist
Seymour Hersh nach zahlreichen vergeblichen Versuchen im November 1969 sechzehn Monate nach dem Massaker - endlich einen Artikel über die Hintergründe
des Calley-Verfahrens publizieren konnte, wurde das Verbrechen bekannt. Ronald
Haeberles Farbfotos gingen durch die Presse und belegten auf ihre eigene Weise
und unwiderlegbar den grausamen Massenmord.
Das Ausmaß des Massakers eröffnete eine Debatte über die bis dahin sakrosankte
USA-Armee. Erwiesenermaßen hatten sich bis zu 100 einfache Soldaten an der
Metzelei beteiligt. Doch nur Leutnant Calley wurde zunächst zu lebenslanger Haft
verurteilt - und einen Tag nach dem Urteil zu Hausarrest begnadigt. Den musste er
ganze dreieinhalb Jahre »absitzen«. Große Teile der anwachsenden
Friedensbewegung in den USA betrachteten die Verurteilung Calleys zu recht als
Manöver zur Ablenkung von der offiziellen Militärpolitik der USA. Denn nicht zuletzt
gingen sämtliche Vorgesetzte Calleys, die die Befehle zum Ausradieren von
Ortschaften möglicher Vietcong-Sympathisanten gegeben hatten, straffrei aus.
Der Vietnamkriegsteilnehmer und spätere Filmemacher Oliver Stone sagte über das
ungesühnte Kriegsverbrechen My Lai, es habe sich um einen »Zusammenbruch
innerhalb der Division und innerhalb der Führungsetage« gehandelt. Die
Washingtoner Kriegspolitik habe aus der »Zählung von gegnerischen Leichen («body
count» genannt), Tötungsquoten, Search-and-Destroy und zum Feuer freigegebenen
Zonen« bestanden. Der friedenspolitisch engagierte bekannte Psychiater Robert Jay
Lifton sagte, My Lai sei typisch für die amerikanische Kriegsführung in Vietnam
gewesen und nicht etwa eine Ausnahme, verantwortet von durchgeknallten,
ungebildeten Soldaten, wie das im Mainstream dargestellt wurde.
Ein Bild des Fotografen Haeberle, das zusammengeschossene Dorfbewohner,
darunter Kleinkinder, zeigt, wurde seit der ersten Veröffentlichung im Winter 1969
zum meistbeachteten Mobilisierungsplakat der USA-Friedensbewegung: Leichen
liegen auf einem Feldweg zwischen Reisfeldern. Darüber steht in großen Lettern
»And Babies?«, darunter die Antwort »And Babies«. Die Worte geben Ausschnitte
eines Fernsehinterviews mit einem USA-Soldaten wieder, der sich an dem Massaker
beteiligt hatte. »Ich habe zehn oder fünfzehn von ihnen umgebracht«, sagte er. Der
Interviewer fragte weiter: »Männer, Frauen und Kinder?« Antwort: »Männer, Frauen
und Kinder.« Weitere Frage: »Und Babys?« - »Und Babys.«