the dixie chicks - Rock and Pop in the Movies

Transcrição

the dixie chicks - Rock and Pop in the Movies
SHUT UP AND SING
AKA: THE DIXIE CHICKS: SHUT UP & SING
USA 2006
R: Barbara Kopple, Cecilia Peck.
P: Barbara Kopple, Cecilia Peck, Claude Davies; David Cassidy, David Becker,
Kelly Brennan, Graig Hymson (associate producers), Daniel Voll (consulting
producer).
S: Bob Eisenhardt, Aaron Kuhn, Emma Torris, Jean Tisen, Michael Culyba (CoEditor).
Beteiligte Musiker: Dixie Chicks (Martie Maguire, Natalie Maines, Emily
Robison), Lloyd Maines, Rick Rubin.
V: 2008 (DVD).
88min, Farbe, Dolby, Englisch mit deutschen Untertiteln; 1,33:1 (4.3 Vollbild),
Dolby Digital 2.0.
Während der Amtszeit von George W. Bush erfuhr die Countrymusik
eine starke Politisierung. Damit verbunden war eine starke öffentliche
Aufmerksamkeit. Höhepunkt war fraglos der Streit um den Ausspruch
von Natalie Maines, der Sängerin der Band Dixie Chicks, während ihres
Konzerts in London am 10. März 2003 gegen den US-Präsidenten Bush:
„Wir stehen mit euch allen auf der guten Seite. Wir wollen diesen Krieg
nicht, und wir schämen uns, dass der Präsident der USA aus Texas ist.“
Im Zuge des Eindrucks einer großen Anti-Irak-Krieg-Demonstration am
selben Tage in der britischen Hauptstadt, wenige Tage vor dem
offiziellen Kriegsbeginn am 20. März, ließ sich Natalie Maines zu dieser
Aussage hinreißen, ohne zu ahnen, welche Auswirkungen dies nach sich
ziehen würde. Binnen weniger Tage und Wochen sah sich die populärste
Frauenband aller Zeiten einem weitreichenden Radioboykott und eine
Fülle öffentlicher Protestaktionen gegenüber. Nach ihren kommerziell
erfolgreichen Alben Wide Open Spaces (1996), Fly (1998), Home (2002)
schien das Ende ihrer Karriere nah. Christoph Dieckmann schrieb aus
Anlass des Kinostarts von SHUT UP & SING in der Zeit: „Eben noch
durften die drei Sirenen beim Superbowl-Finale die US-Nationalhymne
ROCK
AND
POP
IN THE
MOVIES, 1, 2011// 142
singen. Jetzt stürzte ihr Nummer-eins-Hit Travelin’ Soldier auf Platz 63.
Die Country-Radio-Syndikate verbannten die Chicks aus ihren Sendern.
Dixie-Chicks-CDs wurden öffentlich verbrannt, vom Bulldozer
zermalmt.“
SHUT UP & SING zeichnet diesen Konflikt zwischen 2003 und 2006
minutiös nach. Ähnlich eines Tagebuchs entlarvt der Film die
scheinheilige Auseinandersetzung um ein paar Worte, die alles ändern
und gibt interessante Einblicke in die Abgründe der politischen
Psychologie Amerikas in Zeiten des Krieges.
Dabei ist es fast ein Zufall, dass es zu der filmischen Dokumentation in
dieser Form überhaupt gekommen ist. Die Dixie Chicks versuchten,
Barbara Kopple (HARLAN COUNTY U.S.A., 1976) und Cecilia Peck für einen
Film zu gewinnen, der sie als erfolgreiche Frauenband porträtieren
sollte. Erst nach dem verbalen Zwischenfall auf der Bühne beim
Konzert im Shepherd’s Bush Empire in London entschloss sich Kopple
zur Realisierung dieses außergewöhnlichen Projekts (New York Times,
3.11.2006). Vor diesem Entstehungshintergrund arbeitet SHUT UP & SING
mit
einem
interessanten
dokumentarischen
Ansatz:
Keine
Tourdokumentation, kein Bandporträt; vielmehr skizziert der Film mit
lakonischem Unterton aus dem Blickwinkel eines distanzierten
Beobachters
das
komplexe
Beziehungsspiel
um
freie
Meinungsäußerung im Spannungsfeld von Popmusik, Politik und
Medien.
Der Film beginnt mit Studioaufnahmen für das Comeback-Album
Taking the Long Way: In einem Rückblick werden die Dixie Chicks
vorgestellt: im Superbowl-Finale, bei einer Werbeveranstaltung mit dem
Tournee-Sponsor Lipton und der Schlüsselszene beim Konzert in
London. Wie betäubt verfolgen die Dixie Chicks samt Management die
Hetzkampagne an der medialen Heimatfront: Traktoren fahren über
Dixie-Chicks-CDs, Proteste, Radio-Interviews. Besonderes Augenmerk
erhält
die
bekannte
Fotosession
für
das
Branchenmagazin
Entertainment Weekly, auf dessen Cover sich die drei Dixie Chicks
entblößt mit aufgemalten Begriffen der Öffentlichkeit in einer
ironisierenden Selbstanklage aus Einsicht und Resistenz zeigen: Dixie
Bimbos, Big Mouth, Traitors, Brave, Hero, Free Speech, Boykott.
ROCK
AND
POP
IN THE
MOVIES, 1, 2011// 143
Dass es sich hierbei um einen unglaublichen Vorfall politischer Zensur
und Hexenjagd zu Beginn des 21. Jahrhunderts handelt, gerade in
jenem Land, das für viele das Synonym für Freiheit ist, wird einem auf
beklemmende Weise nach und nach bewusst. Der provokant-ironische
Untertitel „Wie mutig bist Du im Land der Freiheit?“ versucht zwar
augenzwinkernd zu suggerieren, es handele sich hierbei um ein
klassisches Halunken-Helden-Stück mit Happy-End, gleichwohl sind
auch nach dem von Rick Rubin produzierten Comeback-Album 2006
Taking the Long Way längst nicht alle Wunden geheilt. SHUT UP & SING
dokumentiert schnörkellos die Verletzungen und Ängste, die die Dixie
Chicks (Martie Maguire, Natalie Maines, Emily Robison) in den drei
Jahren erlitten und ausgestanden haben. Zwar ist das erste Konzert vor
14.000 begeisterten Zuschauer in Greenville, South Carolina, eine
Genugtuung, aber ein fader Beigeschmack bleibt, denn die CountryRadio-Stationen boykottieren ihre Musik weiterhin – zwar nicht offiziell,
sie wird aber schlicht und einfach nicht gespielt. Die aus diesem
Grunde anberaumte Anhörung im Senat, die klären sollte, ob und
inwieweit der De-Facto-Boykott der Dixie Chicks ein Fall politischer
Zensur ist, bringt die Verlogenheit auf den Punkt: Einflussreiche RadioSyndikate und Entscheider in der Musikindustrie hätten aus eigener
Überzeugung und übereinstimmend die Entscheidung getroffen, die
Dixie Chicks zu verbannen – durch eine Melange aus vorauseilendem
Gehorsam, schwer durchschaubaren politischen Abhängigkeiten
zwischen Musikindustrie und politischen Netzwerken und einer
makabren Medienhetze.
Vor dem Konzert 2003 in Dallas erhalten die Dixie Chicks
Morddrohungen. Kopple und Peck zeigen die Anspannung und
Zerbrechlichkeit der drei Frauen vor diesem Auftritt, die nach eigenem
Bekunden „nichts anderes als Musik machen“ wollen, demonstriert
aber auch die Freundschaft und die ihnen gemeinsame Kraft, ihre
Haltung zu bewahren. Dass ihnen der eklatante Wandel in der
öffentlichen Meinung zum Irak-Krieg Recht gibt, kann nur ein kleines
Trostpflaster sein. 2003 gab es eine überragende Mehrheit für diesen
Krieg, 2006 eine klare Mehrheit dagegen.
Um musikalisch und auch wirtschaftlich zu überleben, bleibt den Dixie
Chicks nichts anderes übrig, als den Wandel von der Countrymusic zur
ROCK
AND
POP
IN THE
MOVIES, 1, 2011// 144
Popmusik zu wagen. Rick Rubin, Produzent von Johnny Cash und vielen
andern Rock- und Popgrößen, fungiert als geschickter Taktierer und
Türöffner. Gemeinsam werden Demos gehört, besprochen, gelobt,
kritisiert: Als aufrechter Vertreter einer unabhängigen Musikbranche
spricht er ihnen Mut zu und wiegt, ebenso wie der auf dem Boden
liegende Hund, seinen Kopf im Rhythmus der Musik.
Trotz der Veröffentlichung des neuen Albums, der überragenden Kritik
und einer enormen Medienpräsenz bleiben die Verkaufszahlen hinter
den Erwartungen anfangs stark zurück, was sich auch in den
Kartenverkäufen für die geplante Tournee widerspiegelt. Vor allem im
Süden der USA (Nashville, Memphis, Knoxville) will die Dixie Chicks
kaum jemand hören. Gleichwohl landen die Dixie Chicks einen
Überraschungs-Coup: Sie gewinnen Anfang Februar 2007 in Los
Angeles fünf Grammy Awards (darunter den für das beste Album) und
sind wieder „da“. Nathalie Maines bekennt auf einer Pressekonferenz,
dass sie dieses Album nicht zwingend machen wollten – sie mussten es
machen! Aber auch: Sie können jetzt die Musik machen, die sie wollen.
Mit erstarktem Selbstbewusstsein sind sie zurück auf der Showbühne.
Das Leben der Musikerinnen hat sich in den Jahren von Grund auf
geändert: Emily Robison gebar 2004 ebenso Zwillinge wie Marti
Maguire 2005. Auch Natalie Maines war 2004 zum zweiten Mal Mutter
geworden. Neben der musikalischen Neuausrichtung ihrer Karriere
nahm das Familienleben mehr denn eine zentrale Rolle ein.
Aber die offene Feindseligkeit, der sie ausgesetzt waren, hatte Spuren
hinterlassen. Martie Maguire kann ihre Tränen zum Ende des Films
nicht verbergen, als sie sagt, Natalie Maines plagten immer noch
Schuldgefühle. Und sie ergänzt mit verweintem Blick in die Kamera,
dass sie ihretwegen ihre Karriere aufgeben würde, weil sie ein Teil der
Chicks ist. Dies ist auch eine, wenn nicht die zentrale Botschaft des
Films: Freundschaft kann wachsen, auch wenn scheinbar übermächtige
Feinde diese auf die Probe stellen.
Der Film endet, wie er beginnt: mit einem Konzert in London im
Shepherd’s Bush Empire, nur drei Jahre später, 2006. Zwischen zwei
Songs plaudert Nathalie Maines mit dem Publikum und erklärt
ROCK
AND
POP
IN THE
MOVIES, 1, 2011// 145
beiläufig, dass sie an den Tatort zurückgekehrt seien. Im tosenden
Beifall wiederholt sie trotzig ihre zwölf Worte von 2003: „We’re
ashamed that the President of the United States is from Texas.“
(Dietmar Schiller)
Literatur:
Homepage des Films: URL: http://www.dixiechicks.com/06_dcmovie.asp.
Phil Gallo: Rev. In: Variety, 6.9.2006.
Robin Finn: Behind the Lens With the Dixie Chicks and Their Fallout. In: The
New York Times, 3.11.2006.
Owen Gleiberman: Swinging Chicks (B+). In: Entertainment Weekly 905,
3.11.2006, S. 53.
Stephen Hunter: A Revealing Peep at the Dixie Chicks. In: The Washington Post
129,347, 17.11.2006, Sect. C, S. 1, 5.
Peter Travers: Shut Up And Sing (***1/2). In: Rolling Stone 1013, 16.11.2006, S.
136.
Richard Corliss: The Dixie Chicks and the Good Soldiers. In: Time, 17.9.2006.
Christoph Dieckmann: Gute Girlies, böse Girlies. In: Die Zeit, 9.8.2007, S. 33.
Diskographie:
Wide Open Spaces (1996), Monument Records.
Fly (1998), Monument Records.
Home (2002), Open Wide/Monument/Columbia.
Top of the World Tour: Live (2003), Open Wide/Monument/Columbia.
Taking the Long Way (2006), Open Wide/Columbia.
Empfohlene Zitierweise:
Schiller, Dietmar: Shut Up & Sing.
In: Rock and Pop in the Movies 1, 2011.
URL: http://www.rockpopmovies.de
Datum des Zugriffs: 10.10.2011.
Rock and Pop in the Movies (ISSN tba)
Copyright © by the author. All rights reserved.
Copyright © für diese Ausgabe by Rock and Pop in the Movies. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the
author and „Rock and Pop in the Movies“.
ROCK
AND
POP
IN THE
MOVIES, 1, 2011// 146