Denkformen und Wertesysteme in Wolfgang

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Denkformen und Wertesysteme in Wolfgang
Hilda Schauer
Denkformen und Wertesysteme
in Wolfgang Koeppens
Nachkriegstrilogie
Edition Praesens
Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft
Wien
Gedruckt mit Förderung der
Philosophischen Fakultät der Universität Pécs
Lektorin: Alice Bolterauer
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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ISBN 3-7069-0231-1
Umschlagbild: Giovanni Battista Piranesi: Veduta di Campo Vaccino
aus den Vedute di Roma
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© 2004 Wien | Edition Praesens
Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft
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Inhaltsverzeichnis
I.
1.
2.
3.
Einleitung
Forschungsstand
Zielsetzung und Vorgehensweise
Die janusköpfigen 50er Jahre
9
9
15
25
II.
Tauben im Gras (1951)
30
1.
2.
3.
3.1.
3.1.1.
3.1.2.
3.1.3.1.
3.1.3.2.
Ort, Zeit und Erzähltechnik
Die Ringkomposition
Die zwei Figurengruppen des Romans
Kunst und Bildung – geistige Positionen in den Trümmern
Der Künstler als Nonkonformist
Der Künstler als Konformist
Der konservative Traditionalismus
Edwins Rede oder die Konfrontation der FigurenBewußtseinseinstellungen
Der Angriff auf Edwin
Die Möglichkeit des Lebens unter den Bedingungen der
Liebe oder der Vorurteile. Vertreter und Opfer des
Rassismus
Carla und Washington Price
Vertreter des Lebens unter den Bedingungen der Vorurteile
und des Rassismus
Der Angriff auf den Negerclub
Odysseus Cotton und Susanne, Josef
Henriette Cohen und Christopher Gallagher, Ezra und
Heinz
Die Struktur der Sequenzen
Die erste Geschichte
Die erste Figurengruppe
Die zweite Figurengruppe
Die zweite Geschichte
Die erste Figurengruppe
Die zweite Figurengruppe
30
36
40
41
41
50
53
3.1.3.3.
3.2.
3.2.1.
3.2.2.
3.2.3.
3.2.4.
3.2.5.
4.
4.1.
4.1.1.
4.1.2.
4.2.
4.2.1.
4.2.2.
61
73
76
76
81
83
86
90
91
92
92
93
93
93
95
5.
Zwischen Venedig und Paris. Die Darstellung der der Kulturtraditionen in Tauben im Gras
96
III.
Das Treibhaus (1953)
107
1.
2.
2.1.
2.1.1.
2.1.2.
2.1.3.
2.2.
2.2.1.
2.2.2.
2.2.2.1.
2.2.2.2.
2.2.2.3.
2.2.2.4.
2.2.3.
2.2.4.
2.2.5.
2.2.6.
2.2.7.
2.2.8.
2.2.9.
3.
Ort, Zeit und Erzähltechnik
Das Handlungsmodell des Romans Das Treibhaus
Die erste Vorgeschichte
Zu Z1=T (Fa, Fb1)
Zu Z2=V (Fa, Fb1, Fc1)
Zu Z3=T (Fa, Fb1)
Die zweite Vorgeschichte
Die Ankunft in Bonn
Die Konfliktfiguren der zweiten Vorgeschichte
Korodin
Frost-Forestier
Musäus
Knurrewahn
Keetenheuve, der Pazifist
Guatemala – Chance oder Flucht für Keetenheuve?
Die Rheinterrassen-Szene
Zu Z5= V (Fa, Fb2, Fc2)
Die Parlamentssitzung
Die Jona-Episode (2,378-379)
Zu Z6= T (Fa, Fb2)
Denkformen und Wertesysteme im Treibhaus
107
109
111
111
114
120
129
129
133
133
134
135
135
138
140
144
146
148
152
155
158
IV.
Der Tod in Rom (1954)
163
1.
2.
2.1.
2.2.
3.
3.1.
3.1.1.
Ort, Zeit und Erzähltechnik
Die Prologe des Romans
Der erste Prolog
Der zweite Prolog
Lebensmöglichkeiten in der ersten und zweiten Geschichte
Die erste Geschichte
Die Möglichkeit des Lebens unter dem Aspekt der
Machtdominanz
163
166
166
169
171
171
172
3.1.2.
4.3.1.
4.3.2.
5.
6.
Lebensmöglichkeiten unter dem Aspekt der
Kunstdominanz
Die Möglichkeit von Leben unter dem Aspekt der
Dominanz des Glaubens
Die zweite Geschichte
Das Leben unter den Bedingungen der Macht. Der
Gott des Todes und die bürgerlichen Gorgonen
Lebensmöglichkeiten unter den Bedingungen der
Kunst: Siegfried Pfaffrath und die Kürenbergs
Reaktionen auf Siegfrieds Musik während der
Probe. Der Ästhetizismus der Kürenbergs und die
Radikale Avantgarde von Siegfried
Die Badeschiff-Szene
Figurenreaktionen auf Siegfrieds Symphonie
Das Afrika-Motiv
Das Leben unter dem Aspekt der Dominanz des
Glaubens
Lebensmöglichkeiten unter den Bedingungen der Liebe
Wolfgang Koeppen und Thomas Mann. Formen
der Intertextualität
Der intertextuelle Titel
Koeppens Thomas Mann-Essays
Die Beschwörung der schweren Stunde (1975)
und Die Beschwörung der Liebe (1980)
Die Rolle von Thomas Manns Der Tod in
Venedig und Doktor Faustus als Referenztexte für
Wolfgang Koeppens Roman Der Tod in Rom
Der Tod in Venedig als Referenztext
Thomas Manns Doktor Faustus als Referenztext
Die Struktur des Romans
Das Verhältnis von Mythologie und Zeit- bzw. Kulturkritik
223
224
231
236
238
V.
Schluß
244
VI.
Literatur
251
3.1.3.
3.2.
3.2.1.
3.2.2.
3.2.2.1.
3.2.2.2.
3.2.2.3.
3.2.2.4.
3.2.3.
3.2.4.
4.
4.1.
4.2.
4.3.
176
178
180
180
194
194
202
204
208
211
216
218
219
I. Einleitung
1. Forschungsstand
Der primäre Aspekt der neueren Koeppen-Forschung ist nicht mehr die Bestrebung, einen unterschätzten Autor zu rehabilitieren, sondern vielmehr die
Betonung der Aktualität eines Autors, der die politischen, kulturellen und ästhetischen Debatten seiner Zeit mitgestaltet hat. Man kann Josef Quack nur zustimmen, der über die Romane Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in
Rom schreibt, daß es nur wenige Romane aus dem ersten Jahrzehnt nach 1945
gebe, die sich neben Koeppens Romanen behaupten könnten.1 In diesem Sinne
gilt das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit der Romantrilogie, die aufgrund
neuer Fragestellungen untersucht wird.
Mit Koeppens Namen sind einige Legenden verbunden. Zu diesen gehört
auch die Legende von seinem Verhältnis zur Gruppe 47. Dieser Frage ist Eugen
Satschewski in seinem Aufsatz nachgegangen.2 Es ist schwer, den Grad der
seelischen Verbundenheit der einzelnen Autoren mit den Zielen der Gruppe zu
bestimmen. Koeppens Aussagen über die Gruppe, so Satschewski, können als
wohlwollend bezeichnet werden. Koeppen ist der Meinung, daß es ohne das
Wirken der Gruppe 47 zu der gegebenen Entwicklung der Literatur in Deutschland nicht so schnell gekommen wäre.3 Er wurde mehrmals zu den Tagungen
eingeladen, aber hat diese Einladungen zunächst abgelehnt. Koeppen erklärt
dies damit, daß es in seinem Wesen liege, daß er von Tagungen nichts halte.
Satschewski ist der Meinung, daß Koeppen in den ersten Jahren des Bestehens
der Gruppe kein allzu großes Interesse für die Gruppe zeigte, weil er damals
schon die harte Schule der Journalistik bei Herbert Ihering im Berliner BörsenCourier hinter sich hatte und der Autor von zwei Romanen und der Aufzeichnungen aus einem Erdloch war. Nach dem Erscheinen seiner Romantrilogie
1
Josef Quack: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. Würzburg 1997, S. 7.
Eugen Satschewski: Wolfgang Koeppen und die Gruppe 47. In: Gunnar Müller-Waldeck/
Michael Gratz (Hg.): Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die Ziellosigkeit. Hamburg 1998, S.
46-57.
3
Vgl. ebd. S. 49.
2
9
begannen sich die jungen Autoren für seine Romane zu interessieren, die zum
Gegenstand der schärfsten professionellen Aufmerksamkeit wurden.
Koeppen stand unter der besonderen Obhut der Gruppe 47. Alfred Andersch, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Fritz Raddatz
und Marcel Reich-Ranitzki haben eine Reihe von Artikeln und Buchbesprechungen über Koeppen geschrieben, und Koeppen hat über Ernst Schnabel,
Heinz von Cramer, Alfred Andersch, Peter Weiß, Günter Eich, usw., also über
Autoren der Gruppe 47 geschrieben. Es war Alfred Andersch, der viele Lesungen zu Koeppens Werken im Rundfunk bewirkte und als Leiter der Redaktion
Radio-Essay des Süddeutschen Rundfunks Koeppen 1955 bat, im Auftrage des
Rundfunks auf Reisen zu gehen. In der von Andersch edierten Zeitschrift Texte
und Zeichen sind mehrmals Arbeiten von und über Koeppen erschienen.
Koeppen nahm in den 50er Jahren an Tagungen und an den von der Gruppe
47 organisierten politischen Aktionen teil, so unterzeichnete er 1958 zusammen
mit anderen Autoren der Gruppe den Aufruf gegen die Atombewaffnung der
Bundeswehr.4 Über seine Teilnahme an Tagungen gibt es nur einige Erinnerungen. Hans Werner Richter bestätigt, daß Koeppen 1954 an der Tagung der
Gruppe in Cap-Circeo (Italien) und im selben Jahr in Burg Rothenfels teilgenommen hat. Fritz J. Raddatz bestätigt Koeppens Teilnahme an der Tagung
1955 in Berlin.5
Die Autoren der Gruppe 47 widmeten Koeppens Trilogie auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil in seinen Romanen die Wege der literarischen Darstellung mit Hilfe der „neuen Avantgarde“ zu beobachten sind. Satschewski ist der
Meinung, daß die folgenden Jahre „in der Geschichte der Gruppe im Zeichen
des zunehmenden Einflußes der neuen ‘Avantgarde’ mit einem merkbaren
Rückblick auf Koeppen verlaufen“.6 Da die politische Problematik in den längeren Werken der Autoren der Gruppe 47 erst Mitte der 50er Jahre eine wichtige
Rolle zu spielen begann, bildeten Koeppens Romane in dieser Hinsicht künstlerische Orientierung.
Koeppens Werk erweitert sich ständig in dem Sinne, daß die Forschung immer wieder neue Werke entdeckt. Vor allem sind es früher unbekannte journalistische Arbeiten des jungen Koeppen. 1992 wird der zuvor unter dem Namen
4
Vgl. ebd. S. 52.
Ebd.
6
Ebd. S. 54.
5
10
Jakob Littners erschienene Roman Aufzeichnungen aus einem Erdloch7 bekannt.
Roland Ulrich berichtet in seiner Studie über die Entstehungsgeschichte des
Romans.8 Über das Quellenmaterial war bis 1992 nur das bekannt, was Koeppen selbst erzählt hatte. Demnach hörte sich ein Verleger die Geschichte des
dem Holocaust entkommenen Juden Jakob Littner an und erzählte sie dem ihm
bekannten Schriftsteller Koeppen. Aus den Notizen des Verlegers habe dann
Koeppen den Roman geschrieben. Entgegen Koeppens Behauptungen gebe es
einen Quelltext, den Koeppen gekannt habe. Anhand vergleichender Analysen
zeigt Ulrich, daß Koeppen das komplette Manuskript gekannt hatte. Er hat das
183 Seiten lange Manuskript umgearbeitet. Da Jakob Littner an einen von einem
Schriftsteller überarbeiteten Tatsachenbericht, an eine Familiengeschichte, nicht
an einen Roman gedacht hatte, protestierte er hinterher. Auf die Frage, warum
Koeppen die Wahrheit verschwieg, kann geantwortet werden, daß er Littners
Text nur als literarische Vorlage betrachtete. Jörg Döring meint, daß Koeppen
vor einer schweren moralischen Frage gestanden habe: „Demaskierte man ihn
als ghostwriter, hatte er die notorischen Glaubwürdigkeitsprobleme der NSOpfer in der frühen Nachkriegszeit eklatant vergrößert und dem Verdrängungswillen der deutschen Leser noch Vorschub geleistet. Würde er aber erfolgreich
sein, der Text als ein authentischer Leidensbericht erscheinen – so das kehrseitig
Verheißungsvolle seiner Schreibaufgabe – dann hätte er seine Kompetenz als
Autor in den Dienst eines Verfolgten gestellt: eine Art Wiedergutmachungsleistung.“9
Ulrichs Ansicht nach kreise Koeppens Werk um Angst, Schuld und Strafe,
um dämonische Verstrickung, Verzweiflung und melancholische Welthaltung.
Koeppen findet Argumentationen von der Antike über Kierkegaard, Nietzsche,
Heidegger und Sartre für die „Geworfenheit“ des Menschen. Zum Schreiben
Koeppens gehört – wie auch in den ersten Romanen – die häufige Bezugnahme
auf literarische Vorlagen, so setzt er an die Stelle eigener Erfahrung Leseerleb7
Jakob Littner: Aufzeichnungen aus einem Erdloch. München 1948.
Roland Ulrich: Vom Report zum Roman. Zur Textwelt von Wolfgang Koeppens Roman
Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. In: Colloquia Germanica. Internationale
Zeitschrift für Germanistik. Herausgegeben von Theodore Fiedler unter Mitarbeit von Jeannine
Blackwell. Separatum. Band 32/1999/2. Published for the University of Kentucky by Francke
Verlag Tübingen and Basel, S. 135-150.
9
Jörg Döring: „...ich stellte mich unter, ich machte mich klein...”. Wolfgang Koeppen 19331948. Frankfurt am Main 2001, S. 274.
8
11
nisse. Neben Littners Erfahrungen werden Koeppens eigene Lektüreerfahrungen
dargeboten. Ulrich wirft Koeppen vor, daß er das quantitative Ausmaß von
Littners Originalmanuskript verheimlicht habe, er hätte sich zu Littners Manuskript bekennen sollen. Die Diskussion um diesen Roman ist lange nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet, und kann nun auf dem Boden neuer Quellen
fortgesetzt werden.10
Das Werk Wolfgang Koeppens ist nach seinem Tod am 15. März 1996 in
eine neue Phase der Forschung getreten. Der Nachlaß des Schriftstellers wird
seit 1997 von der Greifswalder Universität bearbeitet. Er besteht aus den 11000
Bänden der Koeppen-Bibliothek, den nachgelassenen Manuskripten und den
Manuskripten der veröffentlichten Werke bzw. Koeppens reichhaltigen Sammlungen.11 Gunnar Müller-Waldeck stellt die Frage: „Weshalb kamen die Dinge
in die kleine Universitätsstadt in Vorpommern? Die Tatsache, daß er hier am 23.
Juni 1906 das Licht der Welt erblickte, dürfte als Grund allein wenig plausibel
sein, zumal bekannt ist, daß der Halbwüchsige sich dem Ort seiner Herkunft
gegenüber sehr distanzvoll verhielt und als berühmter Schriftsteller am 15. März
1996 im über tausend Kilometer entfernten München verstarb, wo er seit 1943
lebte.“12 Zu DDR-Zeiten konnte die Ehrendoktorwürde Koeppen, der Pommernpreisträger war, nicht verliehen werden. Nach der Wende war Koeppen bereit,
die Ehrendoktorwürde entgegenzunehmen. Die Greifswalder Universität hat bis
2000 drei Konferenzen über Leben und Werk von Wolfgang Koeppen veranstaltet. „All diese Bemühungen um Wolfgang Koeppen veranlaßten die Suhrkamp-Stiftung als Alleinerbin, den Nachlaß nach Mecklenburg-Vorpommern zu
verkaufen, weil hier an der Universität die Möglichkeit der Aufarbeitung durch
Fachleute gegeben ist“ – schreibt Müller-Waldeck über die Gründung des Wolfgang-Koeppen-Archivs.13
Im Suhrkamp-Verlag ist unter dem Titel Auf dem Phantasieroß. Prosa aus
dem Nachlaß ein erster Band (700 Seiten) mit Nachlaßprosa erschienen.14 Ein
Großteil der Manuskripte kann eingesehen werden, ein Bibliotheksfundbuch
10
Vgl. Roland Ulrich: Vom Report zum Roman, a. a. O.
Vgl. Gunnar Müller-Waldeck: Das Wolfgang-Koeppen-Archiv. In: Materialien zur 3.
Wolfgang-Koeppen-Konferenz am 5-8. Oktober 2000
12
Gunnar Müller-Waldeck: Das Wolfgang-Koeppen-Archiv, a. a. O.
13
Ebd.
14
Wolfgang Koeppen: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß. Hg. Von Alfred
Estermann. Frankfurt am Main 2000.
11
12
und ein Brieffundbuch sind bereits in Arbeit. Das Koeppen-Archiv wird künftigen Forschern ermöglichen, auch den Mythos vom verstummten Autor zu hinterfragen.
Lange Zeit gab es in der Forschung zwei Hauptströmungen. Die erste ist von
Reich-Ranickis Aufsätzen (1961, 1963) eingeleitet worden.15 Diese Richtung
betont die zeitkritischen Aspekte von Koeppens Werk. In diese Linie gehören
zunächst Dietrich Erlachs und Manfred Kochs Monographien (1973).16 Der
zeitkritische Aspekt und das Wirkungsvermögen der Literatur wurden kritisch
beleuchtet (Peter Laemmle 1972, Stephan Reinhard 1972).17 Die zweite Richtung versuchte, den zeitkritischen Aspekt in Koeppens Werken zu kritisieren
oder sogar zu leugnen (Klaus Haberkamm 1975).18 Es ergab sich auch eine
dritte Interpretationslinie, die in Koeppens Werken die Probleme des Schreibens
unter den Bedingungen der Moderne untersuchte (Helmut Heißenbüttel 1959,
1968, 1972; Ernst-Peter Wieckenberg 1973; Norbert Altenhofer 1983; Martin
Hielscher 1988).19 Die 1984 erschienenen Monographien Hans Ulrich Treichels
15
Marcel Reich-Ranicki: Der Fall Koeppen [Erste Veröffentlichung: 1961]. In: Ulrich
Greiner (Hg.): Über Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main 1976, S. 101-108. Marcel ReichRanicki: Der Zeuge Koeppen [Erste Veröffentlichung: 1963]. In: Ulrich Greiner: Über
Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 133-150.
16
Dietrich Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler. Uppsala 1973.
Manfred Koch: Wolfgang Koeppen. Literatur zwischen Nonkonformismus und Resignation.
Stuttgart 1973.
17
Peter Laemmle: „Annäherung an die Wahrheit der Dinge”. Wolfgang Koeppens
Bildersprache zwischen Utopie und Resignation. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Wolfgang
Koeppen. Text und Kritik 34. München 1972, S. 46-52.
Stephan Reinhard: Politik und Resignation. Anmerkungen zu Koeppens Romanen. In:
Heinz Ludwig Arnold: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 38-45.
18
Klaus Haberkamm: Wolfgang Koeppen. „Bienenstock des Teufels“. Zum naturhaftmythischen Geschichts- und Gesellschaftsbild in den Nachkriegsromanen. In: Hans Wagener
(Hg.): Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft in der Kritik der deutschen
Literatur. Stuttgart 1975, S. 241-275.
19
Helmut Heißenbüttel: Hörtext und Lesetext Amerika. In: Ulrich Greiner: Wolfgang
Koeppen, a. a. O., S. 95-98, Derselbe: Literatur als Aufschub von Literatur? Über den späten
Wolfgang Koeppen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Wolfgang Koeppen. TEXT+KRITIK.
34/1972, S. 33-37.
Ernst-Peter Wieckenberg: Der Erzähler Wolfgang Koeppen. In: Heinz Ludwig Arnold
(Hg.): Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden. Westdeutsche Literatur von 19451971. Frankfurt am Main 1973, S. 194-204.
13
und Bernard Uskes versuchten Koeppen als „zeitkritischen“ und „modernen“
Autor zu deuten.20
Die Vertreter der zeitkritischen Richtung haben Koeppen „Mythisierung“
und „Dämonisierung“ vorgeworfen. Haberkamm behauptet, daß die Zeitkritik
wegen der irrational-mythischen Form nicht zur Geltung kommen könne. In der
Analyse der Romane möchte ich beweisen, daß es gar nicht um „Mythisierung“
und „Dämonisierung“ geht, sondern die Umdeutung der Referenztexte zur Zeitkritik beitragen kann.
Thomas Richner (1982)21 wählt als Bezugspunkt der Analyse Pascal und
Kierkegaard und zieht den Schluß, daß Koeppens Figuren nur die Entscheidung
treffen können, zwischen Glauben und Verzweiflung zu wählen. Im Gegensatz
zu Richners These, daß Koeppens Figuren die Unfähigkeit zu glauben zu tragischen Figuren macht, vertrete ich die Meinung, daß diese die Möglichkeit haben, verschiedene dominante Werte zu vertreten, von denen nur einer der Glaube ist.
In der Forschung der letzten Jahre gibt es immer weniger Bücher, die sich
mit allen Werken Koeppens auseinandersetzen. Zu beobachten ist auch eine
Vielfalt der Methoden und Themen. Immer mehr Forscher beschäftigen sich nur
mit einem Werk oder mit Detailanalysen bzw. mit Früh- und Spätwerken des
Autors. Zum Schluß möchte ich einige Autoren aufzählen, deren Werke zu den
Besten der letzten Jahre gehören und ohne die und deren Detailanalysen ich die
Romane der Nachkriegstrilogie in der vorliegenden Form nicht hätte interpretieren können: Martin Hielscher, Karl-Heinz Götze, Gerhard Pinzhoffer, Josef
Quack, Gunnar Müller-Waldeck und Michael Gratz (Hg.), Otto Lorenz und
Christoph Haas.22
Norbert Altenhofer: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. In: Paul Michael Lützeler
(Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein 1983.
Martin Hielscher: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang
Koeppens Nachkriegsromanen und in „Jugend“. Heidelberg 1988.
20
Hans-Ulrich Treichel: Fragment ohne Ende. Eine Studie über Wolfgang Koeppen.
Heidelberg 1984.
Bernhard Uske: Geschichte und ästhetisches Verhalten. Das Werk Wolfgang Koeppens.
Frankfurt am Main 1984.
21
Thomas Richner: Der Tod in Rom. Eine existential-psychologische Analyse von
Wolfgang Koeppens Roman. Zürich und München 1982.
22
Karl-Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: „Das Treibhaus“. München 1985.
14
2. Zielsetzung und Vorgehensweise
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Koeppens Romantrilogie der fünfziger
Jahre fiktional zu lesen und die Konstruktionsprinzipien für die Textwelt der
Romane zu bestimmen. In der Fachliteratur wird behauptet, daß die Romane der
Trilogie durch ähnliche Themen, Strukturen und Erzähltechniken verbunden
werden. Aufgrund detaillierter Textanalysen möchte ich nachweisen, daß es
einen dominanten Aspekt, ein ausgezeichnetes Attribut gibt, dessen Beschreibung in den verschiedenen Phasen der Handlung zur Erforschung der Textstrukturen und der Textkonstruktionsverfahren beitragen kann. Dabei ist anzumerken, daß der Ansatz nicht auf eine gleich ausführliche Analyse aller Ebenen des
Textes zielt, sondern hervorgehoben wird die Ebene der Geschichte – das Thema, die inhaltlich-motivische Einrichtung, die Figurenkonstellation, die Struktureigenschaften, Fragen der Zeit und des Raumes. Berührt werden auch Fragen
des Erzählvorganges, wie z. B. die Rolle des Erzählers, die Perspektivierung, die
Montagetechnik und vor allem die Intertextualität. Untersucht werden die Formen der intertextuellen Bezugnahmen in den verschiedenen Phasen der Handlung. Die intertextuellen Verweise spielen sowohl für die erzählte Geschichte
als auch für das Erzählen eine besonders wichtige Rolle. Da die Figuren auch
intertextuelle Eigenschaften haben, d.h. ihre Denkform und ihr Wertbewußtsein
auch durch die intertextuellen Bezugnahmen konstituiert werden, müssen diese
besonders eingehend untersucht werden. Bei dieser Zielsetzung stütze ich mich
vor allem auf die theoretischen Arbeiten und die Interpretationspraxis der Szegeder Germanisten-Schule, deren Hauptvertreter Árpád Bernáth und Károly
Csúri sind.23
Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“: Entwurf einer Theorie literarischer
Bildlichkeit aus anthropologischer Sicht. Würzburg 1996.
Josef Quack: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit, a. a. O.
Gunnar Müller-Waldeck, Michael Gratz (Hg.): Mein Ziel war die Ziellosigkeit, a. a. O.
Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und
Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter.
Tübingen 1998.
Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre. Würzburg 1998.
23
Árpád Bernáth: Narrativ szövegek irodalmi magyarázata (Zur literarischen Erklärung
narrativer Texte, ung.), In: Literatura 3/4, S. 191-196.
15
Ein erster und bis heute grundsätzlicher Ansatz zum Schaffen einer wissenschaftstheoretisch fundierten literarischen Erklärungstheorie in der ungarischen
Literaturwissenschaft stammt von Árpád Bernáth. Im folgenden versuche ich
einige seiner Grundthesen darzustellen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1978
gibt Bernáth eine erste Zusammenfassung seiner interpretationstheoretischen
Prinzipien:
Die literarische Erklärung narrativer Texte24
Bernáth geht davon aus, daß alle Texte – literarische und nicht-literarische –,
mindestens eine Welt etablieren, deren (Re)Konstruktion durch den Leser als
erste Phase der Textverarbeitung betrachtet werden kann. Die vom Text etablierte Welt wird Textwelt genannt. Die Textwelt, wie jede mögliche Welt, besteht aus Sachverhalten, d.h. aus Objekten, die durch verschiedene Attribute
festgelegt und durch verschiedene Relationen verbunden werden, so ist die
Textwelt selbst ein komplexer Sachverhalt. Bernáth geht davon aus, daß sich der
Aufbau der (re)konstruierten Textwelt für den Leser „willkürlich“ erweist. Das
Leseverfahren, daß sich zum Ziel setzt, die Willkürlichkeit der (re)konstruierten
Textwelt aufzuheben, wird Erklärung genannt. Der Leser kann die Willkürlichkeit der (re)konstruierten Textwelt auf zweierlei Art deuten, so hat auch die
Erklärung zwei Grundtypen:
Erklärung1
Der Aufbau der Textwelt ist für den Leser willkürlich, wenn er voraussetzt,
daß der Wahrheitswert der Sachverhalte innerhalb der Textwelt für ihn unbekannt, aber erkennbar ist. Der Wahrheitswert ist für den Leser unbekannt, wenn
er nicht weiß, ob einem Sachverhalt der Textwelt der Wahrheitswert „wahr“
oder „falsch“ zugeordnet werden kann. Erkennbar ist der Wahrheitswert für den
Árpád Bernáth / Károly Csúri: Mögliche Welten unter literaturtheoretischem Aspekt. In:
Károly Csúri (Hg.): Literary Semantics und Possible Worlds/ Literatursemantik und mögliche
Welten (= Studia Poetica 2), Universität Szeged, Szeged, S. 44-62.
Bernáth Árpád: Építőkövek a lehetséges világok poétikájához. 12. deKON-KÖNYVek.
Szeged: Ictus 1998.
24
Zusammenfassung des ungarisch erschienenen Aufsatzes Narrativ szövegek irodalmi
magyarázata. In: Bernáth Árpád: Építőkövek, a. a. O., S. 141-145.
16
Leser, so Bernáth, wenn er meint, daß er fähig dazu ist, den Sachverhalten der
Textwelt entweder den Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“ zuzuordnen. „Fähig
dazu sein“ bedeutet, daß für den Leser eine durch die Textwelt dargestellte, aber
von ihr unabhängige Welt zugänglich ist. Die Welt, auf deren Grundlage der
Leser den Sachverhalten der Textwelt einen Wahrheitswert zuordnet, wird Interpretanten-Welt, kurz Interpretant genannt.
Einem Sachverhalt der Textwelt kann der Wahrheitswert „wahr“ zugeordnet
werden, wenn im Interpretant der diesem entsprechende Sachverhalt „besteht“,
sonst ist der Sachverhalt in der Textwelt „falsch“. Erklärung1 ist also für Bernáth
eine Wahrheitswert-Analyse, die über die beiden Komponenten der vorgegebenen Welt und der Textwelt operiert. Die Textwelt ist ausführlich erklärt, wenn
jedem Sachverhalt der Textwelt ein Wahrheitswert zugeordnet ist. Das Verhältnis der Textwelt und der Interpretanten-Welt muß nicht ausschließlich als eine
Wertungs-Relation verstanden werden, wenn man den zeitlichen Unterschied
zwischen der Entstehung der Textwelt und der der Interpretanten-Welt in Betracht zieht. Die Interpretanten-Welt ist in diesem Falle eine Welt, die Anweisungen gibt, um eine ihr angehörige wahre Textwelt zu etablieren. Dieser Zusammenhang macht die Erklärungsfunktion der Zuordnung von Wahrheitswerten den unterschiedlichen Sachverhalten der Textwelt noch klarer. Die Frage
nämlich, warum die Textwelt so und nicht anders aufgebaut ist, kann unter Bezugnahme auf die Interpretanten-Welt beantwortet werden. Es gibt Sachverhalte
in der Textwelt oder es kann sogar eine ganze Textwelt konstruiert werden,
ohne daß eine Interpretanten-Welt Anweisungen dafür geben würde. Gerade
diese Fähigkeit der Sprache führt uns zu dem zweiten Erklärungstyp.
Erklärung2
Der Aufbau der Textwelt kann für den Leser auch dann willkürlich sein,
wenn er annimmt, daß der Wahrheitswert der Sachverhalte in der Textwelt zwar
gegeben, aber der Aufbau der Textwelt unbegründet, allerdings begründbar ist.
Im Falle der Erklärung2, so Bernáth, geht der Leser davon aus, daß für ihn der
Wahrheitswert der Sachverhalte in der Textwelt gegeben ist, und zwar in dem
Sinne, daß der Textwelt der Wahrheitswert „wahr“ zuzuordnen ist. Der Leser
meint, es gibt keine von der Textwelt unabhängige Welt, die hinsichtlich einer
Wahrheitswert-Analyse als Interpretant dienen könnte. Unbegründet ist der
17
Aufbau der Textwelt für den Leser, wenn er nicht weiß, warum sie auf die gegebene und nicht auf eine andere Weise aufgebaut ist. Begründet wird der Aufbau der Textwelt für den Leser, wenn er eine Theorie konstruieren kann, die alle
Anweisungen für den Aufbau der Textwelt enthält.
Die Erklärung1 ist für Bernáth die Erklärung einer (re)konstruierten Textwelt, kurz die nicht-literarische Erklärung. Die Erklärung2 wird als Erklärung
einer (re)konstruierten Textwelt literarische Erklärung genannt. Wenn man den
Aufbau der (re)konstruierten Textwelt literarisch erklärt, wird der die zu erklärende Textwelt etablierende Text als literarischer Text betrachtet. Im Falle der
literarischen, d.h. fiktionalen, Erklärung wird die Möglichkeit der Erkenntnis
aufgrund der fiktiven Sachverhalte durch eine Theorie gesichert. Mit Hilfe der
Theorie werden die Konstruktionsprinzipien für eine fiktive Welt von handelnden Personen formuliert. Die Konstruktionsprinzipien, so Bernáth, fungieren mit
der Strenge von Naturgesetzen.
„Es scheint uns sinnvoll anzunehmen, daß die Gestalten einer Textwelt auf
Individuen einer möglichen Welt referieren. Mögliche Welten sind als Strukturierungen bzw. Explikationen von Textwelten anzusehen, Versuche für die Aufhebung der Willkürlichkeit der Sachverhalte und ihrer Zusammenhänge, die die
Textwelt aufbauen.“25
Die möglichen Welten der Literatur sind für Bernáth ethische Welten mit
ihren handelnden Figuren: Es handelt sich um die Herausbildung von Wertzuständen und Wertstrukturen, um ihre Bewahrung oder Veränderung. Die Wertstrukturen sind also immer historisch-gesellschaftlich geprägt und daher zeitlich-räumlich beschränkt.26
Zur Analyse der Romane von Heinrich Böll führt Bernáth ein Begriffssystem ein, mit dessen Hilfe Modelle auf verschiedenen Stufen der Abstraktion
konstruiert werden können. Mit der Modellmethode können die grundlegenden
Regeln hinsichtlich des Aufbaus der Ereignisreihen in den Böll-Romanen dar25
Árpád Bernáth, Károly Csúri: Mögliche Welten unter literaturtheoretischem Aspekt, a. a.
O., S. 54.
26
Ebd. S. 51.
18
gestellt werden.27 Unter Modell wird dabei „ein im Vergleich zum Modelloriginal abstrakteres, einfacheres, die Attribute des Modelloriginals nur in bestimmter Hinsicht reproduzierendes System verstanden.“28 Die Modelle für die Ereignisreihen werden in der Analyse der Böll-Romane Handlungsmodelle oder
Handlungen genannt, die mehreren möglichen Welten zugeordnet werden können. Für Bernáth ist das abstrakteste Modell einer Ereignisreihe die Geschichte,
die er durch Veränderungsrelationen zwischen zwei Modellzuständen definiert.
Modelle werden immer nach einer ausführlichen Analyse der Romane konstruiert. In der Bekanntmachung der Forschungsergebnisse kann auch ein deduktives Verfahren angewandt werden, anstatt den heuristischen Weg der Forschung zu wiederholen.
Bernáth hat eine Geschichte konstruiert, die von den Textwelten aller BöllRomane interpretiert wird. Er nennt sie Böll-Geschichte. Im ersten Modellzustand dieser Geschichte (Z1) agieren zwei Figuren (Fa und Fb), zwischen ihnen
besteht die Relation des Getrenntseins. Im zweiten Modellzustand erscheint
noch Fc, und das Getrenntsein wird aufgehoben; die Relation in diesem Zustand
ist das Vereintsein. Fa und Fb werden das Figurenpaar, Fc die Konfliktfigur genannt, deren Ziel es ist, Fa und Fb voneinander zu trennen. Wenn im dritten Modellzustand Fa und Fb voneinander getrennt werden, wird die Geschichte Vorgeschichte genannt, wenn es Fc nicht gelingt, Fa und Fb voneinander zu trennen,
geht es um eine Schlußgeschichte. Eine Vorgeschichte bzw. eine Schlußgeschichte bilden eine Phase der Handlung. Die Böll-Geschichte ist offen und
repräsentiert negative Werte, wenn sie ausschließlich aus Vorgeschichten besteht. Endet sie mit einer Schlußgeschichte, so ist sie geschlossen und vertritt
positive Werte.
Durch Ersetzung einzelner Figuren der Böll-Geschichte (GB) mit Varianten
können komplexere Handlungen beschrieben werden. Varianten sind solche
Figuren in der Böll-Handlung, die außer der wichtigsten Attribute der Figuren
von GB auch über andere Attribute verfügen. Varianten werden mit Fa1…Fan;
Fb1…Fbn und Fc1…Fcn bezeichnet. Einer Figur der Geschichte können mehrere
27
Vgl. dazu: Árpád Bernáth: Heinrich Bölls historische Romane als Interpretationen von
Handlungsmodellen. In: Studia Poetica 2, Szeged 1980, S. 63-125.
28
Ebd. S. 66.
19
Gestalten einer Textwelt zugeordnet werden. Es werden drei Stufen der Teilidentität der Figuren unterschieden:
Zwei Figuren sind demzufolge entweder attributsfremd und so nicht identisch, oder sie sind Varianten und eventuell auch motivisch verbunden
und/oder eventuell auch emblematisch charakterisiert und durch emblematische Attribute motivisch verbunden.29
In einigen Romanen Heinrich Bölls erfordert die Geschichte eine kurze
Zeitdauer für die Ereignisse in der Textwelt und eine Art Gleichzeitigkeit der
Ereignisse des Endzustandes mit den Ereignissen einer Welt, in der Böll seinen
Roman schreibt. Von Bernáth wird festgestellt, daß Wo warst du, Adam? und
Ansichten eines Clowns offene Handlungen nachahmen und alle anderen geschlossene. Die erwähnten beiden Werke mit einer offenen Handlung schließen
die erste Phase in Bölls Schaffen ab. Die Romane dieser ersten Phase sind
historische Romane, weil sie mit der Gleichzeitigkeit der Ereignisse der
Textwelt und der Ereignisse der Welt, in der Böll seine Werke schreibt, nicht
charakterisiert werden können. Die in der zweiten Phase geschriebenen Romane
dagegen sind Gegenwartsromane.
Im Zusammenhang mit Koeppens Romanen wird oft erwähnt, daß in ihnen
reale Orte und Personen auftauchen bzw. die in den Werken dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse denen der realen Welt sehr ähnlich sind. Es ist
deshalb sinnvoll, die Fiktivität der Geschichte und die Fiktionalität des Erzählens unter die Lupe zu nehmen. Mit der Fiktionsfrage setzt sich Frank Zipfel
ausführlich auseinander.30 Unter Fiktion in bezug auf die Geschichte eines Erzähl-Textes versteht Zipfel, „daß die dargestellte Geschichte nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht, daß ihr kein Geschehen in der Realität entspricht, daß
sie nicht wirklich stattgefunden hat“.31 Mit Hilfe der Beschreibungskategorien
der Geschichte (Ereignisträger, Ort und Zeit) präzisiert er die Fiktivität von
Geschichten. Fiktive Geschichten handeln oft von fiktiven Personen, die in
einigen Fällen an nicht-wirklichen Orten oder sogar zu nicht-wirklichen Zeiten
29
Ebd. S. 72.
Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und
zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001.
31
Ebd. S. 68.
30
20
spielen. In fiktiven Geschichten kommen aber auch reale Orte vor, sie können
auch an realen historischen Zeitpunkten spielen. Oft wird auch von realen Personen erzählt. Fiktive Geschichten, so Zipfel, bestehen nicht nur aus NichtWirklichem.32 Eine wichtige Aussage ist, daß fiktive Geschichten stets eine
Beziehung zur Wirklichkeit haben. Zur fiktiven Welt gehöre nach Zipfel vor
allem das, was direkt im Text ausgesagt werde. Diese Aussagen definieren aber
nicht die ganze fiktive Welt:
Neben dem, was in den expliziten Aussagen des Textes gesagt wird, können zur fiktiven Welt alle Sachverhalte der realen Welt gerechnet werden,
sofern sie nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden. […] K. Walton hält für dieses Problem eine pragmatische
Lösung bereit. Alle nicht negierten wirklichen Sachverhalte sind Teil der
fiktiven Welt, nur sind manche für die erzählte Geschichte wenig oder gar
nicht relevant.33
Zipfel unterscheidet zwischen nicht-realen, pseudo-realen und realen Objekten. Reale Objekte gehören als realer Teil der fiktiven Welt zum Hintergrund
des Erzählten, während pseudo-reale und nicht-reale Objekte die eigentlich
fiktiven Objekte darstellen. Auch wenn die fiktiven Ereignisträger auf realen
Personen basieren, werden sie durch ihre Versetzung an fiktive Orte oder Zeitpunkte verändert. Die Fiktivität der Ereignisträger macht Geschichten zu fiktiven Geschichten, wenn auch sie an realen Orten spielen.34 Zipfel vertritt die
Meinung, daß die Fiktivität der Geschichte die Fiktionalität des Erzählens impliziere. Die Formen fiktionalen Erzählens sind nur deshalb möglich, weil sie sich
auf fiktive Ereignisträger oder Geschichten beziehen. Nur die Gedanken fiktiver
Personen können z. B. gekannt werden.35
Fiktionssignale auf der Ebene der Geschichte sind z. B. charakterisierende
Namen von Personen und Orten. Sie sind Fiktionssignale auf der Grundlage
ihrer Unwahrscheinlichkeit. Fiktionssignale auf der Ebene der Erzählung sind in
heterodiegetischen Texten die erlebte Rede oder die Vermengung von Erzählerund Figurenperspektive. Als weiteres Fiktionssignal wird die strukturelle Intertextualität erwähnt: „Wenn eine Erzählung auf der Ebene der Geschichte einen
32
Ebd. S. 79.
Ebd. S. 85-86.
34
Ebd. S. 102.
35
Ebd. S. 165.
33
21
strukturell intertextuellen Bezug aufweist, muß sie wohl erfunden sein, da es
nicht zu erwarten bzw. sehr unwahrscheinlich ist, daß eine reale Ereignisfolge in
diesem Maße mit einer literarischen Vorlage übereinstimmt.“36
Nach dieser theoretischen Ausführung komme ich auf die Zielsetzung und
die Forschungsergebnisse der vorliegenden Arbeit zurück. Der erste von mir
interpretierte Roman der Trilogie war Das Treibhaus. Die Wahl des zweiten
Werkes der Trilogie als Gegenstand der ersten Analyse hängt damit zusammen,
daß ich entdeckte, daß der Roman mit Bernáths Handlungsmodell beschrieben
werden kann oder mit seinen Worten das Werk das Handlungsmodell der BöllGeschichte interpretiert. Es ist mir gelungen, in einem deduktiven Verfahren die
Richtigkeit meiner Hypothese zu beweisen. So konnte ich Bernáths These unterstützen, der zufolge einem Modell mehrere Texte eines Autors oder Texte verschiedener Autoren zugeordnet werden können. Während der Analyse des Romans Tauben im Gras habe ich festgestellt, daß dieser nur unvollständig mit
dem Handlungsmodell der Böll-Geschichte beschrieben werden kann, so kehrte
ich zu der Bernáthschen Definition der Geschichte zurück, der zufolge die Geschichte so angegeben werden kann, daß man die Figuren im Anfangs- und
Endzustand bestimmt sowie das ausgezeichnete Attribut im Anfangszustand,
dessen auf bestimmte Art und Weise ablaufende Veränderung zum Endzustand
hinführt.37 Anstatt der Relationen des „Getrenntseins“ und des „Vereintseins“
des Figurenpaares und der Oppositionsrelation der Konfliktfigur mußte ein neues ausgezeichnetes Attribut gewählt werden.
Nach der ausführlichen Analyse konnte ich feststellen, daß in allen drei Romanen zwei Leitgedanken bzw. –themen zu beobachten sind. Der eine Gedanke
ist die Wichtigkeit der Zugehörigkeit der Personen zu verschiedenen Wertesystemen, die dadurch charakterisiert werden können, daß sie über einen dominanten Wert verfügen. So gibt es in den Romanen Wertesysteme mit der Wertdominanz von Macht, Kunst, Glauben und Liebe.
Der zweite Leitgedanke besteht darin, daß jede Figur über die für sie typische Denkform charakterisiert werden kann. Es hat sich nämlich erwiesen, daß
den Handlungen der Figuren ein bestimmter Denkstil, eine bestimmte Wahrnehmung der Welt zugrundeliegt. Als Grundtypen können nach der Terminologie von Panajotis Kondylis die synthetisch-harmonisierende „bürgerliche Denk36
37
Ebd. S. 237.
Vgl. : Bernáth Árpád: Építőkövek a lehetséges világok poétikájához, a. a. O., S. 145 f.
22
form“ und die analytisch-kombinatorische „moderne Denkform“ genannt werden.38 Kondylis ist der Meinung, daß sich die Problematik von Moderne und
Postmoderne am besten vor dem Hintergrund des Niedergangs der bürgerlichen
Denk- und Lebensform beleuchten lasse.39 Er nimmt eine für die jeweilige Epoche typische Denkfigur wahr. Der synthetisch-harmonisierenden bürgerlichen
Geisteshaltung stellt er die analytisch-kombinierende Denkfigur der Moderne
gegenüber. Bürgerliches Denken konstruiere das Weltbild aus einer Vielfalt von
Dingen und Kräften, die in ihrer Gesamtheit ein harmonisches Ganzes bildeten:
„Der Teil existiert innerhalb des Ganzen, und er findet seine Bestimmung, indem er zur Vollkommenheit des Ganzen beiträgt, nicht aber durch Verleugnung,
sondern durch Entfaltung der eigenen Individualität.“40 Bei der analytischkombinatorischen Denkform gebe es keine Substanzen, nur letzte Bestandteile,
Punkte oder Atome, deren Wesen in ihrer Funktion bestehe, zusammen mit
anderen Punkten oder Atomen immer neue Kombinationen einzugehen.
Das Bildungsideal des Bürgertums bestehe sowohl aus der Bildung im weiten humanistischen Sinne, als auch aus der technischen und beruflichen Ausbildung. Die Welt werde vor allem unter dem Aspekt der Zeit und der historischen
Betrachtung von Natur und Kultur wahrgenommen. Die Vorherrschaft bürgerlicher Kultur sei kurz gewesen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebe
es heterogene Angriffe gegen die bürgerliche Denkfigur. Der Angriff auf die
bürgerliche Kultur werde in verschiedenen Formen realisiert. Einerseits werde
dem humanistischen Ideal ein Kult der modernen Technik gegenübergestellt,
andererseits werden gegen das kapitalistische Machtdenken das Mythische,
Zeitlose, Urtümliche, Exotische und die Kreativität des Geistes betont. In Koeppens Nachkriegsromanen können beide Tendenzen wahrgenommen werden.
Frost-Forestier (Das Treibhaus) repräsentiert den Technokraten, die Verbundenheit des modernen deutschen Staates mit dem technischen Fortschritt. Die
technische Perfektion als Ziel charakterisierte auch die nationalsozialistische
militärische Leitung, so war auch Frost-Forestier im Oberkommando des Heeres
während der NS-Zeit tätig. Einige Figuren Koeppens haben Angst vor der
Technik, und diese Technikfurcht kann als eine Antwort auf den Fortschrittsoptimismus gedeutet werden. Es sind vor allem die Künstlerfiguren, die die Sehn38
Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform: die
liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991.
39
Ebd. S. 8.
40
Ebd. S. 15.
23
sucht nach Exotischem zum Ausdruck bringen: So plant Siegfried (Der Tod in
Rom) seine Reise nach Afrika, er will den schwarzen Kontinent erleben und dort
seine schwarze Symphonie schreiben. Mit seiner Musik bringt er das Verlangen
nach dem Garten Eden, nach einem „Garten vor aller Geburt“ zum Ausdruck. Er
beruft sich oft darauf, daß er das irdische Paradies erleben möchte, da er an die
Existenz der Welt der Transzendenz nicht glaubt. Auch im Zusammenhang mit
Philipp (Tauben im Gras) können Szenen erwähnt werden, in denen seine Aversion gegen die Technik zum Ausdruck gebracht wird: So z.B. die Szene im
Papierwarengeschäft, in dem er ein Diktaphon ausprobiert und das Gefühl hat,
von der eigenen Stimme entfremdet zu sein. Während seines Vortrags befindet
sich Edwin (Tauben im Gras) ganz in der Macht der Technik, indem er seine
Rede wegen technischer Schwierigkeiten nur teilweise halten kann.
In der bürgerlichen Harmonievorstellung lebte – nach Kondylis – der Teil
von seiner Beziehung zum Ganzen, welches erst durch den Reichtum seiner
Teile zum Ganzen wurde. In der Moderne verselbständigen sich der Teil und
das Fragment. Ein isoliertes Ereignis oder ein Eindruck können zu Gegenstücken der ganzheitlichen Betrachtung werden. Die obligatorische Synthese werde
durch die freie Kombinatorik der Elemente ersetzt.41
In der Analyse der Romane Tauben im Gras und Der Tod in Rom habe ich
in den chronologisch definierten zwei Phasen der Geschichte (diese Teilgeschichten nenne ich im weiteren um der Einfachheit willen erste Geschichte und
zweite Geschiche) die Zugehörigkeit der Figuren zu den Denkformen und zu
den für sie typischen Wertesystemen untersucht und festgestellt, daß die Kombinierbarkeit der Denkformen mit den Wertesystemen Regelmäßigkeiten aufzeigt. Die Opposition „bürgerliche Denkform“ und „moderne Denkform“, ferner die Kombinierbarkeit der Denkformen mit den verschiedenen Wertdominanzen bzw. die Untersuchung der Veränderung dieser Relationen auf verschiedenen Ebenen des Textes bilden den wichtigsten Aspekt der Interpretation. Es
taucht die Frage auf, ob Das Treibhaus eine von der Struktur der beiden anderen
Romane abweichende Struktur aufweist. Modelle oder Strukturen der Geschichten können aufgrund unterschiedlicher Regelmäßigkeiten der Textwelt konstruiert werden. In einer kurzen Deutung erkläre ich die Textwelt des zweiten
Romans der Trilogie auch mit Hilfe der Zusammenhänge von Denkformen und
Wertesystemen. Auch Bernáth schreibt darüber, daß zu einer Textwelt aufgrund
41
Ebd. S. 67.
24
der untersuchten Regelmäßigkeiten mehrere Modelle zugeordnet werden können.42
Zusammenfassend kann behauptet werden, daß die drei Romane aufgrund
der dargestellten Zusammenhänge über einheitliche Textkonstruktionsregeln
verfügen, was auch den Trilogie-Charakter der Werke beweist.
3. Die janusköpfigen 50er Jahre
In diesem letzten Teil der Einleitung möchte ich einige Momente der Kulturgeschichte der Zeit des Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegsjahre
hervorheben, denn in der neueren Forschung wird der Versuch unternommen,
den Zusammenhang von Kunstvorstellungen, Kunstprozeß und Politik zu klären, und die Perspektive eingenommen, die nach der Kontinuität und Diskontinuität nationaler semantischer Traditionsbestände fragt. In der Darstellung des
erwähnten Fragekomplexes verwende ich zwei in den letzten Jahren erschienene
Bücher.43 Es kann die Frage gestellt werden, warum ich die wissenschaftliche
Analyse eines Kulturhistorikers zu Rate ziehe, wenn ich Koeppens Romane
fiktional lesen möchte. Ich glaube, daß diese zwei Annäherungsweisen einander
nicht ausschließen, denn es bedeutet, daß ich so die konstruierte mögliche Welt
mit der realen Welt vergleichen kann. Genauer gesagt, habe ich zuerst die Romane literarisch erklärt und dann die Epochendarstellungen gelesen. Es hat sich
herausgestellt, daß Koeppen die literarischen und politischen Diskussionen der
Zeit ziemlich genau wiedergegeben hat. Die Abweichungen sind damit zu erklären, daß die konstruierte mögliche Welt mit der realen Welt nicht identisch ist.
Der Vergleich wird zeigen, daß Koeppen alles düsterer und pessimistischer
gesehen hat.
Es gibt „helle“ und „dunkle“ Erinnerungsvarianten des kollektiven Alltagsbewußtseins der 50er Jahre, meist unter den Stichworten „Modernisierung“ und
„Restauration“. Bollenbeck ist der Ansicht, daß die Begriffe Restauration und
42
Vgl. Bernáth Árpád: Építőkövetk, a. a. O., S. 144 f.
Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main und Leipzig 1994.
Georg Bollenbeck, Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle und
bildungsbürgerliche Semantik III. Wiesbaden 2000.
43
25
Modernisierung zur Charakteristik der 50er Jahre ungeeignet seien. Die Bundesrepublik sei kein Produkt irgendeiner Restauration, aber sie sei in den 50er Jahren durch restaurative Tendenzen gezeichnet. Mit dem Kalten Krieg verändere
sich das intellektuelle Klima. Die ästhetische Toleranz solcher Blätter wie „Aufbau“, „Goldenes Tor“, „Die Fähre“ oder „Ost und West“ werde durch ein neues
Denken zerstört: „Das bildungsbürgerliche Deutungsmuster von der kulturell
verbürgten Einheit der Nation wird bald durch Realitäten des Kalten Krieges
destruiert.“44
Bollenbeck erwähnt Wolfgang Koeppen und seine Nachkriegstrilogie bzw.
Heinrich Bölls Billard um halb zehn; in diesen Werken werden restaurative
Tendenzen erzählerisch gestaltet. So ist es verständlich, wenn zeitgenössische
Autoren von einer Restauration sprechen. Aber er findet den Begriff zu eng, um
die ganze Epoche charakterisieren zu können: die Elitenkontinuität, die Rekapitalisierung und die achtbaren Neuansätze, die mit dem Restaurationsverdacht
nicht überzogen werden können. Freilich gibt es mentale Kontinuitäten, rassistische, antisemitische und autoritäre Vorstellungen.45
In der Adenauer-Ära findet ein „semantischer Sonderweg“ sein Ende: „In
der Bundesrepublik wirkt die (nun zunehmend akzeptierte) kulturelle Moderne
(freilich in einer Schrumpfvariante) zum ersten Mal in der deutschen Geschichte
politisch stabilisierend.“46 Bollenbeck stellt die Frage, was überhaupt semantischer Sonderweg bedeute? In der Nationalkultur entsteht in Deutschland seit
dem 18. Jahrhundert eine enge Koalition von sozialer, kultureller und nationaler
Identität. Die Nationalkultur dient hier als Kompensation für die fehlende staatliche Einheit. Der Kunst, vor allem aber der Musik kommt eine stabilisierende
Rolle zu. Die Nationalkultur ist von dem kulturell hegemonialen Bildungsbürgertum durchdrungen. Die Künste werden hochgeschätzt und öffentlich gefördert. Welche sind die Kennworte der Nationalkunst? Die Kunst stammt aus dem
Volke, garantiert die individuelle Bildung und ist der Schönheit verpflichtet. In
der kulturellen Moderne wird dann die Hegemonie des Bildungsbürgertums
gefährdet. Eine „kulturkritische“ Ablehnung der Moderne ist keine deutsche
Besonderheit. Einen vergleichbaren Zusammenhang zwischen einer nationalen
44
Georg Bollenbeck: Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Diskontinuität.
In: Georg Bollenbeck, Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre, a. a. O., S. 190213, hier: 194.
45
Vgl. ebd. S. 195.
46
Ebd. S. 200.
26
Semantik und einer spezifisch nationalen Trägerschicht gibt es aber nur in
Deutschland. In Westeuropa wird „civilisation“ nicht auf das Individuum, sondern auf Völker und Nationen bezogen. Der Begriff umfaßt alle Lebensbereiche,
sowohl die materiellen als auch die geistigen. So ist die westeuropäische Intelligenz offener für den gesellschaftlichen Wandel. Im Unterschied zu „civilisation“ erlaubt das Deutungsmuster keinen Bezug auf eine politisch begriffene
„societas civilis“. So äußert sich in der deutschen Kulturkritik ein Unbehagen
gegenüber der kapitalistischen Moderne.47
Im Kaiserreich streitet man zwar über die Künste, will sie aber politisch
nicht bekämpfen. Die „freigesetzte Moderne“ der Republik radikalisiert die
Auseinandersetzungen um die modernen Künste. Die Ablehnung des Neuen ist
in Deutschland besonders stark: „Aber nirgendwo sonst empfindet man (uns
heute so harmlos anmutende Dinge) wie das Flachdach, das Saxophon oder
neue Kompositionstechniken als so bedrohlich wie in Deutschland.“48 In der
Weimarer Republik gibt es scharfe Gegensätze: Amerikanismus und Kulturkritik, alte und neue Kunst, das alles erhöht das Gefühl des Kulturpessimismus.
Der Kontrast zwischen Modernisierung und den Normen des Deutungsmusters
trägt zur Dauerkrise der Republik bei. Das ab 1929 auftauchende Schlagwort
„Kulturbolschewismus“ verbindet die Ängste vor der kulturellen Moderne mit
dem Bolschewismus. Der „Kulturbolschewismus“ hat eine integrative Kraft und
steigert die Sehnsucht nach einem rettenden Führer. Der Nationalsozialismus
definiert sich als Gegner des „Kulturbolschewismus“: „So bildet das Schlagwort
die selbstgebaute semantische Brücke, auf der ein desorientiertes Bildungsbürgertum ins ‚Dritte Reich‘ gelangt.“49 Die Nazi-Propaganda verwendet Diskurselemente und Wissensbestände, die dem Bildungsbürgertum bekannt sind. Die
nationalsozialistische Kulturpolitik unterdrückt die moderne Kunst und kommt
den bildungsbürgerlichen Traditionen scheinbar entgegen. Die Massenkünste
dienen der Zerstreuung . „Im Bereich der Höhenkünste bedient sich die offiziöse
Verlautbarungsrethorik des Regimes eines vulgäridealistischen Vokabulars, das
bis zum Leerlauf die edle Kunst, das deutsche Genie, das zeitlose Werk und
weihevolle Versenkung lobt.“50 Doch bedeutet der Nationalsozialismus einen
47
48
Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur, a. a. O., S. 284-286.
Georg Bollenbeck, Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen fünfziger Jahre, a. a. O., S.
202.
49
50
Ebd. S. 203.
Ebd.
27
Bruch mit den bildungsbürgerlichen Traditionen. Der Begriff „Zivilisation“
wird von den Nationalsozialisten wieder verwendet, aber „Fortschritt“ und
„Menschheit“ werden ausgelassen und der Begriffsumfang auf Wirtschaft und
Technik verengt. Technik wird anerkannt, weil sie nationale Größe und die
militärische Stärke garantiert.51
Bonn ist keine Wiederholung Weimars. Wegen der totalen Niederlage und
des überlegenen Siegers kann eine Ablehnung der Neuerungen aus dem Ausland nicht mehr aufkommen. Die großen Innovationen der modernen Kunst, die
internationale Moderne ist in Deutschland nahezu unbekannt. Man erinnert sich
noch an die diktatorischen Methoden der nationalsozialistischen Kulturpolitik.
Nach dem Krieg gibt es Bemühungen, die Autonomie der Kunst zu betonen und
ein individualistisches Bildungsideal zu verwirklichen. In der frühen Nachkriegszeit vollzieht sich unter der Betonung des „Abendländischen“ die Reaktivierung der bildungsbürgerlichen Kunstsemantik. Man lobt wieder die Antike,
die Renaissance und die Goethezeit. Die Begriffe des Humanismus-Diskurses
waren weder bei den Besiegten noch bei den Siegern dem Verdacht ausgesetzt,
sie gehörten zur Sprache des Nationalsozialismus.52
Bollenbeck ist der Ansicht, daß man die Rolle des Traditionalismus nicht
überbetonen dürfe. In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrsche ein Pluralismus, ein Interesse an den Exilierten und Verworfenen. Mit dem Kalten Krieg
aber erstarren die Positionen. Im Osten setzt ein Kampf gegen die moderne
Kunst ein. Die Argumente erinnern an frühere bildungsbürgerliche Vorstellungen: Kunst soll aus dem Volke stammen, volkstümlich sein und dem Schönen
dienen. Im Westen kann man eine zunehmende Akzeptanz der kulturellen Moderne wahrnehmen. Es bildet sich die Hochschätzung des literarischen Experiments, der atonalen Musik und der abstrakten Gemälde aus. Diese Moderne
trägt aber manchmal Züge einer „geschrumpften“ Moderne, die im Politischen
nicht stört.53 Was die Massenkunst betrifft, kann man ab 1955 von einem neuartigen „Massenkultur-Schub“ sprechen. In den Massenkünsten sieht man eine
Manifestation der Amerikanisierung. Die unaufhaltsame Amerikanisierung erweckt Faszination, aber auch Abwehr. Es entwickelt sich eine zivile Massenkul-
51
Vgl. ebd.
Vgl. ebd. S .204.
53
Vgl. ebd. S. 204 f.
52
28
tur zuungunsten einer bildungsbürgerlichen Kultur. Ab Mitte der fünfziger Jahre
wird wieder über die Amerikanisierung debattiert.54 Bollenbeck zieht die Bilanz:
Mit der Akzeptanz einer internationalen Moderne findet der semantische
Sonderweg sein Ende. Ohne die verunsichernde Diskrepanz zwischen
Kunstvorstellungen und Kunstentwicklung erhält die kulturelle Moderne
zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine politisch stabilisierende
Funktion. Auch in den 20er Jahren wurde sie der Demokratie zugerechnet,
allerdings innerhalb einer Negativbilanz des „Systems“. In der Bundesrepublik aber gilt sie als Ausweis der politischen und künstlerischen Freiheit.55
54
55
Vgl. ebd. S. 206 f.
Ebd. S. 209.
29
II. Tauben im Gras (1951)
1. Ort, Zeit und Erzähltechnik
Obwohl der Name der Stadt, in der sich das erzählte Geschehen von Tauben
im Gras abspielt, nicht genannt wird, sind die Hinweise auf München unübersehbar. Auf dem Flughafen kann man schon den Dunst nach Biermaische aus
den großen Brauereien der Stadt riechen (2,40).56 Die Olympischen Spiele in
Garmisch werden erwähnt (2,29), und vor allem wird die Rolle der Stadt während des NS-Regimes angedeutet: „Die Stadt [...] hatte das Grauen erlebt, das
abgeschlagene Haupt der Meduse gesehen, frevelige Größe, eine Parade von aus
ihrem eigenen Untergrund heraufgekommenen Barbaren, [...]” (2,105). Ein
Platz wird beschrieben, den Hitler entworfen hatte und der als Ehrenhain des
Nationalsozialismus geplant war (2,165). Statt vom lokalisierbaren Hofbräuhaus
spricht Koeppen immer einfach vom „Bräuhaus”, statt von der Frauenkirche ist
immer von einem „Dom” die Rede, und von einer Heiliggeistkirche, die in vielen süddeutschen Städten stehen könnte. Die Namen der Straßen und Plätze
klingen süddeutsch, aber nicht eindeutig münchnerisch: Böttcherplatz, Heiliggeistplatz und Bräuhausgasse. Der durch die Stadt fließende Fluß wird auch
nicht mit Namen genannt. Koeppens Erzählkonzeption nach geht es in diesem
Roman nicht nur um München, sondern um die Situation der deutschen Bürger
und Städte in den ersten Nachkriegsjahren.57
Bei Koeppen spielen bei der Schilderung der Städte biblische und mythologische Anspielungen eine wichtige Rolle. An einer Stelle wird Philipps Stadt der
Kinderjahre in Masuren mit mythologischen Bildern beschrieben: „[...] eine
Flut, die verebbte, ins Land verrieselte, in die Bauernstuben, als die Städte
brannten, als der Asphalt hinschmolz in der täglich durchschrittenen Gasse,
stygisches Wasser wurde, ätzend und brennend” (2,24). Der Styx war der
Hauptfluß des Hades, der nach Vergil neunmal um ihn floß. Wer eintreten wollte, wurde von Charon übergesetzt. Es gab außerdem einen kleinen gleichnami56
Die Zitate nach: Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. von
Marcel Reich-Ranicki unter Mitarbeit von Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel.
Frankfurt am Main 1986.
57
Vgl.: Dietrich Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, a. a. O., S. 60-61.
30
gen Fluß, dessen Wasser tödlich war und jeden Stoff zersetzte, mit dem es in
Berührung kam.58 In diesem mythologischen Bild wird die brennende Stadt der
Bombennächte während des Ersten Weltkrieges mit Hades verglichen. Die
Stadtmetaphern, die die Kriegszerstörungen als Strafgericht beschreiben, sind in
einigen Fällen dem Bildbestand der Bibel entnommen: „[...] der Rauch verzog
sich, sie lauschten den Baggern, die in die Trümmer griffen, lauschten von fern,
ausgesperrt von Ninive, von Babylon, Sodom, den geliebten Städten, [...]”
(2,26) und „die Stadt war mit Feuer gestraft worden und mit Zerschmetterung
ihrer Mauern, heimgesucht war sie, hatte das Chaos gestreift, den Sturz in die
Ungeschichte” (2, 105 f.).59 Die Städte wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört,
aber die Schuldfrage bezieht sich nicht nur auf die Sünden der Einwohner während des Krieges, sondern auch auf die Frage der Akzeptanz der von den Besatzungsmächten suggerierten Kollektivschuldthese in der frühen Nachkriegszeit.
Neben der Einheit des Handlungsortes ist hervorzuheben, daß sich die Ereignisse an einem Tag, genauer gesagt in achtzehn Stunden abspielen. Der Zeitrahmen wird nicht mit Uhrzeit-Angaben bestimmt, sondern indirekt, anhand von
Handlungselementen: „Die Glocken riefen zur Frühmesse” (2,14) und „Mitternacht schlägt es vom Turm”. (2,218) Unverkennbar spielt die Geschichte im
58
Vgl.: Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Stuttgart 1991, S. 489 f.
Das Buch Josua,6 beschreibt Jerichos Zerstörung durch göttlichen Zorn. Die Stadt der
Heiden wurde verbrannt, nachdem die Mauern von Jericho im Kriegsgeschrei der Israeliten
eingestürzt waren. Josua ließ aber die Hure Rahab, samt dem Hause ihres Vaters leben, weil sie
die Boten verborgen hatte. Sodom ist genauso wie Babylon zum Symbol für eine sittenlose
Stadt geworden. In bezug auf den Schuldgedanken ist Abrahams Frage an Gott wichtig:
„Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“ (1. Buch Mose 18,23) Gott
antwortete ihm, daß er sein Gericht zurückhalten würde, um die Gerechten zu schützen, auch
wenn es nur wenige wären. Er rettet die Angehörigen seines Bundesvolkes. Außer Lots
Familie fand sich kein einziger Gerechter in der Stadt. Es geht um die Sittenverderbnis der
Bürger von Sodom, die Fremde homosexuell zu schänden begehrten. Die perverse
Gewalttätigkeit der Sodomiter bestätigt, daß das „Geschrei über Sodom“ (Genesis 18,20)
gerechtfertigt war. „Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf
Sodom und Gomorra und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der
Städte und was auf dem Lande gewachsen war.“ (Genesis 19,24-26) Der biblische Turmbau
von Babel symbolisiert die Hybris, die größenwahnsinnige Überheblichkeit des Menschen, der
mit seinen irdischen Mitteln den Himmel stürmen will. So entstanden die verschiedenen
Sprachen der Menschheit, wodurch die Vermessenheit himmelstürmender Vorhaben verhindert
werden sollte. (Genesis, 11) In der Johannes-Apokalypse ist Babylon das Gegenbild zur
heiligen Stadt Jerusalem und wird dargestellt durch ein in Scharlach und Purpur gekleidetes
Weib.
59
31
Jahr 1951, worauf einige eingeblendete Zeitungsnachrichten hinweisen: Persien
hat die Ölindustrie verstaatlicht, General Eisenhower unternahm eine NATOInspektionsreise durch Europa, es begann die Diskussion über den deutschen
Wehrbeitrag, amerikanische Luftstützpunkte wurden errichtet und Gide starb im
Frühjahr 1951.60 Es gibt auch zahlreiche Aussagen über die Jahreszeit, wie zum
Beispiel die folgenden Sätze „Der Frühling setzte sich durch. Im verwilderten
Garten der Villa blühte das Unkraut” (2,28). Obwohl das erzählte Geschehen
vor örtlich und zeitlich realem Hintergrund spielt, ist die Fiktivität der Geschichte nicht zu bezweifeln, da in ihr fiktive Figuren vorkommen.
Tauben im Gras ist in der Erstausgabe in 103, im Text der Gesammelten
Ausgabe in 92 Sequenzen gegliedert. Die Sequenzen sind durch die Zäsur eines
doppelten Zeilenabstandes von der vorhergehenden und der nachfolgenden
Sequenz getrennt. Sie haben keine Überschriften und sind nicht numeriert.
Quack hat die Gliederung des Textes ausführlich untersucht und den Schluß
gezogen, daß in den Gesammelten Ausgaben nicht nur Zäsuren zwischen Sequenzen weggefallen sind, sondern auch die Sequenzgrenzen nicht eingehalten
werden und auch eine neue Sequenzzäsur eingeführt wird.61
Der Roman schildert den Tagesablauf von etwa 30 Personen, die namentlich
vorgestellt werden und über eine rekonstruierbare Lebensgeschichte verfügen.
Der Erzähler wechselt die Perspektive immer wieder, so entsteht eine Multiperspektivik, die durch die Montagetechnik, durch die Verknüpfung der einzelnen Sequenzen realisiert wird. In den Sequenzen werden nicht nur die Handlungen der Figuren dargestellt, sondern vor allem ihre Gedanken, Erinnerungen,
Reflexionen in der Form der erlebten Rede, des inneren Monologs oder des
Bewußtseinsstroms. Ein wichtiger Gegenstand des Denkprozesses der Figuren
ist ihr Zeitbewußtsein. Im Unterschied zu dem bürgerlichen Roman wird die
Zeit mit Hilfe der Montagetechnik auf Grund räumlicher Denkmuster themati60
Im Kalten Krieg herrschte noch Geschlossenheit der beiden Blöcke in Ost und West. Für
die USA begannen die fünfziger Jahre mit dem tiefen Schock über den „Verlust Chinas“. Als
Reaktion auf die Gründung der VR China entstand in den USA der McCarthismus. Er
hinterließ tiefe Narben. Unmittelbare Konsequenz der Gründung der VR China war der
Koreakrieg (1950-1953). Das direkte Engagement Chinas für Nordkorea ließ eine globale
Bedrohung für den Weltfrieden entstehen. Der Korea-Boom wirkte für die beiden
Industrienationen Japan und die Bundesrepublik profitabel aus. Es setzte sich die Forderung
nach bundesdeutscher bzw. japanischer Aufrüstung durch.
61
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit, a. a. O., S. 96.
32
siert. Nicht die äußere Zeit ist wichtig, in der sich die Handlung abspielt, also
eine lineare Ereigniszeit, sondern die innere Zeit, die durch die Schilderung des
Bewußtseinsstroms sichtbar wird. Kondylis versteht die Montagetechnik als
Durchsetzung der analytischen Einstellung gegen das synthetische Anliegen.62
Die Bestandteile des Bewußtseinsstroms lassen sich wegen ihrer Gleichwertigkeit gut kombinieren. Nicht die Ereignisse bestimmen die Struktur der Zeit,
sondern die Erinnerungen. Darüber schreibt Kondylis wie folgt:
In der Erinnerung ist die ganze Zeit simultan gegenwärtig, sie kann nach
Belieben in Bestandteile bzw. Ereignisse aufgelöst und dann wieder nach
Belieben derart rekonstruiert werden, daß ihre Bestandteile bei jeder
neuen Rekonstruktion einen anderen Platz einnehmen. Die Voraussetzung
für die freie Rekonstruktion der Zeit durch die Erinnerung ist aber die, daß
die Zeit nicht als Linie vorgestellt wird, die die Aufeinanderfolge der
Ereignisse ein für allemal festlegt, sondern als Fläche, auf der die
Ereignisse beliebig aneinandergereiht und miteinander kombiniert werden
können.63
Die Beseitigung der linearen Zeitfolge zerstört die kausalen Beziehungen
zwischen den einzelnen Ereignissen und diese Diskontinuität des Inhalts macht
neue Mittel zur Verbindung der Sequenzen erforderlich. Georg Bungter untersucht die Verknüpfungsmittel in Tauben im Gras.64 Als „Falz” dient die Wiederholung einiger Worte am Beginn der nächsten Sequenz. Typisch ist die Verzahnung aufeinanderfolgender Erzählpartikel. Bungter erwähnt, daß es fünfzig
solcher Knüpfstellen gibt, in denen die Ränder der letzten Zeile der vorangehenden und der ersten Zeile der folgenden Sequenzen verschmelzen. Ortskulissen, manchmal auch simultaner Vorgänge, können mehrere Sequenzen verbinden. Der Straßenverkehr verbindet neun Szenen, dabei spielt eine Verkehrsampel eine wichtige Rolle. Die Knüpfstellen sind sehr oft formalistisch. Mit einem
direkten verbalen Übergang kann Koeppen die dichteste Verschmelzung erreichen. Die formale Kontinuität schafft eine äußerliche Einheit, die symbolisch
auch für die Begegnungen der Figuren steht, die im Grunde genommen formell
sind. Die scheinbare Diskontinuität der Sequenzen unterliegt aber einem plan62
Vgl. Panyjotis Kondylis: Der Niedergang, a. a. O., S. 87.
Ebd. S. 89.
64
Vgl. Georg Bungter: Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“. In: Ulrich Greiner (Hg.):
Über Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 186-197.
63
33
vollen Kompositionsschema. Der Erfahrungsbereich der Figuren wird durch die
Einmontierung von Fremdtexten über ihren Horizont erweitert.65
Unter Montagetechnik versteht man nicht nur die Verknüpfung der einzelnen Sequenzen, sondern auch die Einmontierung von Zeitungsüberschriften,
Radiomeldungen und literarischen Anspielungen. Die einmontierten Fremdtextsegmente sind in vielen Fällen durch Kursivdruck kenntlich gemacht. Sie erheben nach der Absicht des Autors den Anspruch der Authentizität, doch behalten
sie ihren fiktionalen, verweisenden Charakter bei. Diese Segmente sind dem
Romangeschehen nicht funktionslos beigefügt, sondern als Teilaspekt der gesellschaftskritischen Gesamtaussage und in der Form der Figurenreaktion als
Form der Figurencharakteristik. Marcel Reich-Ranicki registriert den Unterschied zu Döblin und Dos Passos:
In sämtlichen Episoden durchdringt Koeppen den Alltag seiner Gestalten.
Sie werden – wie einst in Berlin Alexanderplatz – unaufhörlich von der
Brandung des Lebens umspült. Während jedoch Döblin und schon vor
ihm Dos Passos rohes, nahezu unermeßliches Tatsachenmaterial zusammengerafft und in ihren Riesengemälden untergebracht hatten, fällt bei
Koeppen die strenge Auslese der berücksichtigten Phänomene auf. Seiner
epischen Bestandsaufnahme haftet nichts Naturalistisches an. Statt der
grandiosen Expansion Döblins bietet Koeppen die gewissenhafte Reduktion.66
Die Montagetechnik ist geeignet, das Tempo des urbanen Lebens und die
Diskontinuiät der Geschehnisse wiederzugeben. Es kommen überpersönliche
Zusammenhänge zum Vorschein, von denen die einzelnen Personen nichts wissen. Quack weist darauf hin, daß es eine Simultaneität des Denkens gebe, diese
bilde das Gegengewicht zum Motiv der Auflösung, der nach dem Weltbild der
modernen Physik unsere Wirklichkeitsvorstellung unterworfen sei. Wie sehr der
Mensch von fremden Meinungen und Vorurteilen beeinflußt werde, habe Koeppen in seiner Personendarstellung enthüllt.67 Der montierend erzählende fiktive
Erzähler und durch ihn der Autor stellen dem mit den Mitteln des traditionellen
Romans arbeitenden bürgerlichen Roman den modernen Montageroman
gegenüber, und diese Tatsache bedeutet eine Stellungnahme von Seite des Er65
Ebd. S. 190-193.
Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Zürich 1996, S. 39-40.
67
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 105 f.
66
34
zählers (und des Autors) für die moderne Denkform. Spuren des Erzählens über
das Erzählen sind selten zu finden, diese Rolle übernimmt Philipp, der im Vergleich mit dem fiktiven Erzähler und dem Autor nur auf dem Wege zum modernen Dichter ist.
Es wird oft betont, daß in Koeppens Romanen Spuren filmischer Techniken
zu finden sind. Koeppen war während des Krieges Drehbuchautor, ihm waren
also die Möglichkeiten der Filmkunst nicht unbekannt. Auch im Film sind die
Szenen oder die Sequenzen gleichzeitig Ganzheiten und Bruchstücke, die in der
Bildkombination verbunden werden. Die Montage liefert die endgültige Interpretation eines Bildes. Sie teilt mehr mit, was die einzelnen Bilder enthalten. Sie
wirkt assoziativ, indem sie dazu beiträgt, daß man erahnt, was in den Bildern
nicht gezeigt wird. Sie kann auch den Übergang des Denkens einer Person von
einer Vorstellung zu einer anderen zeigen (Rückblende).68 Koeppen variiert
auch die filmische Überblendungstechnik. Er montiert die Bewußtseinsinhalte
verschiedener Personen zusammen, dabei können es Gedanken von Figuren
sein, die einander unbekannt sind, aber es ist auch möglich, daß die Montage
eine Verbindung zwischen Personen herstellt.69
Der fiktive Erzähler charakterisiert die Figuren entweder aus der Innenposition, d.h. er erzählt aus der Perspektive der erzählten Figuren, oder aus der Außenposition, indem er das Geschehen in seiner von der der Figuren abweichenden Perspektive erzählt. Formen des personalen Erzählverhaltens, wie z.B. die
erlebte Rede, sind durch die Duplizität der Perspektive gekennzeichnet, indem
sowohl die Figurenperspektive als auch die Erzählerperspektive vorhanden sind,
so daß von kontrollierter Bewußtseinsdarstellung gesprochen werden kann. Die
Innenwelt der Figuren ist auch Raum der Reflexionen des Erzählers. Friedhelm
Stühler erwähnt in diesem Zusammenhang Emilias inneren Monolog. Die Textpassage beginnt als Erzählbericht und wird als innerer Monolog fortgesetzt:
Der innere Monolog stattet die Figur aus mit Fakten, Theorien, Erinnerungspartikeln und mit Zeitproblematik, so daß sich der Figurenhorizont
zu einem Konglomerat von Wissenspartikeln erweitert. Der individuell
68
69
Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang, a. a. O., S. 127 f.
Vgl. dazu: Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 104.
35
verbürgte Erfahrungsbereich weitet sich somit zu einem universalen Horizont, in dem die Komplexität der Realität sichtbar wird.70
2. Die Ringkomposition
Der Roman weist eine Ring- oder Rahmenkomposition auf. Die ersten beiden Abschnitte werden als Prolog und der Schlußabschnitt als Epilog ausgezeichnet. Es wird erzählt, was an diesem Tag geschieht und in der Schlußsequenz werden die Geschehnisse des Tages noch einmal überblickt. Im Prolog
und im Epilog spricht ausschließlich der Erzähler. Er scheint situationsüberlegen
zu sein, weil er Informationen über die Vergangenheit und auch über die mögliche Zukunft der erzählten Welt hat. Der Prolog gibt eine erste Beschreibung der
Gegenwartssituation. Genannt werden die wichtigsten Motive des Romans:
Stadt, Bedrohung, Tod, Erinnerung und die Auguren:
Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner,
täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles
Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum
Himmel auf. (2,11)
Die Flieger erwecken Kriegs- und Todesassoziationen, die sich einerseits als
Erinnerungen auf die Vergangenheit beziehen, andererseits aber mit den noch
leeren Bombenschächten der Flugzeuge die Furcht vor einem kommenden
Krieg ausdrücken.71 Der Satz „Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge
leer” kehrt in dem Schlußabschnitt bedrohlicher, furchterregender im Präsens
zurück: „Am Himmel summen die Flieger. Noch schweigen die Sirenen. Noch
rostet ihr Blechmund.” (2,219)
70
Friedhelm Stühler (Hg.): Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Wolfgang Koeppen:
Tauben im Gras. Der moderne deutsche Großstadtroman. Aus der Reihe „Blickpunkt – Text
und Unterricht“. 501. Hollfeld 1996, S. 79.
71
Nach Quack könne die Stelle auch auf die Verse in der Odyssee (II,147 ff.) anspielen, die
vom Donner des Gottes, zwei unheilverkündenden Vögeln über der Stadt und einem
Zeichendeuter erzählen. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 139.
36
In der römischen Religion steht der Begriff „Augurium” für die Wahrsagung
aus dem Fluge der Vögel, dann weiter ausgedehnt, aus vielen anderen Zeichen,
aus den Wolken, dem Blitz, dem Donner und bei den Vögeln auch aus ihrem
Fressen, ihrem Gesang oder Geschrei. Die Priester, denen das Geschäft der
Wahrsagung oblag, hießen Auguren. Die Feldherren, die Heere, die Kaiser hatten eigene Auguren, welche sie begleiteten. Der Augur teilte mit seinem Stabe
den Himmel in vier Teile und betrachtete die Zeichen, welche er wahrnahm und
deutete sodann nach seiner politischen Ansicht.72 Im Bild des antiken Auguriums und der antiken Auguren wird das Bild der neuen Bedrohung und der neuen Wahrsager geschildert. Die Flugzeuge und ihr Getöse beschwören die Vögel
und den Donner der römischen Wahrsagung herauf. Die Auguren, die die Zukunft aufgrund der Beobachtung des Vogelflugs voraussagen konnten, haben
ihre aktuellen Entsprechungen in den lächelnden Auguren der Romanhandlung.
Wer sind aber diese und warum lächeln sie? Die neuen Auguren der Romanhandlung können mit Hilfe von einigen Zitaten definiert werden. Aus Philipps
Perspektive wird geschrieben:
Alle, die da auf der Straße gingen, radelten, fuhren, Pläne machten,
Sorgen hatten oder den Abend genossen, alle wurden sie ständig belogen
und betrogen, und die Auguren, die sie belügen und betrügen, waren nicht
weniger blind als die einfachen Leute. (2,164)
Auch die Konfrontation der beiden Schriftsteller nennt der Text selbst „Augurengespräch“. Edwins Sendung verfehlt die Zuhörerschaft im Amerikahaus bis
auf die Priester und Philipp: „er spricht nur für sich, vielleicht spricht er noch für
mich, vielleicht für die Priester, ein Augurengespräch, die andern schlafen“
(2,206). Im Schlußabschnitt heißt es: „verfrorene, mißmutige Hände werden den
Morgenspruch der Auguren an die Wände der Kioske hängen“ (2,219). „Die
Auguren“ und die Leute stellen zwei Möglichkeiten der Rollenverteilung auf
der politischen Bühne dar. Die Auguren können deshalb lächeln, weil sie wissen, was die apokalyptischen Zeichen bedeuten. Aber nicht nur die Journalisten
spielen die Rolle der Auguren, sondern auch die Schriftsteller, die über die Fähigkeit verfügen, die Zukunft voraussagen zu können. In der Funktion der Auguren treten auch die Sirenen auf: „Noch schweigen die Sirenen“ (2,219), heißt
72
Vgl. Knaurs Lexikon der Symbole. Directmedia. Berlin 1999, digitale Bibliothek Band
16, S. 1519 f.
37
es im Schlußabschnitt. In diesem Kontext ist die Bedeutung eines Signalgerätes
gemeint, mit dem Alarm gegeben und dadurch die Warnfunktion betont wird.
Wenn die Sirene heult, wird Unheil verkündet.73
In der zweiten Sequenz des Romans wird thematisiert, welche Rolle die Bodenschätze in den Kriegen spielen: „Das Öl hielt die Flieger am Himmel“
(2,11). Die Bodenschätze und das Öl haben eine wichtige Funktion in den Kriegen, sie werden nämlich unter anderem um diese Bodenschätze, d.h. um den
Reichtum geführt. Es wird die Entstehung von Erdöl in der erdgeschichtlichen
Frühzeit aus Ablagerungen pflanzlicher und tierischer Lebewesen beschrieben –
eine Zeit vor der menschlichen Zivilisation, eine Zeit der Sagen- und Märchenwelt: „Zeit vor dem Menschen, vergrabenes Erbe, von Zwergen bewacht, geizig,
zauberkundig und böse, die Sagen, die Märchen, der Teufelsschatz: er wurde
ans Licht geholt und dienstbar gemacht.” (2,11) Koeppen liefert die Allusionsmarker mit, wenn er die „Zwerge” und den „Teufelsschatz” nennt. Es ist eine
Allusion auf Wagners Rheingold. Der erste Teil der Wagner-Tetralogie endet
mit dem Fluch der Elementargeister. Krieg und Untergang sind in der Sage die
Folgen des Schatzraubes, in der gegebenen historischen Situation aber besteht
Kriegsgefahr wegen der industriellen, technischen und militärischen Naturausbeutung. Die Zeitungszitate unterstützen die Kriegsfurcht, bezeichnen die konkrete weltpolitische Lage:
Krieg um Öl, Verschärfung im Konflikt, der Volkswille, das Öl den
Eingeborenen, die Flotte ohne Öl, Anschlag auf die Pipeline, Truppen
schützen Bohrtürme, Schah heiratet, Intrigen um den Pfauenthron, die
Russen im Hintergrund, Flugzeugträger im Persischen Golf. (2,11)
In den folgenden Zeilen wird das allgemeine Zeitgefühl zum Ausdruck gebracht. Da man im Spannungsfeld zwischen Ost und West in ständigem Konflikt lebt, nimmt der Erzähler an der allgemeinen „Zeitsorge” teil: „die Zeit war
kostbar, sie war eine Atempause auf dem Schlachtfeld, und man hatte noch
73
In der antiken Mythologie sind Sirenen geflügelte Frauen, die die Seefahrer mit ihren
Liedern betören. Sie sind Frauen mit Vogelfüßen oder Vögel mit Frauenköpfen und
Frauenstimmen. Odysseus segelte glücklich vorbei, weil er einen Rat der Zauberin Kirke
befolgte. Er füllte die Ohren seiner Leute mit Wachs und ließ sich am Mast festbinden. So
überstand er den verführerischen Gesang. Die Sirenen sangen von ihrer Macht, die Zukunft
voraussagen zu können. Nachdem Odysseus heil vorbeigekommen war, sprangen sie ins Meer
und starben.
38
nicht richtig Atem geholt, wieder wurde gerüstet” (2,11). Die Schlagzeilen berichten von einem möglichen deutschen Wehrbeitrag, von einem Eintreten des
Kanzlers gegen die Neutralisierung Deutschlands – Themen, die den Grundkonflikt für den Protagonisten des zweiten Romans der Trilogie (Das Treibhaus)
bilden werden. Die Presse wird dabei kritisiert, weil sie die Meinung der „Auguren” ohne Kritik weitergibt und die Memoiren der ehemaligen Mitläufer veröffentlicht. In den letzten Zeilen des Romananfangs wird die Veröffentlichungspolitik kritisiert. Zu den zeitkritischen Intentionen des Romananfangs
gehört auch die Enthüllung des Erfolges der Selbstrechtfertigungen:
Die Illustrierten lebten von den Erinnerungen der Flieger und Feldherren,
den Beichten der strammen Mitläufer, den Memoiren der Tapferen, der
Aufrechten, Unschuldigen, Überraschten, Übertölpelten. Über Kragen mit
Eichenlaub und Kreuzen blickten sie grimmig von den Wänden der Kioske (2,12).
Der Romanschluß wiederholt die Stelle von der kostbaren Zeit, der Atempause auf dem Schlachtfeld in bedrohlicherer Wortkombination. Die Begriffe
„Spannung, Konflikt” werden in der Steigerung der beängstigenden situationsbeschreibenden Ausdrücke wie „Bedrohung, Verschärfung, Konflikt, Spannung” wiederaufgenommen. Deutschland lebt nicht nur „vielleicht an der
Bruchstelle”, wie es am Anfang heißt, sondern „an der Bruchstelle” ( 2,219).
Die „Atempause auf dem Schlachtfeld” erhält das Attribut „verdammt”, das sich
auch auf den Fluch der Elementargeister beziehen kann. Der fiktive Adressat
wird am Anfang und am Ende des Romans mit unterschiedlich bewerteten Bestandteilen der weltpolitischen Lage Deutschlands konfrontiert, aus denen der
Leser den Schluß ziehen kann, daß sich die Konflikte in der Gesellschaft und in
der Politik verschärfen. Die Bewertung der Konflikte der erzählten Welt durch
den Erzähler erlaubt Einsicht in den Wertmaßstab, in die Rangfolge der Werte
des fiktiven Erzählers zu gewinnen.
39
3. Die zwei Figurengruppen des Romans
Mit einer gewissen Einschränkung kann von zwei Handlungsebenen gesprochen werden, in denen je eine Figurengruppe handelt. Die beiden Figurengruppen kommen, abgesehen von einigen Ausnahmen, miteinander nicht in Berührung. Sie werden aber durch die Zeitvorstellung der „konfigurativen Zeit“ verbunden, die nach Quack die thematische Einheit des Romans darstellt. Die konfigurative Zeit macht aus den einzelnen Ereignissen eine zusammengehörige
Einheit, die dem Gedanken des Lebens in einer politischen Krisensituation zugeordnet werden kann.74
Innerhalb der ersten Gruppe werden Fragen der Kunst und der Bildung thematisiert. Zu dieser Gruppe gehören Vertreter der „hohen Kultur“, Philipp und
Edwin, und der Vertreter der „Massenkultur“ Alexander. Die beiden Schriftsteller, der schreibunfähige Philipp und der preisgekrönte Edwin, vertreten nicht
nur zwei verschiedene Kunstauffassungen, sondern auch verschiedene moralische Haltungen. Dabei geht es um die moralische Verpflichtung der Autoren,
das Erlebte, d.h. die Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit, künstlerisch
zu verarbeiten. Edwin gehört zu den Vertretern eines „konservativen Traditionalismus“. Anneliese Langer zählt die Flucht in die Innerlichkeit, religiöse Motive
und das traditionelle dichterische Selbstverständnis, Verkünder einer höheren
Wahrheit zu sein, zu den wichtigsten Merkmalen dieser Richtung.75 Über Philipps frühere Werke erfährt man wenig. Sein Gedankengang und der Überblick
über seine Bibliothek zeugen davon, daß er ein Anhänger der modernen Literatur und der modernen Philosophie sowie der modernen Physik ist. Das Bild, das
aus der literarischen Tätigkeit der beiden Autoren gewonnen wird, wird schließlich durch die Reflexionen der amerikanischen Lehrerinnen ergänzt. Die Gedanken der beiden „Naturwissenschaftler“ – Schnakenbach und Doktor Behude
– laufen parallel zum literarischen Projekt. Viel Aufmerksamkeit wird dem Vertreter der Trivialkunst, dem Schauspieler Alexander, und seiner Frau Messalina
gewidmet. Sie vertreten die Anpassungsbereitschaft gewisser „Künstler“ während des Krieges und danach. Besonders wichtig ist die Szene im Amerikahaus,
74
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 124.
Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik: Wolfgang Koeppen über Thomas Mann.
Untersuchung zu Stil und Struktur in Tauben im Gras und Der Tod in Rom. University of
Cincinnati 1991, S. 36.
75
40
wo Edwin seine zur Sensation gewordene Rede hält, an der fast alle an Kultur
interessierten Personen des Romans teilnehmen. Diese Szene ist einer von den
zwei Höhepunkten des Romans, in der die Ideen, d.h. die Bewußstseinseinstellungen der Figuren, einer Bewährungsprobe unterworfen werden.
Zur zweiten Figurengruppe gehören Personen kleinbürgerlicher Abstammung sowie amerikanische Soldaten, die in Berührung mit rassistischen Vorurteilen stehen, entweder als Vertreter oder als Opfer dieser Ideologie. In dieser
Gruppe findet keine Literaturdiskussion statt, die Figuren sind Konsumenten vor
allem der Trivialliteratur oder der Filme von Alexander. Dagegen wird das
Thema des Rassismus von den Gestalten der anderen Gruppe nicht berührt.
3.1. Kunst und Bildung – geistige Positionen in den Trümmern
3.1.1. Der Künstler als Nonkonformist
Philipp ist der modern denkende deutsche Schriftsteller, der auch autobiographische Züge trägt. Im Zusammenhang mit Philipp muß auch Emilia charakterisiert werden – nicht nur, weil sie Philipps Frau ist, sondern auch, weil sie
ihre Meinung zu Fragen des Lebens und des Geistes äußert. Beide sind auch
psychologisch charakterisiert, und man kann, obwohl nicht vollständig, ihre
Geschichte kennenlernen.
Aus Philipps Erinnerungen und Reflexionen kann seine Lebensgeschichte
rekonstruiert werden. Philipp besucht den Psychiater, Dr. Behude, der über
dessen Vergangenheit möglichst viel erfahren will. In Freudscher Tradition will
er dessen Kindheit wiederinszenieren, um mögliche frühe Sexualstörungen aufzudecken: so erwartet Dr. Behude „immer Unanständiges erotische Konfessionen” (2,146). Der kleine „Traumdoktor” und „Psychotherapeut” (2,145) läßt
Philipp von Sommer und Wiesen träumen; dieser aber liebt nur den Schnee.
Philipps Zuhause ist im Osten, wo „eine Katze buckelt und schnurrt, die Bratäpfel brutzeln im Rohr” (2,145). In seiner Kindheit gab es nichts Unanständiges, er
erinnert sich an seine Freundin Eva, die ihre Pirouetten auf dem Eis machte. In
Dr. Behudes Behandlungszimmer liegend denkt Philipp daran, daß der Verfall
auch schon zur Zeit seiner Kindheit in der Stadt gegenwärtig war. Er fuhr oft
über die Oderbrücke: „Es war eine Brücke unter Glas. Der Zug fuhr über diese
Brücke wie durch einen gläsernen Tunnel” (2,139). In der intuitiven Wahrnehmung des Jungen war das Glas über der Brücke wie eine „Käseglocke”, die mit
41
dem Geruch der Fäulnis verbunden war. Bereits in der vorangegangenen Sequenz heißt es, daß die Händlerin die Käseglocke lüftete und „die Zersetzung
war schon fortgeschritten; ein Fäulnisgestank erhob sich” (2,139). Über Philipps
Vergangenheit erfährt der Leser noch, daß er „Verfasser eines im Dritten Reich
verbotenen und nach dem Dritten Reich vergessenen Buches” (2,55) war und
daß er im Dritten Reich untertauchte. Nachdem sein erstes Buch „im Lautsprecherbrüllen und Waffenlärm” untergegangen war, war Philipp „wie gelähmt”,
und „schon sah er mit Grauen, wie der verfluchte Schauplatz [...] für ein neues
blutiges Drama hergerichtet wurde” (2,101). Es war die Zeit des Kalten Krieges,
man bereitete sich auf einen neuen Krieg vor. Diese Atmosphäre der Atempause
zwischen zwei Kriegen wurde schon im Romananfang angesprochen. Alle Romanfiguren mit autobiographischen Zügen leben in der Angst, daß sich die Geschichte wiederholen könnte und von deutschem Boden erneut ein Krieg ausgehen könnte.
Die siebte Sequenz beginnt mit dem Satz: „Philipp kam mit der Zeit nicht
zurecht” (2,21). Dieser Satz ist der Ausdruck der Tragik seiner Erlebnisse in der
Vergangenheit, der Kriegsfolgen für seine Heimatstadt – „eine Stadt irgendwo
in Masuren, doch man konnte nicht mehr zum Bahnhof gehen und eine Fahrkarte nach diesem Ort verlangen. Die Stadt war ausgelöscht” (2,22). Philipp erinnert sich an eine Theateraufführung im Gymnasium, wo er als kleiner Junge im
Kieler Anzug auf einem Stuhl im Deutschen Saal saß und die Damen „Lebende
Bilder” aufführten. Das Thema der Bilder entsprach dem Zeitgeschmack, „Bilder aus der vaterländischen Geschichte [...], Germania und ihre Kinder”. Die
spätere Zerstörung der Stadt und der Tod Evas und der Kameraden geben dieser
Szene in der Erinnerung „etwas Feierliches, Dauerndes, dem Tag Entrücktes”
(2,22). In der Vision des kleinen Knaben erscheint die Stadt als tote Stadt, alle
sind gestorben, nur er als einziger ist übriggeblieben. Mit einem Satz wird die
Verwandlung der toten Stadt des Traumes in die tote Stadt der Realität beschrieben: „Die Dekoration des Traums war ins Leben gestellt, aber Philipp
agierte nicht mehr auf dieser Bühne” (2,22). Philipp denkt über seine Zeiterfahrung nach: Die Metapher des Stromes steht für die verrinnende Zeit, und aus der
Flußmetapher leitet er die Motive eines Sees oder Meeres ab, für die Unendlichkeit und Bewegungslosigkeit charakteristisch sind. Diesen stellt er die Menschengeschichte gegenüber, die in einem grotesken Bild geschildert wird:
42
Aber er, Philipp, stand noch dazu außerhalb dieses Ablaufs der Zeit, nicht
eigentlich ausgestoßen aus dem Strom, sondern ursprünglich auf einen
Posten gerufen, einen ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles beobachten sollte, aber das Dumme war, daß ihm schwindlig wurde und daß er gar
nichts beobachten konnte, schließlich nur ein Wogen sah, in dem einige
Jahreszahlen wie Signale aufleuchteten, schon nicht mehr natürliche Zeichen, künstlich listig errichtete Bojen in der Zeitsee, schwankendes Menschenmal auf den ungebändigten Wellen, aber zuweilen erstarrte das
Meer, und aus dem Wasser der Unendlichkeit hob sich ein gefrorenes,
nichtssagendes, dem Gelächter überantwortetes Bild. (2,22 f.)
„Der ehrenvolle Posten”, die sog. Beobachterposition, ist immer Ausdruck
einer gewissen Distanz zu den historischen Ereignissen. Wenn Philipp aber in
dieser Position schwindlig wird, bedeutet das, daß er diese Distanz nicht mehr
wahren kann. Dem Schriftsteller ist die Fähigkeit des Überblicks, der deutenden
Perspektive völlig abhanden gekommen. Der Verbindlichkeit eines traditionellen Menschen- und Weltbildes entledigt, unter einem gottlosen Himmel, bleibt
nur die Orientierungslosigkeit. Die bruchlose Anknüpfung an die Tradition ist
unmöglich geworden. Dieser Schwindel bedeutet auch Angst: Philipp sehnt sich
nach Abstand von der Zeit, d.h. nach Freiheit, was er aber nur für Augenblicke
verwirklichen kann. Er erlebt die Zeit zugleich als rasend und stillstehend. Sie
ist rasend, weil ihm die Orientierungsmarken fehlen, und stillstehend, weil nur
die Wiederkehr des Todes Ordnung in die Zeit bringt. Der Widerspruch von
„rasend” und „stillstehend” kehrt nach Hielscher76 auch im formalen Widerspruch von Rondoform (Statik) und Mosaikform (Dynamik) im Ganzen und im
Inneren der Sequenzen wieder.
Philipp erstarrt vor dem Realwerden seiner Träume, d.h. vor der Vernichtung der Stadt; wurde doch sein Traum von der Wirklichkeit auf furchtbare
Weise bestätigt. Neben den Auguren wird eine zweite prophetische Gestalt genannt, Kassandra, über deren Fähigkeiten er verfügt. Er teilt das Schicksal der
trojanischen Seherin auch insofern, als er als Seher nicht ernstgenommen wird.
Die Kassandra-Rolle ist dabei mit Philipps Dichterselbstverständnis eng verbunden, da er glaubt, die Menschen über den Lauf der Geschichte, also über die
Gefahr der möglichen Wiederkehr eines Krieges, informieren zu müssen. Philipp selbst aber zweifelt daran, daß er zum Dichtertum berufen ist: „War er zu
76
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 75.
43
etwas bestimmt gewesen, hatte er sich dieser Bestimmung entzogen, und konnte
man sich überhaupt, vorausgesetzt, es gab sie, einer Bestimmung entziehen?”
(2,28) Diese Fragen muß Philipp beantworten. Er muß seine Vorstellung über
den Dichterberuf überprüfen. Dabei bleibt es fraglich, ob er fähig ist, sich in der
Konfrontation mit der Wirklichkeit zu ändern. Er kann sich verschließen oder,
die Realität zur Kenntnis nehmend, neue Lebensstrategien ausbauen.
Ein Wogen der Zeit, eine Heraufbeschwörung der Vergangenheit bedeutet
auch die psychotherapeutische Behandlung: Sie gewährt die Freiheit von der
Zeit, „es war ihm zu einer Gewohnheit geworden, den Nervenarzt aufzusuchen
[...] und den Gedanken freien Lauf zu lassen, einer Flucht von Bildern, die ihn
bei Dr. Behude überkam, einem kaleidoskopartigen Wechsel des Ortes und der
Zeit, […]” (2,29). Quack nennt ein weiteres Freiheitsmoment im Erleben des
Augenblicks der „heure bleue”. Die Stunde des Träumens, der „heure bleue” sei
die Zeit der Dämmerung, wenn die Menschen von den Zwängen der Arbeit und
der Familie noch nicht eingefangen seien. Mit der Befreiung von der Zeit eröffne sich das Feld der Möglichkeit.77 Das Freiheitsmoment verbindet sich für
Philipp mit einem Bild in Paris: „Philipp liebte die Stunde. In Paris war es die
heure bleue, die Stunde des Träumens, eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht” (2,162). Auf das Paris-Bild folgen
die Italien-Assoziationen, die eine negative Konnotation haben: „die Steinfassade der Jesuitenkirche […] sie war ein Teil des alten Italiens, sie war human,
klug und von karnevalistischer Ausgelassenheit. Wohin aber hatten Humanität
und Klugheit und schließlich noch Ausgelassenheit geführt?” (2,163).
Der Psychotherapeut wird ironisch beschrieben: Er will den schreibunfähigen deutschen Schriftsteller, der in seiner Sprechstunde im verdunkelten Behandlungszimmer in klassisch-psychoanalytischer Pose liegt, heilen, indem er
ihn „mit sanfter einschläfernder Stimme von Schuld und Buße befreien” will
(2,29). Philipp sieht seine Schuld darin, daß er in den entscheidenden historischen Momenten gelähmt war, und er meint, daß die Erfahrungen der NSDiktatur seine literarische Sprachlosigkeit zur Folge hatten. Er wirft sich vor, in
indirekter Weise auch an Emilias Besitzverlust schuldig zu sein. Bei Behude
denkt er: „meine Schuld? ja, meine Schuld, jedermanns Schuld, alte Schuld,
Urväterschuld, Schuld von weither”. (2,147) Er findet sich schuldig, weil er
77
Quack sieht in der Chance der Möglichkeit die entscheidende Gelegenheit, die
Verzweiflung zu überwinden. Er zitiert hier Sören Kierkegaard: „Möglichkeit ist das allein
Rettende“. Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 127.
44
während der Diktatur versagt hat. Er konnte nur in Gedanken Widerstand leisten, aber das reicht ihm nicht:
Gefühlskommunist: immer auf der Seite der Armen sinnlos empört, Spartakus Jesus Thomas Münzer Max Hölz, was wollten sie? gut sein, was
geschah? man tötete sie, kämpfte ich in Spanien? mir schlug die Stunde
nicht, ich drückte mich durch die Diktatur, ich haßte aber leise, ich haßte
aber in meiner Kammer, ich flüsterte aber mit Gleichgesinnten, […]
(2,147)
Das Schuldgefühl führt den Schriftsteller zur Identitätskrise: „Philipp hatte
sich der Verzweiflung hingegeben, einer Sünde. Das Schicksal hatte ihn in die
Enge getrieben. Die Erynnien schlugen mit dem Wind und dem Regen gegen
das Fenster” (2,17). Diese Zeilen können so verstanden werden, daß er in seiner
Verzweiflung nicht er selbst sein wollte, weil er in der Vergangenheit politisch
und moralisch versagt hatte. Sein Gefühl, verurteilt zu sein, hängt mit diesem
Gefühl des Scheiterns in den wichtigen Momenten des Lebens zusammen. Von
dieser Schuld kann Philipp mit Hilfe von Dr. Behude nicht befreit werden, denn
das würde bedeuten, daß nur sein Gewissen beruhigt wäre.
Die Worte, er komme mit der Zeit „nicht zurecht”, beziehen sich auch auf
die Gegenwart. Vor dem Krieg hat Philipp ein Buch geschrieben, seitdem
schreibt er nicht mehr, das unbeschriebene Blatt auf seinem Schreibtisch gehört
zu seinen „Arbeitsrequisiten”. Philipps Ansicht nach ist ein Schriftsteller überflüssig, der die Leser vor der Zukunft warnt und sie zu Bewußtseinsveränderungen aufruft; es bestehe nur Bedarf nach geschichtsverfälschenden populären
Romanen sowie Heimat- und Liebesfilmen. Philipp ist nicht bereit, Messalinas
Bitte zu folgen und ein Filmmanuskript für Alexander zu schreiben. Im „bürgerlichen” Leben kann er auch keinen Kompromiß eingehen, was dadurch bewiesen wird, daß er mit dem „Patentkleber” nicht handeln kann, d.h. er versucht
einen Klebstoff zu verkaufen, aber er ist zu scheu, um damit Geld verdienen zu
können. Er will sich nicht anpassen und ist davon überzeugt, daß er seine geistige Unabhängigkeit nur in der Form des absoluten Nonkonformismus bewahren
kann. Über seine Haltung schreibt Langer:
Aber dieses Für-mich-bleiben-Wollen, dieses bewußt gewählte Abseitsstellen, ist nicht mit dem traditionellen Rückzug des Künstlers ins
45
Private, oder in die innere Emigration identisch, sondern eine Weigerung,
sich schreibend in den Dienst einer Ideologie zu stellen.78
Philipp begeht denselben Fehler ein zweites Mal, weswegen ihn Gewissensbisse quälen: Es ist die verpaßte Möglichkeit, an der Verwirklichung einer demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Auch in Messalinas Gedanken taucht er
als Dichter der ästhetischen Existenz in Berlin oder Paris auf: „verkanntes Genie
Kaffeehausliterat in Berlin im Romanischen Café, in Paris im Dôme” (2,54).79
Wie Keetenheuve, Protagonist im zweiten Roman der Trilogie, betont er seine
politische Haltung, nach der er jede Form der Unterdrückung und Gewalt verabscheue. Solange aber Keetenheuve für die von ihm für richtig gehaltene Politik
kämpft, schweigt Philipp. Langers Schlußfolgerung, daß er mit dem Eingeständnis seiner Ohnmacht seine Menschenwürde bewahre, könnte also stimmen.
Jedoch fühlt sich Philipp besiegt und das zweite Mal zum Schweigen gezwungen und hoffnungslos gescheitert.
Philipp und Emilia erleben eine Ehekrise. Ihre Probleme besprechen sie aber
nicht miteinander, was für den Roman charakteristisch ist: Die Figuren reden
nicht miteinander, sondern sie reflektieren übereinander. Es ist satirisch beschrieben, wie sie einander heraufbeschwören und übereinander nachdenken.
Emilia „legte sich auf das rillige Ledersofa, das fest und kalt wie ein Doktorbett
und darum ihr unheimlich war, und sie dachte an Philipp, zauberte ihn durch
Denken herbei” (2,32). Inzwischen liegt Philipp bei Dr. Behude „im verdunkelten Zimmer” (2,14) und denkt an Emilia.
Nun wird Emilias Lebensgeschichte erzählt: Sie ist aus einer glücklichen
Kindheit vertrieben worden; jetzt teilt sie ihre Einsamkeit mit ihren Tieren, die
78
Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 31 f.
Emil Szittya schreibt über das Café du Dôme: „In den letzten fünfzig Jahren hat in den
deutschen Künstlerkreisen die Schwärmerei für Italien aufgehört und den Platz der Sehnsucht
übernahm die siebenhügelige Seinestadt. Die deutschen Künstler hatten viele Jahre hindurch
ihr eigenes Café in Paris; es war das Café du Dôme. In diesem Café konnte man jedem
deutschen Künstler begegnen, der mit dem modernen Frankreich etwas zu tun hatte“. Zitiert
aus: Andreas Kramer: Gertrude Stein und die deutsche Avantgarde. Eggingen 1993, S. 32. Den
Fraktionen, die sich innerhalb des Cafés bildeten, war das avantgardistische Bewußtsein
gemeinsam. Im Café du Dôme verkehrten nicht nur deutsche, sondern auch amerikanische
Künstler und Autoren. Einige amerikanische Maler stellten vermutlich die Verbindung zu
anderen in Paris lebenden amerikanischen Kunstfreunden und Sammlern her, als deren
prominenteste schon 1905 Gertrude Stein und ihre Geschwister galten. Gertrude Stein setzte
sich ausschließlich für Picasso und den beginnenden Kubismus ein.
79
46
ihr hingebungsvoll zuhören. Sie ist eine enttäuschte Kommerzienratsenkelin, die
sich um ihr Erbe betrogen fühlt, und wegen ihrer Enttäuschungen und Verlusterfahrungen verzweifelt ist. Philipp nimmt bei ihr die Spaltung ihrer Persönlichkeit wahr: „Emilia war wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der Geschichte von Stevenson”. (2,167) In der Rolle des Dr. Jekyll sei die nüchterne Emilia eine liebenswerte Frau, wenn aber sie betrunken sei und die Rolle des widerlichen Mr.
Hyde spiele, sei sie eine böse Person. Die Gespaltenheit ihrer Persönlichkeit
zeugt davon, daß sie noch nicht gewählt hat, wie sie weiterleben möchte. Entweder spielt Emilia weiter die betrogene Erbin und lebt in Traumverfallenheit
und erliegt so den Illusionen der Vergangenheit, oder sie paßt sich nach einer
Periode der „nichtgelungenen Anpassung” (Behudes Diagnose) an die Realität
an. Emilia träumt von Philipps schnellem Erfolg: „Ruhm, Reichtum, Sicherheit,
über Nacht gewonnen, [...] nicht an vielen Tagen, nicht in einer Art Dienst”
(2,32) – und verbindet mit Philipp die Haßliebe: In ihm liebt sie „den Nichtgeschäftsmann, den Gefährten, den Geliebten und den Gehaßten, den Schänder
und Geschändeten” (2,32f.).
Einmal macht sie den Versuch, sich von der Rolle der Kommerzienratserbin
zu lösen und selbst die Wahl zu treffen; Philipp ähnlich sucht sie dabei Momente der Freiheit. Beim Juwelier Schellack schenkt sie Kay, einer Amerikanerin,
das von der Großmutter geerbte Geschmeide: „Sie suchte die Freiheit. Für einen
Augenblick wenigstens wollte sie frei sein. Sie wollte frei handeln, eine freie
Tat tun, die von keinem Zwang und keiner Notwendigkeit bestimmt und mit
keiner Absicht verbunden war [...]”(2,154 f.). Mit dieser Tat will sie unbewußt
Kay näherkommen, ihr ähnlich werden. Denn Kay vertritt eine freiere Existenz,
eine schon von Philipp reflektierte Unbeschwertheit, über die deutsche Frauengestalten nicht verfügen können. Emilia ist aber nur für den Augenblick frei,
Kay schenkt nämlich den Schmuck an Philipp weiter, in der Absicht, dem in
materieller Not lebenden deutschen Dichter zu helfen.80
Typisch für Koeppens Romane ist, daß die Figuren durch die Vorstellung ihrer Bibliothek charakterisiert werden. In der gottlosen Zeit der Moderne ist der
Bücherschrank der Hausaltar der Familie: „Ein Schrein, ein Altarschrein, [...]
80
Quack sieht im spontanen Verschenken des Großmutterschmucks eine Anspielung auf
Gides Begriff des acte gratuit, und das Motiv des verschenkten Schmucks dürfte eine
Anspielung auf Hemingways Across the river (1950) sein, in dem die junge Kontessa dem
amerikanischen Major wertvollen Familienschmuck verschenkt. Vgl. Josef Quack: Wolfgang
Koeppen, a. a. O., S.126.
47
mit seinen geöffneten Flügeln war der Bücherschrank ein unheiliges Triptychon
der Schrift hinter der nackten Emilia” (2,33). Die geerbte Bibliothek von Emilias Vorfahren wird vorgestellt: „die Prachtbände der achtziger Jahre, die unberührten Goldschnittausgaben, die deutschen Klassiker und der Pharus-amMeere-des-Lebens für den Salon der Dame, der Kampf-um-Rom und Bismarcks-Gedanken-und-Erinnerungen für das Herrenzimmer” (2,34). Die Vorfahren hatten die Bücher nur besessen, hatten „Geld verdient und nicht gelesen”
(2,34). Die beschriebenen Werke zeugen von den Bildungsidealen des Bürgers
am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der
Name Bismarcks steht für die deutsche Eroberungspolitik und die nationale
Gesinnung. Den Vorfahren wird Philipp gegenübergestellt, der ein unermüdlicher Leser ist und dessen Büchersammlung „voll Unrast und Zergliederung ist”
(2,34). Philipps Bildungsüberlegenheit wird dadurch gezeigt, daß Emilia nicht
aus den Büchern ihrer Ahnen, sondern aus denen von Philipp zitiert. Es ist auffällig, daß sich Philipp für das moderne Weltbild interessiert, auf den Regalen
seines Bücherschranks stehen Bücher wie z.B. Heideggers Holzwege (1950).
Philipp beschäftigt die heroische Phase der Moderne, die mit französischen
Autoren, mit Baudelaire, Rimbaud, Proust und Gide hier zitiert wird.
In der Szene bei dem Psychiater wird über Emilia geschrieben: „Für wen opferte sie sich, Priesterin und Hirschkuh in einer Gestalt, eine verkommene Iphigenie, von keiner Artemis beschützt, nach keinem Taurien entrückt?” (2,33 f.)
Die Rolle der Iphigenie ist eine mythische, die Emilia nicht erfüllen kann. Sie
kann Philipp von seinem Schuldgefühl nicht befreien, wie Iphigenie Orest vom
Fluch und der Verfolgung der Erynnien befreien konnte. Über den IphigenieVergleich schreibt Hielscher: „Die erotische Abstinenz in der Ehe macht aus
dem Verhältnis Emilia-Philipp potentiell ein geschwisterliches.”81 Im Vergleich
mit dem zweiten Roman kann man feststellen, daß weder Elke die Rolle der
Ariadne spielen kann noch Emilia die der Iphigenie. Im Zusammenhang mit
Kierkegaard wird in beiden Romanen die Unmöglichkeit der Bindung an eine
einzige Frau in der Ehe thematisiert.
Emilia wollte „der Materie entkommen, dem Geist nun sich hingeben”, ihre
Worte bedeuten, daß sie ihr Erbe vergessen und sich Philipps Welt des Geistes
nähern will. In einem Bewußtseinsstrom will sie den Geist der modernen Philosophie und Literatur heraufbeschwören, dadurch wird aber klar, daß sie weder
81
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 66.
48
Vertreterin der klassischen Bildung noch Vertreterin des Geistes der Moderne
ist:
les fleurs du mal, Blumen aus dem Nichts, der Trost in Dachkammern,
wie-hasse-ich-die-Poeten, die-Pumper, die-alten-Freitischschlucker, Geist
Trost in verfallenen Villen, ja-wir-waren-reich, une saison en enfer: il
semblait que ce fût un sinistre lavoir, toujours accablé de la pluie et noir,
Benn Gottfried Frühe Gedichte, La Morgue ist – dunkele-süße – Onanie,
les paradis artificiels auf den Holzwegen, Philipp auf den Holzwegen, ratlos im Gestrüpp in den Fußangeln Heideggers, [... ] (2,35).
Emilias Gedanken kehren aber immer wieder zum verlorenen Erbteil zurück,
der Übergang zum Geist kann nicht verwirklicht werden. Philipp denkt bei Dr.
Behude daran, daß Emilia bald wie Messalina aussehen werde, „Messalina die
Suffvisage” (2,147). Philipp prophezeit, Emilia werde bald untergehen und von
ihren Häusern erschlagen; sie liege schon unter ihren Häusern begraben. Man
wird wohl Philipps Worten glauben, weil er Emilia kennt und die Zukunft voraussagen kann. Emilias Haus wird außerdem als Grab beschrieben. Philipp
meint, daß Emilia nicht zu Messalinas Parties gehen werde, denn sie brauche
keine Verzweiflung mehr, sie sei bereits allein verzweifelt genug. Trotz seiner
Auguren-Rolle irrt sich Philipp, denn im vorletzten Abschnitt erscheint Emilia
auf Messalinas Party, sie ist „ein keuscher Süffel” (2,217), der wegen des Alkohols gekommen ist. Emilia fühlt sich wohl in dieser Gesellschaft, zu Hause dagegen fühlt sie sich lebendig begraben: „Das Haus war ein Grab, aber es war
das Grab der lebenden Emilia, und sie konnte es nicht verlassen.” (2,211) Emilia
besucht Messalinas Party auch deshalb, weil ihr die Anpassung an Philipps Welt
der Intellektualität und die neuen Wertmaßstäbe der Nachkriegsgesellschaft
nicht gelungen ist. Das Entführungsmotiv, das später auch in Zusammenhang
mit Elke genannt wird, steht dafür, daß „sie in das Reich der Intellektualität, der
Armut, des Zweifels und der Gewissensnot geführt” wurde. Während Keetenheuve ein Verführer in der Gestalt eines Drachen ist, denkt Emilia an Philipp,
ihren Verführer, als sie sein Bild von einem Kentaur mit einem nackten Weib
auf dem Pferderücken betrachtet.
Emilia wird immer mehr – wie auch Elke im Treibhaus-Roman von Wanowski – von Messalina und ihrem Kreis beeinflußt. Diese Gesellschaft hat
Züge der Öde und der existentiellen Leere:
49
Es war ein Fest ohne Stolz und Schönheit. War es ein Fest? Was feierten
sie? Feierten sie das Nichts? Sie sagten: „Wir feiern!” Aber sie ließen nur
ihre trüben Sinne laufen. Sie tranken Champagner, und sie ließen die
Trostlosigkeit leben, sie füllten die Lebensleere mit Geräuschen, sie jagten
die Angst mit Mitternachtmusik und schrillem Lachen. (2,216 f.)
3.1.2. Der Künstler als Konformist
Alexander ist der Vertreter der Trivialkunst, er verkörpert den Schauspieler,
für den Philipp kein Filmmanuskript schreiben will. Im ersten Abschnitt nach
dem Romananfang beschreibt der Erzähler, wie Alexander für die Rolle des
Erzherzogs eingekleidet wird. Er ist das Gegenteil dessen, was er darstellt: „ausgeheldet”, ein desillusionierter Zyniker. Ihm ist völlig egal, was man über ihn
denkt. Die Beschreibung seiner Körperlichkeit entspricht seiner desillusionierten
Haltung: „Alexanders Gesicht war käsig unter der Schminke; es war ein Gesicht
wie geronnene Milch” (2,13). Die Rolle des Erzherzogs wurde nach dem
Wunsch des Durchschnittszuschauers gestaltet, denn „die Leute wollten nicht
ihre Sorgen, nicht ihre Furcht, nicht ihren Alltag, sie wollten nicht ihr Elend
gespiegelt sehen.” (2,14) Alexanders Film dient der Illusionsbildung, auffallend
ist aber, daß ein desillusionierter Schauspieler die Rolle des Helden spielt: „Er
war nur müde. Er hatte es satt. Satt die Erzherzogrolle. Satt die blödsinnige
Sprechwalze des Erzherzogs.” (2,148)
Alexanders Haltung eines Angepaßten entspricht auch seine Karriere während der NS-Zeit, in der er berühmt wurde. Als die Stadt bombardiert wurde,
zog er sich in den Adlon-Diplomaten-Bunker zurück – ein Bunker, der den
„feinen Leuten”, d.h. den Anhängern des Systems, vorbehalten war. Seine
künstlerische Laufbahn in der Hitler-Zeit wird im Roman nicht genau beschrieben, aber aus einigen Sätzen kann man schließen, daß er damals in Filmen auftrat, die das System verherrlichten: „Im Schutt gruben die Jungen nach Verschütteten. Sie baten Alexander um ein Autogramm. Sie baten Alexander den
Helden, Alexander den Tollkühnen. Man verwechselte Alexander mit seinem
Schatten.” (2,148)
Der Name Alexander, ein legendärer Held der hellenischen Zeit, steht für
historische Größe und heldenhaftes Leben. Der Makedonienkönig Alexander
der Große ist noch mehr im Orient als in Europa die Symbolfigur des kühnen
Heerführers, der bis zu den Grenzen der Menschheit vorstößt. Er wurde göttli50
cher Ehren zuteil und ist als Löser des Gordischen Knotens bekannt.82 Diesen
Erwartungen kann Alexander aber nicht entsprechen. Langer weist darauf hin,
daß bei Koeppen die Namen der Figuren nicht immer auf die gewählte Rolle
innerhalb des gesellschaftlichen Systems verweisen, sie sind eher Parodien auf
die Idee vom Charakter als mythischer Rolle.83 In dem Essay Freud und die
Zukunft84 erläutert Thomas Mann das Grundmotiv seines Josephromans, das
eine Gegenkonzeption zur Aneignung des Mythos durch die nationalsozialistische Ideologie war. Hier wird auch Alexander erwähnt: „Alexander ging in den
Spuren des Miltiades, und von Cäsar waren seine antiken Biographen mit Recht
oder Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen. Dies Nachahmen
aber ist weit mehr, als heut in dem Worte liegt; es ist die mythische Identifikation, die der Antike besonders vertraut war.”85
Am Beispiel der Kleopatra erläutert Thomas Mann auch das Leben als „gelebter Mythos”86. Susanne, die Prostituierte in Tauben im Gras, geht nicht „inden-Spuren” ihrer biblischen Vorgängerin, sie ist vielmehr in ihrem Schlangenkleid – „Kleid aus gestreifter Seide” (2,188) –, das sie „wie ein Hemd auf der
bloßen Haut” (2,188) trägt, eine fleischgewordene Schlange.87
82
Vgl. Knaurs Lexikon der Symbole, a.a.O., S. 58.
Vgl. Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 121 f.
84
Thomas Mann: Freud und die Zukunft. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in
dreizehn Bänden. Band IX. Frankfurt am Main 1974, S. 478-501.
85
Thomas Mann: Freud und die Zukunft, a. a. O., S. 496.
86
Thomas Mann schreibt: „Ein Beispiel ist die Gestalt der ägyptischen Kleopatra, die ganz
und gar eine Ischtar-Astarte-Gestalt, Aphrodite in Person ist, [...] ihre Todesart deutet darauf
hin: Sie soll sich ja getötet haben, indem sie sich eine Giftnatter an den Busen legte. Die
Schlange war aber das Tier der Ischtar, der ägyptischen Isis, die auch wohl in einem
schuppigen Schlangenkleid dargestellt wird. [...] Trug sie nicht auch den Kopfputz der Isis, die
Geierhaube, und schmückte sie sich nicht mit den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit
der Sonnenscheibe dazwischen? Es war eine bedeutende Anspielung, daß sie ihre AntoniusKinder Helios und Selene nannte. Kein Zweifel, sie war eine bedeutende Frau – im antiken
Sinn ‘bedeutend’ –, die wußte, wer sie war und in welchen Fußstapfen sie ging!“
Thomas Mann: Freud und die Zukunft, a. a. O., S. 494-495.
87
Der Name „Susanne“ erweckt im Leser Gedanken über die biblische Susanna. Die
Apokryphen des Alten Testaments überliefern die Geschichte von Susanna, deren Schönheit
die Begierde zweier lüsterner Greise erregt. Sie überraschen sie beim Bade und klagen sie des
Ehebruchs mit einem Jüngling an, weil sie abgewiesen werden. Susanna wird zum Tode durch
Steinigung verurteilt. Daniel aber, der spätere Prophet, erkennt den Betrug. Am Ende werden
die Alten an Stelle Susannas zum Tode geführt. – Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der
Weltliteratur. Stuttgart 1992, S. 757.
83
51
Messalina, Alexanders Frau, ähnelt im Charakter der römischen Kaiserin
„Messalina”, die grausam und sittenlos war, und wird folgendermaßen beschrieben: „Dame der Gesellschaft” (152), „Suffvisage” (142), „Ringkämpfernatur” (52), „Geschlechtskoloß” (165). Auch wird sie „die schlafende Gorgo”
genannt, und mit ihrem „nach Dämonenart hergerichteten himbeerroten Haar”
(2,99), das an das nicht abgeschlagene Schlangenhaupthaar der Gorgo Medusa
erinnert und auf den Kopfputz der Isis anspielt, wird sie mit dem Mythos des
Nationalsozialismus in Verbindung gebracht.88
Alexander war in der NS-Zeit Rollenspieler der führenden Ideologie; diese
Lage hat sich für ihn nicht gravierend geändert: In der Gegenwart der Romanhandlung verkörpert er die Illusionen der Deutschen über ihre nationale Größe.
Messalina steht für einen gewissen Menschentyp, der empfindlich für Systeme
ist, die diesem das Gefühl verleihen können, daß er über Macht verfügen könne.
Messalina ist nur dem Anschein nach eine aggressive und gewaltige Frau. Dr.
Behude weiß davon, daß sie trotz dem Anschein schüchtern geblieben ist: „[...]
und dabei wäre dies, hätte es Behude gesagt, ein Zauberwort gewesen, ein Wort
der Denkmalzerstörung” (2, 156). Messalina kämpft seit ihrer Kindheit mit jedem möglichen Mittel gegen die eigene Schüchternheit: „Messalina hatte kein
freundliches Gesicht gemacht: ein schüchternes, aber schon ein schüchternes,
das mit Trotz und Gewaltsamkeit gegen die Schüchternheit ankämpfte” (2,156).
Die Schüchternheit will sie auch dadurch kompensieren, daß sie sich mit Personen wie der lesbischen Malerin Alfredo und den Strichjungen Hänschen und
Jack umgibt. Anderen Figuren des Romans ähnlich träumt sie von Paris, das ihr
im Kontext der „Liebe” erscheint: „Pernod, das war so verrucht, das pulverte
auf: >Pernod Paris, Paris die Stadt der Liebe, Öffentliche Häuser geschlossen,
schädigen Frankreichs Ansehen<” (2,116). Für Emilia bedeutet Messalina die
Versuchung, in den Kreis der trinkenden und lesbischen Frauen zu geraten, was
am Ende ihren Tod verursachen könnte.
88
Vgl. Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 123.
52
3.1.3.1. Der konservative Traditionalismus
Edwin werden relativ wenige Sequenzen gewidmet. Es werden seine Ankunft in München, sein Treffen mit Philipp, seine Begegnung mit Emilia, der
Vortrag im Amerikahaus und sein Tod durch die Strichjungen beschrieben.
Edwin steht in der klassischen Bildungstradition. Im Rahmen der amerikanischen Reeducation-Programme der Nachkriegszeit bringt Edwin den Deutschen
ihre eigenen Bildungsideale zurück, die unberührt von der jüngsten Geschichte
geblieben sind. Edwin, der lieber in England lebende Royalist vertritt christliche
Werte. Philipp dagegen steht mehr der amerikanischen Verlorenen Generation
näher. Edwin vertritt die offizielle Kulturpolitik der amerikanischen Besatzer, er
wurde demgemäß von dem Konsul und dem literarischen Impresario des Amerikahauses eingeladen. (2,44)
Um Edwins geistige Position zu veranschaulichen, verwendet Koeppen Anspielungen und Paraphrasen, die sich auf Thomas Manns Essays und den Tod in
Venedig als Referenztexte beziehen. Übereinstimmungen und Abweichungen
können bei dem Vergleich von Aschenbach und Edwin wahrgenommen werden. Edwin fühlt sich vom Reichtum angezogen, davon zeugt seine Vorliebe für
alte Luxushotels, gute Speisen und wertvolle Kunstgegenstände. Er wird von
der Staats- und Stadtleitung empfangen. Seine Ankunft wird folgendermaßen
beschrieben:
Im Wagen des Konsuls, im lautlos und erschütterungsfrei gleitenden
Cadillac, im Gefährt der Reichen auf der Seite der Reichen, der Staatsmänner, der Arrivierten, der planenden Manager, wenn man sich nicht
täuschen ließ, in einem geräumigen schwarzglänzenden Sarg fuhr Mr.
Edwin über die Kreuzung. [...] Es war das Land Goethes, das Land Platens, das Land Winckelmanns, über diesen Platz war Stefan George gegangen. (2,43 f.)
Der intertextuelle Zusammenhang mit Thomas Manns Der Tod in Venedig
ist nicht zu übersehen. Der schwarze Cadillac erinnert an die Gondel, die Aschenbach nach Venedig trägt. Die zitierten Zeilen deuten durch den Vergleich
des Cadillacs mit einem Sarg bereits auf Edwins Tod in dieser Stadt hin. Durch
ein weiteres Zitat wird erneut an die Schlußzeilen der Novelle Thomas Manns
erinnert: „Vielleicht würde er in dieser Stadt sterben. Eine Nachricht. Eine Notiz
53
in den Abendausgaben. Ein paar Gedenkartikel in London, in Paris, in New
York Dieser schwarze Cadillac war ein Sarg“ (2,45).89
Edwin wird als Außenseiter und Homosexueller vorgestellt. Mit den Worten
„wenn er sich der Schönheit gesellte“ wird auf seine päderastischen Neigungen
hingeweisen, die von ihm selbst zu Dichterqualitäten verschönt werden:
Mr. Edwin fand, daß die Herren den Slang der Gewöhnlichkeit sprachen.
Das war ärgerlich. Mr. Edwin liebte den Slang der Gewöhnlichkeit
manchmal, wenn er sich der Schönheit gesellte, aber hier bei diesen wohlerzogenen Herren seiner Gesellschaftsklasse meine Gesellschaftsklasse?
welche Klasse? vorurteilslos gegen jedermann, klassenloser Außenseiter,
keine Gemeinschaft, keine (2,44).
Langer unterscheidet zwischen dem Außenseitertum des Künstlers bei Thomas Mann und dem bei Wolfgang Koeppen. Manns Künstlerfiguren würden
ihre künstlerische Sensibilität einem Mangel an Lebenskraft verdanken, sie
sympathisierten mit dem Dekadent-Abgründigen und deshalb seien sie für ein
bürgerliches Leben untauglich. Für Koeppens Künstlerfiguren bedeute Außenseitertum eine moralische Haltung, der dichterischen Berufung zu entsprechen,
nie Kompromisse mit der Macht einzugehen.90 Im Roman besitzt nur Philipp
diese moralische Haltung, er ist aber selbst ein „Nicht-Geschäftmann“: Er kann
keinem bürgerlichen Beruf nachgehen, deshalb ist er während der Romanhandlung ohne Arbeit. Die andere Künstlergestalt, Edwin, ist auf der Seite der
Machthabenden, so kann Langers Gegenüberstellung als vereinfacht und nur
teilweise zutreffend angesehen werden.
Edwins Sendungsbewußtsein ist ähnlich dem der amerikanischen Soldaten
erschüttert, er zweifelt an der Richtigkeit der eigenen Position:
Kam er mit einer Botschaft, brachte er Trost, deutete er das Leid? Er sollte
über die Unsterblichkeit sprechen, über die Ewigkeit des Geistes, die unvergängliche Seele des Abendlandes, und jetzt? jetzt zweifelte er. (2,44 f.)
89
Dieser Satz ist ein Verweis auf den Schlußsatz aus Thomas Manns Novelle Der Tod in
Venedig: „Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht
von seinem Tode.“ In: Thomas Mann: Gesammelte Werke. Band IX. Erzählungen. Berlin
1956, S. 537.
90
Vgl. Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 98.
54
Wenn Edwins verspätete Reise als „Eitelkeit, Eitelkeit, Eitelkeit der Weisen“
(2,164) und als Sehnsucht nach Ruhm verstanden wird, wird auch auf Thomas
Manns Deutschlandreise im Goethe-Jahr 1949 angespielt. Edwin denkt über
seine Reise nach:
Sollte er nicht schweigen? Er hatte schon vorher die Zerstörungen des
Krieges gesehen, wem in Europa waren sie unbekannt? [...] doch was er
hier in dem wohl betroffensten Ort seiner Wanderschaft aus dem Fenster
des Konsulatswagens sah, [...] schon wiederhergestellt und grade darum
so schrecklich, so hinfällig: es war nie wiedergutzumachen. Er sollte über
Europa und für Europa sprechen, aber wünschte er geheim vielleicht die
Zerstörung, die Zertrümmerung des Gewandes [...] spät auf die Reise
gegangen, den spät und ach aus welchem Mißverstehen gekommenen
Ruhm zu kassieren, [...] (2,45).
Das Motiv des Schweigens im Roman bedeutet nach Langer eine Anspielung auf den Artikel Das Ende, in dem sich Thomas Mann als einen deutschen
Schriftsteller bezeichnet, der nach dem Mißbrauch des „deutschen Geistes“ im
Dritten Reich nicht mehr wagen könne, „in menschlichen Angelegenheiten den
Mund aufzumachen“.91 Edwins Worte „es war nicht wiedergutzumachen“ sind
im Hinblick auf Manns Essay als Ausdruck der „unsühnbaren“ Schuld der Deutschen zu verstehen.
Die amerikanischen Figuren haben die Funktion, über die Deutschen aus einer gewissen Distanz zu reflektieren und Kontrastfiguren zu bilden. Die drei
amerikanischen Lehrerinnen, Kay, Katherine Wescott und Mildred Burnett
ergänzen die Kunstkritik im Roman. Kay ist eine Verehrerin der Dichter, sie
schwärmt für die Dichtkunst und hat im germanistischen Seminar eines amerikanischen Colleges deutsche Literatur studiert. Dr. Kaiser, ihr Germanistikprofessor, „hatte bis zum Jahre dreiunddreißig in Berlin gelebt. Man hatte ihn
vertrieben“ (2,51). Das von ihm vermittelte Deutschlandbild entspricht aber
nicht Kays Erfahrungen in Deutschland: „Kay war enttäuscht. Das romantische
Deutschland? Es war düster. Das Land der Dichter und Denker, der Musik und
der Gesänge? Die Leute sahen aus wie überall. [...] Das andere Deutschland war
wohl eine Erfindung des Professors für Germanistik im College“ (2,51). Langer
behauptet, daß Koeppen mit diesen Worten Thomas Manns glorifiziertes
91
Thomas Mann, XII. S. 949.
55
Deutschlandbild ironisiere, und zwar jenes, das er in der Rede Deutschland und
die Deutschen entworfen habe, in der alle Deutschen zu etwas Besonderem, vor
allem zu Dichtern und Denkern, stilisiert würden.92 Nach Langers Vorstellung
ist Kay diejenige, durch die Koeppen seine Version von der Mitschuld der deutschen Dichter an den Weltkatastrophen des 20. Jahrhunderts vermittelt. Langer
nennt den deutschen Professor Kaiser-Mann, von dem eine magische Faszination ausgehe. Sie interpretiert den Unterschied zwischen den Stellungnahmen von
Kaiser und Thomas Mann falsch. Manns Position entspricht der von Kaiser
nicht, denn er bleibt in seiner Rede nicht bei dem erwähnten Deutschlandbild, er
macht die Geschichte der unpolitischen deutschen Innerlichkeit für den Faschismus verantwortlich, damit übernimmt er die moralische und vernunftorientierte angloamerikanische Faschismuskritik. So gibt es einen großen Unterschied zwischen Kaiser und Thomas Mann: Kaiser ist Vertreter der „Deutschen
Innerlichkeit“ und Mann ist gegen diese, so können diese beiden Einstellungen
in einer Person nicht vereinigt werden!
In Thomas Manns Rede Deutschland und die Deutschen heißt es weiter:
Nichts geistig Großes kam mehr aus Deutschland, das einst der Lehrer der
Welt gewesen war. Es war nur noch stark. Aber in dieser Stärke und unter
aller organisierten Leistungstüchtigkeit dauerte und wirkte fort der romantische Krankheits- und Todeskeim. [...] Und, heruntergekommen auf ein
klägliches Massenniveau, das Niveau eines Hitler, brach der deutsche
Romantismus aus in hysterische Barbarei, in einen Rausch und Krampf
von Überheblichkeit und Verbrechen, der nun in der nationalen Katastrophe, einem physischen und psychischen Kollaps ohnegleichen, sein
schauerliches Ende findet. (Mann, XI., S. 1146)
Kaiser analysiert die literarische Situation der Zeit, genauso wie es Koeppen
in seinem Buch tut. Kaiser unterscheidet zwischen den in Amerika lebenden
92
Langer zitiert in diesem Zusammenhang die folgende Stelle aus Thomas Manns Rede:
„[...] die vielleicht berühmteste Eigenschaft der Deutschen, diejenige, die man mit dem sehr
schwer übersetzbaren Wort ‚Innerlichkeit’ bezeichnet: Zartheit, der Tiefsinn des Herzens,
unweltliche Versponnenheit, Naturfrömmigkeit, reinster Ernst des Gedankens und Gewissens,
kurz alle Wesenszüge hoher Lyrik mischen sich darin, und was die Welt dieser deutschen
Innerlichkeit verdankt, kann sie selbst heute nicht vergessen: Die deutsche Metaphysik, die
deutsche Musik, insonderheit das Wunder des deutschen Liedes, etwas national völlig
Einmaliges und Unvergleichliches, waren ihre Früchte.“ (Mann, XI. S. 1142.), A. Langer:
Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 42.
56
Autoren und denen, die Amerika den Rücken wandten und in Europa leben oder
lebten. Zu den Letzteren zählt er Hemingway, Faulkner, Wolfe, O´Neill, Wilder
und Ezra Pound. Von den Deutschen ist für ihn Thomas Mann bedeutend, der
aber in Amerika lebt, und die klassisch-romantischen Dichter und die Dichter
um die Jahrhunderwende wie Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Hofmannsthal
und Rilke. (2,52) Charakteristisch für Hemingways Rezeption in Amerika ist,
daß die ältere amerikanische Lehrerin, Katharine Wescott, nicht will, daß Kay
Hemingways Across the River liest, weil sie Hemingway allzu nihilistisch findet. (2,52)
Kay übt eine große Wirkung auf Philipp aus, da sie von einer jugendlichen
Frische ist, die man in Deutschland zu dieser Zeit selten erfahren kann. Sie erinnert Philipp sowohl an die Rektorstochter Eva als auch an Emilia. Die drei Frauen werden durch einige Motive miteinander verbunden: „Im Garten des Rektors
hatte Reseda geblüht, die wohlriechende Reseda, und der Wohlgeruch hatte zu
den Sommertagen gehört, wenn Philipp, das Kind, mit Eva, der Rektorstochter,
auf dem Rasen lag“ (2,98). Über Kay reflektiert Philipp: „Reseda war hellgrün.
Und von hellem Grün war Kay“ (2,98f) und „Etwas erinnerte ihn Kay auch an
Emilia, nur daß Kay eine unbefangene, unbeschwerte Emilia war und daß sie, es
tat wohl, ihn nicht kannte und nichts von ihm wußte“ (2,100). Auch Messalina
wird auf die Ähnlichkeit der beiden Frauen aufmerksam: „Wollen Sie die Grünäugige verführen? Sie sieht Emilia ähnlich. Emilia und das Mädchen wären ein
schönes Paar.“ (2,102) Bei ihrem Treffen im Juweliergeschäft denkt Emilia über
Kay: „wie nett ist sie, sie ist sehr nett, sie ist ein wirklich nettes Mädchen, sie ist
das nette Mädchen das ich vielleicht hätte werden können, […] (2,154). Durch
das Schenken sind beide Mädchen für einen Augenblick frei: „Sie war frei. Ein
unerhörtes Gefühl von Glück durchströmte Emilia. Sie war frei. Das Glück
würde nicht währen. [...] Und auch Kay war frei, sie war ein freier Mensch,
unbewußter als Emilia, […]“ (2,155).
Dr. Kaisers Seminar beeinflußte Kay in hohem Maße. Sie glaubt, die Deutschen hätten „so fürchterlich ausdrucksvolle Gesichter, sie haben Charakterköpfe wie bei uns die schlechten Schauspieler“ (2,99), „die Dichter in Dr. Kaisers
deutscher Literaturgeschichte sehen alle so schrecklich romantisch aus, wie
Leute aus dem Verbrecheralbum“ (2,99). Ein deutscher Dichter würde außerdem nur Rheinwein trinken und in einem Eichenwald spazierengehen, so Kay.
In Kaisers Vorstellung sind alle deutschen Dichter romantisch, und Kay zieht
etwas in das Romantische und Abgründige von Philipps Welt: „und es war
57
Sehnsucht nach Romantik, Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, Sehnsucht
nach Erfahrung, nach besonderem Erleben, nach Abenteuer, nach Alter, nach
Degeneration und Untergang, nach Opfer, Hingabe und Iphigenienmythe“
(2,213 f.). Philipp führt Kay ins Hotel zum Lamm, er scherzt sogar darüber:
„das Lämmchen zum Lamm bringen” (2,214), mit diesen Worten erinnert er an
den übertragenen Sinn des Wortes „Lamm”. Das Lamm ist wegen seiner rührenden „Unschuld” Sinnbild des reinen und arglosen Wesens. Philipp sucht bei
Kay nicht „Degeneration“ und „Untergang“, sondern im Gegenteil, er sieht in
Kay den Gedanken der amerikanischen Freiheit verkörpert: „ich will gar nicht
sie, ich will das andere Land, ich will die Weite, ich will die Ferne, einen anderen Horizont, ich will die Jugend, das junge Land, ich will das Unbeschwerte,
ich will die Zukunft und das Vergängliche“ (2,214). Philipp kann Kay nicht
lieben: „Er fühlte sich alt und fühlte sein Herz erkalten“ (2,218), das ist damit zu
erklären, daß Kay und Philipp zu verschieden sind, um einander lieben zu können. Im übertragenen Sinne paßt Philipp nicht in das Bild des verführerischen,
dekadenten und zur Degeneration neigenden Schriftstellers.
Die amerikanischen Lehrerinnen, Katherine Wescott und Mildred Burnett,
diskutieren über die Rolle des Zufalls und die Frage der Isolation des Menschen.
Während sie einen Platz überqueren, „eine von Hitler entworfene Anlage, die
als Ehrenhain des Nationalsozialismus geplant war“ (2,165), denkt Mildred über
die Tauben im Gras nach:
Im Gras hockten Vögel. Miß Burnett dachte ‘wir verstehen nicht mehr als
die Vögel von dem was die Wescott quatscht, die Vögel sind zufällig hier,
wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig
hier, Hitler war ein Zufall, seine Politik war ein grausamer und dummer
Zufall, vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes,
[...] (2,165 f.)
Nach Mildred beherrschen Chaos und Zufall die Welt, damit widerspricht
ihre Position der von Edwin völlig. Sie will mit der Metapher der „Tauben im
Gras“ die Ratlosigkeit der Menschen infolge der Geschichtsereignisse der jüngsten Vergangenheit schildern. Sie ist der Meinung, daß auch Hitler nur ein Zufall
gewesen sei. Ihre Meinung ist damit zu erklären, daß sie und viele ihrer Zeitgenossen keine überzeugende wissenschaftliche Erklärung für die Wirkung der
nationalsozialistischen Ideen kennen.
58
Edwin und Philipp treffen sich in der Hotelküche. Der Autor spielt hier mit
der Ähnlichkeit oder Nicht-Ähnlichkeit der beiden Schriftsteller. Edwin erblickt
Philipp, den er „in der Verwirrung einer Sekunde für sich hielt, für sein Spiegelbild, für seinen Doppelgänger“ (2,108), dann aber denkt er, „daß es natürlich
Täuschung war, gedankliche Absurdität, nicht sein Ebenbild stand da, sondern
ein jüngerer, ihm nicht einmal ähnlich sehender Herr“. Am Ende erkennt er in
Philipp einen jüngeren Kollegen: „der aber dennoch verwandt sympathischunsympathisch blieb und etwa einem Bruder zu vergleichen war, den man nicht
mochte“ (2,108). Philipp charakterisiert Edwin als einen Dichter, der „etwas von
einem alten Geier und etwas von einem alten Zuhälter“ (2,142) hatte. In der
Geiermetapher sieht Quack einen Verweis auf die Einstellung des konservativen
Dichters, der von einer abgelebten Tradition zehrt.93 Zwischen den beiden
Schriftstellern kommt es zu keinem Gespräch. Philipp hätte mit Edwin ein Interview machen müssen, aber er kann seiner Aufgabe nicht nachgehen.
Bei einer Wanderung durch die Stadt denkt Edwin über das Schicksal der
Stadt nach. Die Stadt ist für ihn eine, die „das abgeschlagene Haupt der Medusa
gesehen“ (2,105) hat, d.h. sie hat die Niederlage der Nationalsozialisten erlebt.
Edwin bleiben die Symptome der Verdrängung der Vergangenheit nicht verborgen: „Furcht und Trauer schienen ihm hier in die Keller verbannt zu sein, in die
Keller, über die Häuser gestürzt waren, und dort ließ man sie nun eine Weile.
Der Geruch dieser zugeschütteten Keller lag über der Stadt. Niemand schien es
zu merken“ (2, 107). Er kommt zur Erkenntnis, daß es verderbliche Formen des
Vergessens und des Traditionsverlusts geben kann. Er beobachtet die Unfähigkeit der Deutschen zu trauern und ihren Anspruch auf das Vergessen. Er will
aber der Wahrheit nicht in die Augen sehen, deshalb relativiert er sie: „Und
wenn er die Wahrheit sagen würde? Kannte er denn die Wahrheit? O älteste
Frage: was war Wahrheit?“ (2,107) Wenn er aber über die Zukunft der Stadt
ehrlich nachdenkt, sieht er ähnlich wie Keetenheuve, der Protagonist des zwei93
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 112. Geier gelten im Vergleich zu
Adlern als weniger „königlich“, weil sie Aasfresser sind. In der Antike hat man beobachtet,
daß Geier sehr oft Heereszügen folgten. Aus dieser Tatsache hat man ihre prophetische
Begabung abgeleitet. Es hieß, sie sammelten sich schon drei Tage vorher an Orten kommender
Schlachten. Bei den Römern war die Bedeutung des Geiers als Orakeltier im Augurium, etwa
bei der Gründung Roms, allgemein bekannt. So hängt Edwins schon beschriebene
Augurenrolle mit der Geiermetapher zusammen. Vgl. Knaurs Lexikon der Symbole, a. a. O.,
S. 400.
59
ten Romans der Trilogie, die Scheinblüte der Stadt, eine Art Künstlichkeit und
„Edwin sah in dieser Stadt ein Schauspiel und ein Beispiel, sie hing, hing am
Abgrund, war in der Schwebe, hielt sich in gefährlicher mühsamer Balance“
(2,106). Diese Schwebeposition bedeutet, daß die Zukunft der Stadt nicht entschieden ist, eine Wandlung in die Vergangenheit, eine Wandlung zur Barbarei
ist nach Edwin nicht ausgeschlossen. Satirisch werden Edwins konservative
Kunstauffassung und zugleich sein politischer Standpunkt in der Sequenz dargeboten, in der Dostojewskis Werk einer Kritik unterworfen wird.
[...] nichts empörte und verletzte Edwin mehr als der Barbarenschrei, die
Genie und Größe leider nicht ermangelnde und darum um so erschreckendere Voraussage, der Ruf dieses Russen, des Heilig-Kranken
[...] wie Edwin gestehen mußte (eines Dichters, den er verehrte und mied,
denn er selbst fühlte sich nicht den Dämonen verbunden, sondern der hellenisch-christlichen Ratio, die Übersinnliches – in Maßen – nicht ausschloß; aber schon schienen die vertriebenen Gespenster des GrausamAbsurden wiederaufzutauchen) das Wort von der kleinen, Asien vorgelagerten Halbinsel, die nach drei Jahrtausenden der Selbständigkeit, der
Frühreife, der Ungezogenheit, des Ordentlich-Unordentlichen, des Größenwahns zur Mutter Asien zurückkehren oder zurückfallen werde. (2,105)
Diese Textstelle spielt auf Thomas Manns Essay Dostojewski – mit Maßen
an. Darin nennt Thomas Mann Dostojewski „den Heilig-Kranken“, dessen
Werk „mehr dem menschlichen Elend, der Sünde, dem Laster, den Abgründen
der Wollust und des Verbrechens zugewandt ist als der Noblesse des Leibes und
der Seele“.94 In dem Essay warnt Thomas Mann mit seiner eigenen Neigung
zum Maßhalten die amerikanischen Leser vor der Maßlosigkeit. Thomas Mann
beendet seinen Artikel übrigens mit der Feststellung, daß jemand, der die Wahrheit sucht, auch die der Sonne abgewandte Seite der Wahrheit über den Menschen kennenlernen sollte. Dagegen lebt Edwin „in der strengen Zucht des Geistes“, und er zählt sich als Dichter „zur europäischen Elite, der späten und, wie
immer mehr zu fürchten war, letzten des geliebten abendländischen Erdteils“
(2,105). Auch zeigt Edwin in der Ruinenstadt nur Scheintugenden; er macht nur
den Eindruck, moralisch zu sein. Die Wahrheit über diesen Nachmittag in München soll erst nach seinem Tod in seinem Tagebuch veröffentlicht werden: „Im
94
Thomas Mann: Gesammelte Werke, Band: IX., S. 671.
60
Licht der Wahrheit wird Edwin untersuchen, ob er an diesem Nachmittag ein
guter oder ein böser Mensch war.“ (2,145)
3.1.3.2. Edwins Rede oder die Konfrontation der FigurenBewußtseinseinstellungen
Edwins Vortrag ist ein gesellschaftliches Ereignis, an dem alle teilnehmen
wollen, die Interesse für Fragen der Kultur haben oder einfach nur dabei sein
wollen, weil alle prominenten Persönlichkeiten der Stadt den Vortrag besuchen.
Der Vortrag macht es möglich, die Gedanken der Figuren im Zusammenhang
mit einem bestimmten Problem darzustellen. Im Gegensatz zu anderen Romanen, in denen es nicht so viele Figuren gibt, können hier die sozialen Determinanten, also die Entwicklung, die psychologische Disposition und die ideologische Orientierung nicht in beliebiger Ausführlichkeit und Detailliertheit entfaltet
werden. Eine Darstellungsweise des Autors besteht, wenn er mit vielen Figuren
arbeitet, darin, sie entweder gleichzeitig oder nacheinander mit einer ähnlichen
Situation zu konfrontieren, um sie durch ihre unterschiedlichen Reaktionen
darauf voneinander abzuheben und zu individualisieren; auch können die Figuren dadurch charakterisiert werden, daß sie ihre Meinung zu einem bestimmten
Thema äußern. Von der letzteren Form der Charakterisierung macht Koeppen in
seinen Romanen oft Gebrauch. Außer der Szene im Amerikahaus kann als Beleg der zweite Höhepunkt des Romans genannt werden, die Bräuhaus-Szene.
Diese Technik verwendet Koeppen auch in seinem Roman Der Tod in Rom, in
dem fast alle Figuren des Romans zur Aufführung von Siegfrieds Symphonie
kommen.
Die Zuhörer des Vortrags, Rundfunk- oder Filmleute, einige aus der Reklamebranche, höhere Ministerialbeamte, sogar Minister und Besatzungsoffiziere
sind alle gekommen, um Edwins Rede über den europäischen Geist zu hören:
„Edwin hatte sein Leben den geistigen Bemühungen geweiht, er war zum Geist
gekommen, er war Geist geworden, und nun konnte er den Geist weitergeben:
Jünger empfingen ihn in jeder Stadt, der Geist würde nicht sterben“ (2,183).
Auch Aschenbach ist in seinem ganzen Wesen auf Ruhm gestellt, als Vertreter
der nationalen geistigen Elite erfreut er sich großer Popularität. Seine Arbeit
wird von einer weiten Öffentlichkeit begleitet. Edwins Werk ist allgemein anerkannt, aber seine Botschaft kann die Leser nur schwer erreichen. Von dieser
61
Tatsache zeugen die Worte der amerikanischen Lehrerinnen, die sein Werk als
„allzu schwer zugängliches, allzu dunkles, der Deutung bedürfendes Werk“
(2,97) charakterisieren.
In seiner Rede will Edwin die Entwicklung des menschlichen Geistes skizzieren von der Antike über die Klassik, er will den französischen Rationalismus
diskutieren, aber die Technik rebelliert gegen den Geist. Das Mikrophon funktioniert nicht, man kann nur Geräusche hören. Auch später, als die Technik schon
funktioniert, erreichen Edwins Worte das Publikum nicht. Es bleibt ein völlig
folgenloser Vortrag, denn alle schlafen. In seinem Vortrag beschwört der berühmte Dichter Edwin die abendländische Tradition: „Edwin sprach von der
Summa theologiae der Scholastik. „Veni creator spiritus, komm Schöpfer Geist,
bleib Schöpfer Geist, nur im Geiste sind wir“ (2,204). Dem Vorrang des Geistes
widerspricht aber das Publikum: „Miß Burnett dachte ‘ich habe Hunger, immer
wenn ich einen Vortrag höre, kriege ich furchtbaren Hunger, […]“ (2,205).
Edwin nennt in seiner Rede das Christentum den vielleicht letzten Abendschein
Europas. Philipp versteht, wie unzeitgemäß die Beschwörung der abendländischen Kultur ist, aber er ist trotz allem ein Verehrer Edwins: „und doch ist Größe in seinem Vortrag [...], Edwins Bemühung rührt mich, ich verehre ihn, jetzt
verehre ich ihn, sein Vortrag ist eine vergebliche Beschwörung, er empfindet
sicher auch wie vergebens die Beschwörung ist“ (2,205). Philipps Verehrung
entspringt der Überzeugung, daß Edwin zu den größten Schriftstellern der abendländischen Literatur gehört. Auch Philipp selbst schätzt die Werte des Humanismus und der vergangenen Jahrhunderte, aber er ist enttäuscht wegen der
Wirkungslosigkeit der schönen Worte und Ideen.95 Philipp relativiert seine eigenen Gedanken, seine eigene Begeisterung dadurch, daß er ein Gespräch mit
Emilia imaginiert, in dem Emilia Edwins Größe bezweifelt. Nach den letzten
Worten des Vortrags denkt Philipp über die Wirkung von Edwins Rede:
95
Hielscher spielt auf Gedanken und die Vorliebe für kulturelle Traditionen an, die Philipp
mit Edwin verbindet: „Edwins Vorliebe für Piranesi, für Tausendundeine Nacht, für die
Mythen und die literarische Tradition, seine Sensibilität für den Untergang der
abendländischen Kultur und für die Kälte der eigenen Botschaft, die an der Tradition des
Geistes festhält, obwohl sie die meisten Menschen von sich ausschließt, sind Züge, die Philipp
mit Edwin teilt. Schließlich verbindet sie die häufige Reflexion über ihr literarisches Geschäft,
dessen Sinn durch die jüngste Geschichte erschüttert ist.“ – Martin Hielscher: Zitierte Moderne,
a. a. O., S. 79.
62
[...] als er sie erreichte, schon gestorbenen, schon toten, ja zu Staub und
Moder gewordenen Anhauch seines Geistes als lästige Spinngewebe von
sich streiften: es war eine Beschämung, und weil sie als Hohn und
Beschämung und Sieg der Rührigkeit, der bloßen Konvention, des unrühmlichen Ruhmbetreibes und des Ungeistes von ihm erfaßt wurde,
schloß der Dichter schamvoll die Augen. Philipp verstand ihn. Er dachte
‘mein unglücklicher Bruder, mein lieber Bruder, mein großer Bruder’.
Emilia hätte gesagt: ‘Und mein armer Bruder? Das verschweigst du.’
(2,212)
Ihr imaginiertes Gespräch wird fortgesetzt:
‘[…] Ein kaltes Bild, Emilia, aber Edwin, sein Wort, sein Geist, seine
Botschaft, die in diesem Saal ohne sichtbare Wirkung blieben und keine
wahrnehmbare Erschütterung hinterließen, zählen zu den großen Lawinen,
die ins Tal unserer Zeit rollen.’ – ‘Und zerstören’, hätte Emilia hinzugesetzt, ‘und Kälte verbreiten.’ (2,212)
Der Einschätzung vom Primat des Geistes, der nach Edwin die Wärme ausstrahle, wird mehrmals widersprochen. Selbst Philipp bevorzugt Kays Nähe,
weil sie Wärme ausstrahlt. Edwins Vortrag wird relativiert, indem die aktuellen
Probleme der anwesenden Figuren mit der abstrakten Gedankenwelt der von
Edwin beschworenen Kulturtradition konfrontiert werden. Edwins Niederlage
ist damit zu erklären, daß seine Kulturphilosophie in der gegebenen historischen
Situation unzeitgemäß ist. Nach jahrhundertelanger Geschichte der Christenheit
und des Humanismus konnte dennoch die Barbarei in Deutschland Fuß fassen,
es war nicht möglich, die Welt und die Heimat davor zu schützen. Auch die
amerikanischen Lehrerinnen sind enttäuscht: Sie erwarteten Zauberwörter, aber
in ihre Merkbücher haben sie tote Wörter geschrieben. In der Beschreibung des
als Schauplatz des Vortrages dienenden Amerikahauses wird die antike Kunst
als tote Kunst beschrieben, dadurch werden Edwins Worte über die Unsterblichkeit der hohen Kunst negiert:
Das Amerikahaus, ein Führerbau des Nationalsozialismus, lag hinter
Philipp und Kay. Das Haus sah, aus seinen symmetrisch aneinandergereihten Fenstern in die Nacht leuchtend, wie gewisse Museen aus, wie ein
kolossales Grabmal der Antike, wie ein Bürogebäude, in dem der Nachlaß
der Antike verwaltet wird, der Geist, die Heldensagen, die Götter. (2,213)
63
Der Schleier aus Klischees und Halbwahrheiten ermöglicht es Edwin, sich
von der Realität abzuschirmen; dieses Vorgehen ist auch in seinen Werken präsent, in denen die Darstellung der Geschichte und der gesellschaftlichen Probleme fehlt. Er verbirgt sogar Makel seines Charakters.
In einem wichtigen Teil seiner Rede spricht Edwin von der Freiheit. „Die
europäische Freiheit“ (2,205) sei ohne das Christentum nicht vorzustellen. Die
amerikanischen Dichter Gertrude Stein und Ernest Hemingway werden von
Edwin verurteilt, weil die Welt nach ihrer Vorstellung nicht von Gott, sondern
vom Zufall regiert werde. Edwin begründet also seinen Einspruch gegen den
Nihilismus der Moderne damit, daß ein menschenwürdiges Leben nur auf religiösem Fundament vorstellbar sei. Edwins Haltung wird aber dadurch widersprochen, daß der christliche Dichter seine christlichen Ideale selbst nicht befolgt. Im folgenden Zitat werden außer der Frage des Glaubens auch Fragen
seiner Kunstauffassung thematisert :
Edwin erwähnte die Freiheit. Der europäische Geist, sagte er, sei die Zukunft der Freiheit, oder die Freiheit werde keine Zukunft mehr in der Welt
haben. Hier wandte sich Edwin gegen einen Ausspruch der seinen Zuhörern völlig unbekannten amerikanischen Dichterin Gertrude Stein, von
der erzählt wird, daß Hemingway bei ihr zu schreiben gelernt habe.
Gertrude Stein und Hemingway waren Edwin gleichermaßen unsympathisch, er hielt sie für Literaten. Boulevardiers, zweitrangige Geister, und
sie wieder gaben ihm die Nichtachtung reichlich zurück und nannten ihn
ihrerseits einen Epigonen und sublimen Nachäffer der großen toten Dichtung der großen und toten Jahrhunderte. Wie Tauben im Gras, sagte Edwin, die Stein zitierend, und so war doch etwas von ihr Geschriebenes bei
ihm haftengeblieben, doch dachte er weniger an Tauben im Gras, als an
Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, wie Tauben im Gras betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen, indem sie sich bemühten,
das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im
Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei und von Schlingen bedroht,
dem Metzger preisgegeben, aber stolz auf die eingebildete, zu nichts als
Elend führende Freiheit von Gott und göttlicher Herkunft. Und dabei,
sagte Edwin, kenne doch schon jede Taube ihren Schlag und sei jeder Vogel in Gottes Hand. (2,206 f.)
64
Der Romantitel referiert intertextuell auf eine Zeile aus Gertrude Steins
Drama Four Saints in Three Acts, die lautet wie folgt: „Pigeons on the grass
alas“. Die englischen Worte werden auch als Motto dem Roman vorangestellt.
Auf der philologischen Ebene ist die Auslegung des Stein-Zitats von Edwin
nicht angemessen, denn Gertrude Stein benutzt nicht die Vergleichspartikel
„wie“. Die entsprechenden Zeilen aus Four Saints in Three Acts stellen die mythische Vision des Heiligen Ignatius von Loyola dar.96 In einem Vortrag hat
Gertrude Stein einen Hinweis gegeben, den man zu Edwins Auslegung in Beziehung setzen kann. In diesem im Januar 1935 am Mount Holyoke College
gehaltenen Vortrag interpretiert Stein die Arie des Heiligen Ignatius von Loyola.97 In der Analyse Marianne DeKovens sei der Heilige Ignatius, der Begründer
des Jesuitenordens, der Repräsentant des Patriarchats und der militärischen Gewalt in der Oper. Stein denke an ihn als an eine leblose Porzellanfigur. Sie bevorzuge die mystische und weibliche Figur der Heiligen Theresa von Avila. Die
96
Pigeons on the grass alas.
Pigeons on the grass alas.
Short longer grass short longer longer shorter yellow grass Pigeons large pigeons on the
shorter longer yellow grass alas pigeons on the grass.
If they were not pigeons what were they.
If they were not pigeons on the grass alas what were they. He had heard of a third and he
asked about it it was a magpie in the sky. If a magpie in the sky on the sky can not cry if the
pigeon on the grass alas can alas and to pass the pigeon on the grass alas and the magpie in
the sky on the sky and to try and to try alas on the grass the pigeon on the grass the pigeon on
the grass and alas. they might be very well very well very well they might be they might be
very well very well might be.
Let Lucy Lily Lily Lucy Lucy let Lucy Lucy Lily Lily Lily Lily Lily let Lily Lucy Lucy let
Lily. Let Lucy Lily.
(Getrude Stein and Virgil Thomson: Four Saints in Three Acts. New York: Music Press
1948, S. 104 f.)
97
Magpies are in the landscape that is they are in the sky of a landscape, they ar black and
white and they are in the sky of the landscape in Bilignin and in Spain, escpecially in Avila.
When they are in the sky they do something that I have never seen any other bird do they hold
themselves up und down and look flat against the sky.
A very famous French inventor of things that have to do with stabilisation in aviation told
me that what I told him magpies did could not be done by any bird but anyway whether the
magpies at Avila do do it or do it not at least they look as if they do do it. They look exactly
like the birds in the Annunciation pictures the bird which ist the Holy Ghost and rests flat
against the side sky very high. (Andreas Kramer: Gertrude Stein und die deutsche Avantgarde.
Eggingen 1993, S. 99.)
65
Arie gibt die reinste Vorstellung von der Grundopposition im Libretto: Irdische
Tauben befinden sich in der Falle der Erde und der Grasfläche, während die
wunderbaren Elstern im spirituellen Himmel schweben. Der Heilige Ignatius
kann am Ende seine Isolation doch überwinden. Er bestätigt in seiner Schlußvision Theresas Vorstellung von der Einheit von Geist und Körper.98 Andreas
Kramer löst auch die Frage nach den „Tauben auf dem Markusplatz in Venedig“, indem er entdeckt, daß Edwins Abschweifung auf den Markusplatz auf ein
berühmtes Photo anspielt, das Stein und Alice B. Toklas (Steins Lebensgefährtin) 1908 auf dem Markusplatz, umgeben von zahlreichen Tauben, zeigt.99
Gertrude Stein hat ihre Stücke auch „landscapes“ genannt, um zu zeigen,
daß in ihnen eine Materialität dominiert. „Landschaft“ entsteht unaufhörlich und
kontinuierlich im Spiel. Die Figuren werden nicht in einer Landschaft plaziert,
sie selber sind die Landschaft. Wenn die Figuren stillstehen, muß deshalb die
Erfahrung einer Räumlichkeit nicht statisch sein. Das Stück vereint in sich gegenläufige Dynamiken.100 Die Reflexion auf Zeit und Erfahrung ist auch in
Tauben im Gras andauernd greifbar. Philipps Zeiterfahrung wird als Stillstand
und Rennen definiert. Jane Bowers betont, daß Four Saints in Three Acts Gertrude Steins ins Theater versetztes Bewußtsein, ihren Geist repräsentiere. Mit
der Wiederholung des Wortes „alas“ erinnert uns Stein die ganze Zeit daran,
daß die Autorin anwesend sei. („Alas“ kann auch ein Hinweis auf „Alice“ sein).
In ihrem verbalen Stilleben will Stein die Statik im temporalen Medium zeigen.
In der zitierten Parabel beschreibt Stein die Elstern als bewegungslose Vögel.
Vielleicht scheint es unmöglich zu sein, aber sie behauptet nur, daß die Elstern
bewegungslos zu sein scheinen.101
Auffallend ist die Parallelität der Bildstruktur, so Kramer: Den Elstern entsprechen die Flugzeuge in Tauben im Gras, die Prolog und Epilog des Romans
bestimmen. Die Flieger sind „unheilkündende Vögel“, so wird der Gegensatz
zwischen Natur und Kultur (Geist) angesprochen. Der Geist als „instrumentelle
98
Vgl. Marianne DeKoven: A Different Language. Getrude Stein‘s Experimental Writing.
The University of Wisconsin Press, Ohne Jahr. S. 144-147.
99
Diese Abbildung ist u.a. auch in Gertrude Stein. Ein Leben in Texten und Bildern, ed. R.
Stendhal, Zürich 1989, S. 77. zu finden. Vgl. Andreas Kramer: Gertrude Stein und die deutsche
Avantgarde, a. a. O., S. 106.
100
Vgl. Georg Schiller: Symbolische Erfahrung und Sprache im Werk von Gertrude Stein.
Frankfurt am Main: Peter Lang 1996, S. 141 f.
101
Vgl. Jane Bowers: The Writer in the Theater: Getrude Stein’s Four Saints in Three Acts.
In: M. J. Hoffmann (Hg.): Critical Essays on Gertrude Stein. Boston 1986, S. 210-225.
66
Vernunft“ ist bereit, die Natur zu zerstören. Die mystische Einheit von Geist und
Natur (Körper, Materie) kann nicht realisiert werden.
Der ehemalige Lehrer Schnakenbach, der Edwins Vortrag beiwohnt, vertritt
eine Ansicht im Bereich der Physik, die Edwins Vorstellungen im Bereich der
Literatur und der Kultur völlig widerspricht. Von ihm wird die traditionelle
metaphysische Weltdeutung in Frage gestellt. Schnakenbach will nicht in den
Krieg ziehen. Er nimmt regelmäßig Schlafentzugsmittel, um der Kaserne und
dem Krieg zu entgehen, aber er wird schlafsüchtig. Er studiert die neuere Physik, um von seiner Schlafsucht wegzukommen, und er beginnt, die Welt anders
zu sehen:
Schnakenbachs Weltbild war unmenschlich. Es war völlig abstrakt. Seine
Schulmeisterausbildung hatte Schnakenbach noch ein äußerlich intaktes
Weltbild, das Weltbild der klassischen Physik, vermittelt, in der alles
schön kausalgesetzlich zuging [...]. Er fing an nachzudenken, und er fand,
daß das ihm überlieferte Weltbild nicht stimmte. (2,203)
Die Bereiche der Religiosität und der Rationalität sind vom Verlust ihres
Zentrums betroffen. Nach Schnakenbach gibt es keinen Gott oder er ist tot, wie
Nietzsche behauptet. Sogar eine Gläubige (Emilia) muß danach fragen, wo Gott
ist: „wo war Gott und wo lag Mekka, wohin sollte sie sich mit ihrem Gebet
wenden?“ (2,94) Vom Verlust des Zentrums zeugen auch Schnakenbachs Gedanken in erlebter Rede: „Wo Schnakenbach auch war, er war die Mitte und der
Kreis, er war der Anfang und das Ende, aber er war nichts Besonderes, jeder
war Mitte und Kreis“ (2,204). Dadurch, daß das metaphysische Zentrum verloren ist, kann jeder beliebige Punkt, d.h. jeder Mensch Zentrum sein. Ähnliche
Erfahrungen macht auch Philipp: „der Schriftsteller stand in der Mitte, und die
Welt um ihn war überall gleich fern und nah“ (2,101).
Koeppen erwähnt im Roman mehrfach Physiker wie Albert Einstein, Max
Planck, Erwin Schrödinger, Louis de Broglie, James Jeans und Pascal Jordan. In
einem persönlichen Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold sagte er, daß die neueren Erkenntnisse der Naturwissenschaften, vor allem der Physik, einen großen
Einfluß auf ihn ausgeübt hätten.102 Koeppen erzählte auch, daß er seit den zwan102
Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Schriftstellern. Max Frisch, Günter Grass,
Wolfgang Koeppen, Max von der Grün, Günter Walraff. München 1975, S. 109-141. Auch in:
Schriftsteller im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold. Band I. Zürich 1990, S. 69-113.
67
zwanziger Jahren auf diesem Gebiet viel gelesen habe. Koeppen brachte seine
Beeinflussung durch naturwissenschaftliche Schriften selbst in direkten Bezug
zu seinem Montagestil. Anstelle von Literatur nannte Koeppen die neuen Errungenschaften der Physik als Inspirationsquelle.103
Elisabeth Emter ist der Meinung, daß die Einflüsse der modernen Naturwissenschaften auf die Ästhetik und Literatur im 20. Jahrhundert nur unzureichend
erforscht seien. Sir Charles P. Snow löste mit seinem Vortrag The Two Cultures
and the Scientific Revolution im Jahre 1959 eine heftige Diskussion aus. Er
vertrat die These, daß die literarisch-geisteswissenschaftliche Intelligenz und die
naturwissenschaftliche Intelligenz verschiedene Kulturen verkörperten.104 Snow
warf den beiden Parteien eine wechselseitige Entfremdung und Gleichgültigkeit
vor. Dabei kritisierte er die veraltete Bildungsvorstellung der literarischgeistesgeschichtlichen Intelligenz. Emter geht davon aus, daß Koeppens Fall die
Chance gibt, die Trennung der „Zwei Kulturen“, zumindest was Literatur angeht, für nicht wesensgemäß zu halten. Ihre Studie wurde mit dem Ziel konzipiert, die Grundlagen dafür zu schaffen, daß der Zusammenhang zwischen dem
modernen physikalischen Weltbild und der Literatur erkannt werden könne: „Es
soll hier zum ersten Mal in der Literaturgeschichtsschreibung der Behauptung
entgegengetreten werden, daß es sich bei den Analogien zwischen moderner
Physik und literarischen Phänomenen lediglich um Parallelerscheinungen handelt.“105 Nur wenn eine direkte Einwirkung der modernen Physik auf die
Schriftsteller nachgewiesen werden könne, sei die Bedingung gegeben, von
einem expliziten Zusammenhang zwischen modernem physikalischen Weltbild
und Literatur zu sprechen. Erst in diesem Falle könne davon ausgegangen werden, daß die Kluft zwischen den „Zwei Kulturen“ überwindbar sei. Wichtig ist
die Frage, so Emter, inwieweit Koeppen die Undurchschaubarkeit der Wirklichkeit und somit das Fehlen einer vorgegebenen Ordnung als Möglichkeit für eine
neue Ordnung betrachtete, die jenseits traditioneller Ordnungsvorstellungen
103
Vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik
in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925-1970), Berlin
1995. S. 9.
104
Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche
Intelligenz (d.i.: The Two Cultures: and A Second Look, dt. v. Grete und Karl-Eberhardt
Felten). Stuttgart 1967, S. 18.
105
Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie, a. a. O., S. 19.
68
liegt.106 Emter hebt Emilias inneren Monolog hervor, in dem es um Anspielungen auf das Werk What is Life? von dem Physiker Erwin Schrödinger geht:107
[...] Schrödinger What ist Life? das Wesen der Mutation, das Verhalten
der Atome im Organismus, der Organismus kein physikalisches Laboratorium, ein Strom von Ordnung, du entgehst dem Zerfall im anatomischen
Chaos, die Seele, ja, die Seele, Deus factus sum, die Upanischaden, Ordnung aus Ordnung, Ordnung aus Unordnung, die Seelenwanderung, die
Vielheitshypothese, [...] (2,35).
In dem Band Was ist Leben?, so Emter, strebt Schrödinger eine Synthese der
Physik und der Biologie an, indem er versucht, die Prozesse des lebenden Organismus mit Hilfe physikalischer Gesetze zu erklären. Die Quantentheorie liefere
die Beweise dafür, daß zwischen einem lebenden Organismus und einem Uhrwerk Ähnlichkeiten bestehen. Um den menschlichen Körper nicht lediglich als
Mechanismus definieren zu müssen, schreibt er: „Ich [...] ist die Person, sofern
es eine überhaupt gibt, welche die ‘Bewegung der Atome’ in Übereinstimmung
mit den Naturgesetzen leitet.“108 „Deus factum sum“109 – diese Worte bedeuten
nicht, daß der Mensch in seinen Handlungen nicht von den Naturgesetzen determiniert würde, sondern Herr über diese sei. Aus Schrödingers Sicht sind der
menschliche Wille und die Naturgesetze eins. Er sieht die Einheit von Organischem und Anorganischem und die von Geist und Materie. Diesem Einheitsgedanken zufolge scheint Schrödinger die Existenz mehrerer Bewußtseine unmöglich zu sein. Er lehnt sogar die Scheidung zwischen den einzelnen Subjekten ab.
Mit seiner Subjektvorstellung weicht er von der traditionellen abendländischen
Subjektauffassung ab, die das Subjekt als den durch die Erinnerung bedingten
Zusammenhang persönlicher, individueller Erlebnisse als identitätsstiftendes
Merkmal begreift. Nach Schrödinger vermitteln Erkennen, Fühlen und Wollen
dem Einzelnen den Eindruck der Identität. Der einzelne Mensch sei nicht Teil
eines Ganzen, sondern das Ganze selbst.
Emter analysiert Emilias Monolog als Projektion einer neuen Subjektivitätsvorstellung und entdeckt Übereinstimmungen zu Schrödingers Idee einer „me106
Vgl. Emter: a. a. O., S. 317.
Vgl. Erwin Schrödinger: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers
betrachtet. München 1951.
108
Erwin Schrödinger: Was ist Leben? a. a. O., S. 123.
109
Ebd.
107
69
taphysischen Unität“. Sie zitiert einen Satz aus Emilias Monolog: „Erschöpfung
perlte auf ihrer Stirn, jede Perle ein Mikrokosmos der Unterwelt, ein Gewimmel
von Atomen, Elektronen und Quanten, [...]“ (2,36). Das Ich entäußere sich sowohl mental in Form von Assoziationsketten als auch körperlich in Form von
Schweiß. In diesem Zitat finde sich nach Emter noch eine weitere Übereinstimmung zu Schrödinger. Emilias Schweiß werde als Zusammensetzung aus Atomen, Elektronen und Quanten bestimmt. Auf diese Weise werde die von Schrödinger behauptete Analogie zwischen lebendem Organismus und Materie aufgenommen. „Die Grenzen zwischen dem Bereich der kleinsten Teilchen, die den
mikrophysikalischen Gesetzen gehorchen, und dem menschlichen Körper, dessen Prozesse biologischen Gesetzen folgen, werden im Bild des Atome-,
Elektronen- und Quanten-Gewimmels innerhalb eines menschlichen Schweißtropfens verwischt.“110
Emter beobachtet, daß die Grenzen zwischen dem Erzähler und der Figur
Emilia verwischt sind. Es sei – so Emter – nicht überzeugend dargestellt, daß
alle literarischen und philosophischen Zitate aus dem Bewußtsein von Emilia
stammen. So sei es nicht wahrscheinlich, daß sich Emilia mit Benn, Gide, Sartre
und Heidegger auseinandersetze. Es handle sich wohl vor allem um die Anspielungen und Assoziationen des Erzählers. Ähnliches läßt sich über die Reflexionen des einfachen Dienstmannes Josef sagen, die in geschichtsphilosophische
Betrachtungen übergehen, die über dessen Reflexionsniveau hinausgehen. Diese
Beobachtungen haben ihre Geltung. Ich meine aber, daß sich Emter in Spekulationen verwickelt, wenn sie das bisher Dargestellte so erörtert: „Die Beobachtungen bei der Analyse von ‘Emilias Monolog’ sprechen für die Behauptung,
daß der Autor bewußt darauf verzichtete, Figur und Erzähler als zwei isolierte
Egos darzustellen. [...] Es handelt sich demnach um eine von Koeppen gezielt
eingesetzte Erzähltechnik, die nicht mehr auf einer an die Identität der Person
gebundenen Subjektvorstellung basiert. [...] Die Pluralität der Protagonisten,
deren Gefühls- und Gedankenwelt ausgebreitet wird, erweckt den Eindruck
einer Pluralität von Bewußtseinen. Indem jedoch die Bewußtseinskonturen der
Figuren mit jenen des Erzählers kollabieren, verlieren die einzelnen Individualitäten ihre Autonomie.“111
110
111
Emter: Literatur und Quantentheorie, a. a. O., S. 323.
Ebd. S. 325 f.
70
Obwohl es Fälle gibt, in denen die Gedanken des Erzählers manifest werden,
bedeutet es nicht, daß die Protagonisten über keine Individualität verfügen würden. Es ist in der modernen Literatur allgemein verbreitet, daß Figuren ein Reflexionsniveau haben, das ihren Wissenshorizont übersteigt. Auch kann es nicht
akzeptiert werden, daß in der Personenkonstitution die Erinnerungen keine Rolle spielen würden.
Mit der Rolle der modernen physikalischen Erkenntnisse setzt sich auch
Friedhelm Marx in seiner Studie auseinander.112 Was Schnakenbach an Erkenntnissen der modernen Physik in immer neue Formeln bringt, entspreche
dem poetologischen Konzept des Romans, so Friedhelm Marx. Schnakenbachs
Gedanken sind mit der fortwährenden Explosion des Kosmos, mit Dezentrierung, Diskontinuität, Relativität und Unbestimmtheit der Phänomene verbunden:
Schnakenbach sah eine mikrophysikalische Welt, bis zum Bersten angefüllt mit dem Kleinsten, und, freilich, sie barst, barst fortwährend, explodierte in die Weite, entfloh in den unbeschreibbaren, den endlich unendlichen Raum. Der schlafende Schnakenbach war in dauernder
Bewegung und Verwandlung; er empfing und verströmte Kräfte; (2,204)
Aus den aus der Physik gewonnenen Thesen kann der Schluß gezogen werden, daß Edwins Vorstellung vom Vorrang des Geistes von Schnakenbach widersprochen wird. In einer grotesken Szene geht Schnakenbach zum Mikrophon
und im Zustand des Halbschlafs mahnt er die Anwesenden: „Schlaft nicht!
Wacht auf! Es ist Zeit!“ (2,185). Diese Worte sind auch im übertragenen Sinne
zu verstehen. Quack betont, daß es sich nicht nur um eine nicht in den unmittelbaren Kontext passende Äußerung eines kranken Geistes handelt, sondern „daß
die Mahnung sich auf die durchgehende Thematik der Illusionsbefangenheit,
des Märchenbanns und der Traumverlorenheit bezieht.“113 Die Tatsache, daß im
Vortrag alle schlafen, bedeutet symbolisch auch, daß sich dieses „Aufwachen“
noch nicht verwirklicht hat.
112
Vgl. Friedhelm Marx: Kein Zauberwort, keine Formel. Wolfgang Koeppens Poetik der
Unschärfe in „Tauben im Gras“. In: Wolfgang Bergem, [u.a.] (Hg.): Metapher und Modell. Ein
Wuppertaler Kolloquium zu literarischen und wissenschaftlichen Formen der
Wirklichkeitskonstitution. Trier 1996, S. 139-152.
113
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 126.
71
Außer Thomas Mann wird noch von Quack T. S. Eliot als Vorbild für Edwin angegeben:
Der Autor hat wenig kaschiert, daß eines der Vorbilder für diese Figur T.
S. Eliot ist. Darauf deuten nicht nur biographische Details hin, Edwins
Abkehr von seinem Geburtsland Amerika, sondern vor allem seine
Berufung auf die christliche Tradition: Für ihn ist das Christentum, selbst
wenn es nach Kierkegaard nur noch Schein ist, „das einzige wärmende
Licht in der Welt“ (2,204).114
Der gebürtige Amerikaner Thomas Stearn Eliot (geb. 1888) kehrte vor dem
Ersten Weltkrieg vom puritanischen Amerika in die Heimat seiner Vorfahren
zurück. Er ist vor dem entfesselten Wirschaftsindividualismus in Amerika nach
Europa geflohen und wurde 1927 englischer Staatsbürger. Er gehört zu den
Klassikern des anglo-amerikanischen Modernismus. Nach dem Ersten Weltkrieg wird er von der „Verlorenen Generation“ als ihr repräsentativer Vertreter
angesehen. Mit Ezra Pound und W. B. Yeats schuf er auf der Grundlage des
französischen Symbolismus ein innovatives lyrisches Werk. Seine Themen
waren der Weltverfall und die geistig-moralische Heterogenität der modernen
Welt in den Großstädten. Das Jahr 1927 ist für ihn mit dem Übertritt zum
Anglokatholizismus verbunden. Die frühere Dichtung wurde später von ihm als
überwundene Vorstufe bezeichnet. Eliot wurde mit seinem späteren religiösen
und konformistischen Werk einem größeren Publikum in Deutschland bekannt.
1948 erhielt er den Nobelpreis – Edwin wird im Roman ein „preisgekrönter
Dichter“ genannt.
1946 erschien in deutscher Übersetzung Eliots Drama Mord im Dom (Murder in the Cathedral, 1935). In diesem steht Becketts Märtyrertum für die höhere Allgemeinheit der katholischen Geistigkeit gegen die Partikularität der nationalen politischen Interessen. Im gleichen Jahr wendet sich Eliot in einem Rundfunkappell direkt an die Deutschen und erinnert an das gemeinsame kulturelle
Erbe. Eliots Radioessay und Edwins Vortrag im Amerikahaus haben einen
gemeinsamen gedanklichen Kern. Die eigentliche kulturschaffende Kraft in
Europa sei laut Eliot die christliche Religion. In der Religion haben sich die
verschiedenen Künste entwickelt, durch sie wurde das römische Recht überliefert. Die europäische Kultur würde ohne die christliche Religiösität in Barbarei
114
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 117.
72
zurückfallen. Der Staat könne die Kultureinheit Europas nicht ersetzen. Säkularisierung ist für Eliot ein Irrtum. Ihm bedeutet das Mittelalter mit seinem scholastischen Lehrgebäude das verlorene Paradies der abendländischen Tradition.115
3.1.3.3. Der Angriff auf Edwin
Nach dem Vortrag im Amerikahaus verzichtet Edwin auf die Heimfahrt im
Konsulatswagen und ist „in die Nacht, in die Fremde und in das Abenteuer
entwischt. Ein Dichter altert nicht. Sein Herz schlägt jung“. (2,216) Diese Zeilen
und der Verweis auf „das Revier von Oscar Wildes goldenen Nattern“ (2,216)
machen deutlich, daß Edwin auf der Suche nach homoerotischen Erlebnissen ist.
Edwin war in dieser Stunde Sokrates und Alkibiades. Er wäre gern Sokrates in Alkibiades’ Leib gewesen, aber er war Alkibiades in Sokrates’
Körper, wenn auch aufrecht und wohlgekleidet. (2,216)
Den alternden Künstlern, Edwin und Aschenbach, dient die Erinnerung an
antikes Bildungsgut zur Klärung und Rechtfertigung ihrer Lebensführung. Aschenbach erlebt den Tod als die letzte Steigerung und Vollendung seiner künstlerischen Existenz. Diese „Ehre“ wird aber Edwin verweigert. Die Strichjungen
Bene, Schorschi, Kare und Sepp überfallen und berauben Edwin. Es ist fast
gesetzmäßig, daß Edwin den Strichjungen zum Opfer fällt, denn ihr „Gewerbe“
wird schon auf Seite 24 beschrieben, und es wird auch nicht verschwiegen, daß
sie nach homosexuellen Kunden suchen.116 Man kann annehmen, daß Edwin
stirbt. Die bereits zitierte Vorausdeutung auf seinen Tod wird durch Philipps
Worte bestätigt, der Edwins Hilferufe im Hotel hört:
Er dachte ‘welche Sensation für das Neue Blatt’. Selbst das Abendecho
würde einen überfallenen Dichter von Weltruhm auf die erste Seite setzen.
Philipp dachte ‘ich bin ein schlechter Reporter’. Er rührte sich nicht. Er
115
Vgl. Günter Auerbach: T. S. Eliot in Deutschland oder zwei unbewältigte
Vergangenheiten. In: N. Born / J. Manthey (Hg.): Literaturmagazin 7. Nachkriegsliteratur,
Hamburg 1977, S. 355-372.
116
„[...] das Gewerbe der flinken Hände, die nehmen und nicht geben, das Handwerk der
festen Fäuste, die schlagen und fleddern, und die warme Tour, die Profession des weichen
Blicks, der schwingenden Hüften, des wippernden Arsches.“ (2,24)
73
dachte ‘kann ich noch weinen? habe ich noch Tränen? würde ich weinen,
wenn Edwin tot wäre?’ (2,218)
Das folgende Zitat beweist, daß sich Koeppen im Gedankenkreis des Tod in
Venedig bewegt, es ist noch zu klären, auf welche Art und Weise:
Bene, Kare, Schorschi und Sepp erwarteten ihn. Sie hatten schon lange
auf ihn gewartet. Sie sahen nicht Sokrates und Alkibiades. Sie sahen einen
alten Freier, einen alten Deppen, eine alte wohlhabende Tante. Sie wußten
nicht, daß sie schön waren. Sie ahnten nicht, daß es ein Verfallensein an
die Schönheit gibt und daß der Liebhaber im Geliebten, im Körper eines
rüden Burschen, den Abglanz des ewig Schönen, das Unsterbliche lieben
kann, die Seele, wie Plato sie anbetete. Bene, Schorschi, Kare und Sepp
hatten auch Platen nicht gelesen wer-die-Schönheit-angeschaut-mitAugen-ist-dem-Tode-schon-anheimgegeben. (2,216)
Der ironische Ton bezieht sich auf die ästhetisierte Knabenliebe. Es gibt einen doppelten Verweis auf Aschenbach und Edwin. Aschenbach ruft sich Passagen aus Plutarchs Über die Liebe und Platons Gastmahl und Phaidros in
Erinnerung. Für Plutarch liegt das größte Glück des Menschen in der Erkenntnis
der Ideen, die Urbilder der Dinge sind, die uns in einem vorgeburtlichen Leben
zugänglich waren. Wenn wir einen schönen Menschen anblicken, wollen wir
uns an das Urbild erinnern. Eros ruft in uns die Sehnsucht nach dem Urbild, d.h.
nach dem Geistigen hervor. Aschenbach versucht Plutarch umzudeuten. Nach
seiner Ansicht kann die Seele allein durch den sinnlichen Anblick eines Körpers
mit Amors Hilfe zu Höherem erhoben werden. Plutarch aber hat zwischen gemeinem und himmlischem Eros unterschieden, wobei nur der letztere zum Geistigen führt.117
Aschenbach ist der Meinung, daß der Künstler durch die Schönheit vom
Sinnlichen zum Geistigen geführt werde. Um diese Idee zu beweisen, zitiert er
Passagen aus den Platonischen Dialogen Gastmahl und Phaidros. Aschenbach
fasst den Abschnitt aus dem Phaidros mit den Worten zusammen: „So ist die
Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste, – nur der Weg, ein Mittel nur,
kleiner Phaidros...“ 118 Bei Platon aber steht, daß nicht der Fühlende zum Geiste
117
Vgl. Josef Häfele/ Hans Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am
Main 1992, S. 57.
118
Thomas Mann: Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 504.
74
geführt wird, „da wir die Schönheit nicht mit dem Gefühl wahrnehmen, sondern
mit dem Auge, dem ‘klarsten unserer Sinne’. Der entscheidende Gegensatz ist
also nicht der von Gefühl und Geist, wie es Aschenbachs Situation entsprechen
würde, sondern der von sinnlicher Wahrnehmung und Geist.“119
Edwin findet die Jungen schön und stolz, sie können aber die Rolle des
„schönen Knaben“, d.h. des Geliebten nicht spielen, weil sie in Edwin nur ihr
Opfer sehen, das ausgeraubt werden kann. Diese Szene bedeutet die totale Niederlage des Geistes, der von der Materie, von den starken Fäusten der jungen
Menschen besiegt wird. In diesem Sinne wird dem Gedanken des Vortrags über
den Sieg des Geistes über die Materie widersprochen. Die beschriebene Situation ist eine groteske, in der tragische und komische Elemente gleichzeitig vorkommen. Edwin phantasiert über „Unsterblichkeit“ und „Abglanz des ewig
Schönen“, während er getötet wird und die Sterblichkeit und die Brutalität
menschlichen Wesens erfahren muß.
Die Worte „wer-die-Schönheit-angeschaut-mit-Augen-ist-dem-Tode-schonanheimgegeben“ sind zitierte Worte aus August von Platens Gedicht Tristan.120
Koeppen zitiert dieses Gedicht, weil Platen sowohl für den Tod in Venedig als
auch für Tauben im Gras von Bedeutung ist. Für Edwin ist Deutschland „das
Land Goethes, das Land Platens, das Land Winckelmanns“ (2,43), aber auch
von Gustav von Aschenbach wird Platen beschworen. Die Ursache dieser Beschwörung ist, daß es viele Entsprechungen im Schicksal Aschenbachs und
Platens gibt.121 In Platens Gedicht ersehnt Tristan den Tod als Ausweg aus der
Unmöglichkeit, seine narzißtischen Wünsche zu erfüllen. Im Tod in Venedig
weisen mehrere Merkmale auf das gemeinsame Schicksal, auf den narzißtischen
Charakter von Tadzio und Aschenbach hin. Aschenbach befindet sich auch auf
dem Irrweg der narzißtischen Liebe. Die Homoerotik sei nach Freud eine mög119
Josef Häfele: Thomas Mann: Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 59.
Die erste Strophe wird hier zitiert:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
August von Platen: Tristan. In: Günter Häntzschel (Hg.): Gedichte und Interpretationen.
Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Band 4. Stuttgart 1983, S. 35.
121
Vgl. Zoltán Szendi: Seele und Bild. Weltbild und Komposition in den Erzählungen
Thomas Manns. Pécs 1999, S. 84 f.
120
75
liche Erscheinungsform des Narzißmus. Aschenbach ist durch seinen Tod von
dem Schlimmsten verschont, da der den Künstlerruhm bedrohende Skandal
durch seinen Tod verhindert wird. Der Schlußsatz suggeriert die Möglichkeit
der geretteten Künstlerwürde. Die künftigen Gedenkartikel in verschiedenen
Zeitungen in Koeppens Roman zeugen von der möglichen Erschütterung, die
Edwins Tod hervorrufen würde.122
3.2. Die Möglichkeit des Lebens unter den Bedingungen der Liebe oder
der Vorurteile
3.2.1. Carla und Washington Price
Carla Behrends Leben wurde zweimal von der Politik der Nationalsozialisten beeinflußt: Ihre zwei Liebesgeschichten sind sich in der Hinsicht ähnlich,
daß der Rassismus, die Vorurteile der Menschen, ihr Glück zweimal verhindert
hat. Mit achtzehn heiratete sie; Carla und ihr Mann „glaubten damals an ein
Reich, dem man Kinder schenken konnte, vertrauensvoll, pflichtgemäß und
verantwortungsbewußt“ (2,85), schließlich war sie schwanger, als sie zum
Standesamt ging. Der Mann zog wegen der nazistischen Ideologie in den Krieg
und fiel an der Wolga. Jetzt lebt sie mit dem schwarzen GI Washington Price
zusammen, von dem sie ein Kind erwartet. Die Rassendiskriminierung bedroht
ihr Glück ein zweites Mal, denn weder in Deutschland noch in den USA können
in dieser Zeit eine weiße Frau und ein schwarzer Mann zusammenleben. Offiziell wird in Deutschland niemand mehr wegen seiner Rasse oder Religion verfolgt, aber im Bewußtsein des Volkes leben die Vorurteile weiter. Im Amerika
der fünfziger Jahre, in der Zeit der Rassendiskriminierung, sind die Schwarzen
Bürger zweiter Klasse.
Vom deutschen Wehrmachtsbüro, wo Carla Sekretärin des Platzkommandanten gewesen war, wechselte sie nach dem Krieg zu den schwarzen Soldaten
der US-Transporttruppe und lernte dort Washington kennen. Ihre Liebe konnte
sich inmitten der Ruinen entfalten: „Auf der Straße lag damals noch der Schutt
der zerbombten Gebäude. Der Wind wehte Staub auf. Die Ruinen waren wie ein
Totenfeld, außerhalb jeder Wirklichkeit des Abends, waren Pompeji, Herkulea122
Ebd. S. 81 f.
76
num, Troja, versunkene Welt“ (2,48). Er gab ihr Lebensmittel, Schokolade,
Konserven, Zigaretten, – ihre Verbindung mit Washington entstand also unter
den typischen Zeitumständen. Washington akzeptiert die Tatsache, daß er ständig verpflichtet ist zu beweisen, daß er kein „fauler und dummer Schwarzer“ ist,
sondern durchaus zu großen Leistungen fähig. Bianca Kurth123 zählt in ihrer
Studie die Leistungen auf, die Washington meint erbringen zu müssen: Dies
sind zunächst finanzielle Leistungen, die Washington erfüllen soll: Er „mußte
reich sein. Er mußte mindestens vorübergehend reich sein. Dem Reichtum würde Carla vertrauen. Sie würde dem Geld eher vertrauen als seinen Worten“
(2,47). Obwohl gesundheitliche Schwächen das bevorstehende Ende seiner
sportlichen Laufbahn anzeigen, muß er sportliche Leistungen bringen und für
seine materielle Freiheit hart arbeiten. Im zwischenmenschlichen Bereich muß
er dafür sorgen, daß sich Carla glücklich fühlt. Er ist bereit, für ihren Sohn und
für das gemeinsame Kind eine Zukunftsperspektive zu schaffen. Er wiederholt
immer, daß sie sich unter allen Umständen lieben müssen.
Washington und Carla reagieren auf Carlas Schwangerschaft unterschiedlich. Carlas Plan ist, Washington nach Amerika zu folgen, aber bei der Verwirklichung dieses Plans würde sie das ungeplante Kind stören. Denn: Carla ist kein
Idealist, sie sieht ihre Paradiesvorstellung verwirklicht im Paradies der „automatischen Küchen“:
[…] und im Nichtstun gewöhnte sie sich an die Bilderwelt unzähliger
Magazine, die ihr das Damenleben in Amerika zeigten, die automatischen
Küchen, die Waschwunder und Spülmaschinen, die alles reinigten,
während man im Liegestuhl der Television folgte, [...] und für die Kinder
gab es Puppen, die echte Tränen weinten; es waren die einzigen Tränen,
die in diesem Paradies geweint wurden. (2,49 f.)
Carla will sich auch von dem Einfluß ihrer Mutter befreien: Deshalb ist sie
aus der Elternwohnung ausgezogen, aber sie kann die Erniedrigungen und die
Feindschaft wegen ihres schwarzen Freundes kaum ertragen. Sie wird sich ihres
Irrtums bewußt, indem es ihr langsam klar wird, daß das erträumte Paradies nur
im Amerika der Weißen erreichbar ist: „Alle Neger saßen im falschen Zug.
Selbst die Leiter der Jazzkapellen saßen im falschen Zug; sie saßen im Luxusab123
Bianca Kurth: Spiegelung des Ich im Anderen. Juden und Schwarze im Werk Wolfgang
Koeppens. Heidelberg 1998, S. 58 f.
77
teil des falschen Zuges“ (2,123). Carla hat Angst, daß sie nach Jahren der Not
das erträumte Paradies nicht erreichen kann; sie ist zu keinem Opfer bereit und
entscheidet sich deshalb gegen das Kind: „Das Kind mußte weg. [...] Es war ein
Fehler gewesen, sich mit Washington zu vereinen [...]. Sie hätte auf einen weißen Amerikaner warten sollen“ (2,123).
Washington Price fährt eine horizontblaue Limousine, ein Symbol der Offenheit, der Ehrlichkeit, aber auch Gegenstand des Neides der deutschen Offiziere, die mit der Straßenbahn fahren und schwarze Soldaten, die sich wie Touristen benehmen und mit teuren Autos fahren, nicht ausstehen können. Er glaubt
an die Gleichberechtigung der Rassen, aber ist sich auch dessen bewußt, daß es
die Chancengleichheit noch nicht gibt. In einem Telefongespräch mit seinen
Eltern in Louisiana wird das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten angesprochen. Die Eltern können sich die weiße Frau im „Negerviertel“, in Baton
Rouge, nicht vorstellen, denn sie leben in einem Ghetto: Es gibt die Straße der
Apartheid und Napoleon’s Inn mit dem unsichtbaren Schild „Weiße unerwünscht“124. In Deutschland gab es nach dem Krieg keine infamen Gebote
mehr, die Tafeln, die jeden Menschen beschämten, waren abgerissen, „aber im
Vaterland, das ihn auszeichnete mit den Bändchen und den Medaillen für Tapferkeit, im Vaterland behaupteten sich die Schilder des Hochmuts, die Denkweise des Aftermenschen, ob plakatiert oder nicht, blieb stehen Für Schwarze verboten“ (2,62). Nur im Moment des Sieges (er ist der beste Baseballspieler der
Red Stars) ist er voll von Optimismus und fühlt sich frei. Nach dem Telefongespräch mit den Eltern verzichtet Washington auf seinen Zukunftstraum in Amerika und verlegt seine Paradiesvorstellung nach Paris:
In Paris hatte man keine Vorurteile. Er konnte in Paris sein Lokal aufmachen: Washington’s Inn. Er mußte mit Carla reden. Er konnte mit Carla
in Paris leben, ohne daß sie mit jemand wegen ihres Lebens Differenzen
kriegen würden. Sie konnten in Paris das Lokal aufmachen, sie konnten
124
Baton Rouge ist die Hauptstadt des Staates „Louisiana“, der nach dem Franzosenkönig
Louis XIV. benannt wurde. Es waren die Franzosen, die 1699 die Stadt gründeten. Ein Drittel
der Bevölkerung ist auch jetzt Französisch. 1803 konnte Thomas Jefferson als dritter Präsident
der USA durch den Erwerb des großen „Lousiana“-Gebietes von Frankreich für 15 Millionen
Dollar die Verdoppelung des Territoriums der Vereinigten Staaten erreichen. Diese Hinweise
auf Frankreich zusammen mit der Erwähnung von „Napoleon’s Inn“ in Baton Rouge können
als Vorausdeutung des Paris-Traumes aufgefaßt werden.
78
sein Schild ‘raushängen, konnten es mit bunten Glühbirnen beleuchten,
sein Schild niemand ist unerwünscht (2,135).
Carla hängt eine Zeit lang an der Illusion des Paradieses der „automatischen
Küchen“:
Da aber das Kind in ihrem Leib sich regte, fürchtete auch sie sich vor
sichtbaren und unsichtbaren Schildern, Nebukadnezarträumen, Belsazarschriften, die sie aus dem Paradies der automatischen Küchen und der Pillensicherheit vertreiben könnten, Weiße unerwünscht, Schwarze unerwünscht, es traf sie beides, [...]. (2,63)
Quack125 interpretiert dieses Zitat so, daß der feierliche Bibelton zu verstehen gebe, daß Carlas Alltagssorgen zugleich Ängste von höchster ethischer
Bedeutung seien. Die Zeile „Da aber das Kind in ihrem Leib sich regte“ verweise auf die Schwangerschaft der Mutter Johannes des Täufers (Luk 1,41). In
Carlas Entscheidung stehe auch ein hohes Ideal – die Utopie des Antirassismus
und der Menschengleichheit – auf dem Spiel. Die Allusionsmarker „Nebukadnezarträume, Belsazarschriften“ weisen auf die asiatischen Könige hin, die um
ihr Leben und den Bestand ihrer Herrschaft und ihrer Großreiche bangen.126 Es
125
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 131.
„Du, König, hattest einen Traum, und siehe, ein großes und hohes und hell glänzendes
Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Das Haupt dieses Bildes war von feinem
Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von
Kupfer, seine Schenkel waren von Eisen, seine Füße waren teils von Ton. Das sahst du, bis ein
Stein herunterkam, ohne Zutun von Menschenhänden; der traf das Bild an seinen Füßen, die
von Eisen und Ton waren, und zermalmte sie […] Der Stein aber, der das Bild zerschlug,
wurde zu einem großen Berg, so daß er die ganze Welt füllte. Du König [...] Du bist das
Goldene Haupt. Nach dir wird ein anderes Königreich aufkommen, geringer als deines, danach
das dritte Königreich, das aus Kupfer ist und über alle Länder herrschen wird [...]“.
Nebukadnezars Traum, Dan 2,31
„Den Gott aber, der deinen Odem und alle deine Wege in seiner Hand hat, hast du nicht
verehrt. Darum wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben. So aber
lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-partin. Und sie bedeutet dies:
Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der
Waage gewogen und zu leicht gefunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern
und Persern gegeben. Da befahl Belsazer, daß man Daniel mit Purpur kleiden sollte und ihm
eine goldene Kette um den Hals geben; und er ließ von ihm verkünden, daß er der Dritte
Königreich sei. Aber in derselben Nacht wurde Belsazer, der König der Chaldäer, getötet.“
126
79
ist gleichzeitig auch befremdend, daß Carla der Illusion des billigen und trivialen Reklameparadieses anhängt, so Quack.
Carla zweifelt daran, daß sie Washington wirklich liebt:
[…] ach, war es Liebe? war es nicht nur Zweisamkeit, Verzweiflung der
in die Welt Geworfenen, das warme Mensch-bei-Mensch-Liegen? und das
nah-fremde Wesen in ihrem Leib, war es nicht nur Frucht der Gewöhnung, [...]. (2,110)
Washingtons fester Glaube an die Möglichkeit ihres Zusammenlebens im
Zeichen der Liebe kann Carla überzeugen. Diese Verständigung kommt nur
deshalb zustande, weil Carla fähig und bereit ist, ihre Illusionen aufzugeben. Sie
gehört zu den wenigen Figuren, die fähig sind, sich zu verändern und ihren
Traum aufzugeben bzw. realistischere Träume zu träumen.127 Dieses Verhalten
bedeutet keine unwahrscheinliche Lösung der Probleme, denn Washingtons
Gedanken über seine Idee des Antirassismus und eines möglichen Märtyrertums
lauten:
Er wollte das Band, das nun zu reißen drohte, das Band zwischen Weiß
und Schwarz, nicht lösen, er wollte es fester knüpfen durch ein Kind, er
wollte ein Beispiel geben, er glaubte an die Möglichkeit dieses Beispiels,
und vielleicht forderte auch sein Glaube Märtyrer. (2,160)
und:
Wir müssen uns nur immer lieben. Wenn alle andern uns beschimpfen:
wir müssen uns liebhaben. Noch als ganz alte Leute müssen wir uns lieben. (2,161)
Belsazars Schrift, Dan 5,24
Carlas „Traum von Paris“ ist das Spiegelbild von Washingtons Vorstellungen über ihr
gemeinsames Leben in Paris: „Die Seine war nicht so weit wie der Missisipi, sie war nicht so
weit wie der Colorado. An der Seine würden sie beide zu Hause sein. Sie würden beide
Franzosen werden, wenn es sein mußte, sie, eine Deutsche, würde Französin werden, und
Washington, ein schwarzer Amerikaner, würde Franzose werden. Die Franzosen freuten sich,
wenn einer bei ihnen leben wollte. Carla und Washington würden das Lokal eröffnen,
Washington’s Inn, die Wirtschaft, in der niemand unerwünscht ist.“ (2,172)
127
80
Ein verwirklichtes Beispiel des Lebens unter den Bedingungen der Liebe
vertritt das Paar Herr Behrend und Vlasta. Behrend war Obermusikmeister der
deutschen Wehrmacht und lernte das Tschechenmädchen Vlasta im Protektorat
Böhmen kennen. Die Liebe hat sowohl Vlasta als auch Herrn Behrend verwandelt: Beide haben sich von ihrem bisherigen Leben losgesagt, „sie hatten sich
jeder gegen die eigene Umwelt und ihre Anschauungen gestellt, und sie hatten
den Kreis des Vorurteils, der sie einengen wollte, gesprengt“. (2,187)
3.2.2. Vertreter des Lebens unter den Bedingungen der Vorurteile und
des Rassismus
Das Charakterportrait von Frau Behrend ist unter denen der nationalsozialistisch gesinnten Kleinbürger am deutlichsten gezeichnet. Vorgestellt werden
noch die Lebensmittelhändlerin, die Verkäuferin im Central Exchange, die
Zimmerwirtin Frau Welz, bei der auch Carla wohnt, die Tochter der Hausbesorgerin, die Geschäftsleute, das Fräulein und ihre Eltern, der Italiener und der alte
Nazi, die Besitzer von Wirtshäusern sind, und andere Leute, die – wie es heißt –
eine „anständige Gesinnung“ haben. Frau Behrends Beispiel zeigt, daß diese
amoralische Haltung nicht nur in der Vergangenheit gefährlich war, sondern
dies auch zur Zeit des Romangeschehens ist. Es besteht die Gefahr, daß das, was
sich nur in Gedanken abspielt, beim geringsten Anlaß in Handlung und aktive
Mittäterschaft verwandelt. In Frau Behrends Reminiszenzen werden die Jahre
des NS-Regimes eingeblendet: sie waren für Frau Behrend allerdings keine
Jahre des Schreckens und des Leids, sondern vor ihr schwebt vielmehr „das Bild
schöner Tage. Aufrecht schritt der Musikmeister an der Spitze des Regiments
durch die Stadt. Aus Fell und Blech dröhnte der Marsch. Schellen rasselten. Die
Fahne hoch“ (2,19). Für sie zählte nur ihr eigenes Wohlergehen, nur die Tatsache, daß sie für die Stunde der Kunst „in den Kreis der Damen des Regiments“
aufgenommen werden konnte. Die persönlich gesicherte Stellung, die Zugehörigkeit zu der feinen Gesellschaft, waren für sie wichtiger als das Nachdenken
über das NS-Regime. Ihre Einstellung wiederholt sich auch in der Gegenwartshandlung, indem für sie die Domcafé-Damengesellschaft am wichtigsten ist.
Frau Behrend ist gegen den Krieg, aber die Geschichte sieht sie immer noch in
der geschichtsverfälschenden Erklärung der Propaganda der NS-Zeit, indem sie
den Krieg als einen Angriffskrieg der Siegermächte versteht: „Konnten sie uns
81
nicht in Frieden lassen?“ (2,19) In Rassenfragen denkt sie unverändert, in der
Schuldfrage vertritt sie die Position des Verdrängungsmechanismus:
Beim Juden – das waren schwarzhaarige, gebrochenes Deutsch sprechende Leute, Unerwünschte, Ausländer, Hergewehte, die einen vorwurfsvoll aus dunkelschimmernden, nachtverwobenen Augen ansahen,
von Gas und Grabgräben wohl sprechen wollten und Hinrichtungsstätten
[...] (warum mit Bomben beworfen? mein Gott, warum geschlagen? für
solche Sünde gestraft? [...] (2,20).
Ihr Rassenwahn zerstört auch ihre Bindung zur Tochter. Sie hält an ihrem
Glauben an den Elitecharakter der germanisch-deutschen Art fest und verstößt
ihre Tochter, die mit einem farbigen US-Soldaten lebt: „[...] ob Neger oder Jude,
es war dasselbe, daß Carla das tun mußte, nie war so etwas vorgekommen in
ihrer Familie, der Ariernachweis war lückenlos gewesen, […]“ (2,138). In den
wohlanständigen Kreisen der Domcafé-Gesellschaft wird Carla gemieden, weil
sie „Rassenschande“ begangen hat. Die Lebensmittelhändlerin ist mit Frau Behrend einer Meinung. Die Negersoldaten sind für sie Menschen zweiter Klasse.
Das Haus der Zimmervermieterin, in dem die Freundinnen der Farbigen wohnen, hat eine Atmosphäre, die auch für Washington abschreckend ist:
Dschungeln umgaben ihn. Hinter jeder Tür standen sie und lauschten. Sie
waren domestizierte Raubtiere; sie witterten noch das Wild, aber die Zeit
war nicht günstig, die Zeit erlaubte es der Herde nicht, sich auf die
fremde, in das Revier der Herde eingedrungene Kreatur zu stürzen. (2,83)
Mit der nichtbewältigten Vergangenheit gleichen die Stadt und dieses Haus
einem Dschungel. Langer vergleicht die moralisch verkommene Atmosphäre,
die mit dem Urweltbildnis beschrieben wird, mit dem Dschungel-Traum von
Aschenbach aus Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, zu der Moräste,
Schlamm, Lianen und Farngewucher gehören.128 Nach dem Treffen mit der
Lebensmittelhändlerin bezeichnet Richard Kirsch die ehemalige Heimat seines
Vaters mit dem Wort „Sümpfe“. In Anlehnung an das vorher Erwähnte wird mit
den Metaphern Dschungel, Schlamm, Sümpfe auf die Mentalität in den ersten
Nachkriegsjahren hingewiesen. Beim Blick auf die Stadt hat der schwarze Be128
Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 106.
82
satzungssoldat, Odysseus Cotton, die folgende Vision: „Odysseus sah gewaltige
Dschungeln unter sich wachsen, Gestrüpp, Farne, Lianen überwucherten die
Häuser; was gewesen war, konnte immer wieder kommen“ (2,112). Die Tochter
der Hausbesorgerin lebt „in einer Welt entsetzlicher Standesvorurteile. Sie hatte
sich eine Hierarchie der Stände ausgedacht, steifere und strengere Sitten als zu
des Kaisers Zeiten herrschten in ihrem Kopf“ (2,126). Durch Heirat will sie in
den Kreis der Reichen und Privilegierten aufsteigen. Sie ist mit den Amerikanern unzufrieden, denn diese hätten keinen Sinn für Hierarchie, die für sie den
Sinn des Lebens bedeutet.
3.2.3. Der Angriff auf den Negerklub
Der Höhepunkt für die Ereignisreihe der zweiten Figurengruppe ist der Angriff auf den Negerklub. Diese Szene wird als Kontrapunkt zu Edwins Rede
eingeblendet. Im Bräuhaus treffen sich Leute, die durch Biergenuß vergessen
wollen; sie hören sich den Badenweiler Marsch, Hitlers Lieblingsmarsch, an
und schimpfen auf die Besatzer, vor allem auf die Farbigen: „waren sie nicht ein
schwarzes Symbol der Niederlage, der Schmach des Besiegtseins, waren sie
nicht das Zeichen der Erniedrigung und der Schande?“ (2,201) Ein wildes verleumderisches Gerücht führt zu der dramatischen Handlung: „Die Neger hatten
ein neues Verbrechen begangen. Sie hatten ein Kind in die Ruinen gelockt und
es erschlagen“ (2,201). Wahr ist, daß die beiden Jungen Heinz und Ezra während ihres Streits von der Mauer heruntergefallen sind. „Die Volksstimme gesellte sich der Fama.“ (2,201) Die Fama ist die römische Personifikation des
Gerüchts. Sie konnte sich trotz ihres kleinen Ursprungs mit großer Schnelligkeit
zu riesiger Größe entfalten. Das Gerücht führt zur Entwicklung der Massenpsychose. Der Moment der verweigerten Kommunikation und die Tatsache, daß
sich die Menschen in ihrem Fremdenhaß einig sind, führt zu den Steinwürfen.129
Frau Behrend ist die Urheberin des Gerüchts, des zweiten Anlaufs der Meute,
sie sagt nämlich bei Washingtons Erscheinen „Da ist er!“, dabei meint sie, daß
Washington der Freund ihrer Tochter ist, aber die Meute versteht ihre Worte in
dem Sinne, daß er der Mörder sei. Der Angriff auf den Negerklub ist kein Zufall, die aufgespeicherten Aggressionen wegen der deutschen Niederlage und
129
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 120.
83
der schwarz-amerikanischen Besatzung artikulierten sich im Habhaftmachen
eines Sündenbocks. Das nächste Zitat sei nach Quack ein Hinweis auf die biblische Parabel über die Geschichte der Ehebrecherin, aber es wird eher als ein
Sprachklischee verwendet:130
In einem Auflauf weiß man nie, wer den ersten Stein wirft. Wer den ersten Stein wirft, weiß nicht, warum er es tut, es sei denn, man habe ihn
dafür bezahlt. Aber einer wirft den ersten Stein. Die andern Steine fliegen
dann schnell und leicht. (2,202)
Wahrscheinlicher aber ist es, daß hier auf die Gewaltaktionen gegen die Juden, – z.B. die Reichskristallnacht – angespielt wird, denn in der Fortsetzung
heißt es:
Die Steine, die Steine, die sie geworfen hatte, das klirrende Glas, die
fallenden Scherben erschreckten die Menge. Die Älteren fühlten sich an
etwas erinnert; sie fühlten sich an eine andere Blindheit, an eine frühere
Aktion, an andere Scherben erinnert. Mit Scherben hatte es damals begonnen, und mit Scherben hatte es geendet. (2,208)
In der Bibel kam es aber zu keinem Steinwurf, in der beschriebenen Szene
wurden dagegen mehrere Steine geworfen und es sind Scherben übriggeblieben.
Die Besonneneren fühlen sich an die Vergangenheit erinnert und wollen die
Gewalttat verhindern. Ihnen helfen auch die Amerikaner Richard Kirsch und
Christopher Gallagher. Da die Schwarzen in den Augen vieler Stadtbewohner
mit den Juden gleichgesetzt werden, können diese Ausschreitungen als Wiederholung der Geschichte gewertet werden. Es geht um die Parallelisierung von
Schwarzen und Juden hinsichtlich der rassistischen Vorurteile, was die Nachkriegszeit mit der Zeit des Nationalsozialismus verknüpft. Die amerikanischen
Besatzungssoldaten sind nun in der Position der Opfer und ebenso rassistischen
Vorurteilen und Verfolgungen ausgesetzt wie damals die Juden. Der „Volksauf130
„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und bückte sich
wieder nieder und schrieb auf die Erde. Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus, einer nach
dem andern, von den ältesten an; und Jesus ward allein gelassen und die Frau in der Mitte
stehend. Jesus aber richtete sich auf und sprach zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat
dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand. Jesus aber sprach: So verdamme ich
dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“. (Joh,8-11)
84
stand“ gegen die Besatzer endet provinziell, denn die Schwarzen brauchen keine
Angst um ihr Leben zu haben, da lediglich Frau Behrend und zwei schwitzende
Geschäftsleute die Täter sind. Bianca Kurth ist in ihrer Studie mit der Gleichsetzung von Schwarzen und Juden nicht einverstanden, weil sie zu austauschbaren
Demonstrationsobjekten für aufgrund ihrer „Rasse“ Verfolgte werden. „Die
Vernachlässigung der besonderen historischen Gegebenheiten macht sich besonders im Hinblick auf die Opfer störend bemerkbar.“131 Ich teile die Meinung
von Kurth nicht. Für Koeppen bedeutet die Wiederholung in der Romanwelt
nicht, daß sich alles in der Form wiederholt, wie es in der nationalsozialistischen
Zeit war. Er will vielmehr eine Erscheinung zeigen, der nach die Angst der
Menschen sich im Fremdenhaß artikulieren kann.
Im Dschungel herrschen auch die Gesetze der Natur, „aber da sie menschliches Wild sahen, erwachten ihre Jagdinstinkte, die Verfolgungswut und die
Tötungsgelüste der Meute“ (2,210).
[…] die ruchlos geworfenen Steine trafen Amerika und Europa, sie
schändeten den oft berufenen europäischen Geist, sie verletzten die
Menschheit, sie trafen den Traum von Paris, den Traum von Washington’s Inn, den Traum Niemand ist unerwünscht, aber sie konnten den
Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen
kleinen Jungen, der mit dem Schrei „Mutter“ zum horizontblauen Wagen
gelaufen war. (2,210)
Mit diesen Worten hört die Darstellung der Schicksale von Carla, Washington und Heinz auf, der Leser erfährt nicht mehr, wie schwer die Verletzungen
sind, ob jemand gestorben ist oder nicht, das Schicksal der Figuren ist ungewiß.
Die Figuren sind Opfer der wahllosen Wut der Meute. Einiges spricht dafür, daß
man im Angriff auf Carla Parallelen zu dem Schicksal der Ehebrecherin der
biblischen Geschichte sehen kann. Die Motive „Steinigung“ und „ohne Sünde
sein“ sprechen ebenso dafür wie die Beschimpfung als „Hure“. Sie wird aber
nicht allein mit Steinen beworfen, sondern auch Washington. Die Steinigung
kommt in der Bibel des weiteren noch im Zusammenhang mit den Märtyrern
vor: Diese starben für ihren Glauben an Gott und Christus. An einer von mir
schon zitierten Stelle denkt Washington, daß es möglich sei, daß sein Glaube
131
Bianca Kurth: Spiegelung, a. a. O., S. 87.
85
Märtyrer fordere. Er beschreibt dabei auch seinen Glauben, die Idee des Antirassismus und die Menschengleichheit. Für seinen Glauben kann er auch Carla
gewinnen und so sitzen sie wie Heilige in Washingtons Wagen:
Das Abendlicht des Himmels, die untergehende Sonne schien direkt in die
horizontblaue Limousine hinein, und für einen Augenblick blendete das
Licht Carla und Washington. Das Licht blendete, aber es reinigte und
verklärte auch. Carla und Washington hatten erleuchtete Gesichter.
(2,171)132
3.2.4. Odysseus Cotton und Susanne, Josef
Der farbige Besatzungssoldat Odysseus Cotton ist eine widersprüchliche
Persönlichkeit. Seine Geschichte ist ein Stück Geschichte der schwarzen Bevölkerung in Amerika, durch seine Gestalt wird die Rassenfrage wieder aufgenommen. Er erscheint zunächst mit seinem Kofferradio; mit diesem „Köfferchen“ gehört er zu den „Reisenden“ des Romans, seinem Namen entsprechend
irrt er in der Stadt herum.
Odysseus Cotton verließ den Bahnhof. Am schlenkernden Arm, in der
braunen Hand baumelte ein Köfferchen. Odysseus Cotton war nicht allein.
Eine Stimme begleitete ihn. Aus dem Koffer kam die Stimme, sanft,
warm, weich, eine tiefe Stimme, wohlige Atmung, ein Hauch wie Samt,
heiße Haut unter einer alten zerrissenen Autodecke in einer Wellblechhütte, Schreie, Brüllen der Riesenfrösche, Nacht am Mississipi. Richter
Lynch reitet über Land, o Tag von Gettysburg, Lincolm zieht in Richmond ein, vergessen das Sklavenschiff, ewig das Brandmal ins Fleisch ge-
132
Der Tod des heiligen Stephanus wird in der Bibel folgendermaßen beschrieben:
Als sie solches hörten, ging’s ihnen durchs Herz und knirschten mit den Zähnen über
ihn. Er aber voll heiligen Geistes sah auf gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und
Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und des
Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten ihre Ohren zu und
stürmten einmütig auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen
legten ab ihre Kleider zu den Füßen eines Jünglings, der hieß Saulus, und steinigte Stephanus,
der betete und sprach [...].
Die Apostelgeschichte des Lukas, 7.54-58
86
sengt, Afrika, verlorene Erde, das Dickicht der Wälder, Stimme einer
Negerin. (2,27)
Diese Zeilen bedeuten die Zusammenfassung des Schicksals der Schwarzen
von den Anfängen bis zu den heutigen Tagen. Es wird auf die Sklavenbefreiung
im Bürgerkrieg angespielt, Gettysburg und Richmond werden erwähnt. Obwohl
es keine Sklavenschiffe mehr gibt, sind die Schwarzen doch diskriminiert und
gelten als Bürger zweiter Klasse: „ewig das Brandmal ins Fleisch gesengt“
(2,27). Am Bahnhof bietet Josef dem schwarzen Riesen Odysseus seine Dienste
an. Sie machen ab, daß er den ganzen Tag Odysseus’ Kofferradio tragen und
ihm Gesellschaft leisten wird. Es ist nach damaliger Sicht ein verkehrtes HerrDiener-Verhältnis: der weiße Mann dient dem Schwarzen. Das Kofferradio ist
der Ausdruck des Reichtums und der technischen Überlegenheit.
Da die mythologische Überblendung von Handlungen und Personen ein
kennzeichnendes Element in Koeppens Werken ist, ist es sinnvoll zu untersuchen, warum der Autor den schwarzen Besatzungssoldaten Odysseus Cotton
genannt hat. Mit dieser Frage hat sich Jürgen Egyptien in seiner Studie auseinandergesetzt.133 Seine Ergebnisse sollen nun dargestellt werden:
Koeppen versieht seine Figur mit Epitheta ornantia aus der Odyssee, etwa
„listiger großer Odysseus“ (2,150) oder „mächtiger Odysseus“ (2,42). Diese
scheinbar identischen Eigenschaften decken aber laut Egyptien verschiedene
Inhalte:
Auch deckt die Eigenschaft der List in beiden Fällen ganz verschiedene
Vermögen ab. Im Falle des listenreichen Odysseus bei Homer handelt es
sich um die Fähigkeit diskursiven Denkens und die souveräne Beherrschung sämtlicher Tricks der Rhetorik, bei Odysseus Cotton hingegen um
instinktsichere Beobachtungsgabe. Im Gegensatz zu seinem mythischen
Namengeber geht ihm sprachliche Kompetenz fast vollständig ab oder anders gesagt: er verzichtet fast vollständig auf sprachliche Kommunikation.134
133
Jürgen Egyptien: Ausfahrt statt Heimkehr. Existentialistische Inversion der Odyssee in
Tauben im Gras. In: Gunnar Müller-Waldeck, Michael Gratz (Hg.): Wolfgang Koeppen –
Mein Ziel war die Ziellosigkeit, a. a. O., S. 155-169.
134
Jürgen Egyptien: Ausfahrt statt Heimkehr, a. a. O., S. 157.
87
Dem ist nur hinzuzufügen, daß der Amerikaner auf die sprachliche Kommunikation verzichten muß, da er die deutsche Sprache nicht beherrscht, er kann
„die Eigenschaft der List“ nur durch seine Taten zur Geltung bringen. Odysseus
Cotton entkommt aber listenreich den Gefahren. So beginnt er in einem Gasthaus mit einigen griechischen Falschspielern zu würfeln. Diese Szene erinnert
an die griechischen Freier im Hause des verschollenen Odysseus, die sich mit
Steineschieben amüsieren. Odysseus Cotton durchschaut den Trick und gewinnt
sein Geld zurück. Die zweite Situation, der Odysseus entkommt, steht mit Josefs
Tod in Zusammenhang. Die Prostituierte Susanne hat Odysseus sein Geld gestohlen, das er von Josef zurückgenommen hatte. Im entstehenden Tumult ist es
nicht eindeutig, wer Josefs Tod verursacht hat: „Odysseus schlug mit dem Stein,
oder ein Stein, den die Meute geworfen hatte, schlug gegen Josefs Stirn.“
(2,161)
Die Prostituierte Susanne wird mit dreifacher mythologischer Rollenexistenz
ausgestattet, deren sich aber weder sie selbst noch Odysseus bewußt sind:
Susanne war Kirke und die Sirenen, sie war es in diesem Augenblick, sie
war es eben geworden, und vielleicht war sie auch noch Nausikaa. Niemand im Lokal merkte, daß andere in Susannes Haut steckten, uralte Wesen; Susanne wußte nicht, wer alles sie war, Kirke, die Sirenen und
vielleicht Nausikaa; die Törichte hielt sich für Susanne, und Odysseus
ahnte nicht, welche Damen ihm in dem Mädchen begegneten. (2,152)
Die Überdeterminierung macht die völlige Identifikation mit den mythologischen Rollen unmöglich, aber es scheint eindeutig, daß sich Susanne in diese
Frauen verwandeln kann: so schlüpft Susanne z.B. in die Rolle der Nausikaa
und führt Odysseus in ihr Reich, ebenso wie Nausikaa bei Homer Odysseus den
Weg zum Königspalast zeigt. Odysseus und Susanne können die Freiheit für
eine kurze Zeit verwirklichen, es bedeutet die Versöhnung von Schwarz und
Weiß und das Heraustreten aus der historischen Zeit:
[...] sie lagen wie auf einem Floß, im Taumel der Vermischung lagen sie
wie auf einem Floß, nackt und schön und wild, sie lagen unschuldig auf
einem Floß, das in die Unendlichkeit segelte. (2,215)
Egyptien sieht die Deutung der über der Tiefe schwebenden, offenen Kammer als Floß in unübersehbarem Bezug zum 5. Gesang der Odyssee stehen.
88
Odysseus baut ein Floß, um nach den Jahren auf der Insel Ogygia bei der Nymphe Kalypso die Heimfahrt anzutreten. Mit dem Floß beginnt nach Jahren der
Irrfahrt und der Verbannung die Heimkehr des Odysseus. Dieses Floß-Motiv hat
bei Koeppen eine andere Bedeutung. Es dient nicht der Heimkehr, sondern dem
Aufbruch in die Unendlichkeit. Egyptien bezeichnet die Substitution eines Ziels
durch das Motiv der unendlichen Fahrt als existentialistische Inversion des Mythos.135
Einen wesentlichen Unterschied sieht Egyptien besonders in der sozialen
Stellung und in der Ersetzung der weißen durch die schwarze Hautfarbe. In
diesem Kontext muß Siegfried Pfaffrath aus Koeppens Roman Der Tod in Rom
erwähnt werden. Er will nach Afrika reisen und in der Wüste Musik „empfangen“. Sowohl der schwarze Odysseus als auch Siegfrieds schwarze Symphonie
können als Alternativentwürfe zur europäischen Zivilisation gewertet werden,
so Egyptien. Koeppen, der die Weltkatastrophe des Zweiten Weltkrieges auch
als eine Bildungskatastrophe versteht, versucht so der abendländischen Kultur
eine fremde Kultur gegenüberzustellen.
Bei Washington dagegen wird die Rolle des Opfers stark akzentuiert: Er,
nicht Odysseus, wird gesteinigt. Washington hatte sich die Märtyrerrolle aber
anders vorgestellt; er wollte sich für die Rassengleichheit und die Freiheit der
Schwarzen opfern. Bei Odysseus wird die Rolle des Siegers betont: Dem
schwarzen Amerikaner wird eine Natürlichkeit zugeschrieben, er wird mit Afrika und Urwald in Zusammenhang gebracht – Odysseus wird fast wie ein Urmensch dargestellt, diese Vorstellung ist auch der NS-Propaganda nicht fremd.
Er und damit alle Afro-Amerikaner verfügen über Eigenschaften, wie etwa das
Emotionale und Ursprüngliche, über die die traditionsreichen Europäer nicht
verfügen. Nach Kurth werden die klischeehaften Vorstellungen über die
Schwarzen unreflektiert weitertransportiert. Als Positivum erwähnt sie die Mentalitätskritik im Hinblick auf Amerika.136
Josefs Leben ist durch die Geschichte bestimmt. Sein Schicksal ist damit ein
Zeitschicksal, das von der Monarchie bis zur Gegenwart erzählt wird; es ist aber
auch seine persönliche Lebensgeschichte. Er wurde zu Gehorsam erzogen und
gilt so als der ewige Untertan. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Josef von
den meisten kleinbürgerlichen Figuren, denen er moralisch überlegen ist. So ist
135
136
Ebd. S. 162.
Bianca Kurth: Spiegelung, a. a. O., S. 71.
89
er gegen den Krieg, dem die Jugend zum Opfer fiel, denn er selbst mußte Soldat
werden, hat andere, „Reisende“ getötet. Seinen Tod durch Odysseus träumt er
bereits voraus, aber er vergibt ihm, denn er versteht seinen Tod als Begleichung
seiner Schuld. Josef erkennt, daß die Pflichterfüllung auch unmoralisch sein
kann:
Oder war doch gerade das In-den-Krieg-Ziehen Sünde gewesen? War die
Pflichterfüllung Sünde gewesen? Die Pflicht Sünde? die Pflicht, von der
alle redeten, schrieben, schrien und sie verherrlichten? Hatte man ihm nun
die Pflicht angekreidet, stand sie auf der Tafel bei Gott angekreidet, wie
nicht bezahltes Bier auf der Tafel des Wirtes? (2,132 f.)
3.2.5. Henriette Cohen und Christopher Gallagher, Ezra und Heinz
Henriette Cohen ist eine Jüdin und damit ein Opfer der Rassenpolitik während des Nationalsozialismus. Ihre Lebensgeschichte ist repräsentativ für viele
ähnliche Schicksale. Zur Zeit des Romangeschehens hält sie sich im unzerstörten Paris auf und ist nicht bereit, für drei Tage mit ihrem Mann und ihrem Kind
nach Deutschland zu fahren. Sie hat Angst vor Deutschland und kann ihre Vergangenheit nicht vergessen, ihre Angst nicht überwinden. Der Ort des Vergessens ist für sie Santa Ana am Stillen Ozean. Ihr Mann, Christopher Gallagher,
der wie ein Seemann aussieht, aber Steueranwalt ist, ist gutmütig und er sieht
die Deutschen aus einer eher naiven Perspektive. Für Henriette ist Paris ein Ort,
wo sie sich in Sicherheit fühlt, hier können Henriette und Christopher den paradiesischen Zustand vor dem Krieg wiederentdecken: „In Paris schien die Sonne,
Paris war unzerstört. Wenn man seinen Augen trauen wollte, konnte man meinen, der Zweite Weltkrieg habe nicht stattgefunden. Christopher Gallagher war
mit Paris verbunden.“ (2,68)
Henriette erinnert sich durchaus noch an ihre Kindheit und Jugendzeit, auch
an das Schicksal ihrer Eltern: Sie spielte als Kind auf den Stufen des KaiserFriedrich-Museums. Später war sie Schauspielschülerin bei Reinhardt am Deutschen Theater. Allerdings konnte die begabte Jüdin in keinem Land eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung und eine Arbeitserlaubnis bekommen. Aus dem
Deutschen Reich wurde sie schließlich ausgebürgert. Es war der Hunger, der sie
90
letztendlich zu Gallagher führte. Der Sohn Henriettes heißt Ezra, – der Name
eines Propheten und Priesters, der das jüdische Volk aus der Gefangenschaft
wieder nach Palästina führte. Mit diesem Namen bekennt sie sich deutlich zu
ihrer jüdischen Abstammung. Der Vater Henriettes war Oberregierungsrat in der
Generaldirektion, ein gewissenhafter Preuße und ein Verwaltungsmann, der das
Museum sogar an Feiertagen nicht aus den Augen ließ. Der korrekte deutsche
Staatsbeamte wurde aber im Dritten Reich zusammen mit seiner Frau verschleppt und ermordet. Henriette erzählt ihrem Sohn vom Schicksal der Großeltern und „wie das Summen der neuesten Sprachlehrgrammophone, die einen im
Schlaf die fremden Laute lehren, senkten sich die deutschen Leidworte, die
Murmel- und Tränenworte Ezra ins Gemüt“ (2,77). So lernt Ezra schnell
Deutschland hassen. Auch bewegt er sich in einer Märchenwirklichkeit, denn
Europa ist für ihn der Erdteil der grausamen Sagen: Er denkt an Deutschland als
an ein böses Land, in dem es den bösen Riesen Hitler gab, und an Amerika, das
gegen diesen bösen Riesen kämpfte. Seine Phantasie lebt in diesen Märchenvorstellungen. So verwandelt sich der Wagen seines Vaters in ein Flugzeug, und in
Gedanken tötet Ezra die Stadtbewohner, denn die Schuldigen sollen bestraft
werden. Außerdem will Ezra den Jungen Heinz besiegen, denn der steht in seiner Vorstellung für alle Deutschen; und wenn Ezra ihn besiegt, besiegt er den
Feind. So kämpfen die beiden Jungen auf Trümmermauern miteinander, die
schließlich unter ihnen einstürzen, aber sie helfen sich von den Steinen gegenseitig auf.
4. Die Struktur der Sequenzen
Im Roman Tauben im Gras werden zwei zeitlich getrennte Geschichten erzählt. Die erste spielt in der Zeit des NS-Regimes. Ihren Anfang bilden die
Gymnasialjahre Philipps und ihr Ende der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Macht. Diese Geschichte kann aus den Erinnerungen und Reflexionen
der Protagonisten rekonstruiert werden. Die zweite Geschichte dagegen spielt
im Frühjahr 1951 an einem einzigen Tag. Die Geschehnisse dieses Tages stehen
repräsentativ für die frühe Nachkriegszeit; die Erinnerungsarbeit wird dabei aber
bis in die Gegenwart verlängert.
91
Die für die beiden anderen Romane der Trilogie charakteristischen dominanten Werte im Wertesystem der einzelnen Figuren, d h. Macht, Kunst, Religion
und Liebe, erscheinen auch in Tauben im Gras, aber besonders ausführlich werden zwei Figurengruppen beschrieben, in deren Zusammenhang die Fragen
bezüglich Kunst und Macht behandelt werden.
4.1. Die erste Geschichte
4.1.1. Die erste Figurengruppe
Über die Vertreter der Kunst stehen wenig Informationen zur Verfügung.
Trotzdem können drei mögliche Positionen klar unterschieden werden:
•
•
•
Den modernen Künstler und Nonkonformisten vertritt Philipp. Sein erstes
Buch ist im Waffenlärm und Lautsprecherbrüllen untergegangen. Damit
wurde ihm wegen des Ausbruchs des Krieges wenig Aufmerksamkeit gewidmet; so ist Philipp nie erfolgreich geworden. Genau zu dieser Zeit meldet
sich aber seine Fähigkeit, kommendes Unheil prophezeien zu können. Der
Kassandra-Rolle entsprechend sieht er den Untergang der Heimatstadt und
den Tod der Kameraden im voraus. Das Motiv der Schuld in der ersten Geschichte kann so gedeutet werden, daß er in entscheidenden historischen
Momenten durch die Ereignisse schockiert war. Seine Erschütterung hatte
zur Folge, daß er seinen schriftstellerischen Aufgaben nicht nachgehen
konnte.
Der Konformist und der Vertreter der populären Trivialkunst ist Alexander.
Er ist Anhänger des jeweiligen Systems (zusammen mit seiner Frau Messalina) und tritt in Filmen auf, die das System verherrlichen. So ist er Rollenspieler der führenden Ideologie.
Vertreter des konservativen Traditionalismus ist Dr. Kaiser, der Germanistikprofessor, der 1933 aus Deutschland in die USA emigrierte. Noch Jahre
später, 1951, vermittelt er das alte romantisch-bürgerliche Deutschlandbild
und ist damit Vertreter der unpolitischen deutschen Innerlichkeit. Genauer
gesagt, wird seine Vergangenheit nicht erzählt, aber die von ihm propagierten Ideen stammen zweifelsohne aus dem Deutschland der Vorkriegszeit.
92
4.1.2. Die zweite Figurengruppe
Zur zweiten Figurengruppe gehören Figuren kleinbürgerlicher Abstammung. Hier wird Frau Behrend sehr detailliert charakterisiert: Für sie zählt nur
die gute Gesellschaft, zu ihren Eigenschaften gehören die Scheinheiligkeit und
der Judenhaß. Dabei wird auch an die Judenverfolgung und an Gewaltaktionen
wie die Reichskristallnacht erinnert. Es werden auch die ehemaligen HJMitglieder Wiggerl, Schorschi, Bene, Karl und Sepp erwähnt; sie waren in der
Vergangenheit bereit, der nationalsozialistischen Fahne zu folgen. Herr Behrend ist die einzige Figur, die es zustande bringt, den dominanten Wert zu wechseln, also den Mitläufern des NS-Regimes (er war Musikmeister in der Armee)
den Rücken zu kehren und damit aus der Machtposition zu einem neuen Wert,
zur Liebe, zu wechseln.
Wenn man das Verhältnis Kunst-Macht untersucht, kann der Schluß gezogen werden, daß die Kunst das Leben wenig beeinflußt hat, vielmehr wirkte die
Macht, d.h. die Politik, auf die Kunst und auf das Schicksal der Künstler: Es
wird so auch auf die Emigration vieler Künstler und auch auf die Bücherverbrennung hingewiesen. Von den erwähnten drei literarischen Positionen war
damit die des Konformisten, also die der Trivialliteratur, am wirkungsvollsten.
4.2. Die zweite Geschichte
4.2.1. Die erste Figurengruppe
Die literarischen Positionen bleiben in der zweiten Geschichte dieselben:
•
Philipp steht für den modernen Künstler und Nonkonformisten. In der Zeit
des Kalten Krieges befürchtet er, daß sich die Geschichte wiederholen könne. Er entwickelt sich in die Richtung des kritischen Außenseiters, der sich
keiner Ideologie verschreibt. Zur Zeit des Romangeschehens kann er noch
nicht als kritischer Autor bezeichnet werden, weil er gelähmt ist und damit
nicht fähig zu schreiben. Philipp ist deshalb in seinem Kunstschaffen noch
nicht repräsentativ für ein kritisches Außenseitertum. In ihm werden die
wichtigsten, von Otto Lorenz im Zusammenhang mit Koeppen formulierten
Forderungen dieses Schriftstellertyps thematisiert, aber in seinem Schaffen
93
noch nicht realisiert: „Erinnerungs- und Trauerarbeit, Thematisierung der
Schuldfrage, Ideologieresistenz, Gefahrenbewußtsein“.137 Er leistet Widerstand gegen alles, was als „Kontinuität” aufgefaßt werden könnte, auch ist er
gegen die alten Besitzverhältnisse, Machtstrukturen und Anpassungsmechanismen. Des weiteren ist er ein Anhänger der modernistischen Schreibweise;
so wird eine Kluft zwischen modernen Schreibansätzen und konventionellen
Rezeptionsmustern angedeutet. Philipp ist außerdem pessimistisch eingestellt; indem er seine frühere Position überprüft, kommt er zu der Schlußfolgerung, daß die Kassandra-Rolle überflüssig sei und Bedarf nur an populären Heimat- und Liebesfilmen sowie Romanen bestehe.
•
Auch Alexander hat seine künstlerische Einstellung nicht verändert. Er verkörpert weiterhin die Illusionen der Deutschen über nationale Größe im Film
Erzherzogliebe, der von den kleinbürgerlichen Figuren hochgeschätzt wird.
Diese Position des Konformisten und der Trivialkunst werden von Philipp
nicht akzeptiert; so ist er nicht bereit für Alexander ein Filmdrehbuch zur
schreiben.
•
In der Phase der kulturkonservativen Traditionserneuerung erhielten die
Vertreter des abendländischen bürgerlichen Geistes die wichtigsten literarischen Preise. Edwin ist auch Preisträger, weil er repräsentativ für die literarische Richtung des konservativen Traditionalismus ist, die sich bereits
durchgesetzt hat. Edwin charakterisieren der hohe poetische Ton, die christlich-abendländische Wertgewißheit und die Position der geistigen Führerschaft. Edwin bringt den Deutschen ihre eigenen Bildungsideale zurück, genauso wie Dr. Kaiser die Ideen der deutschen Innerlichkeit verbreitet und
Kay idealistische Vorstellungen über Deutschland und die deutschen Dichter
beibringt. In seiner Rede über den europäischen Geist betont er das Primat
des Geistes, dem allerdings sein homosexuelles Abenteuer, sein Ausgeliefertsein, das letztendlich seinen Tod verursacht, widerspricht. Edwins Gestalt ist mit der fortschrittskeptischen Kritik der abendländischen Herrschaftsrationalität verbunden. Für Edwin sind die Kunst und die Religion die
wichtigsten Werte im Leben eines Menschen.
137
Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur, a. a. O., S.32.
94
Wenn man der Frage nachgeht, welche Art der Kunst dominant ist, kann
man feststellen, daß auch in der zweiten Geschichte die konformistische
Kunst die verschiedenen Kunstpositionen beherrscht. So mögen die Leute
den Erzherzog: „Die Leute hatten die Nase voll; sie hatten genug von der
Zeit, genug von den Trümmern; die Leute wollten nicht ihre Sorgen, nicht
ihre Furcht, nicht ihren Alltag, sie wollten nicht ihr Elend gespiegelt sehen.”
(2,14) In den Kinos ist „Der letzte Bandit” ein Klassenschlager. An Josefs
Sterbebett spricht „eine schöne, eine gebildete, eine etwas gezierte Oxfordstimme“ (2,179). Diese Stimme vertritt die offizielle Meinung über Edwin
und seine Dichtkunst und betont, daß Edwin, ein „Kreuzfahrer des Geistes“
(2,179), gekommen sei, um das alte Europa zu verteidigen. Die Gedanken
eines Priesters, der dieser Sendung zugehört hat, werden folgendermaßen
wiedergegegeben: „und er hatte die Empfindung, die Stimme spreche von
einem falschen Propheten” (2,182), mit diesen Worten wird Edwins Repräsentanzfunktion relativiert.
4.2.2. Die zweite Figurengruppe
Die Figuren in der zweiten Gruppe sind Konsumenten der Trivialliteratur
und der Filme von Alexander. Aus den dargestellten Szenen des Nachkriegsalltags geht klar hervor, daß die von Edwin propagierten bürgerlichhumanistischen Lebensideale nirgendwo zu finden sind. Der Judenhaß lebt weiter und wird jetzt mit „Negerhaß“ vermischt. Die Gewaltaktionen gegen die
Juden (Reichskristallnacht) werden im Angriff auf den Negerklub erneut heraufbeschworen. Die Aggressionen der Deutschen wegen ihrer Niederlage im
Zweiten Weltkrieg werden nun gegen die Schwarzen gerichtet, die die Rolle des
Sündenbocks spielen, wie vorher die Juden. Man muß aber zwischen den Aggressionen gegen die Juden in der ersten Geschichte und gegen die Schwarzen
in der anderen Geschichte unterscheiden. Auch hat sich die weltpolitsche Lage
verändert: Die Amerikaner sind Sieger und Besatzer, damit den Deutschen
überlegen. Die Nachkriegszeit wird damit nicht einfach als Wiederkehr des
Alten begriffen. Eine Kraft kann der restaurativ-innovativen Gesellschaft aber
entgegengestellt werden: die Liebe. Diese Utopie ist noch hier; so gibt es im
Roman Paare, die die Wertdominanz der Liebe verkörpern: Herr Behrend und
Vlasta sowie Washington und Carla.
95
5. Zwischen Venedig und Paris: Die Darstellung der
Kulturtraditionen in Tauben im Gras
Ich möchte in diesem letzten Kapitel über Tauben im Gras beweisen, daß
auch die bis jetzt nicht erwähnten Hinweise auf verschiedene Städte, die Anspielungen auf Texte verschiedener Autoren und selbst die Namen der Figuren
nicht zufällig sind, sondern der Grundoppostion „bildungsbürgerliche Denkform“ vs. „moderne Denkform“ zugeordnet werden können und in diesem Sinne eine strukturbildende Rolle spielen.
In seiner Rede im Amerikahaus spricht Edwin von unterschiedlichen Tauben: einerseits von den Tauben auf dem Markusplatz in Venedig und andererseits von Tauben im Gras, die nach Edwin für die zufällig nebeneinander existierenden Menschen in Gertrude Steins und Hemingways Weltbild stehen.
Quack schreibt darüber wie folgt: „Im raffiniert kontrastierenden Zitat nimmt
Koeppen das Titelsymbol auf, worin Gertrude Steins ironische Binnenreimspielerei mit dem hilflosen Friedenssymbol ‘Pigeons on the grass alas’ auf die Hilflosigkeit des Menschen in einer dem blinden Zufall überlassenen Geschichte
verweist“.138 Damit sind direkt oder indirekt zugleich zwei Städte genannt, die
für verschiedene Phasen der Enwicklung der europäischen Kultur stehen: die
eine ist Venedig und die andere Paris, das Zentrum der „Verlorenen Generation“
und damit der gewählte Aufenthaltsort für Gertrude Stein und zeitweise für
Hemingway. Wie ich es in der Analyse erörtert habe, träumen einzelne Personen
des Romans von Städten und Ländern, die für sie das Paradies bedeuten könnten, wo sie in einem erstrebenswerten Zustand vollkommener Harmonie leben
könnten. Diese Paradiesvorstellungen stimmen darin überein, daß sie den Personen des Romans die Erlösung aus den bedrückenden gegenwärtigen Zuständen
verheißen. Carla und Washington möchten einen Ort finden, wo es keine Rassendiskriminierung gibt und sie ruhig miteinander leben können. Philipp sucht
Momente der Freiheit, die er in seinen Paris-Imaginationen über die „heure
bleue“ findet. Den Paris-Träumen wird von ihm das Bild Italiens gegenübergestellt, das mit Humanismus und Antike verbunden ist und Philipp an die Folgen
der humanistischen und bürgerlichen Erziehung erinnert.139
138
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 135.
Die „Taube“ ist ein häufig verwendetes Symboltier. Edwin aktualisiert die religiösen und
die säkularisierten Bedeutungen des Wortes. Der Heilige Geist wird als Abbildung einer Taube
139
96
Edwin und die von ihm verehrten Deutschen – Johann Joachim Winckelmann, Johann Wolfgang von Goethe, August Graf von Platen-Hallermünde –
und der als Vorbild für Edwins Gestalt dienende Thomas Mann können mit
Italien und Venedig sowie mit Homoerotik in Verbindung gesetzt werden. Um
die Jahrhundertwende entzogen sich die der Dekadenz nahestehenden Dichter
der Turbulenz der Großstädte. Sie verklärten nostalgisch die Schönheit sterbender Städte. Es war vor allem Venedig, das in den literarischen Werken verherrlicht wurde. Das schöne und todgeweihte Venedig steht auch bereits in den
voraufgehenden Jahrhunderten für Verfall. Den Dichtern des 17. und 18. Jahrhunderts wären die Darstellungen der Verfallserscheinungen Venedigs nicht
vorstellbar gewesen. Im 19. Jahrhundert aber konnte die Stadt aufgrund der
historischen Ereignisse als Beispiel eines politischen Niedergangs empfunden
werden. Wagner und Nietzsche haben zur Venedig-Schwärmerei des 19. Jahrhunderts beigetragen. Wagner komponierte in Venedig den 2. Akt des Tristan
und starb auch in dieser Stadt. Nietzsche machte aus Venedig die Wagnersche
Tristan-Stadt. Thomas Manns Zeitgenossen identifizierten Venedig mit dekadentem Wagnerianismus. Während einer Reise im Jahre 1911 lernte Thomas
Mann Venedig als eine Stadt der Dekadenz kennen. Die Darstellung der Stadt in
Tod in Venedig folgt dem Venedig-Bild des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende.140
Am 8. Juni 1768 wurde Johann Joachim Winckelmann auf einer Reise nach
Italien in Triest ermordet. Wie es hieß, war der Täter ein junger Bursche, und es
ist wahrscheinlich, daß Winckelmann Opfer eines Sexualverbrechens war. Viele
Dokumente bezeugen, daß die Welt tief erschüttert war. Diese Wirkung seines
Todes ist auf den Kontrast zwischen seinem gewaltsamen Tod und dem in seinen Briefen gezeichneten schönen Bild von Italien zurückzuführen. Die während der Italienischen Reise sich herausbildende Kunstauffassung Goethes ist
eingeführt; bei der Taufe Jesu im Fluß Jordan schwebt eine Taube über seinem Haupt
(Matthäus, 3,16). Die sieben Gaben des Heiligen Geistes (Weisheit, Vernunft, guter Rat,
Stärke, Wissen, Frömmigkeit und Gottesfurcht) werden durch sieben Tauben verkörpert; auch
Neugetaufte werden durch Tauben symbolisiert. In der Grabsymbolik ist die Taube der
„Seelenvogel“, der zum Paradies emporschwebt. Auch Christus wird geistliche Taube genannt.
Die Taube verkörpert die Tugend der Mäßigkeit und ist Attribut vieler Heiliger, so der
Evangelisten, Thomas von Aquin und der hl. Scholastica. Von den säkularisierten
Bedeutungen ist die Taube als Symboltier der Friedensbewegung hervorzuheben.
Vgl. Hans Biedermann: Lexikon der Symbole, Digitale Bibliothek im Internet; Berlin 1999.
140
Vgl. Josef Häfele/Hans Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 79-83.
97
mit Winckelmanns Namen unlösbar verbunden. Goethes Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns sind als eine Folge von Einzelstudien zu Winckelmann
zu deuten. Die Italienische Reise zeigt, wie sehr Goethes Auge auf die Werke
der Italienischen Renaissance und der römischen Antike fixiert ist.141 1796 sind
die Venetianischen Epigramme erschienen, die als Frucht des 2. Aufenthaltes in
Italien im Jahre 1790 zu betrachten sind. Der Römische Karneval bildet den
Höhepunkt der Studien Goethes während der Italienischen Reise.
Platen galt dem 19. Jahrhundert als vielgelesener Klassiker. Dem jungen
Dichter erschien die Welt – auch wegen seiner homoerotischen Neigung – disharmonisch und sinnlos. Sein Suchen galt einer ästhetischen Sinngebung des
Lebens. Seine romantizistische Glorifizierung des Schönen ist mit Untergangswünschen verbunden. Er formuliert diesen todbringenden Schönheitskult in den
ersten beiden Versen seines Gedichtes Tristan.142 Die Unzufriedenheit mit den
politischen Verhältnissen in Deutschland hat ihn ins Ausland getrieben. Seit
1826 wählte er Italien zu seinem Aufenthaltsort. Frankreich gegenüber blieb er
auch nach der Julirevolution distanziert. Platen will eine von allen Leiden und
allen Häßlichkeiten des Lebens freie Welt aufbauen. Sinnbild einer solchen
künstlichen Welt ist für ihn Venedig. In dieser Stadt scheinen ihm der Tod und
die Vergänglichkeit die Voraussetzung der gegenwärtigen Schönheit der Stadt
zu sein.143
Aschenbachs künstlerische Biographie ist parallel zum Leben des Dichters
August von Platen gestaltet. Wichtige Gemeinsamkeiten deckte Thomas Mann
in seinem Essay August von Platen auf.144 Sowohl Platen als auch Aschenbach
fehle die ausdauernde Vitalität. Die Gestaltung von Aschenbachs Tod verweise
auf Platen. Platens Tod sei nach Thomas Mann ein romantischer Liebestod:
„Nach neun Jahren weiterer Gefühlsüberlastung und -abschnürung stirbt er zu
Syrakus an einer undeutlich typhösen Krankheit, die nichts weiter war als der
Vorwand des Todes, dem er von Anbeginn wissentlich anheimgegeben war.“145
Auch Aschenbach stirbt infolge der sehnsuchtsvollen Liebe zu dem polnischen
Knaben, obwohl er äußerlich an den Folgen der Cholera stirbt.
141
Vgl. Viktor Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis
zur Gegenwart. Directmedia. Digitale Bibliothek. Band 24. Berlin 1999, S. 353 f., 691 f.
142
Vgl. ebd. S. 1522.
143
Vgl. ebd. S. 1525.
144
Thomas Mann: August von Platen. In: Thomas Mann: GW. Band IX, S. 268-281.
145
Ebd. S. 281.
98
Edwin wird als Gast des Amerikahauses vorgestellt, der im Rahmen des
Umerziehungsprogrammes seine Rede hält. Durch seine Gestalt wird die Kulturpolitik der amerikanischen Besatzer kritisiert. Die Alliierten förderten Kulturzentren und edierten Zeitungen und Zeitschriften. Die Theaterpolitik der Amerikaner bevorzugte Broadway-Stücke, aber die Stücke von Thornton Wilder wurden auch gespielt. Die bedeutenden sozialkritischen Stücke und die den Besatzern nicht genügend demokratisch wirkenden sozialkritischen Prosawerke wurden den deutschen Lesern ferngehalten. Zu diesen sind Faulkners Werk, die
Romane von Caldwell, Farrell und Dos Passos zu zählen, sogar manche Werke
von Steinbeck und Hemingway. Für die Entwicklung nach 1948 ist bestimmend, daß die Lizenzkontrollen eher in die Richtung zur unpolitischen Unterhaltung tendierten und die zeitkritische Gegenwartsanalyse in den Hintergrund
gedrückt wurde.146 Philipp trifft keine deutschen Schriftsteller, die die Vertreter
der modernen Literatur wären.
In Edwins Rede werden Hemingway und Gertrude Stein erwähnt und als
Vertreter der amerikanischen Moderne abqualifiziert, deshalb ist es nicht ohne
Bedeutung, die Rolle der „Verlorenen Generation“ und der amerikanischen
Moderne für die Entwicklung der deutschen Literatur zu klären. Die künstlerische Moderne ist vor allem ein europäisches Phänomen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es zunächst Gertrude Stein, dann Ezra Pound und T. S. Eliot bzw.
Ernest Hemingway, die in Europa eine Kulturtradition suchten, eine Atmosphäre, in der sie experimentieren konnten. Angeregt und gefördert von Gertrude Stein kam eine ganze Generation junger amerikanischer Autoren des Ersten
Weltkrieges nach Paris. Der Horizont dieser „lost generation“, wie sie Stein
nannte, war international. Sie kritisierten die amerikanische Wirklichkeit mit
ihren Widersprüchlichkeiten. In der Prosa hatte Stein bereits im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein kühnes Sprachexperiment gemacht. Deutlich
unter ihrem Einfluß entwickelte sich Hemingway.147
In der deutschen Literatur gab es eine Richtung, die die Bewahrung der geistigen Tradition am wichtigsten fand. Hugo von Hofmannstahl hat in seiner
Münchener Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927) die geis146
Vgl. Volker Wehdeking/Günter Blamberger (Hg.): Erzählliteratur der frühen
Nachkriegszeit (1945-1952), München 1990, S. 30.
147
Vgl. Heinz Ickstadt: Zwischen Neuer und Alter Welt. Amerikanische Literatur in den
50er und 60er Jahren. In: Rolf Grimminger/Jurij Murašov, Jörn Stückrath (Hg.): Literarische
Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 580-607.
99
tige Elite der zwanziger Jahre aufgefordert, sich für die Humanisierung der Gesellschaft einzusetzen. Österreich sollte bei der Rettung Europas die Schlüsselrolle spielen. Der klassische Philosoph Rudolf Borchardt lebte jahrelang in
Italien, in seiner zivilisationskritisch getönten Lyrik benutzte er Muster der klassischen Lyrik-Tradition. Stefan George zog sich nach 1914 bis zu seinem Tode
aus der politischen Publizistik zurück. Für sein Werk sind die Aufwertung der
Irrationalität des Lebens, die Verschwommenheit des Gesellschaftsverständnisses und die Prophetie einer nahen nachdemokratischen Zukunft charakteristisch.
Das deutsche Leserpublikum der 50er Jahre hat die Werke der amerikanischen Moderne mit Verspätung wahrgenommen und die Vertreter als zeitgenössische Autoren erfahren. Dies gilt für Hemingway und Faulkner, in denen die
deutschen Leser den Vertretern der neuen amerikanischen Literatur begegneten.
Bis zur Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1950 war William Faulkner den
deutschen Lesern ziemlich unbekannt. Ähnliches läßt sich auch über Eliot,
Pound oder William Carlos Williams sagen.148 Über den Neuanfang in Deutschland schreiben Wehdeking und Blamberger:
Ebenso wie in den Romanen und Postulaten der amerikanischen lost generation war der Neuanfang als schriftstellerische Hypothese für die Junge
Generation gepaart mit einer fundamentalen Skepsis gegenüber idealistischen Schlagworten: dort gegenüber der Freiheits- und Missionsrethorik
Präsident Wilsons (seine „Ruhm- und Ehre“-Phrasen erscheinen dem Deserteur Frederic Henry „obszön“), hier gegenüber allen politischen Programmen und Organisationen.149
Koeppen hat die Werke der von Edwin in seiner Rede kritisierten Gertrude
Stein in einem Artikel gewürdigt.150 Er nennt die Schriftstellerin „Sibylle vom
Montparnasse“ (6,181) und „Thornton Wilder erhob sie zur Mutter der Moderne“ (6,181). Stein interessierte sich für Cézanne und Picasso, „die sie lehrten,
eine Erzählung als eine Art Simultanbild zu präsentieren, ohne Anfang, ohne
Mitte und ohne Ende“. (6,185) In diesem Artikel zitiert Koeppen Steins Biographen Brinnin, der Steins Schreibmethode folgendermaßen schildert: „Gertrude
148
Ebd. S. 589.
Volker Wedeking, Günter Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, a. a.
O., S. 127.
150
Wolfgang Koeppen: Gertrude Stein und die dritte oder vierte Rose (1961). In: GW 6, S.
181-192.
149
100
Stein versuchte, eine kontinuierliche Gegenwart zu schaffen, die vom Leser
kontinuierliche Aufmerksamkeit verlangte, ein langes Verweilen bei Gedanken,
die sonst nur kurz gestreift werden können“ (6,186).
Philipp zitiert nur ausnahmsweise die amerikanischen Dichter. In diesem
Zusammenhang wird bedeutungsvoll, daß er einen französischen Namen hat. In
Emilias Monolog kann man einen Überblick über die von ihm geschätzten Autoren gewinnen. Außer den Philisophen Kierkegaard und Heidegger werden vor
allem französische Dichter genannt (2,35): Arthur Rimbaud wohnte in Paris mit
Paul Verlaine zusammen, beide waren Wegbereiter des Symbolismus. Für Rimbaud war die Dichtung Ausdruck eines sentimentalen und intellektuellen Nihilismus. Er übte einen außerordentlich großen Einfluß auf die zeitgenössische
Lyrik aus. Charles Baudelaire revoltierte gegen bürgerliche Konventionen als
Bohemien und Dichter. Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) – so heißt
sein Gedichtzyklus (1856), dessen Titel auch Emilia zitiert und der zu Baudelaires Zeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit verboten wurde. Gustave Flaubert
war Meister des realistischen Romans in Frankreich, dem Einsicht in die Sinnlosigkeit romantischer Sentimentalität zugeschrieben wurde (2,169). In einem
Artikel mit dem Titel Flaubert. Eine Neugeburt151 (1963) schreibt Koeppen über
den französischen Romancier: „Was den jungen Bürger erfüllte, war Ekel vor
seiner Klasse, vor ihrer bêtise bourgeoise, war der ennui, die Krankheit der denkenden, der aufgeregten, der Unheil witternden Kinder des Jahrhunderts.“
(6,119) Koeppen hat mehrere Artikel über französische Autoren geschrieben,
unter ihnen Lautréamont, der Großvater des Surrealismus152 (1955), in dem er
Lautréamont und Rimbaud würdigt: „Eine ähnliche Hölle entdeckte etwas später
und völlig unabhängig von dem ihm völlig unbekannten Lautréamont Rimbaud
in seiner „Saison en enfer“ – und die literarische Neuzeit war da [...] und
Lautréamont und Rimbaud [...] sind sie beide die Ahnen der Moderne, etwa des
Surrealismus.“ (6,142)
André Gide, dessen Tod am 19.2.1951 als Zeitungsnachricht in Tauben im
Gras eingeblendet wird, gehört auch zum Symbolistenkreis um Mallarmé. 1947
hat Gide den Nobelpreis erhalten. Eine enge Freundschaft verband ihn mit Oscar Wilde. „Wilde liebte sein Todesland, Frankreich und die Franzosen, soweit
sie sich mit Büchern, Kunstwerken und der Liebe befaßten oder wie Franzosen
151
152
Wolfgang Koeppen: Flaubert. Eine Neugeburt. In: GW 6, S. 118-123.
Wolfgang Koeppen: Lautréamont, der Großvater des Surrealismus. In: GW 6, S.140-
144.
101
aus Büchern und Bildern waren, schätzte besonders den Stil Flauberts und
schrieb seine Tragödie ‘Salome’ in eigentümlichem Französisch,“ – so Koeppen
in seinem Artikel Oscar Wilde und sein Bildnis153 (1976) (6,169). Gides Name
wird von Emilia deshalb genannt, weil dessen Name Emilia zu verschiedenen
Assoziationen verleitet: Zum Immoralismus und der spontanen, unmotivierten
Handlung: „Admet der junge Gide in Biskra l’Immoraliste Liebe Liebe ohne
Namen“ (2,36); „Sie wollte frei handeln, eine freie Tat tun, die von keinem
Zwang und keiner Notwendigkeit bestimmt und mit keiner Absicht verbunden
war, außer der Absicht frei zu sein; doch dies war keine Absicht, es war ein
Gefühl, und das Gefühl war eben da, ganz absichtlos.“ (2,154)154
Marcel Proust lebte etwa bis zum 35. Lebensjahr als Snob und Dandy und
wurde als geistvoller Unterhalter geschätzt. Sein Hauptbuch ist A la recherche
du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). In Tauben im Gras
wird auf den Roman immer auf Französisch verwiesen, wie z.B. im folgenden
Zitat: „ [...] der Osten in mir: die Kinderlandschaft, meine recherche-du-tempsperdu, suchet-so-werdet-ihr-finden, Gerüche, die Bratäpfel, Geräusche.“ (2,148)
Philipp ist auch auf der Suche nach seiner Vergangenheit, nach der verlorenen
Kindheit, vor allem nach der zerstörten Stadt, die man auf der Landkarte nicht
mehr finden kann. Auch hat er Schwierigkeiten mit der historischen Zeit und
seiner Beobachterrolle. Marcels Zeitvorstellung unterscheidet sich von der Philipps, aber es gibt einige Berührungspunkte. Über die „Erinnerung“ in Prousts
Roman schreibt Koeppen in seinem Essay Marcel Proust und die Summe der
Sensibilität155 (1957): „und da der geistdurchwebte Stoff des Romans die Erinnerung ist, die verlorene Zeit, die erlittene, betrauerte, verklärte, mit Heimweh
zurückbegehrte Zeit, entspricht er einer Forderung Goethes, die Proust sich auch
gestellt hatte: daß es keine Poesie außer über Dinge gibt, die man noch selber
fühlt.“ (6,176)
In Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stellt sich die
Wiederaufholung der Vergangenheit in drei Momenten dar. Die Vergangenheit
kann nur durch Gefühlserinnerung wiederbelebt werden, die durch die Herauf153
Wolfgang Koeppen: Oscar Wilde und sein Bildnis. In: GW 6, S. 167-174.
André Gide thematisiert in seinem Roman Die Verliese des Vatikan den Begriff des „acte
gratuit“. Er bedeutet unmotivierte Tat, die der Laune des Handelnden entspricht, einer
Handlung, die nichts einbringt, jedoch als Beweis der Freiheit gelten soll.
155
Wolfgang Koeppen: Marcel Proust und die Summe der Sensibilität. In: GW 6, S. 175180.
154
102
holung der Vergangenheit durch optische, Geruchs- und Gehöreindrücke in
Gang gebracht wird. Die zweite Stufe ist die Analyse und die dritte fordert die
Expression, den Ausdruck. Der äußere Raum – vor allem Paris – bleibt unverändert, aber die Entwicklung der geschichtlichen Welt wird dargestellt. Die
erinnerte Vergangenheit strömt in die Gegenwart ein. Ausschlaggebend ist die
innere seelische Wirklichkeit, die innere Zeit, die von der äußeren unabhängig
ist. Der Titel des letzten Bandes des Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit heißt Die wiedergefundene Zeit. In diesem letzten Band bringt eine
Erschütterung Marcel, das erinnernde Ich, zur Erkenntnis. Der gealterte
d’Agencourt macht für ihn die Zeit sichtbar. In einsamer Meditation kommt er
zur Einsicht, daß der Tod allein das Kunstwerk verschonen muß. So hat er die
der Zeit entzogenen Fragmente des Lebens gefunden und mit Hilfe der Erinnerung und des Ausdrucks die verlorene Zeit in einem Kunstwerk der Vergangenheit entrissen. Die Geschichte des Wiederfindens der Zeit ist die Geschichte
einer künstlerischen Berufung.156 Auch Philipp sucht die Freiheit von der meßbaren, von der chronologischen Zeit. Diese kann er zunächst in seiner ParisImagination der „heure bleue“ finden, außerdem kann er die Freiheit von der
Zeit im assoziativen Wachtraum der psychologischen Behandlung erleben, die
er den „kaleidoskopartigen Wechsel des Ortes und der Zeit“ (2,29) nennt. Von
blühenden sommerlichen Wiesen ausgehend assoziiert er den Winter und die
Winterfreuden in der Kindheit. Die Assoziationen sind mit Sinneswahrnehmungen verbunden, die hellgrüne Farbe der Reseda z.B. erinnert ihn an die Rektorstochter, Emilia und Kay. Die Szene bei dem Psychiater spielt auf das Vorwort
der zweiten Auflage des Romans an, in dem Koeppen Georg Bernanos zitiert:
„Dies ist die Stunde des Dichters, der das Leben in seinem Herzen filterte, um
die geheime, mit Balsam und Gift erfüllte Essenz herauszuziehen.“157 Während
aber der Autor Koeppen auch die dritte Stufe der Wiederaufholung der Vergangenheit nach Prousts Modell in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der
Form des Ausdrucks, also im Kunstwerk realisiert, bleibt Philipp bei der zweiten Stufe – bei der Analyse und den Überlegungen – stehen. Für ihn ist der
Ausdruck, d.h. ein Kunstwerk mit der Darstellung der subjektiven Zeit noch
nicht möglich.158
156
Vgl. Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Stuttgart 1993, S. 15583 f. und
Kindlers neues Literaturlexikon, Original-multimedia Ausgabe, Systhema Verlag 1999.
157
Georg Bernanos: Die Sonne Satans. Hamburg 1961, S. 5.
158
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 127.
103
Jean-Paul Sartre wird im Roman namentlich genannt, und Emilia spricht
auch den Titel dessen Romans Der Ekel (2,35) aus. Sartre hat an der ResistanceBewegung aktiv teilgenommen und ist Begründer des Existentialismus, einer
Philosophie- und Literatur-Bewegung, die auf den Ideen von Kierkegaard, Husserl, Heidegger und Jaspers basiert. Die zentrale Idee in Sartres Werken ist die
Freiheit, die sich im Laufe seiner schriftstellerischen Laufbahn verändert hat.
Sartres Dramen und Romane schildern menschliche Schicksale auf ihrem Weg
zur existentiellen Befreiung. Der Ekel wird im Roman erwähnt: die Erstausgabe
des Romans erschien 1938 in Paris, die deutsche Übersetzung wurde 1949 veröffentlicht. Dem Haupthelden Roquentin enthüllt sich allmählich in dem zum
„Normalzustand“ gewordenen Gefühl des Ekels das Wesen der „Existenz“. Er
kommt zur Einsicht, daß alles Existierende überflüssig ist, so erkennt er die
unbegrenzte Freiheit des Individuums. Im Ekel stellt sich für Roquentin die
unmittelbare Existenzerfahrung dar. Dieses Werk vertritt Pessimismus vor dem
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Krise wissenschaftlicher Erkenntnis
und des Historismus repräsentiert die Krise des Humanismus. Auch Roquentin
kommt zum Schluß, daß eine Lösung nur von der künstlerischen Gestaltung zu
erwarten ist. Nach Hielscher erinnere die Szene im Hotel zum Lamm an Sartres
Roman Der Ekel. Roquentin lebt im Hotel und schreibt an einer historischen
Studie. Mit Tauben im Gras verbinde Sartres Roman das Gefühl der Sinnlosigkeit intellektuellen Tuns und das Gefühl des Ekels, aber nicht als ein Initiationserlebnis, das Freiheit ermöglicht, sondern als physischer Ekel, als Ekel vor der
Nähe anderer Menschen.
Die Fliegen (Erstausgabe in Paris 1943) wurden 1949 ins Deutsche übersetzt. Zunächst ist dieses Drama ein als antik verschlüsseltes Resistance-Drama.
Orest gibt die ziellose Freiheit des Bindungslosen auf und wählt die verantwortliche Freiheit einer Entscheidung. Die Leute in Argos sind nicht frei. Die Fassade erstarrter Schuldgefühle hat jede Form der Äußerung vorgezeichnet. Der
Usurpator Ägisth hält das Volk durch ein künstlich gezüchtetes Schuldbewußtsein in Unfreiheit und Unterdrückung. Die Fliegen sind das Zeichen der „Reue“
und der Unterdrückung. Orest ist es gelungen, die Freiheit zu erobern und Argos
zu befreien. Die Fliegen stehen für die Gewissensqual der Erynnien. Nun folgen
sie Orest, dem es gelingt, sie in freier Selbstbehauptung abzuschütteln. Auch
Philipp quälen Schuldgefühle, die im Bild der Erynnien dargestellt werden. Im
Unterschied zu Orest kann Philipp seine Schuldgefühle nicht loswerden. Seine
Schuld sieht er darin, in entscheidenden Situationen nicht gehandelt zu haben.
104
Philipp ist nicht bereit, sich mit dem Hinweis auf objektive Begebenheiten der
Zeit zu rechtfertigen.159 Koeppen hat nach der Romantrilogie keinen Roman
mehr geschrieben. Seine Reiseessays setzen aber die in den Romanen aufgeworfenen Problemstellungen fort. Die besuchten Landschaften und Städte werden
auf ihre Tauglichkeit für ein lebenswertes Leben untersucht, mit anderen Worten setzt Koeppen die Suche nach dem verlorenen Paradies fort. Nostalgie und
Trauer begleiten Koeppen auf seiner Reise, sogar in Frankreich drohen die
Freuden der Vergangenheit zu verschwinden.160 In diesem Land registriert er
keinen Sieg über das Erbe der Vergangenheit, sondern eine Durchmischung der
Zeiten, die ihm besonders auf dem Boulevard Saint-Michel verwirklicht erscheint:
Der Boulevard Saint-Michel, die römische, die scholastische, der neuen
Lichtspiele kinematische Straße, ist für viele Paris, für manchen Frankreich, der freundliche Boulevard Saint-Michel ist Europa, es ist die Antike, das Mittelalter, die Aufklärung und immer die Revolution, [...] er bedeutet noch immer die intellektuelle und politische Zukunft unserer Welt,
wenn auch diese nur noch in Konkurrenz mit Moskau und Princeton [...].
Das große Unglück der Menschheit, die verhängnisvolle Verwirrung von
Babel könnte auf dem Boulevard Saint-Michel wiedergutgemacht werden,
wenn die Völker sich unter französischer Sitte zusammenfänden und an
Verstand und Größe gewönnen. (6,613-614)
Frankreich ist für Koeppen „ein großes französisches Reich“ (4,655) und
„Gen einer freundlichen Menschheit“ (4,655) – dieser Gedanke der Verbrüderung und Durchmischung der Völker taucht schon in Tauben im Gras in Washington auf. In Paris sieht Koeppen keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit
und Kunstwerk, die ganze Stadt scheint ihm ein Kunstwerk zu sein: „Paris war
das Gemälde der Impressionisten, schon ehe die Maler kamen: die Meister
brauchten die Stadt nur zu spiegeln.“ (4,639) Der Fremde ist in Paris angekommen, er ist ans Ziel gelangt:161
159
Vgl. Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 72.
Koeppen beschreibt seine Frankreich-Erlebnisse in dem Reiseessay Reisen nach
Frankreich. In: Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke, Band 4. Berichte und Skizzen I.
(1961), S. 467-658.
161
Vgl. Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a .a. O., S. 119-123.
160
105
Ich bin zu Hause. Ich bleibe vor dem Brunnen stehen, dessen Wasser wie
aus der Front der hohen Häuser des Boulevard Saint-Michel fließt, und
warte. Ich weiß nicht, auf was ich warte. Nichts könnte mich locken.
Glücklich oder unglücklich zu sein, hier erfährt es eine Erhöhung und
wird eins und gleichgültig. (4,589)
106
III. Das Treibhaus (1953)
1. Ort, Zeit und Erzähltechnik
Jürgen H. Petersen ordnet in seiner Typologie des modernen Romans Das
Treibhaus in die Kategorie „Weltverlust und Subjektivismus” ein. Er findet es
erstaunlich, daß Koeppen die subjektivistische Darstellungsweise für einen politischen Roman fruchtbar gemacht hat, denn Romane mit politischem Thema
würden meistens ein multiperspektivisches Erzählverfahren verlangen. Koeppen
habe die Perspektive des Protagonisten konsequent beibehalten, um die radikale
Konfrontation zwischen dem hilflosen Ich und der unbegreiflichen Wirklichkeit
darzustellen, so Petersen.162 Seinem Gedanken, daß Das Treibhaus eine von den
beiden anderen Romanen der Trilogie abweichende erzähltechnische Struktur
aufweise, kann durchaus zugestimmt werden. Obwohl hier eine einzige Figur im
Mittelpunkt steht, findet sich auch im Treibhaus Perspektivwechsel, aber bei
weitem nicht in dem Maße wie in den anderen beiden Romanen der Trilogie.
Im Gegensatz zu Tauben im Gras ist im Treibhaus der Ort des Geschehens
namentlich fixiert. Das Geschehen spielt in Bonn, Bad Godesberg und Beuel.
Die Rheinbrücke und die Rheinuferbahn werden erwähnt. Das Parlament wird
in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie und das hauptstädtische Pressebüro in einer Baracke untergebracht, all das symbolisiert das Provisorische des
neuen Staatswesens.
Die dritte Lesung des Gesetzes, d.h. die entscheidende Abstimmung im
Bundestag über den EVG-Beitrag163 der Bundesrepublik, fand am 19. März
1953 statt. Wie man der Schilderung des sommerlichen Treibhausklimas entnehmen kann, spielt das Romangeschehen im Sommer 1952. Im Mittelpunkt
steht die Auseinandersetzung zwischen den Regierungsparteien und der Opposition um die EVG, wobei Koeppen die Argumente der beiden Seiten schildert.
Die ersten vier Kapitel beschreiben die Handlung des ersten Tages, während die
Ereignisse des zweiten Tages im fünften Kapitel geschildert werden. Das erste
162
Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie –
Entwicklung. Stuttgart 1991, S. 213.
163
EVG – Abkürzung für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft
107
Kapitel ist der Erinnerungshandlung gewidmet, indem Keetenheuve im Zug
sitzend über seine Lebensgeschichte nachdenkt.
Die Erzählform des Romans ist eine Er-Erzählung, in der die Ereignisse
meistens aus Keetenheuves Perspektive dargestellt werden. Aber es gibt einige
Passagen, die aus der Perspektive des Erzählers oder der anderer Figuren geschildert werden. Die folgende Textstelle über Korodin ist eindeutig aus der
Sicht des Erzählers geschrieben:
Korodin verließ am Bahnhof die Straßenbahn. Ein Schutzmann spielte
Schutzmann in Berlin am Potsdamer Platz. Er gab die Bonner Straße frei.
Es wimmelte, es schwirrte, quietschte, klingelte. Automobile, Radfahrer,
Fußgänger, asthmagequälte Trams strebten aus engen Gassen auf den
Bahnhofsplatz. (2,257)
In der Fortsetzung berichtet der Erzähler aus Korodins Perspektive:
Korodin hatte zum heiligen Cassius und zum heiligen Florentius gebetet,
den Beschützern dieser Stätte, er hatte ihnen die Sünde des Hochmuts
bekannt ich danke dir Gott daß ich nicht bin wie diese hier, und er hatte
sich selbst und vorläufig und für diesen Tag von der Schuld absolviert.
(2,259)
In Keetenheuves Reflexionen im ersten Kapitel werden Elkes Erinnerungen aus
der Doppelperspektive Elkes und des Erzählers eingewoben:
[…] Keetenheuves der sie geraubt hatte als sie schwach war ein Schulmeister er ein Drache sie die Prinzessin nun rächte sie sich rächte sich an
Keetenheuve rächte sich an dem Drachen rächte sich an dem Vater der
nicht gesiegt hatte und feige gestorben war und sie den Drachen überließ
rächte sich an diesem verfluchten Dasein rächte sich mit den schwulen
Weibern sie waren die Höllenhunde ihrer Rache, […] (2,234 f).
Manchmal kann nicht entschieden werden, aus wessen Perspektive berichtet
wird. Keetenheuves Gedankengang wird als Bericht des Erzählers oder als sein
innerer Monolog (oft kursiv gedruckt) wiedergegeben. Über Keetenheuves Parlamentsrede kann nicht entschieden werden, ob sie wirklich gesprochen wurde,
oder ob sie nur als innerer Monolog gedacht wurde, obwohl es zu wissen in
diesem Fall sehr wichtig wäre.
108
Dietrich Erlach beobachtet in den Romanen der Trilogie die Korrespondenz
zwischen Erzählstruktur und Satzstruktur. Er konstatiert das Fehlen hypotaktischer Fügungen. Es gibt seitenlange Sätze, aber selten eine Hypotaxe. In den
Reihungen kann man sehr kunstvolle rhetorische Kompositionen erkennen.
Besonders häufig sind parallel gebaute, anaphorische oder epiphorische Aufzählungen.164 Die freie Kombination der Aufzählungselemente enspricht der Montagetechnik auf der Satzebene und auf der semantischen Ebene der analytischkombinatorischen Denkform, die im Erzählen zur Geltung gebracht wird. Ein
Beispielsatz für die parataktischen Reihungen aus dem Treibhaus:
Die Automobile der Regierung sehen wie amtliche schwarze Särge aus,
sie haben etwas phantasielos Zuverlässiges, sind von gedrungenem Bau,
kosten viel, stehen jedoch in dem Ruf, solid und sparsam, dazu noch repräsentabel zu sein, und Minister, Räte und Beamte fühlen sich gleichermaßen zur Solidität, zur Sparsamkeit und zum Repräsentativen hingezogen. (2,293)
2. Das Handlungsmodell des Romans Das Treibhaus
In der folgenden Analyse wird die Struktur des Romans nach dem in der
Einleitung geschilderten Bernáthschen Handlungsmodell dargestellt. Das Handlungsmodell für die Ereignisreihen von Das Treibhaus besteht aus zwei Vorgeschichten. Da die Handlung mit dem Tod der die Figur Fa interpretierenden
Gestalt, Keetenheuve, endet, ist es eine Handlung ohne Schlußgeschichte. Sie
spielt zwischen der Figur Fa und den zwei Varianten der Figur Fb, d.h. zwischen
der Figur Fa und den Figuren Fb1 und Fb2. Durch Varianten ist auch die Konfliktfigur Fc in den beiden Vorgeschichten ersetzt. Da der Roman nicht nur die Geschichte des Scheiterns der Gestalt Keetenheuve ist, sondern auch ein gesellschafts- und zeitkritischer Roman, stehen hinter den die Figur Fc interpretierenden Gestalten verschiedene Kräfte der politischen Szene. Die Einengung der
Perspektive und die Fixierung auf Keetenheuves Sichtweise haben zur Folge,
164
Vgl. Dietrich Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, a. a. O., S. 91 f.
109
daß das Handlungsmodell nur eine einzige Handlung und keine weiteren Parallelhandlungen hat.
Das Handlungsmodell besteht aus den folgenden zwei Vorgeschichten:
1. Vorgeschichte
T (Fa, Fb1) > V (Fa, Fb1, Fc1) > T (Fa, Fb1)
V = Vereintsein
T = Trennung
2. Vorgeschichte
T (Fa, Fb2,) > V (Fa, Fb2, Fc2) > T (Fa, Fb2)
Die Handlung ist eine offene, denn sie besteht ausschließlich aus Vorgeschichten. Das Treibhaus endet mit dem Tod der die Figur Fa interpretierenden
Gestalt, denn diese konnte das Leben im Zeichen jener Werte nicht realisieren,
die die Bewältigung der Vergangenheit und den Neubeginn des Lebens nach
dem Krieg hätten ermöglichen können.
Die Phasen des Getrenntseins und des Vereintseins entsprechen den verschiedenen Zuständen der Handlung. So können sechs Zustände unterschieden
werden: Der Endzustand der ersten Vorgeschichte und der Anfangszustand der
zweiten Vorgeschichte sind dabei teilweise identisch, ich würde sie dennoch
voneinander unterscheiden, weil der zweite Anfangszustand das Eintreten in die
„Treibhauswelt”, die Ankunft in Bonn bedeutet.
Der Roman beginnt mit dem Endzustand der ersten Vorgeschichte. Bei der
Analyse des Handlungsmodells muß man deshalb von der rekonstruierten Zeitfolge der Ereignisse ausgehen. Auf der Diskursebene ist die Gegenwartshandlung von der Erinnerungshandlung, die in die Gegenwartshandlung eingebettet
ist, zu unterscheiden. Für Keetenheuve ist es charakteristisch, daß er Wachträume bzw. „Imaginationen” hat. Diese sind in den meisten Fällen, aber nicht immer, Rollenphantasien und können sich sowohl auf die Vergangenheit als auch
auf die Gegenwart richten, es gibt sogar zukunftsorientierte Imaginationen, die
auf den Tod ausgerichtet sind. Es sind Negationen der vorigen Rollenvorstellungen, die auf die Unmöglichkeit der Rollendarstellung in der Zukunft hinweisen. Die in die Vergangenheit verlegten Rollenphantasien informieren sowohl
über Keetenheuves damalige Gedankenwelt als auch über die jetzige. Es geht
110
hier um Situationen, in denen er sich vorstellt, welche Rolle(n) er zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens hätte spielen können. In den meisten Fällen
hängen die imaginierten Rollen mit mythologischen, biblischen oder literarischen Gestalten zusammen. Natürlich können hierbei nicht alle Fälle der Intertextualität untersucht werden, es wäre unmöglich, all diese zu benennen. Es
sollen vor allem jene untersucht werden, die mehrmals erscheinen, mit verschiedenen Rollenfächern verbunden auftreten und dadurch als ausgezeichnete Attribute einer Figur zu betrachten sind.
Die Darstellung der Imaginationen trägt zur Charakteristik der Figur bei.
Diese tauchen vor allem in Entscheidungssituationen und in psychologisch
besonders wichtigen Krisensituationen auf. Die imaginierten Rollenphantasien
drücken dabei die Identitätskrise Keetenheuves aus, der ständig mit dem Gedanken spielt, nicht er selbst sein zu wollen, sondern verschiedene Rollen, verschiedene Möglichkeiten verwirklichen zu können.
2.1. Die erste Vorgeschichte
Die Figur Fa wird in der ersten Vorgeschichte von Felix Keetenheuve, die
Figur Fb1 von Elke interpretiert. Das Zeichen Z1 steht für den Anfangszustand
der ersten Vorgeschichte.
2.1.1. Zu Z1 =T (Fa, Fb1)
Informationen über Z1 findet der Leser in den ersten beiden Kapiteln des
Textes. Im zweiten Kapitel erinnert sich Keetenheuve an seine Vision in
Frankfurt vor 1933: Er sitzt vor dem Schauspielhaus auf der Terrasse eines
Cafès und beobachtet einen Aufmarsch der Hitlerjugend. Dann folgt die
Beschreibung seiner zukunftsorientierten Imaginationen in der Vergangenheit:
[...] und da hatte sich vor seinen Augen der Platz aufgetan, der weite bunte
Platz, und alle, alle waren sie mit Fahnen, mit Wimpeln, mit Flöten,
Trommeln und Dolchen in ein breites tiefes Grab marschiert. Es waren
Vierzehnjährige, die ihrem Führer folgten, und neunzehnhundertneununddreißig waren sie zwanzigjährig, waren sie die Sturmtruppe, die Flieger,
die Matrosen – sie waren die Generation, die starb. (2,263)
111
Das Zitat zeugt von Keetenheuves prophetischen Fähigkeiten; er kann die
Zukunft voraussehen. Es handelt sich dabei um die erste Erwähnung des Kassandra-Motivs im Roman. Auch ähnelt die Stelle einigen Sätzen in der Schlußvision, die in surrealistischer Form die wichtigsten Gedanken des Romans zusammenfassen: „Eine große Heerschau ereignete sich. Die Jugend zweier Weltkriege marschierte an Musäus vorüber, und Musäus nahm bleich die Parade ab.
Die Mütter zweier Weltkriege zogen stumm an Musäus vorüber, und Musäus
grüßte bleich ihren schwarzumflorten Zug”. (2,388)
Diese Imaginationen unterstützen den pazifistischen Gedanken und hängen
damit eng mit dem Thema des zweiten Kapitels zusammen, denn hier geht es
um die Vorbereitung auf die Parlamentssitzung zum Thema Wiederaufrüstung.
Im ersten Kapitel erinnert sich Keetenheuve an Ereignisse vor 20 Jahren:
An einem Tag zog ein Kommissar in das Volksblatt ein, und die jüdischen Journalisten mußten ihre Arbeit aufgeben. Sie werden „ahnungslose Kälber im Gatter des Schlachthofes” (2,246) genannnt. Die Nichtjuden konnten bleiben, worauf Keetenheuve aber verzichtete. Zusammen mit deutschen Juden und Antifaschisten emigrierte er nach Kanada, weswegen ihn aber Gewissensbisse plagten:
„Was will ich hier, was tue ich hier, nur nicht teilhaben, nur die Hände in Unschuld waschen, ist das genug?” (2,246) Keetenheuve unterschätzt sich, denn es
entspricht nicht der Wirklichkeit, daß er im Exil nichts Wichtiges getan hat. Er
hat auf seine Weise gekämpft: so war er Journalist bei der BBC während des
Krieges. Bei seinem Selbstvorwurf muß noch auf eine Parallele hingewiesen
werden: Es gibt Berührungspunkte zwischen der nazistischen Verführung der
Jugend 1933 und der Verführung seiner Frau durch Wanowski und ihre lesbische Gesellschaft. In beiden Fällen ist er nach seiner eigenen Einschätzung gescheitert. Keetenheuve erinnert sich an die Zeit, als er als Internierter beim Holzfällen in den Wäldern Kanadas geholfen hat. Das Motiv des unschuldig Schuldigen verbindet Keetenheuve dabei mit Philipp, der nicht emigrierte, doch von
Schuldgefühl beladen ist:
Nur nicht mitmachen? Nur nicht dabeisein? Nur abseits bleiben? Die Unschuld päppeln, die gepflegte, die täuschende Unschuld? Ist das genug?
Schnee fiel auf die Zelte im Winter, fiel lautlos auf den hohen Wald,
schüttelte ein ruhmloses stilles Grab [...] war es nicht seine Schuld, hatte
er sich nicht immer schon abseits gehalten, mimosenhaft verzärtelt, im
Elfenbeinturm, vornehm, hungernd, obdachlos [...] immer erduldend, nie
112
kämpfend, war er nicht die Wurzel aller Greuel, die nun wie blutig eitrige
Geschwüre in der Welt aufbrachen. (2,276 f.)
Keetenheuve kehrt 1945 nach elf Jahren in die Bundesrepublik zurück. Obwohl es ihm nach der langen Zeit der Emigration schwerfällt, sich zu orientieren, ist er am Anfang noch voller Optimismus:
Er wollte Jugendträume verwirklichen, er glaubte damals an eine Wandlung, doch bald sah er, wie töricht dieser Glaube war, die Menschen
waren natürlich dieselben geblieben, sie dachten gar nicht daran, andere
zu werden, weil statt braunen, schwarzen und feldgrauen Uniformen jetzt
olivfarbene Uniformen durch die Straßen gingen und den Mädchen
Kinder machten, und alles scheiterte wieder mal an Kleinigkeiten, an dem
zähen Schlick des Untergrundes, der den Strom des frischen Wassers
hemmte und alles im alten stecken ließ, in einer überlieferten Lebensform,
von der jeder wußte, daß sie eine Lüge war. (2,232)
Der Gestalt Johannes von Süde aus Die Mauer schwankt ähnlich, glaubte
Keetenheuve an die schicksalhafte Zeit: „Nach langer Brache faßte die Zeit nach
ihm und nahm ihn ins Getriebe, und er glaubte damals, daß sich in der Zeit etwas erfüllen würde.” (2,227) Man erfährt, daß er am Anfang nicht melancholisch war. Trotz seiner Bereitschaft zu arbeiten ist sein politisches Programm
sehr allgemein beschrieben: Er war bereit „der Nation neue Grundlagen des
politischen Lebens und die Freiheit der Demokratie zu schaffen” (2,232). Er
hoffte noch eine Zeitlang, später aber folgte die schon beschriebene Desillusion,
denn er kommt vom Gedanken der verlorenen Jugend nicht weg, „jetzt war all
sein Eifer der Verdammnis preisgegeben der Lächerlichkeit eines grau werdenden Jünglings er war geschlagen als er anfing” (2,233). Das Dschungel-Motiv
wird dabei für die Beschreibung der moralischen Niederung der Politik benutzt:
An jeder Entscheidung hingen tausendfache Für und Wider, Lianen
gleich, Lianen des Urwalds, ein Dschungel war die praktische Politik,
Raubtiere begegneten einem, man konnte mutig sein, man konnte die
Taube gegen den Löwen verteidigen, aber hinterrücks biß einen die
Schlange. (2,233)
113
2.1.2. Zu Z2 = V (Fa, Fb1, Fc1)
Das Treffen der die Fa und Fb1 Figuren interpretierenden Gestalten, Keetenheuve und Elke, wird im ersten Kapitel beschrieben. Ihr Treffen und ihre Trennung tragen zeittypische Züge: Der Hunger nämlich hat sie zusammengeführt,
es waren aber verschiedene Formen des Hungers. Elke hatte tatsächlichen Hunger, und Keetenheuve hatte „nach langem Fasten Appetit auf Menschenfleisch,
eine Formulierung, die Novalis für die Liebe gebraucht”. (2,227) Die folgende
Szene ist ein Bindeglied zwischen Tauben im Gras und der Szene des Romans
Das Treibhaus, wo Elke aus den Ruinen auftaucht:
An einem Abend schaute er [Keetenheuve] aus dem Fenster. Er war
müde. Es dunkelte früh. Wolken drohten am Himmel. Der Himmel wehte
Staub auf. Da sah er Elke. Sie schlüpfte in die Ruine, die gegenüber lag.
Sie schlüpfte in den Spalt in der geborstenen Mauer, in die Höhlen aus
Schutt und Geröll. Sie war ein Tier, das sich verkriecht. (2,227 f.)
Durch diese Liebe ist Keetenheuve genauso wie Philipp mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden. Elke, ein Kind des Krieges und der Krieger,
ist sechzehn Jahre alt und kommt hungernd zu ihm:
Elke, das war ein Name aus der nordischen Mythologie, er erinnerte an
Wagner und seine hysterischen Helden, an eine verschlagene, hinterlistige
und grausame Götterwelt, und siehe, Elke war die Tochter eines Gauleiters und Statthalters des Herrn. (2,228)
Elkes Eltern begingen Selbstmord, weil sie Angst vor der neuen Macht hatten,
und Elke selbst wurde gefangengenommen, von zwei Negern bewacht. Die
Beschreibung der schwarzen Soldaten wiederholt das Klischee, das auch in
Tauben im Gras zu lesen ist, wonach die Schwarzen eine natürliche Stärke und
Sinnlichkeit ausstrahlen.
Elke wird zur Augenzeugin des Ausbrechens der KZ-Insassen:
Und hinter dem bewachten Bezirk tauchten auf Wildpfaden, schüchtern
hinter dem Gestrüpp, noch voll Angst vor den Soldaten, noch mißtrauend
den Negern, Gespenster auf, abgezehrte Leiber, gebrochene Skelette,
Hungeraugen und Leidensstirnen, sie kamen aus Höhlen, wo sie sich versteckt hatten, sie brachen aus den Lagern des Todes aus, sie schweiften
114
umher, soweit sie die abgemagerten, die geschlagenen Füße trugen, der
Käfig war offen, es waren die Verfolgten, die Eingesperrten, die Gehetzten der Regierung, die Elke eine schöne Kindheit beschert hatten, […].
(2,229)
Keetenheuve wird von seinen Beschäftigungen immer mehr in Anspruch
genommen, Elke ist immer enttäuschter. Sie kann Keetenheuves Besessenheit
von dem Gedanken „zu helfen, aufzubauen, Wunden zu heilen, Brot zu schaffen” (2,230) nicht teilen; sie langweilt sich „und da ihre Freundschaft so Schiffbruch litt, ließen sie sich trauen” (2,230). So wird Keetenheuve Schwiegersohn
eines ehemaligen Gauleiters. Aber das stört ihn nicht, „er war gegen Sippenhaftung in allen Fällen, und so auch in dem seiner Frau” ( 2,230). Ein größeres
Problem bereitet ihm seine Natur, denn er ist zwar in der Politik Moralist, in der
Liebe aber „vielleicht ein Wollüstling” (2,230); die Ehe ist für ihn nur ein Territorium, das ihn „überflüssig belastet” (2,230). Hielscher versteht diese Eigenschaften Keetenheuves als topoi, wie sie „noch dazu mit dem Bild der Ehe als
öde Wiederholung – Kierkegaards Auseinandersetzung mit ästhetischer und
ethischer Existenz in Entweder-Oder berühren”.165
In der Liebe erleidet Keetenheuve sein zweites Scheitern. Ihm fehlen Geduld
und pädagogische Fähigkeiten, um Elke zu erziehen. Er genießt die Liebe, denn
die wirkliche Wollust war ihm bis jetzt nur im Traum erschienen. Aber nach
einiger Zeit dominiert nicht mehr das Gefühl der Liebe, sondern das Gefühl des
Todes: „Und dann erlebte Keetenheuve, was für ihn neu und (ihm nicht bestimmt) niederdrückend war, das Todtraurigsein nach vielen Vereinigungen, das
Todsündegefühl der Frommen” (2,230). Den Selbstmord als eine mögliche
Lösung seiner Probleme schließt er nicht aus, da er nicht gläubig ist, und er
entwickelt die Theorie des doppelten Scheiterns: „Er hatte in der Politik versagt.
Er hatte im Beruf versagt. Er bewältigte sein Dasein nicht, wer tat das schon,
Dummköpfe, es war wie ein Fluch, aber dies ging ihn allein an, er hatte auch in
seiner Ehe versagt” (2,227). Das Gefühl des Scheiterns wird in der zweiten
Vorgeschichte noch stärker, seine Todesgedanken sind in dieser Phase der
Handlung schon ernsthaft. Obwohl das Scheitern für die menschliche Existenz
charakteristisch ist, will er seine Schuld Elke gegenüber nicht relativieren.
Quack betont hier den Unterschied zum existentialistischen Verstehen des
Schuldgefühls:
165
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 105.
115
Dabei kommt es nicht darauf an, ob seine Selbstvorwürfe auch tatsächlich
zutreffen – es kommt allein darauf an, daß er das, was ihn im Innersten
trifft, nicht zugunsten allgemeiner Überlegungen relativiert. Darin besteht
genau die Differenz, die sein Verhalten von einem Existentialismus abhebt, der nur Attitüde und schicke Mode ist.166
Er sieht seinen politischen Kampf als einen Amoklauf, er ist „Amokläufer
der Freiheit” wie Friedrich in Eine unglückliche Liebe „Amokläufer der Liebe”
ist. Es kommt zu einem Wendepunkt in seinem Leben, von dem an er anstatt
Ziele nur Phantome sieht, ab jetzt bewertet er seinen Kampf als einen Windmühlenkampf.
[...] aber er reiste mit dem Freifahrschein der Parlamentarier Phantomen
nach, dem Phantom der Freiheit, vor der man sich fürchtete und die man
den Philosophen zu unfruchtbarer Erörterung überließ, [...] Keetenheuve
sah sich bald wieder in die Opposition gedrängt, aber die ewige Opposition machte ihm keinen Spaß mehr, denn er fragte sich: kann ich es
ändern, kann ich es besser machen, weiß ich den Weg? (2,233)
Keetenheuve geht es nicht nur um seine individuelle Freiheit, sondern um
die Freiheit auf gesellschaftlicher Ebene. Unter den gegebenen politischen Umständen sieht Keetenheuve keine Möglichkeit für die Verwirklichung der Freiheit und der Menschenrechte, und so zweifelt er an seinen Fähigkeiten, in der
Politik wirksam zu werden, die Welt zu ändern. Dies sind melancholische Gedanken, die sich allmählich in Keetenheuve entwickeln. Dazu kommt das Motiv
des „Zuspätgekommenseins” und der Gedanke „er war geschlagen als er anfing” (2,233). Dieser skeptischen Weltauffassung entspricht der Zweifel an
seiner Kassandra-Rolle:
Sollte er sein Gewissen pflegen, Artikel schreiben, Kommentare in den
Äther sprechen, eine öffentliche Kassandra werden? Wer würde die Artikel drucken, wer die Kommentare senden, wer wird auf Kassandra
hören? (2,241)
166
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 177.
116
Ein weiteres Gebiet, auf dem Keetenheuve auch nicht besonders erfolgreich
ist, ist das der Kunst, er ist nämlich ein dilettantischer Übersetzer. Von den anderen Abgeordneten unterscheidet ihn seine Neigung zur modernen Poesie:
Keetenheuve war ein Kenner und Liebhaber der zeitgenössischen Lyrik,
und manchmal belustigte es ihn, während er im Plenum einem Redner zuhörte, daran zu denken, wer im Saal außer ihm wohl Cummings gelesen
habe. (2,247)
Er liest also die Gedichte des experimentierenden Dichters E. E. Cummings.
Keetenheuve sorgt im Kreise seiner Kollegen für Unruhe, da er schweigsam und
nicht zu enträtseln ist, „he was a handsome man and what I want to know is how
do you like your blue-eyed boy Mr. Death” (2,247). Diese Worte können Keetenheuve charakterisieren, es geht hier um ein nicht markiertes Zitat aus einem
Cummings-Gedicht.167 Es wird noch mehrmals auf seine Vorliebe für moderne
Dichtung verwiesen:
Die schmalen Zeitschriften, […] die Gedichte des experimentierenden
Dichters E. E. Cummings scheuerten in der Aktenmappe eines deutschen
Bundestagsabgeordneten […]. (2,247)
Auch Keetenheuve sah wie ein Manager aus. Er hatte seine Aktenmappe
bei sich; die gewichtige Aktenmappe des Abgeordneten. Gedichte von
Cummings, Verlaine, Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire – er trug sie im
Kopf. (2,300)
Keetenheuves Interesse für die moderne Poesie stimmt fast ganz vollkommen mit dem von Philipp überein. Von ihm werden noch E. E. Cummings und
167
Buffalo Bill’s
defunct
who used to
ride a watersmooth-silver
stallion
and break onetwothreefourfive pigeonsjustlikethat
Jesus
how do you like your blueeyed boy
Mister Death
Zitiert nach: Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 124.
117
G. Apollinaire erwähnt. Das Faszinierende an Cummings’ Dichtung ist ihr
sprachlicher Experimentalcharakter, dessen Zentralkategorie „Bewegung” ist.
Seine Gedichte dynamisieren die visuell-verbale Wahrnehmung der Rezipienten. Beispiel für eine derartige verbale Dynamisierung ist das Gedicht „Picasso”:
Cummings repräsentiert das kubistische Zertrümmern von menschlichen Figuren in dissonant-kakophonischen Verben. Die Aufhebung der Linksbündigkeit
und der hängende Vers dienen der Dynamisierung. Seine wichtigsten Themen
sind: der Krieg, die amerikanische Zivilisation, die moderne Technokratie, der
Kollektivismus und nationalistische Vorurteile. In Zusammenhang mit Apollinaire wird oft von „literarischem Kubismus” gesprochen. Das kubistische Konzept der Simultaneität, der Repräsentation von Gegenständen durch gleichzeitige Darstellung mehrerer auf sie möglicher Perspektiven, wird hier sprachlich
durch die Montage einzelner im Prinzip austauschbarer Satz- und Sinnfragmente
realisiert. Die italienischen Futuristen um Marinetti, mit denen Apollinaire in
Verbindung stand, propagierten den Leitsatz „Wörter in Freiheit”, er bedeutet
auch die freie Anordnung der Wörter auf dem Papier.
Die Konfliktfigur Fc1 wird in der ersten Vorgeschichte von den Textweltgestalten Wanowski und Elkes Eltern interpretiert. Im zweiten Modellzustand
tritt Wanowski auf, die mit ihrer lesbischen Gesellschaft zu Elkes Tod beigetragen hat.
Die Eltern verursachen nur vermittelt Elkes Tod, denn sie haben Elke so erzogen, daß sie außer der nationalsozialistischen Ideologie und der Verherrlichung des Krieges aus dem Leben fast nichts kennt. Die Tochter fühlt sich vom
Vater verraten, weil er nicht gesiegt hatte, weil er sie „den Intellektuellen” überließ. Zu diesen gehört auch Keetenheuve, den sie als einen Rollenspieler sieht
und „Drachen” nennt, der sie, die Prinzessin, geraubt hatte. Elke ist so sehr an
die Vergangenheit gebunden, daß sie sich der neuen Gesellschaft nicht anpassen
kann. Diese Eigenschaft verbindet sie mit Emilia, die unter der „nichtgelungenen Anpassung” leidet. Stellvertretend verursachten Elkes Eltern auch Keetenheuves Leiden: „er entsann sich seines Hungerns, des Wanderns durch die Straßen fremder Städte, in die ihn der Abscheu vor Elkes Eltern getrieben hatte,
[...]” (2,231). Elke kann aber nicht begreifen, warum er das Land verlassen hatte:
Als er ihr sagte, warum er der Politik der Nationalsozialisten ausgewichen
und ins Ausland gegangen war, sah sie keinen Grund für solches Verhal-
118
ten, es sei denn einen unsichtbaren, einen jedenfalls nicht greifbaren; er
war eben moralisch.. (2,232)
Die die Konfliktfigur interpretierenden Gestalten, Elkes Eltern und Wanowski, vertreten ein negatives Wertesystem, das Elkes und Keetenheuves Leben entsprechend beeinflußt und sogar zu deren Trennung führt. Die wichtigsten
Attribute Wanowskis sind denen der Eltern ähnlich, werden miteinander motivisch verbunden; ihre motivische Verknüpfung wird auf der Textebene explizit
ausgesprochen:
[...] und da kam die Wanowski zu ihr, die Wanowski mit ihren breiten gepolsterten Schultern, eine pervertierte Frauenschaftsführerin, die
Wanowski mit ihrer groben tiefen befehlenden Stimme sie erinnerte an zu
Hause sie war das Elternhaus seltsam verwandelt zwar aber sie war das
Elternhaus sie war die Stimme des Vaters sie war die Stimme der Mutter
sie war wie die Bierabende der alten Kämpfer in die der Gauleiter geschniegelt heraufgekommen hinuntertauchte wie in ein verjüngendes
Schlammbad die Wanowski sagte "komm Kind" und Elke kam, [...]
(2,234).
Wanowskis Welt widerspricht völlig der Keetenheuves – was für ihn wichtig ist, ist für sie unbedeutend. Sie spricht die Sprache der Bierabende: einfache
Worte ohne abstrakten Wortschatz, „da war nicht die entsetzliche, die bedrückende, fließende, springende, sprudelnde, nie zu fassende Intellektualität Keetenheuves [...]” (2,234). Wanowski kommt auch nicht allein zu Elke, denn was
sie Elke bietet, ist „Zweisamkeit und Bier” (2,235). Die Bierabende bei Elke
werden zur Wiederholung der Bierabende der alten Kämpfer, der Freunde des
Gauleiters: Den „Kämpfern” entsprechen die von Wanowski verkuppelten
„Jüngerinnen zum unheiligen Vestalinnendienst” (2,235). Die Vestalinnen waren die Priesterinnen der Göttin des Herdes (Vesta) in Rom und an anderen
Orten. Sie waren unverheiratet und ihre Pflicht war, das Herdfeuer zu hüten.
Wanowskis „Vestalinnen” sind diejenigen, die den Hausfrieden, d.h. das Leben
von Elke und Keetenheuve unterminieren. Sie weisen damit auf die Diskrepanz
zwischen mythologischer Vorlage und heutigem Bild hin. Elke trinkt immer
mehr, sie trinkt mit den „Tribaden” und: „Im Zimmer stank es nach Weiberschweiß, nach fruchtloser Erregung, sinnloser Ermattung und nach Bier Bier
119
Bier. Elke war blöd vom Bier, ein Kretin, der lallte.” (2,235) Wanowski ist eine
männliche Erscheinung:
Sie trug einen Männeranzug, den Anzug eines dicken Mannes, stramm
wölbte sich das Gesäß, die überhöhten, mit Watte gepolsterten Schultern
waren ein Gleichnis des Penisneides, lächerlich und furchtbar zugleich,
und zwischen den schwellenden Lippen unter dem mit Kork abgebrannten
Bartflaum kaute sie am häßlichen zerknatschten Stummel einer bitteren
Zigarre. (2,226)
Sie ist eine Tribade und eine Amazone, beide sind kämpferische Frauen, so
wird sie durch ihre kriegerischen Eigenschaften mit den Kämpfern des Gauleiters verbunden. In Keetenheuves Gedanken tritt Wanowski in verschiedenen
Rollen auf, denn nicht nur er ist ein Rollenspieler, sondern auch seine Feinde.
Wanowski erscheint so als „eine bös und dick gewordene Penthesilea der Budiken, die ihren Achill versäumt hatte” (2,235). Diese Allusion auf die griechische
Mythologie tritt teilweise in bestätigender, teilweise aber in abweichender Funktion auf: Penthesileia war die Königin der Amazonen, die einen Stamm kriegerischer Frauen bildeten. So entspricht das Attribut „kriegerisch” sowohl den Eigenschaften Wanowskis als auch denen des Gauleiter-Ehepaares. Theseus (auch
Keetenheueve wird im späteren motivisch wiederkehrend Theseus genannt)
begleitete Herakles bei seinem Feldzug oder er unternahm selbst einen Feldzug
und sie kämpften dabei gegen die Amazonen. Phentesilea hatte den Griechen
großen Schaden zugefügt und deshalb wurde sie von Achill getötet. Sie war
aber so schön, daß er sich in ihren Leichnam verliebte. In diesem Punkt weicht
die Anspielung im Romantext von der mythologischer Vorlage ab: Achill tötet
Phentesilea nicht, denn sie ist böse und dick, Achill würde sich in sie nicht verlieben.
2.1.3. Zu Z3 = T (Fa, Fb1)
Der Romananfang beginnt mit der Schilderung des Endzustandes der ersten
Vorgeschichte in der Erzählform der Er-Erzählung, in erlebter Rede. Im ersten
Absatz dominiert Keetenheuves Perspektive, im zweiten die des Erzählers. Die
Trennung der Figuren Fa und Fb1 ist durch Elkes Tod vollzogen.
120
Keetenheuve ist Moralist und Träumer. Er imaginiert sich als Mörder, er
träumt von einem Mord. Der Moralist und Träumer tötet aber nur in Gedanken.
Die Imaginationen spiegeln seinen Seelenzustand wieder. Im realen Leben fühlt
er sich machtlos, er kann sich für Elkes Tod nicht rächen, so kompensiert er
seine Ohnmacht in seinen Wachträumen. Die Figur wird als Verbrecher vorgestellt, der nicht auf frischer Tat ertappt worden ist. In den folgenden Sätzen wird
der Leser in Unsicherheit gelassen, denn es wird nicht bestätigt, ob das Verbrechen wirklich begangen wurde oder nicht. Im Konjunktiv werden die denkbaren
Folgen einer möglichen Tat beschrieben. Keetenheuve (seinen Namen erfahren
wir erst später) stellt sich vor, daß seine Kollegen, die alle Heuchler sind, sich
über sein Unglück freuen würden. Es ist dabei typisch für seinen seelischen
Zustand, daß von ihm nur negative Zukunftsbilder imaginiert werden. Die Möglichkeit des Mitgefühls wird von ihm nicht erwogen. Erst nach einigen Seiten
wird allmählich klar, daß er kein richtiger Verbrecher, sondern ein Verbrecher
aus Imagination ist.
Der Verbrecher-Imagination Keetenheuves folgt eine Allusion auf Wagners
Ring des Nibelungen, die Allusionsmarker sind das Wort „Nibelungenexpreß”
sowie Figurennamen aus der Oper (Zwerg Alberich, Fememörder Hagen, Wotan) und Ortsnamen, die in der Handlung des Referenztextes wichtig sind (Passau). Außerdem wird auch auf den vierten Teil der Tetralogie hingewiesen (Götterdämmerung, 2,229). Diese Bezugnahme auf die Wagner-Oper ist nicht die
erste der Romantrilogie: In Tauben im Gras kam das Nibelungenthema schon
einmal in dem Begriff „Rheingold” vor. Dort wurden Bodenschätze (Öl) von
Zwergen bewacht, hier werden „Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers”
(2,223) zusammen erwähnt. Keetenheuve fährt im „Nibelungenexpreß” durch
das Land der Nibelungen, die Assoziation geht vom Anblick des Rheins aus, an
dessen Ufern der Zug nach Bonn fährt:
Er saß im Nibelungenexpreß. Es dunstete nach neuem Anstrich, nach
Renovation und Restauration; es reiste sich gut mit der Deutschen
Bundesbahn; auch außen waren die Wagen blutrot lackiert. Basel, Dortmund, Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers; Kurswagen Wien
Passau, Fememörder Hagen hatte sich’s bequem gemacht; Kurswagen
Rom München, der Purpur der Kardinäle lugte durch die Ritzen verhangener Fenster; Kurswagen Hoek van Holland London, die Götterdämmerung der Exporteure, die Furcht vor dem Frieden. Wagalaweia, rollten die
Räder. (2,223)
121
Die Assoziationen im Zusammenhang mit diesen Zeilen beziehen sich auf
die deutsche Vergangenheit, auf die Zeit des Nationalsozialismus und die der
Bundesrepublik, in der die Frage der Wiederaufrüstung hochaktuell ist. Um die
Zusammenhänge zwischen der Wagner-Oper und dem Roman aufzudecken,
müssen nun einige Motive aus Wagners Drama hervorgehoben werden. Alberich hatte den magische Kraft verleihenden Ring, der zum Symbol der Macht
emporgesteigert wird, aus dem geraubten Rheingold geschmiedet. Er konnte es
tun, weil er jedes Element des Guten und jede Regung der Liebe in sich getötet
hatte. Sein Ziel war, die Welt zu erobern und zu beherrschen. Rheingold endet
mit dem Raub an Alberich durch die Götter, die die Riesen für den Bau von
Walhall entlohnen wollten. In Siegfrieds Tod scheitern Wotans Versuche, das
Chaos in einen sinnvoll geordneten Kosmos zu verwandeln. In der zweiten Fassung sah Wagner die Schuld der Götter als so schwerwiegend an, daß ihre Rettung allenfalls in einem Untergang bestehen konnte. Problematisch im Ring ist
die Gestalt des rettenden Helden: Siegfried hatte den Rheintöchtern auf deren
Wunsch und Warnung den Ring nicht zurückgegeben. Nach dem Sieg über
Fafner sucht er sein persönliches Glück durch die Erweckung Brünnhildes.
Wichtig ist das Motiv der Machtgier und des Besitzdenkens, der Wille, das Gold
zu haben. Diese Bestrebung charakterisiert sowohl Alberich als auch Wotan in
der ersten Zeit, der aber später bereit ist, auf den Ring zu verzichten. Mit dieser
verspäteten Geste konnte er aber den Untergang der Götter nicht mehr verhindern. Die Oper beginnt im Rhein und endet mit der „Götterdämmerung”, wieder
an den Ufern des Rheins. Diese Ring-Struktur kennzeichnet auch Das Treibhaus: Es beginnt am Rheinufer und am Ende springt Keetenheuve in den Fluß.
Der Ausdruck „Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers” (2,223) erlaubt
eine metaphorische Assoziation: Aus der Unterwelt des Reviers fördern die
Bergleute das moderne Gold, den neuen Schatz Kohle. Der Krieg wird unter
anderen um Gold, Rohstoffe und Macht geführt. Alberich, die Götter und Siegfried wollten die Macht durch den Ring besitzen, deshalb waren sie bereit zu
kämpfen. Mit Wagner und der nordischen Mythologie verbinden sich Assoziationen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der
möglichen Wiederkehr der Vertreter und des Gedankengutes dieser Ideologie.
Koeppen war sich bewußt, daß es möglich war und immer noch ist, die mythologischen Elemente in Wagners Werk falsch zu interpretieren. Die Beschwörung des Mythos konnte zugunsten des Diktators im Dienst seiner Ideologie
benutzt werden: „Wagalaweia. In Bayreuth schwebten die Mädchen in Schau122
keln über die Bühne, glitzernde Huldinnen. Den Diktator hatte der Anblick belebt, [...] aus dumpfem Brüten entfaltete sich die Zerstörung.” (2,238)
Die Beschreibung des Zuges ist allegorisch, denn es geht auch um die politische Entwicklung in Deutschland, um Restauration und Wiederkehr alter politischer Mitläufer. Die Kurswagen symbolisieren die Verbindungen der deutschen
Politik: Dortmund ist das Zentrum der deutschen Waffenindustrie, „Kurswagen
Wien Passau, Fememörder Hagen hatte sich’s bequem gemacht” (2,223) – für
Götze bedeutet in diesem Zusammenhang Wien die Heimat des „Anstreichers”,
der der größte Fememörder der deutschen Geschichte war.168 Der Kurswagen
Rom-München steht für den Sitz der katholischen Kirche. München und Rom
sind zugleich Schauplätze des ersten und des dritten Romans der Trilogie. Der
Exportknotenpunkt London ist für die Waffenexporteure wichtig, die an der
Aufrüstung interessiert sind. Keetenheuve denkt an sich im Nibelungenexpreß
sitzend wie folgt: „Er war des Kanzlers getreuer Abgeordneter und Oppositioneller in Ergebenheit” (2,246).
Bereits auf der ersten Seite erfährt der Leser, daß Keetenheuve nicht gemordet hat, alles war nur bloße Vorstellung. Wirklichkeit und Imagination fließen
ineinander. Die Annahme des Mordes verlieh ihm Energien, stärkte ihn im wirklichen Leben. Die Szene wiederholt er in Gedanken mehrmals: „Die Mordgedanken liefen wie Ströme hochgespannter Energie durch Leib und Seele”
(2,223). Das Motiv der Rache und des Mordes als Rache für das verlorene Liebesobjekt ruft verschiedene Vorstellungen hervor. Keetenheuve denkt über sich:
„nur leider hatte er wieder nur in seiner Phantasie gemordet, war er der alte
Keetenheuve geblieben, ein Träumer von des Gedankens Blässe angekränkelt”
(2,224). Letzteres ist ein nicht markiertes Zitat aus Shakespeares Hamlet, das
erste Mal wird eine Rolle kursiv geschrieben. Nicht nur wegen der Rache- und
Mordgedanken versetzt sich Keetenheuve in die Rolle von Hamlet. Er ist ein
Melancholiker wie Hamlet einer ist. Nach Günter Blamberger gilt Hamlet als
eine der hervorragendsten Gestaltungen eines Melancholikers in der Weltliteratur.169 In der Gestalt von Hamlet wird der Konflikt zwischen Gedanke und Tat,
Reflexion und Handlungshemmung hervorgehoben. Das zitierte Satzfragment
stammt aus Hamlets Monolog:
168
Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 9.
Günter Blamberger: Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Krisenbewußtsein
und Neubegründung im Zeichen der Melancholie. Stuttgart 1985.
169
123
Daß wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten
fliehn. So macht Bewußtsein Feige aus uns allen; der angebornen Farbe
der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und
Wagestücke hohen Flugs und Werts, durch diese Rücksicht aus der Bahn
gelenkt, verlieren so der Handlung Namen.170
Götze analysiert Hamlets Frage in dem Monolog, der mit der berühmten
Zeile „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage” beginnt.171 Er versteht Hamlets und Keetenheuves Frage folgendermaßen: „Soll eine Welt, die beherrscht ist
von der Gier nach Geld und Macht, die rotgefärbt ist vom Blut, deren politische
Repräsentanten Heuchler sind, soll diese unerträgliche Welt passiv erduldet oder
soll ihr Widerstand entgegengesetzt werden?”172
Die nächsten Rollen hängen mit der Grablegung von Keetenheuves Frau zusammen. Es folgen die Trauerbekundungen, die in Kursivdruck stehen. Keetenheuve hofft auf kein Wiedersehen mehr, denn die Möglichkeit einer transzendentalen Hoffnung kommt für ihn nicht in Frage. Von der Einmischung der
Öffentlichkeit in seine private Sphäre grenzt er sich ab, außerdem kann er keinen Respekt durch die äußerlichen Zeichen von Trauer erwecken. Er trägt keine
Witwertracht wie Herr Possehl, an den er sich aus seiner Kindheit erinnert. Das
Witwerdasein empfindet er als eine groteske Situation: So trug Herr Possehl
einen Eberzahn, „ein Symbol, daß das Tier besiegt sei. So war Herr Possehl,
wenn er beim Bäcker Labahn sein Brot kaufte, eine lebendige Allegorie der
Treue über den Tod hinaus, […].” (2,225) Er will sich aber mit Herrn Possehl
nicht identifizieren, selbst das Wort Witwer erbittert ihn.
Dann begibt er sich in die Rolle von Don Quichotte, einer melancholischen
Gestalt: „Er war ein Ritter von der traurigen, er war ein Ritter von der komischen Gestalt.” (2,225) Diese Worte könnten sich sowohl auf Herrn Possehl als
auch auf Keetenheuve beziehen. Don Quichottes Flucht in scheinbar heroische
Abenteuer erklärt sich aus dem Verhaftetsein an die Ideen der Ritterwelt, die
bereits untergegangenen ist. Er vereint in sich damit höhere Inspiration und
170
William Shakespeare: Hamlet. Prinz von Dänemark. Hamburg 1968, III, 1,81-88.
Ob‘s edler im Gemüt, die Pfeil‘ und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich Waffnend gegen eine See von Plagen,
Im Widerstand zu enden.
Zitiert nach Karl Heinz Götze, a. a. O., S. 11.
172
Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 11.
171
124
alltäglichen Wahn, deshalb ist er ein tragikomischer Held. Keetenheuve flieht
aus der Wirklichkeit in seine realitätsfernen Phantasien, er ist ein Moralist in
einer Zeit, in der Moral nicht gefragt ist, deshalb ist auch er tragikomisch. Das
nächste Zitat enthält einen für Keetenheuve typischen Widerspruch:
Er handelte diesmal im Denken nicht intellektuell, er handelte instinktmäßig, wutgemäß, und Elke, die ihm stets vorgeworfen hatte, daß er
nur in der Welt der Bücher lebe, Elke würde sich gefreut haben, wie
geradewegs und folgerichtig er auf seine Tat zuging und dabei noch auf
Sicherheit bedacht war, wie der Held eines Filmes. (2,225)
Da er im Denken handelte, war diese Handlung im Endeffekt intellektuell,
also nur in Gedanken vollbracht worden. Elke hatte ihm vorgeworfen – und das
ist die Anspielung auf die Don Quichotte-Rolle –, daß er in einer imaginierten
Welt, und zwar in der der Bücher lebe. Dieser Vorwurf wird durch Keetenheuves Imaginationen bestätigt, die sich ständig in der Welt der Literatur bewegen.
Die Vermutung, daß sich Elke wegen der Folgerichtigkeit seiner Tat gefreut
hätte, ist ein Beweis dafür, daß er sich in seinen Rollen wie ein Schauspieler
bewegt, der Zuschauer braucht. In der Mordphantasie tötet Keetenheuve Wanowski, um Elkes Tod zu rächen, aber dann scheint Elkes Beifall absurd zu sein.
Diese Fiktionalität wird dadurch erweitert, daß er sich als einen Leinwandhelden
sieht. Dieser Gedanke, daß in der bundesrepublikanischen Welt nicht richtige
Personen, sondern Schauspieler handeln, wird mehrmals erwähnt.
Jetzt folgt Keetenheuves Film im Tagtraum, in dem er gleichzeitig mehrere
Rollen spielt: die erste ist die des Filmschauspielers, der die zweite, die des
Herrn Possehl, spielt. Keetenheuve erwirbt seine Kleidungsstücke, mit Ausnahme des Eberzahnes, des Symbols der Treue. Die dritte Rolle erinnert an Dostojewskis Romanhelden aus Schuld und Sühne; in seiner Studie analysiert HansPeter Söder die Raskolnikow-Rolle.173 Keetenheuve träume von den gleichen
Mordvorbereitungen wie Dostojewskis Held. Die Aussage „Ein weitläufiges,
vielbegangenes Hotel mit mehreren Ausgängen war der Schlupfwinkel des Mörders” (2,225) könnte auch eine Ortsbeschreibung in einem Filmdrehbuch sein.
173
Hans-Peter Söder: Schuld und Sühne: Existentielle Elemente als Bausteine der AntiModernität in Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus. In: Germanic Notes und Reviews,
1994, Vol. 25. no. 1. S. 35-39.
125
sein. Raskolnikow ähnlich führe Keetenheuve seinen Mord hundertmal in seinem Gedächtnis durch. Wie Raskolnikow ist auch Keetenheuve ein Träumer,
Weltverbesserer und Versager. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber darin,
daß Raskolnikow in der Romanwirklichkeit tötet, während Keetenheuve dazu
nur in Gedanken imstande ist. Raskolnikow muß für seine Tat sühnen, Keetenheuve fühlt sich schuldig, weil er Elke vor dem Tod nicht gerettet hat. Außerdem geht Raskolnikow zu einer Brücke, um durch seinen Selbstmord sein
Verbrechen zu sühnen, wird aber durch die Fähigkeit Sonjas zu lieben gerettet.
Keetenheuve dagegen hat durch Elkes Tod seine Fähigkeit zu lieben verloren,
deshalb kann er nicht gerettet werden: Er springt von der Brücke.
In der Phantasie kauft sich Keetenheuve einen Viehtreibermantel und ein
Beil, „ein Metzger, der auf den Bullen wartet” (2,226). Diese Rolle des Metzgers ist seine vierte Rolle. So wie er die Kleidungsstücke übereinander anzieht
(zuerst kleidet er sich in die Witwertracht, setzt einen schwarzen Hut auf, zieht
einen Schwalbenschwanzrock, gestreifte Hosen und eine Weste an, darüber den
Viehtreibermantel), verwandelt er sich in immer neue Figuren, setzt Masken
über Masken auf. Im Spiegel vermehrt er sich, spaltet sich in verschiedene Figuren: „Er verkleidete sich. Er hüllte sich vor dem Spiegel in die Witwertracht. Er
wurde Possehl ähnlich. Er war Possehl. Er war endlich achtbar.” (2,116) Dabei
geht es um eine stufenweise Verwandlung, denn zuerst fühlt Keetenheuve sich
der Figur nur ähnlich, dann identifiziert er sich mit ihr. Die Filmphantasie wird
damit fortgesetzt. So geht er am Abend mit dem Viehtreibermantel und dem
Beil unter dem Arm aus: „In der tristen Straße leuchtete grün der Skorpion aus
dem schwarzen Glas des Lokalfensters. Es war das einzige Licht in der Gegend,
ein Moorlicht aus einer düsteren Geschichte” (2,226). Nach Hielschers Meinung
wird hier das düstere Gefilde der Verworfenheit dargestellt. Daraus kommen die
Tribaden, deren Göttin erschlagen wird. Die Tribaden waren lesbische Frauen,
wie auch Wanowski, und die Heraufbeschwörung der Tötung der Tribade ist ein
guter „atmosphärischer Einstieg” in die Mordszene. 174 Wanowski erscheint in
Keetenheuves Phantasie als Bulle. Sie verwandelt selbst ihr Äußeres in das
Tier:
Der Bulle kam, die Wanowski erschien, garstig borstige Krüllhaare auf
dem Bullenschädel, ein Weib, das als Schläger gefürchtet war und sich
Gewalt über die Tribaden verschafft hatte; (2,226)
174
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 97.
126
Diese Tiermetapher verbindet sich auch mit der ehemaligen Rolle
Wanowskis als gefürchtete pervertierte Frauenschaftsführerin. Die blutige Szene
des Tötens des Bullen mit dem Beil weckt Assoziationen zu einer anderen Rolle
Keetenheuves, die noch beschrieben werden soll: Es ist die des Theseus, der im
Labyrinth den Minotaurus töten sollte.175 Der Minotaurus steht für die
unbewältigte Vergangenheit und die Kräfte, die die Restauration und die
Remilitarisierung unterstützen. Damit ist die motivische Verbindung der
Konfliktfiguren (der Elkes faschistisches Elternhaus repräsentierenden
Wanowski und der Abgeordneten) in der Gestalt des Minotaurus gegeben:
Keetenheuve hob das Beil, er schlug zu. Er schlug in das Struppwerk, in
das Krüllhaar hinein, diese Matratze, mit der er sie überall bedeckt
glaubte, er spaltete dem Bullen den Schädel. Der Bulle sackte ab. Er
sackte zusammen. Das Bullenblut färbte den Viehtreibermantel. (2,226)
In der letzten Szene des imaginierten Films versenkt Keetenheuve Viehtreibermantel und Beil im Rhein; er beugt sich sogar übers Geländer der Brücke,
die Mordutensilien, denen später Keetenheuve selbst in den Rhein folgen wird,
gehen im Wasser unter. Die Szene endet mit einem scheinbar harmonischen
Naturbild, in dem „blanke wohlschmeckende Forellen” (2,227) beschrieben
werden. Im Zusammenhang mit der Vorstellung von der Ermordung Wanowskis stellt diese Szene ein wiederkehrendes Bild in Koeppens Werken dar,
vor allem in Jugend, darin erscheint die Gewalt der Menschen untereinander als
die Brutalität der sich gegenseitig schlachtenden und verzehrenden Tiere.176
175
Die intertextuelle Grundlage ist hier die Theseus-Sage, d.h. der Teil der Theseus-Sage, in
der Theseus den Minotaurus tötete: Athen wurde von dem kretischen König Minos
angegriffen. Sieben junge Männer und Mädchen wurden alle 9 Jahre dem Minotaurus zum
Fraß nach Kreta geschickt. Das Ungeheuer Minotaurus hatte einen Stierkopf auf einem
Menschenkörper. Er wurde von Minos im Labyrinth gehalten, einem Gefängnis mit Irrwegen,
aus dem keiner je herausfinden konnte. Minos’ Tochter, Ariadne, verliebte sich in Theseus. Sie
wußte, daß Theseus den Weg aus dem Labyrinth niemals finden könnte. Sie wandte sich an
Daidalos, der den Irrgarten entworfen hatte. Theseus fand den Minotaurus, den
ungeheuerlichen Nachkommen der Königin Pasiphae und eines Stieres. Er tötete ihn und folgte
dem Faden zurück zum Eingang.
Vgl. Reclams Lexikon der antiken Mythologie, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991. Über
Theseus: S. 509-518.
176
Vgl. Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 98.
127
Die beschriebenen Imaginationen sind Teile der Gegenwartshandlung, sie
drücken Keetenheuves Seelenzustand nach dem Tod seiner Frau aus. Gleichzeitig geben sie aber Informationen über seine Vergangenheit, denn anhand dieser
Rollenphantasien kann man einen Einblick in sein früheres Leben gewinnen.
Das erste Kapitel enthält auch viele Reflexionen über Keetenheuves politische
Laufbahn. Dies gehört ebenfalls zur inneren Handlung und hängt mit Keetenheuves Vergangenheit zusammen, denn seine Abgeordnetenposition auf der
Gegenwartsebene wird im Kontext seiner früheren Tätigkeit entfaltet. Philipp
ähnlich kommt auch Keetenheuve mit der Zeit nicht zurecht:
Keetenheuves Zeit lief ab. Sie verrann phosphoreszierend, wie zu sehen
war, und sinnlos, was weniger zutage trat. [...] Er hatte, älter geworden,
die Empfindung, noch gar nicht auf die Bahn der Zeit gesetzt und doch
schon am Ende seines Lebenspfades zu sein. (2,239)
Diese Gedanken könnten auf seinen baldigen Tod hinweisen. Nach Josef
Quack wird die Zeitvorstellung des Romans als Keetenheuves Reflexion und
Empfindung dargeboten. Die Zeitüberlegungen modellieren den Charakter des
Protagonisten. Das vorige Zitat zeigt, daß Keetenheuve die ideale Konstellation,
d.h. die Übereinstimmung zwischen öffentlicher und subjektiver Zeit, nicht
herstellen kann. Obwohl er meint, daß er ein Zuspätgekommener ist, erfährt er
für eine kurze Zeit das Zusammenfallen der objektiven und der subjektiven Zeit.
Vor der Abstimmung hat er den Eindruck, daß er sein Konzept vielleicht doch
verwirklichen kann. Er denkt über sich selbst: „Und mit ihm ging die neue Zeit”
(2,322).177 Das Gefühl der fortlaufenden Zeit wird mit verschiedenen Zeichen
belegt. Gewisse Anzeichen deuten auf seine körperliche Schwäche hin; so ist es
im Zug sehr heiß, und er ist davon überzeugt, daß jemand im Wagen die Heizung angedreht hat. Er will sie abstellen, aber muß feststellen, daß der Hebel
über dem Zeichen Kalt steht. Psychisch ist er auch erschüttert, er kommt über
den Tod seiner Frau nicht hinweg. Außerdem erlebt er bei seiner Ankunft in
Bonn eine Herzattacke.
Im Wagen denkt er über seine Abgeordnetenposition nach. Er hat Angst vor
den bevorstehenden Wahlen, will wiedergewählt werden. Keetenheuve verfügt
durchaus über Eigenschaften, die ihn für diesen Beruf eignen, denn er will sein
Mandat wirklich als eine Anwaltschaft gegen die Macht auffassen. Korodin von
177
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 170.
128
der anderen Partei „nannte Keetenheuve einen Menschenrechtsromantiker, der
Verfolgte suchte, Geknechtete, um ihnen die Ketten abzunehmen, Leute, denen
Unrecht widerfahren, Keetenheuve war immer auf der Seite der Armen und
Sonderfälle” (2,240 f.). Dabei wird das aus der Bibel bekannte Lamm-WolfSymbol benutzt. Keetenheuve zählt sich zu den Lämmern, die den Wölfen nicht
weichen wollen. Dabei beschuldigt er sich: Er sei ungläubig, verzweifelt und
skeptisch. Es besteht seiner Meinung nach die Gefahr, daß die Wölfe, d.h. seine
Gegner, ihn in den Wahlen besiegen werden.
2.2. Die zweite Vorgeschichte
In der zweiten Vorgeschichte interpretiert Keetenheuve die Figur Fa auch
weiterhin und der DDR-Flüchtling Lena die Figur Fb2. Es gibt in der zweiten
Vorgeschichte keine Parallelhandlungen. Dagegen interpretieren die Figur Fc2
mehrere Gestalten. Der Erzählung des Treffens werden wenige Seiten gewidmet, wobei die Darstellung der Vorbereitung auf die Parlamentssitzung und die
Schilderung der Konfliktfiguren besonders wichtig ist. Die Beschreibung des
letzten Zustandes, T (Fa, Fb2), wird im Moment des Entstehens abgebrochen.
2.2.1. Die Ankunft in Bonn
Der Endzustand der ersten Vorgeschichte, T (Fa, Fb1) und der Anfangszustand der zweiten Vorgeschichte, T (Fa, Fb2,) sind grundsätzlich identisch, aber
die Ankunft in Bonn bezeichnet gewissermaßen doch eine Trennlinie. So hören
Keetenheuves Aggressionsphantasien auf, er konzentriert sich auf die bevorstehenden Ereignisse, auf sein Treffen mit den Fraktionsvorsitzenden und die Parlamentssitzung über die Aufrüstungsdebatte. Der Kreis derer, die seinen politischen Vorstellungen widersprechen, erweitert sich immer mehr, bis Keetenheuve mit seinem Pazifismus völlig isoliert bleibt. Seine Kontrahenten sind in der
langen Phase vor dem Treffen mit Lena schon anwesend. Die Ankunft in Bonn
verbindet sich mit einem neuen Gefühl Keetenheuves, die Welt um ihn als eine
„Treibhauswelt” wahrzunehmen. Der Kleinstadtcharakter Bonns wird hervorge-
129
hoben.178 Die Treibhausmetaphorik wird das erste Mal in Zusammenhang mit
Bonn entfaltet:
Ein Treibhausklima gedieh im Kessel zwischen den Bergen; die Luft
staute sich über dem Strom und seinen Ufern. Villen standen am Wasser,
Rosen wurden gezüchtet, die Wohlhabenheit schritt mit der Heckenschere
durch den Park, knirschenden Kies unter dem leichten Altersschuh,
Keetenheuve würde nie dazu gehören, nie hier ein Haus haben, nie Rosen
schneiden, nie die Edelrosen, die Nobiles, die Rose indica, er dachte an
die Wundrose, Erysipelas traumaticum, Gesundbeter waren am Werk,
Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus, Keetenheuve sah seltsame Floren, gierige, fleischfressende Pflanzen, Riesenphallen, Schornsteinen gleich voll schwelenden Rauches, blaugrün, rotgelb, giftig, aber es
war eine Üppigkeit ohne Mark und Jugend, es war alles morsch, es war
alles alt, die Glieder strotzten, aber es war eine Elephantiasis arabum.
(2,251 f.)
Die Treibhaus-Metapher erweitert sich in den folgenden Kapiteln zu einer
Allegorie, die drei Bedeutungsschichten hat:179
a. Die Treibhaus-Metapher bezieht sich in ihrer ersten Bedeutung auf das
Klima der Stadt, das eine Herzattacke bei Keetenheuve verursacht. Das Treibhausklima wird dabei geographisch begründet: Bonn liegt in einem Kessel zwischen Bergen am Rheinufer, Industrieabgase vermischen sich mit dem Frühdunst über der Stadt. Es wird sein Herzkrampf geschildert:
und da vor der Sperre, in der nüchternen Halle, er betrat die Hauptstadt,
hetz ihn, faß ihn, o Gott Apollon o, da packten sie ihn wieder, überkamen
ihn, fielen über ihn her, da hatten ihn Schwindel und Atemnot, ein
Herzkrampf schüttelte ihn, und ein eiserner Reif legte sich ihm um die
Brust [...]. (2,254)
Diese Stelle weist auf die Gestalt des Orest hin, der von den Erynnien gehetzt
wird. In der Anspielung wird Philipps Wahn wieder aufgenommen, der sich von
den Erynnien verfolgt fühlt. Dieses Motiv wiederholt sich in Keetenheuves
178
Vgl. Christl Brink-Friderici: Wolfgang Koeppen: Die Stadt als Pandämonium, Frankfurt
am Main 1990.
179
Vgl. Josef Quack. Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 160.
130
Schuldbewußtsein wegen Elkes Tod. Wenn es jemandem mißlang, die Ermordung eines Familienmitglieds zu rächen, rächten die Erynnien den Tod an ihm.
Keetenheuves Rachephantasien im ersten Kapitel zeugen von seinen Versuchen,
Elke zu rächen, aber diese Rache war nur in der Phantasie realisierbar. Das Motiv der Rachepflicht erklärt Keetenheuves Worte im Zusammenhang mit der
Frage, ob er seinen Kampf gegen die Remilitarisierung doch nicht aufgeben
könnte. Die Tatsache, daß er nicht bereit ist, seine Haltung zu ändern, begründet
er damit, daß er es wegen Elke tun muß: „denn diese Haltung war er, war ein
Urabscheu in ihm, und er konnte sie erst recht nicht ändern, wenn er an Elkes
kurzen von Verbrechen und Krieg verstörten Lebensweg dachte” (2,262). Die
Aufrüstung zu verhindern ist für ihn nicht nur die politische Notwendigkeit;
dieses Motiv ist mit dem der Ermordung Wanowskis in der Phantasie gleichzusetzen, denn er fühlt sich für Elke verantwortlich, deren Leben der Krieg unmöglich machte.
Keetenheuve vernahm „wie Eiswind das Zerreißen der Seide, und dies war
der extreme Augenblick, [...] wo alles aufhörte, ein Weiter gab es nicht, und hier
war die Deutung, sieh!” (2,255). Den „extremen Blick” versteht Hielscher als
Moment der Erleuchtung, in dem Kassandra der Blick in die Zukunft zuteil
wird.180 Dieser kann auch als Hauch des Todes verstanden werden, – das Bild
der zerreißenden Seide weist darauf hin. Diesmal stirbt Keetenheuve noch nicht.
Man versteht aber diese Szene als Vorausdeutung des Todes durch einen Herzinfarkt, dennoch stirbt er am Ende des Romans nicht auf diese Weise.
b. Das Klima assoziiert Keetenheuve mit der Rosenzüchtung, die auch Hobby des Kanzlers ist und Wohlstand bedeutet. Geld und Wohlstand haben im
Werk eine negative Konnotation: So nehmen die die Konfliktfigur interpretierenden Gestalten in der ersten Vorgeschichte an Kämpfen teil, in denen die
Macht und das Geld eine Rolle spielen. Obwohl „Fremdenlockbetriebe” das
Land „die rheinische Riviera” nennen, stimmt diese Luft Keetenheuve „traurig”
(2,251). Im Zusammenhang mit sich kann Keetenheuve wieder nur ein negatives Zukunftsbild entwerfen: Er wird nie zu den Rosenzüchtern gehören. Die
Pflanzen haben sprechende Namen: Die führenden Politiker züchten Edelrosen,
die Nobiles, die Rosa indica. Für die Politiker ist diese künstliche Welt eine, in
der sie sich wohl fühlen. Dagegen sieht Keetenheuve überall häßliche und aggressive Pflanzen, deren Namen der politisch-gesellschaftlichen Atmosphäre
180
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 109.
131
des Landes entsprechen: Wundrose, Erysipelas traumaticum, gierige fleischfressende Floren. Erysipelas traumaticum ist dabei höchstwahrscheinlich ein fingierter Pflanzenname, denn es gibt nur die Wundrose, den sogenannten Erysipel.
Erysipel bedeutet aber auch eine schwere infektiöse Entzündung der Haut und
des Unterhautzellgewebes. Diese Üppigkeit ist demnach mit Geilheit und
Krankheit verbunden. In der Treibhauswelt ist alles „alt” und „morsch” und
krank, es wird auch eine zweite Krankheit genannt: Elephantiasis arabum. Elephantiasis bezeichnet die krankhafte Verdickung der Haut und kann zu außerordentlicher Unförmigkeit von Gliedmaßen und Geschlechtsteilen führen. Die
Schornsteine und der Wohlstand zusammen erwähnt erinnern an das Anfangsbild: „Alberich und die Schlote des Reviers”. Die Schilderung der TreibhausAtmosphäre wiederholt also die Aussage der Nibelungen-Assoziation des Romananfangs.
c. Die Treibhaus-Allegorie wird schließlich auf das ganze Land ausgebreitet:
„Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus” (2,251). Das Bonner Klima ist Deutschlands Klima, denn es gibt keinen Widerstand von außen. Das
Bild des Treibhauses illustriert die scheinheilige Moral der Bundesrepublik.
Diese Überzeugung wird in einer drastischen Vision gestaltet, deren Grundlage
die wortspielerische Identifikation von „Treibhaus” und „öffentliches Haus”
bildet. Die Bundesrepublik wird zu einem Bordell stilisiert, dessen Klima nur
ungezügelten und kraftlosen Wuchs ermöglicht. Das Bild des Bordells wird an
der schon zitierten Stelle (S. 251 f. im Roman) entfaltet.181
Der Anfangszustand der zweiten Vorgeschichte – T (Fa, Fb1)= T (Fa, Fb2,) –
ist dadurch gekennzeichnet, daß Keetenheuve seine Traumata in der Vergangenheit nicht bewältigen kann. Er kann Elkes Tod nicht aufarbeiten, in seinen
Gedanken ist sie immer anwesend; außerdem kann er seine Furcht vor Waffen
und Aufrüstung auch nicht ignorieren, denn er kann keine Kompromisse eingehen. Die Konfliktfiguren verhindern das dauerhafte Zusammenleben der Figur
Fa mit den Fb-Figuren in dem Sinne, daß sie ihn indirekt dazu zwingen, sich an
hoffnungslosen politischen Kämpfen zu beteiligen, was zur Auflösung seiner
Persönlichkeit führt.
181
Vgl. Sabine Doering: Schreckenskammer und Puppenstube. Wohn- und Lebensräume in
Wolfgang Koeppens Das Treibhaus. In: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang KoeppenGesellschaft: München 2001, S. 45-64. Hier: S. 28.
132
2.2.2. Die Konfliktfiguren in der zweiten Vorgeschichte
In verschiedenen Analysen wird die Bonner Welt des Romans mit der damaligen deutschen Wirklichkeit gleichgesetzt. Viele Kritiker der 50er Jahre haben
dabei den Roman als Schlüsselroman verstanden: Nach ihnen wird Kanzler
Adenauer durch den Kanzler des Romans, Schuhmacher durch Knurrewahn und
Carlo Schmied, der auch Bundestagsabgeordneter war und Baudelaire übersetzte, durch Keetenheuve repräsentiert. Der Roman galt in den fünfziger Jahren als
echter Skandal. Ein Teil der Fachliteratur beschäftigte sich später mit den Parallelen zwischen der Romanwelt und der westdeutschen Wirklichkeit. Die Fraktionsvorsitzenden und die Parteien des Romans werden in der Fachliteratur ausführlich beschrieben und mit den damaligen Parteien verglichen. Ich möchte sie
nur in der Hinsicht vorstellen, daß sie in verschiedenem Maße, aber alle gegen
Keetenheuves bedingungslosen Pazifismus sind, und so die Konfliktfigur Fc2
interpretieren.
2.2.2.1. Korodin
Am Anfang des zweiten Kapitels wird Korodin vorgestellt, wobei die Frage
nach dem Nutzen der Gewalt thematisiert wird: „Und ein Schwert, was nützt es?
Man kann mit ihm fuchteln, man kann mit ihm töten, und man kann durch das
Schwert umkommen. Aber was ist gewonnen? Nichts.” (2,257) Götze meint,
daß sich hier der Standpunkt des radikalen Pazifismus andeute, im Anklang an
die Worte Christi bei seiner Verhaftung auf dem Berg Gethsemane zu Petrus,
der ihn mit seiner Waffe verteidigen wollte: „denn wer das Schwert nimmt, der
soll durchs Schwert umkommen” (Matthäus 26,52).182
Keetenheuve trifft Korodin, den Abgeordneten der christlich orientierten
Partei, auf dem Bonner Münsterplatz. Korodin fährt zwar mit dem Bus, seine
Bürgernähe ist aber nicht echt, denn seine Kinder werden von einem Chauffeur
im Wagen zur Schule gebracht und „es ekelte ihn auch (ein sündiger Gedanke)
vor diesen hastenden, um ihr Brot kämpfenden Menschen” (2,258). Korodin
will das Gräberfeld riskieren, um alle Errungenschaften der westlichen Demokratie und des Wohlstandes bewahren zu können. Deshalb fordert er Keeten182
Karl-Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 22.
133
heuve auf, die Aufrüstungspolitik zu unterstützen. Korodin und Keetenheuve
fahren gemeinsam ins Parlament vorbei an der Kanzlervilla und der Rückseite
des Präsidentensitzes. Wie im ersten Kapitel ist es auch hier bezeichnend, daß
sich die Bildelemente der Treibhaus-Allegorie in der Nähe des Wohnortes der
hohen Regierungsbeamten häufen: „Es roch intensiv nach Feuchtigkeit, Erde
und Blüten, dabei wurde es immer wärmer, man schwizte, das Hemd klebte am
Leib, und wieder hatte Keetenheuve die Vorstellung, sich in einem großen
Treibhaus zu befinden” (2,264).
2.2.2.2. Frost-Forestier
Frost-Forestier ist eine Gestalt der wieder erstarkenden Kräfte. Als ehemaliger General im OKH (Oberkommando des Heeres) vertritt er die Vergangenheit: „Frost-Forestier erinnerte sich gern seiner Tätigkeit im OKH. Er liebte
Soldatenausdrücke” (2,244). Jetzt ist er Geheimdienstchef und ein Mann, der
über alles Bescheid weiß; er ist außerdem ein Technokrat, der auf Funktionieren
programmiert ist, träumt nicht, hat keine Angst und keine Furcht. Die Vorhänge
in seinem Zimmer sind generalsrot; diese Farbe erinnert an die Anfangsszene,
an die Vorhänge im Kurswagen Rom-München. Auch verkörpert er eine technische Perfektion, was Keetenheuve unsympatisch ist:
[...] und was sich im Saal ereignete, war der Arbeitsbeginn in einer Fabrik, die Ankurbelung eines Fließbandes, ein Ablauf ausgeklügelter wohlberechneter Bewegungen, rationell und präzise, und Forst-Forestier war
das Werk, das in Gang gesetzt wurde. Er eiferte den elektronischen Gehirnen nach. (2,242)
Frost-Forestier residiert in einer ehemaligen Kaserne. In diesem Militärgebäude, das mit technischen Geräten ausgestattet ist, werden die Mitarbeiter mit
geschmackloser Nahrung versorgt: „Fast scheint es, als habe Koeppen hier auf
spätere moderne Entwicklungen der industriellen Massenproduktion von Nahrungsmitteln vorausgedeutet.”183
183
Sabine Doering: Schreckenskammer und Puppenstube, a. a. O., S. 31.
134
2.2.2.3. Musäus
Am Fenster seines Büros im Parlamentsgebäude stehend denkt sich Keetenheuve einen Mann aus, der Musäus heißt. Der Name Musäus ist aus der deutschen Literatur bekannt. Johann Karl August Musäus hat im 18. Jahrhundert
gelebt. Noch vor den Brüdern Grimm hat er die Volksmärchen der Deutschen
herausgegeben. Götze sieht in der Geschichte von Musäus die Geschichte des
deutschen Liberalismus: Frisör und Butler des Staatsoberhauptes, hatte auch den
jungen Fürsten rasiert, mit dem er über die Not des Volkes sprechen konnte. Im
18. Jahrhundert gab es noch eine solche Hoffnung, den Fürsten zu erziehen, im
20. Jahrhundert hat Musäus nur noch die Aufgabe der Bartputzerei. Auch Hindenburg hatte er rasiert; Hitler mußte ohne seine Dienste auskommen. Im Roman verschmilzt seine Gestalt mit der Figur des Präsidenten: „Musäus sah dem
Präsidenten ähnlich. Er war so alt wie der Präsident, er sah so aus wie der Präsident, und er hielt sich für den Präsidenten.” (2,321)
2.2.2.4. Knurrewahn
Knurrewahn ist Keetenheuves Fraktionsvorsitzender und damit der Führer
der großen Oppositionspartei. Wie auch Quack bemerkt, trägt diese Partei einige
Züge der SPD. Knurrewahns Partei vergißt 1914 ihr früheres Ideal der Internationalität; die Partei leidet nun am „nationalen Herzleiden”, das in Knurrewahns
Herzsteckschuß symbolisiert ist. Zur Zeit der NS-Diktatur wird die Partei verfolgt und ihr Vorsitzender in ein KZ geschleppt. Nach dem Krieg vertritt sie
schließlich eine Politik, die den nationalen Emotionen des Volkes besser entspricht: Sie wollen die Einheit Deutschlands. Die „große Oppositionspartei”
lehnt dabei die Wiederbewaffnung nicht total ab, ihre Bedingung aber ist, daß
die Bundesrepublik ein gleichberechtigtes Mitglied im Bündnis der Westmächte
sein müsse. Die Einrichtung von Knurrewahns Büro zeugt davon, daß er „Vertreter einer blaßen, konsensfähigen Moderne”184 ist. Anpassung an den gemäßigt-modernen Zeitgeschmack dominiert in der Einrichtung.
Die Biedermänner mit den sprechenden Namen Heineweg (Heine weg!) und
Bierbohm sind Vertreter der Parteibürokratie. Sie sind nicht bereit, die alten
184
Ebd. S.30.
135
Vorstellungen und Werte zu stürzen; so bleibt die Politik der Partei eine Politik
der Beschwichtigung. In der Frage des Wohnungsbaus sind sich die verschiedenen politischen Gruppierungen weitgehend einig: Das Eigenheim im Grünen
organisiert die Gedanken. Keetenheuves Partei stellt sich vor, daß die Besitzer
des Schrebergartenglücks im Rundfunk Knurrewahns Stimme hören werden,
während Korodins Partei an die Stimme des Bischofs denkt. Keetenheuve vertritt die These, daß der Nazistil im Wiederaufbau fortgesetzt wird:
Und wenn man die Blaupausen betrachtete, es war der Nazistil, in dem
weitergebaut wurde, und wenn man die Namen der Baumeister las, es
waren die Nazibaumeister, die weiterbauten, und Heineweg und Bierbohm
hießen den braunen Stil gut und fanden die Architekten in Ordnung.
(2,316)
Keetenheuvee ist der Überzeugung, daß die beiden großen Parteien in Programmatik und Praxis weitgehend identisch sind. Seine Visionen leiten sich ab
aus der Kritik am sozialen Wohnungsbau als „Beschwichtigungsbau”, dem er
die Vorstellung einer Wohnmaschine (Le Corbusier nachempfunden) entgegenstellt. Keetenheuve äußert deutliche Kritik an der Mißachtung der individuellen
Wohnungsbedürfnisse, denn die neuen Wohnungen erlauben keine Rückzugsmöglichkeit. Der neue Wohnungsbau verletzt die private Sphäre des Menschen,
weswegen ein zufriedenstellendes Privatleben nicht möglich ist. Keetenheuves
Vorschlag bezieht sich auf den mit höchstem Komfort ausgestatteten Riesenbau,
der dem verzweifelten und einsamen Menschen bequemes Wohnen möglich
macht:
Und so wollte Keetenheuve den Arbeitern neue Häuser bauen, CorbusierHausungs-Maschinen, Wohnburgen der technischen Zeit, eine ganze Stadt
in einem einzigen Riesenhaus mit künstlichen Höhengärten, künstlichem
Klima, er sah die Möglichkeit, den Menschen vor Hitze und Kälte zu
schützen, ihn von Staub und Schmutz zu befreien, von der Hausarbeit,
vom Hauszank und allem Wohnungslärm. (2,317)
Keetenheuve lehnt die aktuellen Tendenzen im Wohnungsbau ab, weil er in
ihnen die Fortsetzung der nationalsozialistischen Wohnungspolitik sieht. Den
traditionellen Vorstellungen setzt Keetenheuve seinen Traum einer modernen
Großstadt gegenüber. In dieser würden die Bewohner in großzügigen Monu136
mentalbauten untergebracht.185 Keetenheuve scheint die funktionelle Architektur der Moderne zu kennen, aber er weiß auch, daß er seine Pläne nicht durchsetzen kann.
Im fünften Kapitel werden Keetenheuves weitere politische Gegner vorgestellt. Nebenan wohnt Frau Pierhelm, die ihre eigene auf das Tonband gesprochene Rede zum Thema „Wir Hausfrauen und der Sicherheitspakt” (2,355)
hört. Die Parlamentarier haben dabei keine individuellen Eigenschaften, sie
verkörpern ihre Rolle. Der christdemokratische Sedesaum „hüpfte aufs Pult, er
war kaum zu sehen: Christ und Vaterland, Christ und Vaterland, Christ und
Vaterland”. Der Neonazi Dörflich hat sich korrumpiert und wurde deshalb aus
seiner Fraktion ausgeschlossen. Im Parlament eröffnet er ein Milchgeschäft und
Keetenheuve denkt über ihn: „[…] vielleicht sehen wir uns im Vierten Reich
wieder, Dörflichs Ministersessel steht schon zwischen den Milchkannen verborgen, und mein Todesurteil ist geschrieben.” (2,357) Keetenheuve nennt ihn
einen nach altem Nazismus riechenden und neuem Nazitum zustrebenden Verbündeten.
Im Roman werden viele Tiermetaphern gebraucht, da der Roman auch als
eine satirische Darstellung der frühen Nachkriegszeit aufgefasst werden kann.
Die politische Tier-Metaphorik wiederholt die Kritik an den „Tapferen” in Tauben im Gras:
[...] da fühlte sich Keetenheuve wieder berufen, ihnen entgegenzutreten
und ihnen, die wieder Leithammel ins Schlachthaus sein wollten, Bremsen
ins Fell zu setzen. Aber der Leithammel, drum ist er’s ja, geht unbeirrt
seines Weges, und die Herde, es ist ja ihr Wesen, folgt, von jedem Warnruf nur noch zusätzlich erschreckt, ängstlich dem Vortier ins Unglück. Der
Hirte aber hat seine eigenen Gedanken über die Bestimmung der Schafe.
Er verläßt unabgestochen das Schlachthaus und schreibt fern von der
185
Le Corbusier hatte seine Vorstellung der „Funktionellen Stadt” in den zwanziger Jahren
entworfen. Der französisch-schweizerische Architekt fand neue Formen des Stahlbetonbaus,
dessen auf wenige Stützen beschränktes System tragende Wände entbehrlich machte und somit
die Möglichkeit zu völlig neuen Grundrißlösungen der Abhebung des 1. Geschosses vom
Erdboden bot. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten seine Bauten skulpturale Formen. In
seinem Spätwerk sind Elemente des Brutalismus zu entdecken. Dieser bedeutet eine
Bauauffassung, die den Baustoff in seiner Ursprünglichkeit und Rohheit betont und die
Installation sichtbar läßt.
137
Blutstätte die "Erinnerungen eines Schäfers", anderen Hirten zu Nutz und
Frommen (2,359).
Der Kanzler gehört auch in den Kreis der Gegner des Pazifismus, er wird im
Abschnitt über die Parlamentssitzung charakterisiert.
2.2.3. Keetenheuve, der Pazifist
Am Ausgang des Pressehauses trifft Keetenheuve Dana aus der Presseagentur. Dieser unterstützt Keetenheuve bei seiner Absicht, im Parlament gegen die
Wiederaufrüstung zu sprechen, und er gibt Keetenheuve einen Text des Nachrichtendienstes. Es ist eine Nachricht aus dem Conseil Supérieur des Forces
Armées, in dem sich ein Interview der englischen und französischen Generäle
befindet. Sie verbinden Deutschlands Aufrüstung mit der Festschreibung der
deutschen Teilung. Dana und Keetenheuve vermuten, daß dieses Interview im
Parlament wie eine Bombe platzen würde. Keetenheuve will mit diesem Dokument beweisen, daß die Entscheidung für die Aufrüstung eine Entscheidung
gegen die deutsche Einheit ist.
Das dritte Kapitel ist der Gegenwartshandlung gewidmet. Keetenheuve bereitet sich auf die Parlamentssitzung vor; Elke ist nur als Photo anwesend, sieht
aber aus wie ein Schatten auf einer Kinoleinwand, der zu ihm redet: „Da hast du
deine Politik und deine Händel, und von mir bist du befreit!” (2,283) Die Racheund Aggressionsphantasien im Zusammenhang mit Elke hören nun auf, Keetenheuve will aber die Erinnerung an Elke mit der Übersetzung eines BaudelaireGedichtes186 wachhalten:
186
Charles Baudelaire: Das schöne Schiff
Erzählen will ich dir, o weiche Zauberin! die mancherlei
Reize, die deine Jugend schmücken; deine Schönheit will
ich dir malen, wo Kindhaftigkeit und Reife sich verbünden.
Wenn du, die Luft mit deinem weiten Rocke fegend, einhergehst, gleichst du einem schönen Schiff, das auf das
Meer hinausfährt, mit allen Segeln, und schaukelnd gleitet, sanft gewiegt, und träg und langsam.
138
Er nahm ein Blatt seines MdB-Papiers und schrieb "Le beau navire", "Das
schöne Schiff", auf die Seite, denn an dieses herrliche Gedicht des
Frauenlobs hatte ihn nun Elke erinnert, so wollte sie in seinem Gedächtnis
leben, und er versuchte, die ewigen Verse Baudelaires aus der Erinnerung
zu übersetzen, [...] die Liebe war groß und die Trauer tief, aber mit
schwang ein Unterton aus Eitelkeit und Selbstmitleid und der Verdacht,
daß er in der Poesie wie in der Liebe dilettiere. (2,284)
In der Fachliteratur wird das Baudelaire-Zitat im Roman in verschiedenen
Kontexten kommentiert: So versteht Hielscher Baudelaire als Gegenfigur zu
Cummings. Koeppen verwende Baudelaire „als Anspielung auf die heroischpoetische Verklärung von Deformationen, als hochmütiges Bekenntnis zur eigenen gesellschaftlichen ‘impuissance’, schließlich als Verklärung der Melancholie.”187 Keetenheuves Übersetzertätigkeit demonstriere den schnellen Übergang von der Schreibarbeit zur Pose der Schreibarbeit; außerdem bleibe Keetenheuve bereits im ersten Vers stecken, anstelle des „Entzückens” benutzt er
den Ausdruck „mein entzücktes Wort”.
Götze dagegen sieht in der Übersetzung des Gedichtes ein weiteres Beispiel
für den Beweis von Keetenheuves „Knabenlüsternheit”. Dies spiegele sich in
der Einblendung der beiden Mädchen und im beobachteten Verhältnis eines
Priesters zu einem kleinen Mädchen wider. Das Gedicht Das schöne Schiff
stammt aus dem Spleen et Idéal überschriebenen Teil der Blumen des Bösen.
Baudelaire wollte sein Buch ursprünglich unter dem Titel Die Lesbierinnen
erscheinen lassen. Nach Götze transponiert das Zitat den Gedanken an Keetenheuves Melancholie und an die lesbische Liebe.188
Josef Quack urteilt über das Baudelaire-Zitat:
Auch ist es kein Zufall, daß Keetenheuve gerade das Gedicht "Le beau
navire" ausgewählt hat, um dem Andenken seiner Frau zu huldigen. Die
Schiffsmetaphorik zeigt an, daß er ein weiteres Mal den Gegensatz von
privater Existenz und gesellschaftlicher Sphäre pointiert zur Sprache
bringt; sonst spricht er gelegentlich vom „Presseschiff” und „Bundesschiff” (2,268; 2,378). Am Ende gibt er der persönlichen Sphäre den VorCharles Baudelaire: Les Fleurs du mal, Die Blumen des Bösen.
Aus dem Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Hamburg 1962, S. 91 f.
187
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 123.
188
Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 40.
139
zug, und er sieht den entscheidenden Fehler seines Lebens darin, sie
zugunsten der politischen Aufgabe vernachlässigt zu haben. 189
Gegen Quacks Meinung muß ich einwenden, daß die Schiffsmetaphorik
nicht unbedingt auf den Gegensatz von privater Existenz und gesellschaftlicher
Sphäre hinweist. Im Gegenteil, sie könnte vielmehr die Zusammenhänge der
beiden Sphären zeigen. Im übertragenen Sinn kann Elke die betrogene deutsche
Jugend bzw. Deutschlands Schicksal bedeuten. Die Schiffsallegorie gilt ebenfalls für Deutschland: Die Bundesrepublik ist ein Schiff (sonst Topos in der
Literatur), das im Sturm ein sicheres Ufer sucht.190 Die ersten Strophen des
Baudelaire-Gedichtes vergleichen das Mädchen mit einem schönen Schiff. Dieser Schiffsvergleich kann auf die Identität Deutschlands und des Mädchens im
übertragenen Sinne hindeuten, hier werden also private und gesellschaftliche
Sphäre in Einheit gezeigt.
2.2.4. Guatemala – Chance oder Flucht für Keetenheuve?
Der Geheimdienstchef Frost-Forestier lädt Keetenheuve zum Mittagessen
ein. Er macht Keetenheuve ein Angebot: wenn er seine Parlamentsrede gegen
die Aufrüstung nicht halte, könne er Botschafter in Guatemala werden: „Ein
Experiment. Sie wären der Mann, die Entwicklung für uns zu beobachten und
die Beziehungen zu pflegen.” (2,298) Es ist eindeutig, daß Frost-Forestier Keetenheuve nur ausschalten will, denn obwohl der Abgeordnete die Entscheidung
des Kanzlers nicht verändern kann, will er sichergehen. Es wird Keetenheuves
zukunftsorientierte Imagination beschrieben, in der er die Rolle des deutschen
Gesandten in Guatemala spielt:
Es war die letzte Flucht. Sie waren nicht dumm. Aber vielleicht war es
auch die Freiheit; und er wußte, daß es die Pensionierung war. Keetenheuve Staatspensionist. Er sah sich in Guatemala-City von der
189
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 176 f.
Vgl.: „Das Bundesschiff mit dem Präsidenten trieb im matten warmen Wind auf trägen
Wellen dahin, aber gefährliche Riffe lagen tückisch unter der sanften Strömung verborgen, und
dann wurde der Fluß urplötzlich reißend, zerreißend, Schiffbruch drohte, Zerschellen im
Dröhnen eines Falls.“ (2,378)
Weitere Beispiele für die Schiffs-Allegorie: 2,288a,b.
190
140
säulengeschmückten Veranda eines spanischen Hauses die unter der
Sonne glühende staubige Straße, die staubbedeckten Palmen, die
staubschweren verdorrten Kakteen beobachten. Wo die Straße sich zum
Platz weitete, dämpfte der Staub in der Anlage die obszönen Farben der
Kaffeeblüten, und das Denkmal des großen Guatemaltheken schien in der
Hitze zu schmelzen. [...] Es stank nach Benzin und nach Verwesung, und
hin und wieder peitschte ein Schuß. Vielleicht war es die Rettung,
vielleicht war es die Chance, alt zu werden. (2,298)
Dieses Angebot ist eine Verlockung für Keetenheuve, denn der Botschafterposten würde ihm eine gewisse Freiheit erlauben. Auch ist Guatemala nicht ein
Land, in dem das Schicksal der Welt entschieden wird, er könnte deshalb dort
ruhig leben. Keetenheuve sieht aber klar, daß sein Leben dort kein echtes, sondern nur ein Ersatzleben wäre. Ihm ist bewußt, daß es eine Flucht wäre, wenn er
den Botschafterposten annehmen würde. Das Schuldgefühl quält ihn schon
wegen seiner Emigration im Jahre 1933 und aufgrund seines Scheiterns in Zusammenhang mit Elkes Tod. Wie alle seine Gedanken, die sich auf die Zukunft
beziehen, werden auch diese von den Attributen des Todes beherrscht. Aus der
politischen Tätigkeit würde in Guatemala das Berichte-Schreiben, aus dem privaten Leben würden die Gespräche mit der toten Frau in Gewitter-nächten. Die
Beschäftigung mit der Poesie würde bedeuten, daß er die Über-setzung des
„Beau navire” vollenden würde. Er stellt sich auch seinen Tod vor: „Exzellenz
Keetenheuve der Deutsche Gesandte sanft entschlafen.” (2,299) Die GuatemalaVorstellung trägt Züge der Treibhauswelt in einer anderen Form: Die Bonner
Treibhauswelt ist eine Welt mit viel Regen, grünem Gras und blühenden Blumen. In Guatemala dagegen beherrschen Sonne, Hitze, Staub und Verwesung
alles. Die Pflanzen vegetieren in einer todesnahen Staubwelt, wo alles durch
Austrocknung bedroht ist. Es würde Keetenheuve deshalb nicht gelingen, das
Treibhaus zu verlassen. Die Überreife, die Verwesung und die Hitze sind in der
Guatemala-Welt noch bedrohlicher und unerträglicher als in Bonn.
In Zusammenhang mit dem Treibhaus werden oft die Verwesung und die
ekelhaften Erscheinungen in Keetenheuves Umgebung erwähnt: Ironisch vergleicht Keetenheuve die Kantine des amerikanischen Hochkommissariats mit
einem „Kellercafé im verzweifelten Paris” (2,307). Mit den Sätzen: „[…] sie
kratzten an der Existenz. Existierten sie? Sie schienen es zu meinen, weil sie
Kaffee tranken, rauchten und sich gedanklich oder tatsächlich aneinander rie141
ben” (2,307) wird nach Quack auf eine Romansequenz von Sartre angespielt.191
Ekel drückt nicht nur eine sinnlich empfundene, durch Geruch vermittelte Abscheu aus, der Begriff wird vielmehr mit Zweifel und Unwirklichkeit verbunden. Keetenheuve teilt die Vorstellung der Absurdität der menschlichen Existenz: „[…] und dann erkannte er, daß ihre schönen Gesichter gezeichnet waren,
gezeichnet von Leere, gezeichnet von bloßem Dasein.” (2,308) Keetenheuve hat
auch existentialistische Gedanken: Er schreibt der Stadt, dem Rhein, dem Land
Zeichen der Öde zu. Für ihn stellt die Öde das Nichts, die Unendlichkeit oder
die Ewigkeit dar. Dem Gedankengut des Existentialismus entsprechend erwähnt
er auch den einzelnen, der nicht ohne Verantwortung ist, sondern für seine Taten die Verantwortung tragen muß. Da Keetenheuve von Traurigkeit erfüllt ist,
gibt es für ihn keine Hoffnung mehr:
Das Nichts war die wirkliche Ewigkeit. Und Keetenheuve empfand
zugleich sehr deutlich sein Sein, er war da, er war etwas, er wußte es, er
war vom Nichts umlagert und durchdrungen, und doch war er ein Teil für
sich, ein Ich, allein und einsam gegen die Öde gestellt, und hierin war ein
wenig Hoffnung, eine winzige Chance für David gegen Goliath – aber
David war nicht traurig. Keetenheuve war von Traurigkeit erfüllt. (2,310)
Beschreibungen der Verwesung finden wir sehr oft im Roman; sie hängen
manchmal mit der Treibhaus-Metaphorik zusammen: „Schließlich denkt Keetenheuve auch das Absurditätsmotiv – die Unwirklichkeit der Existenz mit der
politischen Treibhaus-Metaphorik zusammen, um die Korrespondenz der beiden
Sphären ein weiteres Mal zu unterstreichen.”192
Die Pfadfinder existierten. Die Liebe existierte. Die Pfadfinder und die
Liebe existierten an diesem Abend. Sie existierten in dieser Luft. Sie existierten am Ufer des Rheins. Aber sie waren völlig unwirklich! Es war
hier alles so unwirklich wie die Blumen in einem Treibhaus. Selbst der
matte und heiße Wind war unwirklich. (2,381)
191
Quack analysiert in seinem Buch das existentielle Thema im Roman in einem
selbständigen Kapitel. Er ist der Meinung, daß Koeppen die Kennworte des existentiellen
Diskurses übernommen hat. Er hat sich sogar ihren spezifischen Sinn zu eigen gemacht, um sie
auf seine Art souverän zu verwenden.
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit, a. a. O., S. 169-187.
192
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 181.
142
Keetenheuve trifft die Pfadfinder während seines Spazierganges nach der
Parlamentssitzung. Keetenheuves Welt nimmt immer wieder neue Züge an: In
der ersten Vorgeschichte empfindet er die Welt nicht als eine Treibhauswelt; mit
der Ankunft in Bonn entwickelt sich aber sein Gefühl, daß die Bonner Welt eine
Treibhaus-Welt ist. Später wird Keetenheuve selbst als ein Teil, als leidendes
Element dieser Treibhaus-Welt dargestellt:
Bleich wie ein Verdammter saß Keetenheuve im Bundeshaus, bleiche
Blitze geisterten vor dem Fenster und über dem Rhein, Wolken geladen
mit Elektrizität, beladen mit dem Auspuff der Essen des Industriegebietes,
dampfende trächtige Schleier, gasig, giftig, schwefelfarben, die unheimliche ungezähmte Natur zog sturmbereit über Dach und Wände des Treibhauses und pfiff Verachtung und Hohn dem Mimosengewächs, dem trauernden Mann, dem Baudelaireübersetzer und Abgeordneten im Neonbad
hinter dem Glas des Fensters. (2,284 f.)
Dieses Zitat zeugt davon, daß zwischen den Essen und dem Treibhausklima
ein Ursache-Wirkung-Verhältnis besteht. Es gibt also eine indirekte Verbindung
zwischen dem Krieg, der um Bodenschätze, Kohle, Stahl und Öl (Gold) geführt
wird, und dem Treibhausklima, das für das Nicht-Wohlbefinden Keetenheuves
verantwortlich ist. In einem nächsten Schritt verwandelt sich seine Umwelt, die
Stadt und der Rhein, usw. in eine öde, unwirkliche, absurde Welt. Zum Schluß
wird selbst die Treibhauswelt absurd und unwirklich.
Der Geruch der Verwesung findet sich im Alltag der Figuren; so zum Beispiel in der Ausschußsitzung oder auf dem Markt. Das Geld der Stinkreichen
stinkt für Keetenheuve ebenfalls. Auch der Milchladen Dörflichs ist eine Quelle
des Gestanks. Die Idiosynkrasie gegenüber dem Schweiß kommt mehrmals vor:
Alle schwitzen – die Politiker, die Journalisten, Keetenheuve. Götze erwähnt
weitere Idiosynkrasien: die Idiosynkrasien des Tast- und Geschmackssinns, die
Beleidigung des Auges. Bekannt ist auch die Aversion der Personen gegen
Lautsprecher. Außerdem ist die Gesellschaft schmierig von Fett; Fett ist ekelhaft
und wird oft mit dem Geld in Zusammenhang gebracht.193
193
Vgl. Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 88.
143
2.2.5. Die Rheinterrassen-Szene
Im „Zwischenspiel” auf der Rheinterrasse wird Keetenheuve mit seinen eigenen Möglichkeiten, Wünschen und Eigenschaften konfrontiert. Für seine
Wahlmöglichkeiten stehen die Gesprächspartner – verschiedene historische
Gestalten – Hitler, Chamberlain und Stendhal. Bilder und Metaphern des Todes
begleiten dabei Keetenheuve von Anfang an; so sehen die Regierungswagen
„wie amtliche schwarze Särge aus” (2,293) und erinnern an den schwarzen Cadillac, mit dem Edwin in Tauben im Gras fährt. Nach Guatemala würde man
Keetenheuve einen solchen schwarzen Regierungswagen mitgeben. Außerdem
tragen die ihn im Restaurant bedienenden Keller schwarze Fräcke; sie ähneln
Friedhofswärtern: „Vier Kellner näherten sich leise; Todesboten, feierlich in
Fräcken, eine erste Aufwartung, eine Offerte?” (2,300).
Wenn schließlich von „der großen diplomatischen Blamage” in Godesberg
die Rede ist, meint Koeppen das Treffen Hitlers mit Chamberlain, und wenn
Beck und Halder erwähnt werden, dann erinnert es an die Widerstandsgruppen
der Hitler-Zeit (2,300, 304).194 Die Szene auf der Rheinterrasse folgt nach dem
Gespräch mit Frost-Forestier. Die dramatisierte Imaginationsszene mit mehreren
Rollen taucht wieder in einer Entscheidungssituation auf und spiegelt dort Keetenheuves Seelenkonflikt wider: Keetenheuve muß sich nun entscheiden, ob er
den angebotenen Botschafterposten in Guatemala annimmt oder nicht.
Die einzelnen Rollen stehen für die verschiedenen Wahlmöglichkeiten Keetenheuves: So war Stendhal Konsul, und Keetenheuve denkt über einen diplomatischen Posten nach. Außerdem hat Stendhal Napoleon verherrlicht. Der
Stendhal der Rheinterrassen-Szene lobt Hitlers Greueltaten, indem er eine Lobrede auf den Diktator hält. Für einige Zeit hat Stendhal so gelebt, wie sich Keetenheuve sein Leben in Guatemala vorstellt: Er war in Civitavecchia, verbrachte
sein Leben mit langweiligen Dienstpflichten, beobachtete das politische Leben
und schrieb darüber Berichte, was auch Keetenheuve machen müßte, wenn er
den Posten akzeptieren würde. So steht Stendhal für die Möglichkeit und den
Wunsch nach Flucht, also für Guatemala. Chamberlain ist durch seine Parole
„Peace in our Time” (2,307) die Personifikation der Wünsche von Keetenheuve.
Er stellt aber keine wahre Alternative für Keetenheueve dar, denn er hatte die
Tschechoslowakei freigegeben, und die englische Regierung hatte die zum
194
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 150.
144
Putsch bereiten Wehrmachtsoffiziere nicht unterstützt. Hitler wiederum steht für
Keetenheuves Lust, das Volk zu führen. All diese dargestellten Möglichkeiten
bedeuten aber keine wirkliche Alternative für Keetenheuve zu seinem derzeitigen Leben.
Keetenheuve nimmt an diesem Gespräch durchaus teil. Auf Stendhals Aussage „Aber Narvik, die Cyrenaika, der Atlantik, die Wolga, alle Richtstätten, die
Gefangenenlager im Kaukasus und die Gefangenenlager in Iowa. Wer schreibt
das? Die Wahrheit interessiert, nichts als die Wahrheit.” (2,302) antwortet Keeteenheuve: „Es gibt hier überhaupt keine Wahrheit. Nur Knäuel von Lügen”.
Wegen dieser Antwort nennt ihn Stendhal „einen impotenten Gnostiker”
(2,302). Klaus Schuhmacher analysiert in seiner Untersuchung195 gnostische
Denkmuster. Den Begriff Gnostiker definiert er folgendermaßen: „Der Gnostiker, wie alle anderen in der Welt, will nicht von dieser Welt sein. In diese Welt
ist er ohne seinen Willen geworfen.”196 Die Grundverfassung des Gnostikers sei
das Fremdheitsgefühl; diese Welt sei sein Exil, nicht seine Heimat. Die Welt sei
dabei ein Geheimnis, der Körper ebenso, so Schuhmacher. Als einer der bedeutendsten gnostisch inspirierten Dichter des 20. Jahrhunderts darf nach Schuhmacher Gottfried Benn gelten. Die zukünftigen Typen sind für ihn der Mönch und
der Verbrecher. Der Typus des Mönchs erlebte überhaupt in der Nachkriegszeit
eine Renaissance: Das Kloster als Gehäuse einer Lebensform wird nicht nur bei
katholischen Autoren beschworen. So kehrt Keetenheuve zurück in die Ausschußarbeit, denn er will „das profane Kloster bauen, die Eremitenzellen für den
Massenmenschen” (2,318). Er schwärmt von der Würde des Einsamen, des
Verzweifelten. Schuhmacher ist hier der Meinung, daß Koeppen in Keetenheuve die Tragödie des modernen Gnostikers gestalte.
195
Klaus Schuhmacher: „Impotente Gnostiker“? Ästhetische Gegenreiche zu Politik und
Geschichte in Romanen von Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch. In: Jürgen Wertheimer
(Hg.): Von Poesie und Politik. Zur Geschichte einer dubiosen Beziehung. Tübingen 1994, S.
240-261.
196
Ebd. S. 244
145
2.2.6. Zu Z5 = V (Fa, Fb2, Fc2)
Lena interpretiert die Figur Fb2 in der zweiten Vorgeschichte. Das Treffen
mit ihr ist in Keetenheuves Leben nicht so wichtig wie das mit Elke. Es ist nur
eine kurze Bekanntschaft, während der sich Keetenheuve in Gedanken nie von
Elke trennt.
Nach dem Essen in einem vornehmen Lokal geht Keetenheuve in eine Kneipe, in der sich Heilsarmeemädchen aufhalten. Sie sind Soldaten des Herrn: Die
eine junge Frau, Gerda, ist uniformiert, trägt ein blaurotes Kleid und einen
Schutenhut. Das andere Mädchen, Lena, ist sechzehn Jahre alt (Elke war auch
sechzehn, als sie Keetenheuve kennenlernte); sie hat die Blätter des „Kriegsrufes” in der Hand. Gerda, etwa 25, sieht wie ein Knabe aus. Über sie denkt Keetenheuve: „Du bist eine kleine Lesbierin, du erinnerst mich, und du hast große
Angst, dir könnte etwas genommen werden, was du dir gestohlen hast”. (2,341)
Sie weckt in Keetenheuve Erinnerungen an die Freundinnen seiner Frau, also an
die lesbische Gesellschaft, die ihm seine Frau geraubt hatte. Gerdas Männerhaß
und Geschlechtsneid verbindet sie mit Wanowski: „Wie haßte sie [Gerda] die
Männer, die in ihrer Vorstellung durch das unverdiente Geschenk des Penis toll
gewordene Dummköpfe waren.” (2,345). Lena sucht ebenfalls ihr Paradies, „das
ihr als eine blanke Fabrik mit geölten Werkbänden und gutbezahlter Achtstundenarbeit vorschwebte” (2,346). Das Mädchen war mit großen Illusionen aus
der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Sie stammt aus Thüringen und
hatte Mechanikerin gelernt und mit ihren Eltern lange in Lagern gelebt. Lena
will ihre Lehre beenden, als Werkzeugmacher arbeiten, dann studieren und
Ingenieurin werden. Als armes Mädchen kann sie aber in der Bundesrepublik
nicht studieren. Jetzt ist sie auf der Flucht vor den gierigen, fetten Händen der
Fernfahrer und Handlungsreisenden. Keetenheuve verspricht Lena, mit Korodin
oder Knurrewahn zu sprechen, um für sie eine Stelle zu bekommen.
Das zweite Mal trifft sich Keetenheuve nach der Parlamentssitzung mit den
Heilsarmeemädchen. Er denkt über Gerda nach, die sowohl Züge Keetenheuves
als auch solche der lesbischen Gemeinschaft trägt. Es geht in dieser Szene um
Keetenheuves Rachegefühle – er will Elke rächen: „Du bist meine Schwester,
wir gehören beide zur selben armen Hundefamilie. Aber er haßte sein Spiegelbild, das närrische Spiegelspiel seiner Vereinsamung.” (2,384) Dieses zweite
Treffen mit den beiden Heilsarmeemädchen ist nicht leicht zu deuten, denn
Keetenheuves Gedankengang ist nicht mehr zusammenhängend. Es ist die letzte
146
halbe Stunde seines Lebens. Er schreibt die Briefe an Korodin und Knurrewahn,
bittet sie in Lenas Sache um Hilfe. Gleichzeitig denkt er über die Möglichkeit
einer gemeinsamen Zukunft mit Lena nach:
[...] er hätte sie gern mitgenommen, sie konnte bei ihm wohnen, sie sollte
bei ihm essen, sie mußte mit ihm schlafen, er hatte wieder Appetit auf
Menschenfleisch, Keetenheuve der alte Oger; vielleicht konnte er Lena
auf die Technische Hochschule schicken, sie würde ihre Examen machen,
Lena Doktor der Ingenieurwissenschaft – und was dann? Sollte er’s
wagen? Sollte er Kontakt suchen? Aber was tat man mit einem
akademisch gebildeten Brückenbauer? Schlief man mit ihm? Was empfand man, wenn man ihn umarmte? Die Liebe ist eine Formel. (2,385)
Keetenheuves Beziehung zu Lena ist die Wiederholung derer mit Elke: Beide kommen aus einer antidemokratischen Umgebung (faschistisches Elternhaus
bzw. DDR), sind ohne elterlichen Schutz, sechzehn Jahre alt, zufällig in die
Lesben-Szene geraten, brauchen Unterstützung, haben Hunger (oder keine Arbeit), und beide gefallen Keetenheuve. Er begegnet seiner späteren Frau auf
einem Trümmergrundstück, und inmitten der Trümmer eines zerbombten Hauses vollzieht er den Geschlechtsakt mit Lena. Zu den vorigen Motiven gesellt
sich aber nun das Motiv der Technikfurcht, und Keetenheuve zweifelt an der
Möglichkeit des Zusammenlebens mit dem Mädchen. Auch Philipp aus Tauben
im Gras hat Angst, vor dem Mikrophon zu sprechen, und Edwin kann seinen
Vortrag wegen technischer Schwierigkeiten kaum halten. Der Beruf des Mechanikers und des Ingenieurs bzw. Brückenbauers ist einer, der mit der Bedienung der Machthabenden verbunden ist, indem ein Ingenieur z.B. Aufträge der
Regierung und anderer ausführt, die an der Macht sind. Nicht umsonst wird die
Rolle der Technik im Leben und Funktionieren des Technokraten FrostForestier betont. Lenas mögliche Verbindung mit dem Machtapparat ist ein
Motiv, das auch für Elke gilt, indem sie sich nie von den Eltern befreien kann,
die an der Seite der Macht gestanden hatten.
147
2.2.7. Die Parlamentssitzung
Im vierten Kapitel wird der Tag vor der Abstimmung im Parlament beschrieben. Hier wird die Anspielung auf die Theseus-Sage wiederholt: „Keetenheuve dachte: das Labyrinth ist leer, der Stier des Minos wandelt verehrt unter
dem Volk, und ewig irrt Theseus durch die Gänge” (2,319). Nach der Niederlage im Parlament wird erneut auf die Theseus-Sage Bezug genommen: „Er wanderte wieder durch die Gänge des Bundeshauses, wieder über die Treppen der
Pädagogischen Akademie, wieder durch das Labyrinth, Theseus der den Minotaurus nicht erschlagen hat, […]” (2,375). Das Parlament steht für das Labyrinth, wo sich der Minotaurus befindet. Wenn also Keetenheuve Theseus ist, der
den Minotaurus nicht erschlagen hat, treten die Abgeordneten – und damit die
Kräfte der Aufrüstung – in der Rolle des Minotaurus auf. Ariadne wird nicht
erwähnt, sie ist tot, aber ohne Ariadne, und damit ohne Liebe kann Theseus
seine Aufgabe nie erfüllen. Anzumerken ist außerdem, daß die die Konfliktfiguren interpretierenden Gestalten, Wanowski in der ersten Vorgeschichte und die
Vertreter der Aufrüstungspolitik in der zweiten Vorgeschichte, durch den Stier,
den Minotaurus, motivisch verbunden sind.
Keetenheuve stellt sich noch einmal Hamlets Frage: „Guatemala oder nicht –
das war die Frage.” (2,319) Er ist der Meinung, daß ihm das Gnadenbrot Guatemala nicht mehr gewährt wird, wenn er seine Rede im Parlament hält. Keetenheuve entscheidet sich schließlich für den Kampf:
Keetenheuve verzichtete auf Guatemala. Er verzichtete auf die spanisch
koloniale Sterbeveranda. Auch am Rhein gab es Terrassen. Er war
entschlossen, sich nicht abschieben zu lassen. Er würde bleiben. Er würde
an seinem Schreibtisch bleiben, er würde im Parlament bleiben; er würde
nicht auf die Barrikade, aber auf die Tribüne steigen. Er würde mit
heiligem Zorn gegen die Politik der Regierung sprechen. (2,322)
Diese Entscheidung bedeutet aber nicht, daß er auf seinen Sieg hofft. Er vergleicht sich vielmehr mit einem Schwimmer, der weiß, daß er das Ufer nicht
mehr erreichen wird: „[...] und schöner wär’s, man ließe sich treiben, schaukelte
ins Grab” (2,324). Das ist eben die Lösung, die Keetenheuve für sich am Ende
wählt. Er denkt dabei mehrmals an Musäus, der den aufgegebenen Kampf eines
Liberalen symbolisiert. Der Wohlstand bewegte ihn dazu, die Position des Oppositionellen aufzugeben. Keetenheuve will nun die Stellung der Opposition
148
dadurch vertreten, daß er dem Konsumterror ausweichen will: „Nicht mehr
mitspielen, nicht mitmachen, den Pakt nicht unterschreiben, kein Käufer, kein
Untertan sein.” (2,339) Er will den Traum der Bedürfnislosigkeit verwirklichen.
Doch kaum hat er das alles durchdacht, hat er schon wieder Hunger und Durst.
Musäus ähnlich kann er kein asketisches Leben leben, der Verlockung der
Verbraucher-Rolle nicht widerstehen; und obwohl das Fett immer in negativem
Zusammenhang erwähnt wird, entspricht Keetenheeuves Aussehen diesem Bild:
Er war schlachtreif. Er fühlte es selbst. Er war der Wollust des Fressens
verfallen. Vielleicht wollte er all die Armensuppen einholen, die er gegessen hatte. Sie waren nicht einzuholen. Aber er war dick geworden. Träg
schlief das Fett unter der Haut. (2,274)
Im vierten Kapitel wird sehr häufig auf Keetenheuves baldigen Tod angespielt. Dadurch werden sogar komische Effekte bei der Schilderung von Keetenheuves Gedanken erzielt: Der von den Lemuren (Nachtgeistern) begleitete
Keetenheuve, selbst ein verzweifelter Nachtkauz, geht durch die Gräberavenuen
in einem Treibhaus-Friedhof und atmet „den Geruch der modrig feuchten
Buchsbaumhecken, die süße Verwesung der verfaulten Rosen in den Totenkränzen” (2,353) am eigenen (oder an Elkes?) Grab.
Keetenheuve muß feststellen, daß sich Regierung und Parlament durch Polizeischutz vor dem Volk schützen. Das Quartier der Abgeordneten gleicht so
einem Ghetto; die Regierungsbauten in den alten Dörfern machen den Eindruck,
als ob die Regierung außerhalb des eigenen Landes residiere. Dies ergibt eine
ironische Umkehrung der Exil- und Ghettosituation: „Es war das Regierungsviertel einer Exilregierung, durch das Keetenheuve im Regierungswagen fuhr
[...].”(2,294). Auch am Tag der zweiten Lesung des Vertrages war das Parlamentsgebäude durch die Polizei abgeriegelt, als ob sich das Land gegen den
Bundestag hätte erheben wollen. Die dürftige Demonstration macht Keetenheuve außerdem traurig, denn sie zeigt die Schicksalsergebenheit des Volkes. Die
Szene vor dem Parlament vergleicht er mit der Premiere eines Filmes.
Neben der Treibhaus-Metapher wird oft eine zweite gebraucht: die der Politik als Schaubühne, Theater oder Film. Der Hausbeamte, der die Touristen führt,
„sah genau wie der Kanzler aus. Er hatte ein etwas verkniffenes Gesicht, trocken, listig, mit Falten der Humorigkeit, er sah wie ein kluger Fuchs aus, und er
sprach mit dem Dialektanklang des bedeutenden Staatsmannes” (2,265). Über
Knurrewahn berichtet der Erzähler: „mit seinen Bürstenhaaren sah er wie Hin149
denburg aus oder wie ein Schauspieler, der einen alten General spielt” (2,369).
Diese Unechtheit und die Künstlichkeit charakterisieren nicht nur die Bonner
Szene: „das Jahrhundert artete seinen Filmschauspielern nach, und selbst ein
Bergarbeiter sah schon wie ein Kumpel aus, der dargestellt wird, […]” (2,369 f).
Auch die Abstimmungsprozedur wird als Schauspiel beschrieben, Intrigen
kommen ebenfalls vor. So erfährt Keetenheuve, daß Mergentheim in seiner
Zeitung das Interview der Generäle veröffentlicht hat. Frost-Forestier hatte das
einzige Exemplar fotokopieren lassen, das man aus Keetenheuves Büro geholt
hatte. Keetenheuve muß auch feststellen, daß die Übertragung eines Fußballspiels das Volk mehr begeistern kann als die Abstimmung, obwohl es hier um
Leben und Tod geht. Das Spiel im Plenarsaal betrifft jeden, denn es kann Unfreiheit bedeuten, während ein Sieg irgendeiner Fußballmannschaft keine weitreichenden Folgen hat. Trotzdem langweilen sich die Abgeordneten und die
Journalisten, kritzeln Männchen auf ihr Papier. Diese Interesselosigkeit ist damit
zu erklären, daß alle wissen, wie die Abstimmung enden wird. Nun besteigt der
Hauptdarsteller das Rednerpult:
Er war kein Diktator, aber er war der Chef, der alles vorbereitet, alles
veranlaßt hatte, und er verachtete das oratorische Theater, in dem er
mitspielen mußte. Er sprach müde und sicher wie ein Schauspieler auf der
wegen einer Umbesetzung notwendig gewordenen Durchsprechprobe
eines oft gegebenen Repertoirestückes. Der Kanzler-Schauspieler wirkte
auch als Regisseur. (2,367)
Der Kanzler reagiert heftig auf den Artikel und liest die Versicherungen der
französischen sowie englischen Generäle, wonach die angestrebte Militärvereinigung herzlich und von Dauer sein solle. Nach Ansicht Keetenheuves leidet der
Kanzler an der deutschen Krankheit, von einer bestimmten Vorstellung nicht
lassen zu können: Er habe die Wahnvorstellung, daß die Welt von Bränden
heimgesucht werde und Feuerwehren herbeigerufen werden müßten. Mit den
Feuerwehren ist die Armee gemeint. Keetenheuve ist nicht nur gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, vielmehr will er weltweiten Frieden und tritt ein
für Pazifismus und ein endgültiges Niederlegen der Waffen:
Laßt uns überhaupt keine Weltfeuerwehren aufstellen, laßt uns ausrufen
„die Welt brennt nicht”, und laßt uns zusammenkommen und uns unsere
Alpdrücke erzählen, laß uns bekennen, daß wir alle Feuersbrünste sehen,
150
und wir werden die eigene Angst an der Angst der anderen als Wahn erkennen und zukünftig besser träumen. (2,368)
Keetenheuve als Mitstreiter des Oppositionsführers hält die oppositionelle
Hauptrede in der zentralen Debatte: Er ist bereit zu kämpfen, obwohl er die
Aussichtslosigkeit seines Einsatzes voraussieht. Im ersten Kapitel übernimmt er
nur die Rolle eines Schauspielers, jetzt ist er auch Darsteller des Spiels, dessen
Drehbuch bereits lange vor der Sitzung abgeschlossen war: „Keetenheuve
sprach. Auch er stand im Licht der Wochenschauen, auch er würde im Kino zu
sehen sein. Keetenheuve Held der Leinwand.” (2,369) Während des Sprechens
ist er bereits von der Zwecklosigkeit seiner Rede überzeugt. Er zweifelt an der
Richtigkeit seines Pazifismus, und obwohl er Gewaltlosigkeit zum höchsten
moralischen Wert erklärt, kann er sich auch vorstellen, daß Gewaltlosigkeit die
fatalsten Folgen haben kann:
Zweifellos war es moralisch besser, ermordet zu werden, als in der
Schlacht zu fallen, und die Bereitschaft, nicht kämpfend zu sterben, war
die einzige Möglichkeit, das Gesicht der Welt zu ändern. Aber wer war
bereit, auf das gefährliche, schwindeln machende Hochseil solcher Ethik
zu klettern? (2,370)
Keetenheuves hier dargestellte Kampfposition erinnert an Washingtons Märtyrertum in Tauben im Gras. In seiner (wahrscheinlich nur imaginierten) Rede
wendet sich Keetenheuve an den Kanzler und zeigt ihm die fatalen Folgen der
Entscheidung für eine Aufrüstung auf, er schildert die Vernichtung des Menschen durch Atomwaffen: „Sie werden auf einer Lafette beerdigt werden, aber
Ihrem Ehrensarg werden Millionen Leichen folgen, die nicht einmal mehr billigstes Tannenholz deckt, die verbrennen, wo sie gerade stehen, die dort von der
Erde begraben werden, wo die Erde aufreißt.” (2,371) Es bleibt aber unklar, ob
er diese Worte wirklich spricht oder schon wieder nur in Gedanken handelt.
Keetenheuve stimmt gegen den Vorschlag der Regierung, aber er zweifelt trotzdem daran, ob er wirklich politisch klug handelt. Seine bisherigen Rollenvorstellungen werden nun zurückgenommen; die Verzauberung der Welt durch die
mythischen und literarischen Gestalten wird nicht mehr aufrechterhalten, seine
Welt wird wieder entzaubert. Hierzu müssen einige Beispiele genannt werden:
„Keine Erinnyen hetzten ihn.” (2,375)
„Theseus der den Minotaurus nicht erschlagen hat” (2,375)
151
„Aber die Sage war alt. Der Drache war alt. Er hütete keine Prinzessin. Er
bewachte keinen Schatz. Es gab keinen Schatz, und es gab keine Prinzessinnen.” (2,376)
Keetenheuves Partei wird sich später der Realität anpassen; er selbst will aber die politische Realität nicht akzeptieren, sich dem Willen der Mehrheit nicht
anpassen: „Er konnte nicht mehr mitspielen. Er hatte sich ausgegeben. Er warf
seine Abgeordnetenexistenz mit den Briefen fort”. (2,376) Er nimmt Elkes Photo zusammen mit dem Baudelaire-Gedicht und verläßt sein Quartier.
2.2.8. Die Jona-Episode (2,378-379)
Mit der Jonaepisode werden zwei Ziele verfolgt: Die Kritik der Reklameindunstrie und die Wiederholung des Kassandra-Motivs und des pazifistischen
Gedankens. Die Reklameindustrie nimmt die Kunst, die Bibel und den Mythos
sehr oft in ihre Dienste. In dieser Szene wird beschrieben, wie ein WalfischKadaver, das Urwelttier und der Leviathan der Bibel, für die Werbung eingesetzt wird:
[...] es stank nach Schlick, Verwesung und künstlicher Erhaltung eines
Leichnams. Jonas den Walfisch muß man gesehen haben! Kinder belagerten das Zelt. Sie schwenkten Papierfahnen, und auf den Fahnen
stand: Eßt Busses vitaminreiche reine Walfettmargarine. (2,378)
Nach diesem Zitat wird die Jona-Episode zweimal erzählt. Es geht hier um
eine Paraphrase der Bibelgeschichte. Durch die Bezugnahme werden die ursprünglichen Aussageinhalte verändert, und es erfolgt ein Umschreiben des
referierten Textes. Der referierte Text ist Der Prophet Jona aus dem Alten Testament. Die wichtigsten Motive der biblischen Jonageschichte sind folgende:
1. Das Motiv der Ankündigung kommenden Unheils: Jona hätte in Ninive
das Untergehen der Stadt wegen der Sünden der Bewohner ankündigen
sollen.
2. Das Motiv der Flucht vor dieser Aufgabe: Jona wollte mit einem Schiff
nach Tarsis fahren, um nicht nach Ninive gehen und den Untergang der
Stadt prophezeien zu müssen.
152
3. Das Motiv des Fisches: Gott ließ einen Fisch kommen, damit er Jona
verschlingt. Jona betete im Bauch des Fisches. Er schrie in seiner Verzweiflung zu Gott, da er in der äußersten Not zusammenbrach.
4. Die Wiederholung des Befehls: Jona sollte wieder nach Ninive gehen
und den Untergang der Stadt ankündigen.
5. Das Motiv der Buße: Die Leute von Ninive glaubten an Jona, sie zogen
den Sack zur Buße an. Der König stand von seinem Thron auf und legte
seinen Purpur ab.
6. Das Motiv der Rettung: Jona wußte, daß Gott Ninive verschonen würde,
falls die Stadt Buße tue. Er meinte, Gott würde ihn mit der Verschonung
der Stadt bloßstellen.
7. Das Motiv der Erklärung von Gottes Barmherzigkeit: Gott erbarmte sich
der Bewohner von Ninive, weil es seine Geschöpfe waren und es unter
ihnen auch viele Unschuldige gab.
Die vom Erzähler/Keetenheuve erzählte Geschichte ist mit der biblischen
Vorlage vergleichbar. Die Vorlage ist im Text markiert.
a) Die erste Erzählung der Jonageschichte
Die Jonageschichte wird bis zu folgender Stelle erzählt:
Ninive tat Buße vor dem Herrn, aber Jona verdroß es, daß sich der Herr
Ninives erbarmte und es rettete. Jona war ein großer und begabter, aber er
war auch ein kleiner und rechthaberischer Prophet. Er hatte recht: Ninive
sollte in vierzig Tagen untergehen. Aber Gott dachte sprunghaft, er dachte
nicht nach der Denk- und Dienstvorschrift, nach der Jona, Heineweg und
Bierbohm dachten, und Gott freute sich des Königs von Ninive, der seinen
Purpur ablegte, und er freute sich des bereuenden Volkes von Ninive, und
Gott ließ die Bombe in der Wüste von Nevada sterben, und er freute sich,
weil sie in Ninive freundliche kleine Boogies zu seiner Ehre tanzten.
(2,379)
Im referierten Text (Bibelgeschichte) und im referierenden Text (Roman)
kommen ähnliche Motive vor. Aber das Motiv der Erklärung der Barmherzigkeit Gottes fehlt im referierenden Text. Anstatt dieses Motivs werden semantische Elemente des referierenden Textes in die Jonageschichte integriert. Jona
will den Untergang Ninives, weil Ninive Sünden begangen hat, und er will sich
durch falsche Prophezeiung nicht lächerlich machen. Jona wird mit den Apparatmenschen Heineweg und Bierbohm gleichgesetzt, die immer der Parteidiszip153
lin entsprechend handeln. Der Gott im referierenden Text ist kein traditioneller
Gott, er denkt „sprunghaft”. Ninive kann symbolisch für Deutschland stehen,
das einmal von einer Atombombe bedroht wurde. Die Atombombe in Nevada
traf Deutschland nicht, aber sie bedeutet eine potentielle Gefahr für die ganze
Menschheit. Die freundlichen kleinen Boogies, die zu Gottes Ehre getanzt werden, kommen auch in Tod in Rom vor.
b) Die zweite Erzählung der Jonageschichte
Hier geht es wieder um eine Rollenphantasie, um eine Imagination Keetenheuves. „Keetenheuve Prophet von alttestamentarischer Strenge”. (2,379) In
zwei Sätzen wird der äquivalente Teil erzählt: „Keetenheuve fühlte sich vom
Walfisch verschlungen. Auch er saß in der Hölle, auch er saß tief unter dem
Meeresspiegel, auch er im Leib des großen Fisches” (2,379). Kurz werden Jonas
Rettung und die Verkündung des Unheils dargeboten. Die Motive der Buße und
der Rettung der Stadt fehlen hier völlig.
Aber von Gott gerettet, ausgespien aus dem Bauch des Wales, würde
Keetenheuve zwar Ninives Untergang verkünden, aber groß wäre seine
Freude, wenn der König seinen Purpur ablegen würde, ablegen den aus
einem Maskenverleih geborgten Königsmantel, und Ninive gerettet wäre.
(2,379)
Der referierende Text scheint die beiden letzten Motive (das Motiv der Buße
und das der Rettung) umzukehren und dadurch von der Bedeutung der biblischen Vorlage abzuweichen. Im referierten Text kommt es zur Buße, die Stadt
wird gerettet, und Jona ist darüber empört. Im referierenden Text bleibt die Buße bis zur Gegenwart der Textwelt aus, von einer endgültigen Rettung kann man
auch nicht sprechen und Keetenheuve wäre über die Rettung der Stadt nicht
empört, sondern er würde sich darüber freuen. Diese Subversion der Bedeutung
ist eng an die innere motivische Struktur des referierenden Textes gebunden.
Mit den Namen Heineweg und Bierbohm ist der Zusammenhang mit der Parlamentssitzung schon in der ersten Paraphrase der Jonageschichte gegeben. Hier
ist es eindeutig, daß mit Ninive Deutschland gemeint ist, das gerettet werden
muß, weil es wegen der Wiederaufrüstung in Gefahr ist. Der König, der zur
Buße nicht bereit ist, ist der Kanzler. Die Gefahr, der Deutschland ausgeliefert
ist, ist keine geringere als die des Atomkrieges, der infolge der Fehlentscheidung des Parlaments den von Keetenheuve in seiner Parlamentsrede beschriebenen Tod von Millionen verursachen wird. Der aus dem Maskenverleih
154
stammende Königsmantel paßt gut in die vom Kanzler-Schauspieler-Regisseur
organisierte Abstimmungskomödie. Alle sind ja Schauspieler, sowohl der Kanzler als auch Keetenheuve. Keetenheuve stellt sich hier die Rolle des Propheten
Jona vor, aber diese Rolle ist eine, mit der er sich nicht identifizieren kann. Er
spielt wieder die Rolle der Kassandra, die das kommende Unheil, einen neuen
Krieg, ankündigt, aber ihr will wieder niemand Glauben schenken.
2.2.9. Zu Z6 = T (Fa, Fb2)
Keetenheuve geht nach der Parlamentssitzung zum Rhein. Die Zeichen der
Absurdität häufen sich, als Keetenheuve einen Dreiwagenzug einer Straßenbahn
auf der Brücke erblickt: „Die Bahn war wie aus jeder Wirklichkeit herausgehoben, für einen Augenblick das überrealistische Abbild eines Verkehrsmittels, ein
gespenstisches Abstraktum. Es war eine Todesbahn, und man konnte sich nicht
vorstellen, daß sie irgendwohin fuhr.” (2,380) Keetenheuves Gedanken werden
nun immer chaotischer, sie werden in einem surrealistischen Bewußtseinsstrom
wiedergegeben: So führt Keetenheuve Lena und Gerda in das Viertel, das zerstört worden ist. Es handelt sich um das Ruinenfeld aus Mauerstümpfen und um
eine Kellerlandschaft, wo er auch Elke kennengelernt hatte. Er sieht auch den
gelben Luftschutzrichtungspfeil Rhein, der die Bewohner einst an den Fluß
führte, für sie war er die Rettung, für Keetenheuve bedeutet er den Tod, den er
im Rhein findet.
Im „Endspiel” treten allegorische Momente verdichtet auf. Diese Szene übertritt die Grenzen des Realistischen, „alles war unwirklich und überwirklich
zugleich” (2,386). Überwirklich ist diese Passage deshalb, weil „der nun präsentierte Text in kompromierter Form die gesamte Wirklichkeit des Buchs enthält,
er ist dessen sinnhafte Überhöhung.”197 Diese Trümmerlandschaft wird „Gräberfeld aus nationalsozialistischer Zeit” (2,386) genannt und genau beschrieben:
Keetenheuve führte Lena in eine ausgeräumte Bucht aus halben Mauern,
die einmal ein Zimmer gewesen war, man sah sogar noch etwas von der
Tapete, es mochte der Raum eines Bonner Gelehrten gewesen sein, denn
Keetenheuve erkannte ein pompejanisches Muster und den verwaschenen
197
Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 109.
155
wollüstigen Leib eines weibischen Eroten mit zerrissenen Geschlechtsteilen, die überreifen Früchten glichen. (2,386)
Pompeji steht hier symbolisch für den Verfall einer blühenden Kultur. Die
überreifen Früchte verweisen wiederum auf den Treibhaus-Charakter der Stadt.
Diese Bilder deuten darauf hin, daß Pompejis Katastrophe wiederholt werden
kann: So sind sie Visionen einer vergangenen und einer künftigen Katastrophe.
Die surrealistischen Bilder hängen eng mit Keetenheuves seelischem Zustand
zusammen: Sie spiegeln Keetenheuves Befürchtungen und Ängste in seinen
letzten Tagen wider und treten jetzt in beängstigender Kombination wieder auf.
Die Personen sind Teilnehmer einer Prozession; dadurch ist das allegorische
Grundmuster der Imaginationen gegeben. Die Schreckensvisionen bewegen sich
in zwei wichtigen Problemkreisen des Romans:
a. Die politische Ebene
Die Visionen knüpfen an die politischen oder pazifistischen Gedanken des
Romans an. Die auftretenden Personen sind schon aus der Romanhandlung
bekannt: Der Kanzler, „der große Staatsmann” (2,386), Musäus, der Präsident,
die Abgeordneten Korodin, Sedesaum und Dörflich, Frost-Forestier; die Rheintöchter, die Toten zweier Weltkriege und ihre Mütter, ihre Staatsmänner, usw.
Die politischen und persönlichen Themenbereiche des Romans werden in kurzer
Form wiederholt. Der erste Bereich ist der Pazifismus. Keetenheuves Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Beschluß zur Wiederaufrüstung werden
formuliert:
Eine große Heerschau ereignete sich. Die Jugend zweier Weltkriege
marschierte an Musäus vorbei, und Musäus nahm bleich die Parade ab.
Die Mütter zweier Weltkriege zogen stumm an Musäus vorüber, und
Musäus grüßte bleich ihren schwarzumflorten Zug. (2,388)
Allen politischen Institutionen und gesellschaflichen Projekten wird noch
einmal der Prozeß gemacht. Die Kritik an der Politik ist mit ihrer Abhängigkeit
vom Geld verbunden. Die christliche Politik ist die Politik der kleinen Bestechung des Kapitals. Der Text dementiert die politische Hoffnung auf die Verhinderung der Wiederaufrüstung. Der Heerschau machtbesessener Militärs folgen die unbelehrten Marxisten. In apokalyptischen Bildern taumeln die Toten
hervor: die Erschlagenen, die Verschütteten, die Erstickten und die Unbehausten. „Der große Staatsmann” darf die Zukunft sehen.
156
Er sah Teufel und Gewürm, und er sah, wie sie einen Homunkulus schufen. Ein Zug von Piefkes bestieg den Obersalzberg und traf sich mit der
Omnibusgesellschaft der Rheintöchter, und die Piefkes zeugten mit den
Wagalaweiamädchen den Überpiefke [...] und im schwefligen Dunst
gründete der Überpiefke den Superweltstaat und führte die lebenslängliche Wehrpflicht ein. (2,387)
Eine „Richtstätte” wird nun aufgebaut. Keetenheuve übt nocht einmal Kritik
an den politischen Mißständen der Bonner politischen Welt, bevor der Abgeordnete Korodin als Allegorie des Goldes auftritt. „Der Abgeordnete Korodin
schleppte ein großes goldenes Kreuz herbei, unter dessen Last er gebückt ging.
Er richtete mit großer Mühe das Kreuz neben dem Galgen auf, und er fürchtete
sich sehr.” (2,387) Korodin bricht Gold aus dem Kreuz und wirft die Goldstücke den Staatsmännern und den Volksvertretern zu. Diese Szene erinnert an die
Anfangssätze des Romans: Mit dem Raub des Goldes entfesselte sich das Götter- und Menschheitsdrama in Wagners Rheingold.198
b. Die persönliche Ebene
Keetenheuve stellt sich vor, daß er mit Lena in einem Blutbett liegt, während
Frost-Forestier auf den Rhein zeigt: „Dort liegt Guatemala!” (2,389). Diese
Gedanken weisen deutlich auf Keetenheuves baldigen Tod hin. Sein wiederholter Versuch, sich in die Gesellschaft zu integrieren und mit Lena auf der Seite
der Jugend das Leben zu finden, ist endgültig mißlungen:
Es war ein Akt vollkommener Beziehungslosigkeit, den er vollzog, und er
starrte fremd in ein fremdes, den Täuschungen der Lust überantwortetes
Gesicht. Nur Trauer blieb. Hier war keine Erhebung, hier war Schuld, hier
war keine Liebe, hier gähnte ein Grab. Es war das Grab in ihm. (2,389)
Elkes Schicksal steht symbolisch für die betrogene deutsche Jugend, und
Keetenheuve fühlt sich schuldig, weil er sie nicht gerettet hat. Im übertragenen
Sinne kann dagegen Lena die Hoffnungen der DDR bedeuten. Keetenheuve
konnte die Aufrüstung nicht verhindern, das heißt, daß die Lage der DDR für
lange Zeit unverändert bleiben wird: Der Traum von der deutschen Einheit kann
in absehbarer Zeit nicht verwirklicht werden. Lena ist aber enttäuscht, denn
198
Vgl. ebd. S. 110-116.
157
Keetenheuve hat ihr Hilfe versprochen, ihr aber nicht geholfen; er hat in ihr
lediglich falsche Hoffnungen geweckt.
Keetenheuves Tod wird nun zitathaft erzählt. Der erste Teil des letzten
Satzes: „Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und
ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.” (2,390) drückt Keetenheuves
politische Tätigkeit aus, der zweite Teil sein existentielles Lebensgefühl. Elkes
Tod und das Scheitern seiner politischen Bemühungen hatten nur zu
Verzweiflung und existentiellem Ekel geführt; seine Erfahrungen waren die der
Öde, der Unwirklichkeit und der Absurdität der Welt.
Die Schlußwendung des Romans verweist auf die Worte der Gertrud in
Friedrich Schillers Wilhelm Tell: „Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten
offen, Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei.”199 Die Freiheit des Todes
ist bei Schiller als letzte Möglichkeit, als Ausweg aus der Unterdrückung
gemeint, während bei Koeppen die existentielle Last und die politische
Erfolglosigkeit zum Tod des Protagonisten führen.200 In diesem Sinne versteht
Müller-Waldeck die letzten Worte des Romans so, daß „der demokratische
Idealismus Keetenheuves, eines Hamlet in Bonn, in der Schilderung seines
Freitods durch Koeppen durchaus eine sarkastisch-ironische Wendung
enthält”.201
3. Denkformen und Wertesysteme im Treibhaus
Wie schon in der Einleitung erörtert, kann eine Geschichte nach Bernáth so
angegeben werden, daß man die Figuren im Anfangs- und Endzustand bestimmt
und das ausgezeichnete oder anders ausgedrückt das dominante Attribut der
Figuren im Anfangszustand feststellt, dessen auf bestimmte Art und Weise ablaufende Veränderung den Endzustand verursacht.
In dem in den vorigen Kapiteln beschriebenen Handlungsmodell des Romans habe ich als ausgezeichnetes Attribut der Figuren eine räumliche Relation,
die Opposition von „Getrenntsein“ und „Vereintsein“ gewählt. Aus der Analyse
199
Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, Stuttgart 1993, 1. Aufzug, 2. Szene, S. 15.
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 187.
201
Gunnar Müller-Waldeck: Brief an die Mitglieder der Koeppengesellschaft vom August
2001.
200
158
hat sich ergeben, daß nicht nur die erwähnte räumliche Relation der Figuren in
diesem Werk untersucht werden kann, sondern auch die Zusammenhänge von
Denkformen und Wertesystemen als ausgezeichnetes Attribut der Geschichte
betrachtet werden können. So kann die Koeppen-Geschichte in den Romanen
der Trilogie durch die Kombinationsmöglichkeiten der Denkformen und der
Wertesysteme definiert werden. Zu einer Struktur, zu einem Modell können also
mehrere Werke eines Autors oder Werke verschiedener Autoren zugeordnet
werden. Umgekehrt ist es auch wahr: Eine Textwelt kann verschiedenen Modellen zugeordnet werden, da die Modelle unterschiedliche Regelmäßigkeiten im
Aufbau derselben Textwelt modellieren können. Die drei Romane verfügen also
über eine einheitliche Struktur und ein einheitliches Wertesystem, was auch den
Trilogie-Charakter der Werke bestätigt.
Keetenheuve ist schon in der ersten Phase der Geschichte (nach Bernáth in
der ersten Vorgeschichte) Vertreter des Pazifismus, d.h. in seinem Wertesystem
dominiert der Frieden, der als Negation des Krieges oder der Macht aufgefaßt
werden kann. Ein Beispiel für seine Kriegsfeindlichkeit in dieser Zeit ist seine
Vision in Frankfurt vor 1933, als er den Aufmarsch der Hitlerjugend beobachtet,
der mit der Szene endet, in der alle in ein tiefes Grab marschieren. Seine zukunftsorientierten Visionen in der Vergangenheit kontrastieren mit dem Thema
der Parlamentssitzung, mit der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Keetenheuve ist von Schuldgefühl beladen, weil er nach der eigenen Einschätzung
gescheitert ist. In seinem Wertesystem steht die Verneinung der Macht an erster
Stelle, deshalb vernachlässigt er die Liebe. Ein anderer Wert, der für ihn wichtig
ist, ist die Kunst, er ist ja ein dilettierender Übersetzer. Alle drei wichtigen Werte (Frieden, Liebe, Kunst) in seinem Wertesystem sind mit dem Motiv des
Scheiterns verbunden.
Die in der Analyse Konfliktfiguren genannten Textweltgestalten Wanowski
und Elkes Eltern, die Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie und
Verherrlicher des Krieges sind, sind Vertreter der Machtdominanz. Elkes Wertorientierung ist durch ihre Erziehung bestimmt: Sie ist an die Macht gebunden.
Nach dem Krieg will sie mit Keetenheuves Hilfe den dominanten Wert wechseln, indem sie Keetenheuve heiratet und versucht, sich der neuen Welt anzupassen. Keetenheuve zerstört sogar ihre Bindung an den Glauben, der für Keetenheuve keine Rolle spielt. Auf der Textebene wird die Identität der dominanten Werte im Wertesystem von Wanowski und Elkes Eltern explizit themati-
159
siert. Es gelingt Wanowski, Elke für sich zu gewinnen und sie in ihre lesbische
Welt zu führen. Der Anpassungsversuch scheitert, und Elke stirbt.
In der zweiten Vorgeschichte konzentriert Keetenheuve seine Aufmerksamkeit auf die Verhinderung der Aufrüstung. Die Erinnyen plagen ihn wieder, so
will er Elke rächen. Das Treibhausklima in Bonn ist Folge der Industrialisierung, die vor allem die Entwicklung der Waffenindustrie bedeutet, die im Dienste der Machtpolitik steht. Die Vorsitzenden der verschiedenen Fraktionen im
Parlament können aus Keetenheuves Sicht als Vertreter der Machtpolitik angesehen werden, weil sie alle meinen, daß Deutschlands Aufrüstung wünschenswert sei. Guatemala würde eine zweite Emigration bedeuten, denn die Machthabenden wollen ihn nur entfernen, er ist aber nicht bereit denselben Fehler das
zweite Mal zu begehen und wählt den Kampf.
Keetenheuves zweite Möglichkeit in der Liebe sein Glück, den Sinn des
Lebens zu finden, ist die Begegnung mit Lena. Lena und Gerda erinnern ihn an
Elke und Wanowski. Zu den Motiven der zweiten Phase der Geschichte gesellt
sich das Motiv der Technikfurcht. Keetenheuve verbindet in seinen Gedanken
den Begriff der Macht mit der Machtausübung bzw. mit der Unterstützung der
Machtausübung mit den Mitteln der Technik. So ist Lena in ihrer zukünftigen
Möglichkeit als Brückenbauer an die Technik und eventuell auch an die Macht
gebunden, wie Elke durch ihre Abstammung an die Machthabenden gebunden
war. Keetenheuve ist für den bedingungslosen Pazifismus, obwohl er sich darüber im klaren ist, daß die Gewaltlosigkeit fatale Folgen haben kann, wenn sich
die Angegriffenen nicht verteidigen können. Ninive-Deutschland muß gerettet
werden, weil es wegen der Aufrüstung in Gefahr ist. Die Machtorientiertheit in
der Politik könnte nach Keetenheuve sogar zum Atomkrieg führen.
Die Geschichte endet mit Keetenheuves Niederlage. Eine individuelle Wertüberzeugung kann nicht ohne weiteres in einen öffentlichen Wertkonsens übersetzt werden. Die Ablehnung jeder Form der Macht und der Machtausübung ist
mit nicht-hierarchistischem Denken verbunden. Keetenheuve ist ein Liebhaber
der modernen Poesie. Er liest die Gedichte von E. E. Cummings, Verlaine, Baudelaire, Rimbaud und Apollinaire. Die Vorliebe der Figuren für die Kunstwerke
der verschiedenen Kunstarten in den Romanen der Trilogie zeugt von der Zugehörigkeit der Figuren zur modernen oder zur bürgerlichen Denkform. Für die
Darstellung der modernen Architektur sind Keetenheuves Architekturphantasien
160
sehr wichtig. Im Wohnungsausschuß sitzend denkt Keetenheuve über Wohnhäuser für Arbeiter nach.202
In der modernen Architektur wird behauptet, daß die wahrhaft schönen Formen die Urformen seien. Das Ornament wird als Repräsentationsmittel des Bürgertums nicht mehr akzeptiert. Der Innenraum des bürgerlichen Hauses spiegelt
die Vorgeschichte der Inhaber wider und betont die Wichtigkeit einer bestimmten Familientradition. Im modernen Bauwerk werden das geschichtliche
Element und der Zeitfaktor verbannt. Edwins Geschmack widerspricht völlig
dem von Keetenheuve:
Er zog die von alters her wohlberufenen Gasthöfe bei weitem den neuerrichteten Palästen, den Behausungsmaschinen einer Corbusier-Architektur
vor, den blinkenden Stahlrohren und bloßstellenden Glaswänden […]. Mr.
Edwins Nase hätte Wärme und technischen Komfort dem Geruch des
Holzwurmmehls in den antiken Sekretären, dem Dunst von Mottenmitteln, Menschenschweiß, Unzucht und Tränen, der aus dem Gewebe der alten Tapisserien stieg, vorgezogen. Aber Edwin lebte nicht für seine Nase
und nicht für sein Wohlbehagen (obwohl er Behaglichkeit liebte, sich ihr
aber niemals ganz hingeben konnte), er lebte in Zucht, in der strengen
Zucht des Geistes und in den Sielen tätiger humaner Tradition, einer
höchst sublimen Tradition, versteht sich, zu deren Bild und Bestand auch
die alten Herbergen gehörten, (2,104 f.).
Die Abgeordneten im Parlament können mit Gedanken über die moderne
Kunst nicht charakterisiert werden. Keetenheuve spielt mit dem Gedanken, wer
wohl noch außer ihm im Parlament moderne Lyrik liest. Keetenheuve wird aufgrund seiner Äußerungen über die Kunst als Vertreter der modernen Denkform
202
Und so wollte Keetenheuve den Arbeitern neue Häuser bauen, Corbusier-HausungsMaschinen, Wohnungen der technischen Zeit, eine ganze Stadt in einem einzigen Riesenhaus
mit künstlichen Höhengärten, künstlichem Klima, er sah die Möglichkeit, den Menschen vor
Hitze und Kälte zu schützen, ihn von Staub und Schmutz zu befreien, von der Hausarbeit, vom
Hauszank und allem Wohnungslärm. (2,317)
161
gezeigt. Diese Denkform ist im Roman mit dem Gedanken über die Priorität des
Friedens (dem Fehlen der Macht) kompatibel.
162
IV. Der Tod in Rom (1954)
1. Ort, Zeit und Erzähltechnik
Im dritten Roman der Trilogie kehrt Koeppen auf die bereits im ersten
Nachkriegsroman angewandte Montagetechnik zurück. Wiederum werden
Textsequenzen verknüpft sowie die Gedanken und Handlungen der Gestalten
aus wechselnder Perspektive dargestellt. In den verschiedenen Szenen werden
aber nicht solche Protagonisten zusammengeführt, die einander unbekannt
sind, sondern Mitglieder einer Familie. Das Zusammentreffen dieser Familie
erfolgt in Rom. Die Handlung wird in eine außerdeutsche Stadt verlegt, die
alle Voraussetzungen hat, um die von den Figuren vertretenen dominanten
Werte auch topographisch zu veranschaulichen. Die Ortskulissen bilden die
bekannten römischen Gebäude, Straßen, Denkmäler wie das Pantheon, die Via
Veneto, die Piazza Navone, die Spanische Treppe, der Petersdom, die Via
della Conciliazione, die Engelbsburg, die Engelsbrücke, die Piazza del Popolo,
die Diokletianischen Thermen, usw. Gerhard Pinzhoffer thematisiert die Rolle
der römischen Bilder in seinem Buch über den Tod in Rom.203
Der Zeitpunkt des Geschehens wird nicht explizit genannt, und der Abstand zwischen der erzählten Zeit und dem Erscheinen des Romans ist sehr
gering. So wird z.B. Dien Bien Phu erwähnt, das am 7. Mai 1954 von den
Vietminh erobert wurde: „Die weiße Festung im indochinesischen Dschungel
stand vor dem Fall“ (2,400) und „Ich kaufte am großen Zeitungsstand eine
Zeitung. Die Dschungelfestung war gefallen“ (2,566). Die Handlung spielt
demnach zwischen dem 6. und 8. Mai 1954 – zweieinhalb Tage. Der Höhepunkt ist die Aufführung von Siegfrieds Symphonie, bei der außer Eva Judejahn alle Familienmitglieder anwesend sind.
Siegfried Pfaffrath unterscheidet sich von allen anderen Figuren dadurch,
daß er über sich selbst und andere Romangestalten reflektiert und neben dem
Er-Erzähler als ein zweiter, als Ich-Erzähler auftritt. So stellt er sich vor: „Ich
heiße Siegfried Pfaffrath.” (2,400) Es lassen sich sein erlebendes und sein
203
Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“. Entwurf einer Theorie
literarischer Bildlichkeit aus anthropologischer Sicht. Würzburg 1996.
163
erzählendes Ich unterscheiden, besonders in den Fällen, in denen er über die
Geschehnisse aus zeitlicher Distanz berichtet. Quack verweist auf die schon
erwähnte Stelle über den Indochinakrieg: „Wir erfuhren die Vernichtung, die
uns gedroht hatte, erst viel später und aus Zeitungen, die noch nicht gedruckt
waren.“ (2,400) Der Er-Erzähler verfügt über dieses Vergangenheitsbewußtsein nicht. Außerdem gibt es Geschehnisse, die der Ich-Erzähler nicht reflektiert, zu diesen gehören Judejahns Tod und Ilse Kürenbergs Ermordung; er
berichtet nicht mehr, als diese Ereignisse stattfinden. Siegfried kann über das
narrative Vermögen des Erzählers verfügen, indem er auch seine eigene narrative Rolle thematisiert: „Siegfried sah Adolf und Laura an. Aber sah er sie?
Projizierte er nicht nur sich auf die Gestalten seiner Gefährten? Sie waren Gedanken von ihm, und er freute sich, daß er sie dachte.“ (2,565) Siegfried deutet
den Roman als eine epische Form, die groteske Züge hat: „Da die Tragödie
geschehen war, mußte das Satyrspiel folgen.“ (2,531) Siegfried als glaubwürdiger Ich-Erzähler wird in den Sequenzen bestätigt, in denen von ihm in der
Er-Form berichtet wird.204
Interessant ist die Verknüpfungstechnik der einzelnen Sequenzen im Tod in
Rom. Sequenzen werden u.a. durch die Thematisierung des Wertbewußtseins
der Figuren verknüpft, indem z.B. das Adjektiv „machtlos“ anaphorisch gebraucht wird. Pinzhoffer beschreibt das den ersten Teil des Romans abschließende Stimmungstief in der römischen Nacht. Die Figuren werden in Schlaf
und Traum versetzt, in denen ihre Abhängigkeit von Autorität als Triebverfallenheit lebendig wird, so Pinzhoffer. Der Kater Benito wirft Judejahn vor, daß
er unfähig sei, Laura zu gewinnen: „Der Kater blickte ihn spöttisch an: Du hast
dich überlebt, du bist machtlos“ (2,474). Eva ist „die schlafende zürnende
Norne nächtlichen Nichtdenkens“ (2,475). Über Dietrich Pfaffrath heißt es:
„Machtlos war er gegen den Trieb, aber mächtig trieb es ihn zu den Mächtigen, denen er dienen wollte, um im Haus der Macht zu sitzen, teilzuhaben an
der Macht und selber mächtig zu werden“ (2,476). Der Oberbürgermeister
Friedrich Wilhelm Pfaffrath erlebt im Traum, daß Judejahn ihn fallen läßt. Er
ist gegen den mächtigen Judejahn ohnmächtig. Siegfrieds Machtlosigkeit ist
mit der Musik verbunden. Er will „den neuen Klang“ hören, ist aber machtlos,
weil seine Seele keinen Ausdruck für sich findet. Er fühlt Machtlosigkeit gegenüber einer Gewalt, die er als Lärm kommender Schlachten erlebt. Die Glie204
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 237-240.
164
der der Darstellungsreihe repräsentieren die Formen der Machtverfallenheit.
Die Triebverfallenheit führt Judejahn zum faschistischen Töten. Die Pfaffraths
unterwerfen sich Judejahn, mit dem Ziel, durch die Identifizierung mit seiner
Macht der eigenen Ohnmacht zu entkommen. Siegfried ist nicht bereit, sich
der Autorität der Macht zu unterwerfen, er versucht seine Machtlosigkeit im
Medium der Kunst zu überwinden. Siegfried wird die Machtverfallenheit bewußt und so kann er sie überwinden.205
Günter Häntzschel schreibt über den Tod in Rom : „Das Ernste erscheint
zu großen Teilen in komischer Inszenierung.“206 Er entdeckt KomödienKonstellationen auf der Handlungsebene wie z.B. das Zusammentreffen aller
Mitglieder der Familien Pfaffrath und Judejahn. Der Erzähler gibt auch explizite Hinweise auf eine komödienartige Struktur: Siegfried sieht sich und Adolf
als „traurige Clowns in einer mäßigen Verwechslungsposse“ (2,451). Über
Koeppens unverwechselbare poetische Welt stellt Häntzschel fest:
Die Groteske, das irritierende Spannungsverhältnis zwischen Ernstem
und Komischem, Faktischem und Bizarrem, bildet eines ihrer wesentlichen Bestandteile. Nicht das, was man nach dem Muster des realistischen Romans für ‘realistisch’ hält, sondern gerade die in und mit der
Groteske erzielte Verquickung heterogener Gesinnungen der unbelehrbaren Nazis und Antisemiten, der Mitläufer und Opportunisten, solcher,
die den Nationalsozialismus zu verdrängen suchen, und derjenigen, die
weiter an seinen Auswirkungen leiden und ihre Identität nicht finden
können, gerade diese groteske Simultaneität ist dasjenige, was die Realität in der Restaurationsepoche charakterisiert. Insofern ist die Groteske
ein getreues Abbild der Realität.207
205
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 43-46.
Günter Häntzschel: Groteskes in Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom. In: Jahrbuch
der Internationalen Wolfgang Koeppen-Gesellschaft, a. a. O., S. 77-90. Hier: S. 79.
207
Ebd. S. 88 f.
206
165
2. Die Prologe des Romans
Der Roman hat zwei Teile, die jeweils mit einer Exposition beginnen. Die
Themen der beiden Einleitungen können durchaus aufeinander bezogen werden, deshalb werde ich sie nacheinander untersuchen. Der Romananfang, d.h.
die erste Einleitung, befaßt sich mit Sinnstrukturen der Antike, der Götterwelt
und hat das Pantheon zum Schauplatz. Die zweite Exposition spielt in der
Kapelle im Vatikan, in der der Papst betet, und setzt sich mit der Wirkungsfähigkeit der katholischen Christenheit auseinander.
2.1. Der erste Prolog
Der Tod in Rom beginnt folgendermaßen:
Es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt. Jetzt
liegt Raffael im Pantheon begraben, ein Halbgott noch, ein Glückskind
Apolls, doch wie traurig, was später sich ihm an Leichnamen gesellte,
ein Kardinal vergessener Verdienste, ein paar Könige, ihre mit Blindheit
geschlagenen Generale, in der Karriere hochgediente Beamte, Gelehrte,
die das Lexikon erreichten, Künstler akademischer Würden. Wen schert
ihr Leben? Die Reisenden stehen staunend im antiken Gewölbe und
blicken verlegenen Antlitzes zum Licht empor, das durch das einzige
Fenster des Raumes, die runde Öffnung in der einst mit bronzenen
Ziegeln gedeckten Kuppel, wie Regen auf sie fällt. Ist es ein goldener
Regen? Danae läßt sich von Cook und vom Italienischen Staatsverband
für den Fremdenverkehr wohl führen; doch Lust empfindet sie nicht. So
hebt sie auch nicht ihr Kleid, den Gott zu empfangen. Perseus wird nicht
geboren. Die Meduse behält ihr Haupt und richtet sich bürgerlich ein.
Und Jupiter? Weilt er, ein kleiner Pensionär, unter uns Sterblichen? Ist
er vielleicht der alte Herr der American-Express-Gesellschaft, der Betreute des Deutsch-Europäischen Reisebüros? Oder haust er hinter
Mauern am Stadtrand, in die Irrenanstalt gesperrt und von neugierigen
Psychiatern analysiert, in die Gefängnisse des Staates geworfen? Unter
dem Kapitol hat man eine Wölfin hinter Gitter gesetzt, ein krankes
verzweifeltes Tier, fern davon, Romulus und Remus zu säugen. Die Gesichter der Touristen sind in dem Licht des Pantheons wie ein Teig.
166
Welcher Bäcker wird ihn kneten, welcher Ofen ihm Farbe geben?
(2,393)
Der trostlosen Zeit des Erzählers wird die vergangene Zeit der Götter, die
der Antike, gegenübergestellt. Die Götter hatten einen Sinnrahmen vorgegeben
und Orientierungsmuster gesetzt. Diese Sinnvorgaben sind mythisch und die
Zeit der Götter ist in einer unbestimmten Sagenwelt verschwunden. In der
Vergangenheit gab es noch Götter, Helden und Heldengeschichten; es werden
einige Götter und Geschichten sogar erwähnt. Doch dadurch, daß sie in der
Gegenwart negiert werden, werden sie heraufbeschworen. Apoll ist der Gott
der Jugend, der Musik, der Weissagung, des Bogenschießens und der Heilkunst, und er ist der Sohn des Zeus, der in der ersten Geschichte, in der des
Perseus, eine wichtige Rolle spielt. Mit Apoll wird bereits ein zentrales Thema
des Romans, die Musik, angesprochen: Apoll entwickelte eine außerordentliche Fähigkeit auf der Leier und gewann einen Wettkampf gegen Pan. Das
Opfer war König Midas, dem Eselsohren wuchsen, weil er Pans Flötenmusik
bevorzugt hatte. Drei von Apolls Söhnen wiederum waren für ihre Sangeskunst berühmt: Orpheus, Licos und Philammon. Auf Pan und Orpheus wird
später im Roman noch hingewiesen.
In den ersten Zeilen wird auf die Geschichte des Perseus Bezug genommen: Als der König von Argos von einem Orakel erfährt, daß ein Sohn der
Danae ihn töten werde, wirft er diese in ein ehernes Gemach. Zeus besucht
aber Danae als goldener Regenschauer und zeugt mit ihr einen Sohn, Perseus,
der in diesem Gemach geboren wird. Später tötet Perseus die Gorgo Medusa
mit Hilfe der Athene. Die Gorgo Medusa steht für das Böse: Sie ist ein gräßliches Ungeheuer, riesige Zungen hängen aus ihren Mäulern, um ihre Köpfe
ringeln sich Schlangen.208
Die Medusa lebt in den bürgerlichen Verhältnissen weiter. Die sich bürgerlich einrichtende Medusa erinnert uns an den Stier des Minos, an den Minotaurus, im zweiten Roman der Trilogie, der verehrt im Kreise des Volkes lebt. Im
Roman Tauben im Gras stellt die Gorgo Medusa das Böse in der deutschen
Geschichte dar – den Nazionalsozialismus. Auch Langer schreibt darüber:
„Ideale gedeihen in einer solchen Welt nicht; Perseus, der Überwinder der
Meduse wird nirgends geboren. Die Bewußtseinsveränderung hat nicht stattge208
Vgl. Edward Tripp (Übersetzung von Rainer Rauthe): Reclams Lexikon der antiken
Mythologie. Stuttgart 1991, S. 423-426.
167
funden. Hinter der Maske der Bürgerlichkeit lebt dieselbe Mentalität weiter,
die den Faschismus möglich machte.“209
Die Geschichte von Romulus und Remus, die von einer Wölfin gesäugt
wurden, ist im Zusammenhang mit Roms Gründung bekannt: Romulus und
Remus waren Zwillingssöhne des Mars und der Rea Silvia. Amulius ließ die
kleinen Kinder in einem Korb auf dem Tiber aussetzen, der aber ans Ufer
trieb, wo die Knaben von einer Wölfin gesäugt und einem Specht genährt
wurden. Wolf und Specht waren dem Vater der Kinder, Mars, heilig. Nachdem
Romulus Remus getötet hatte, gründete er eine Stadt, die er nach seinem Namen Rom nannte.210 Die heutige Wölfin ist ausgemergelt und nicht fähig, Romulus und Remus zu säugen. Der Mythos wird damit zurückgenommen, die
Gründung Roms durch Romulus bezweifelt. Es vollzieht sich die Dekomposition der Götter, ihre mythologische Weisheit gilt für die Gegenwart nicht
mehr. Sie sind, wie Quack schreibt, „allenfalls Sehenswürdigkeiten für die
Touristenbranche, Objekt der Sozialversicherung oder ein Gegenstand für
psychiatrische oder tiergärtnerische Betreuung.“211
Die Gegenwart wird von Touristen repräsentiert: Diese Menschen der Gegenwart staunen und wirken so, als ob sie auf ein Wunder warten würden. Ihre
Blicke wenden sich dem Licht des Fensters zu, in dem ihre Gesichter wie ein
Teig wirken, den ein Bäcker erst noch kneten und der Ofen färben wird. Es
wird die Verachtung der gestaltlosen Masse ausgedrückt, die sich passiv wie
Brotteig kneten läßt. Raffael, der mit den Göttern im Pantheon begraben ist,
wird ein Liebling Apolls genannt. Er ist ein „Glückskind Apolls“, ein Halbgott, physisch ist er sterblich, aber seine Werke überdauern ihn. Die Nennung
Raffaels führt eine Künstlergestalt ein, so wird der ganze Bereich des Mythos
als Problem der Kunst betrachtet. Raffael wird dem modernen Künstler gegenübergestellt:
Raffael wurde jedenfalls für die deutsche Romantik geradezu zum Inbegriff einer vorreflexiven, göttlich-anmutigen Schönheit der Kunst, seine
Natur, die unbeschwerte Produktion und die Einheit von Schönheit und
209
Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 180.
Vgl. Reclams Lexikon der antiken Mythologie, a. a. O., S. 469.
211
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 235.
210
168
Glaube wurden zum Paradigma einer begnadeten Kunstproduktion gemacht, die gleichsam „ohne Arbeit“ entstehen konnte.212
Richner meint dazu, daß dem Zeitgenossen Koeppen nur die Sehnsucht
nach dem vollkommenen Zustand des Goldenen Zeitalters bleibe. Er schreibt:
„Es zeigt sich hier, daß Koeppen einen letzten schwachen Halt seiner existentiellen Labilität manchmal noch im Mythos findet.“213 Mit dieser Aussage
Richners bin ich nicht einverstanden, denn Koeppen verwendet die mythologischen Hinweise in umgedeuteter Form. Ich teile die Meinung von Hielscher,
der in diesem Zusammenhang schreibt:
[...] es handelt sich nicht um einen reinen Dekadenzgedanken, der mit
den Anspielungen auf die griechische Mythologie ausgedrückt wird,
sondern darum, daß die ekstatischen Qualitäten der Götter, um derentwillen sie von Menschen erfunden und ihr Leben verklärt wurden, nicht
mehr gewährleistet sind, seit es Geschichte gibt, seit die goldene Zeit
vorüber ist.214
Diejenigen, die mit Raffael zusammen begraben sind – Vertreter der Kirche, der Politik, des Militärs – sind gegen den Untergang ohnmächtig. Die
institutionellen Vertreter der Macht werden negativ bewertet. Die Reisenden,
die Romangestalten, die ins Licht blicken, erscheinen als formbar; sie suchen
Orientierung. Es wird hier nach den Möglichkeiten der Kunst gefragt: Kann
sie noch nach Raffaels Tod ihre Rolle erfüllen? Auf diese Fragen suchen auch
die Romangestalten eine Antwort.
2.2. Der zweite Prolog
Im zweiten Prolog wird untersucht, welche Wirkung die christliche Religion in der Geschichte der Menschen haben kann.215 Der Papst betet in seiner
212
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 135.
Thomas Richner: Der Tod in Rom. Eine existential-psychologische Analyse von
Wolfgang Koeppens Roman, a. a. O., S. 25.
214
Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 137.
215
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 236. und Gerhard Pinzhoffer:
Wolfgang Koeppens „Tod Rom“, a. a. O., S. 47-51.
213
169
Kapelle vor dem Bild des Gekreuzigten und der Mutter Gottes, aus den Wolken schaut der Heilige Petrus herunter.
[...] der Papst betete für die Christen und für die Feinde der Christenheit,
er betete für die Stadt Rom und für die Welt, er betete für die Priester in
aller Welt und betete für die Gottesleugner in aller Welt, er bat Gott, die
Regierungen der Länder nach seinem Willen zu erleuchten, und er bat
Gott, sich auch den Beherrschern der rebellisch gesonnenen Reiche zu
offenbaren, er erflehte die Fürbitte der Mutter Gottes für Bankiers, Gefangene, Henker, Polizisten, Soldaten, für Atomforscher und die Kranken und Krüppel von Hiroshima [...] (2,479)
Der Papst zählt in seinem Gebet alle nur denkbaren Menschentypen auf.
Von seiner Fürbitte schließt er nicht einmal die Schuldigen aus. Judejahn
scheint die Möglichkeit der Erziehung der Menschen durch den christlichen
Glauben zu widerlegen: „Päpste hatten im Garten gebetet. Ihr Gebet war nicht
erhört worden; oder was um Himmels willen hatten sie von Gott verlangt?
Zweitausend Jahre christlicher Erleuchtung und am Ende lebte Judejahn!“
(2,465). Der Erzähler teilt die These von der Verantwortung der christlichen
Kirche und des Papstes für das Morden im Zweiten Weltkrieg: „[…] oder hatte
der Hirt der Christenheit sich wenigstens vom Töten abgewandt, er wenigstens, er allein, und hatte vor aller Welt bekannt: ‘Seht, ich bin machtlos, sie
töten gegen Gottes Gebot und gegen mein Hirtenwort’“(2,465).
In seinem Gebet beschwört der Papst die gesamte Zeit des Christentums
herauf, angefangen von den Vorläufern bis zu den Nachkommen. Der Bogen
umspannt die Geschichte der christlichen Religion vom antiken Rand ihrer
Erscheinung bis zu ihrem zeitgenössischen Ende: „und die neu angekommenen
neuen Heiden mischten sich unter die neuen Heiden, die schon in der Stadt
wohnten, und sie waren gottloser und gottferner als die alten Heiden, deren
Götter zu Schatten geworden waren“ (2,480). Der Papst denkt auch an die im
ersten Prolog erwähnten Götter: „an die Götter von Ostia antica, an die irrende
Seele der alten Götter in den Ruinen“ (2,479). Die antiken Götter und Gestalten werden durch das Todesmotiv verknüpft. Auch der Papst wird im Reich
der toten Heiden und toten Christen zu einem Schatten, der aber durch die
Sonne abgelöst wird:
170
War auch der Papst ein Schatten? War auch er auf dem Weg zu den
Schatten? Einen schmalen, einen unendlich flüchtigen, einen unendlich
rührenden Schatten warf der Papst auf den Purpurboden seiner Kapelle.
Der Schatten des Papstes dunkelte den Purpur des Teppichs zu Blut. Die
Sonne war aufgegangen. (2,480)
3. Lebensmöglichkeiten in der ersten und zweiten Geschichte
Ähnlich wie bei den ersten beiden Romanen der Trilogie werden auch in
Tod in Rom zwei Geschichten (genauer zwei Phasen einer Geschichte) erzählt:
Die erste spielt in der Vorkriegszeit, während des Krieges und in der ersten
Zeit nach der Niederlage, die zweite in der Zeit zwischen dem 6.und 8. Mai
1954 in Rom; allerdings wird während der Handlung an diesen drei Tagen die
ganze Problematik der Vergangenheitsbewältigung und der Möglichkeit von
Leben unter verschiedenen Bedingungen dargeboten.
Die Handlung der ersten Geschichte wird in die der zweiten eingebettet
und so können beide aufeinander bezogen werden. Die Gruppierung der Figuren erfolgt nach den dominanten Werten im Wertesystem der einzelnen Figuren: Macht, Kunst, Religion und Liebe. In der Analyse geht es jedoch nicht nur
um Charakteristik und Gruppierung der Figuren, sondern ich gehe davon aus,
daß eine Geschichte immer eine Veränderung der Wertqualitäten bedeutet, die
vor allem in Bezug auf die Figuren zu bestimmen ist.216 In diesem Roman
stehen nicht Treffen und Trennung der Liebespaare im Mittelpunkt, sondern
die Darstellung der Veränderung der Wertdominanzen und Denkformen der
einzelnen Romanfiguren.
3.1. Die erste Geschichte
Zu Beginn der ersten Geschichte bilden die Familien Pfaffrath und Judejahn noch eine Einheit: Die Kinder werden auf die Ordensburg geschickt, um
eine militärische Erziehung zu erhalten. Der Generaldirektor Kürenberg diri216
Vgl. Árpád Bernáth: Heinrich Bölls historische Romane, a. a. O., S. 68.
171
giert im Theater der Stadt. Aus den Erinnerungen der Gestalten erfahren wir,
wie die einzelnen Personen ihre Möglichkeit zu leben unter bestimmten Bedingungen gewählt haben, an der sie noch in der zweiten Geschichte festhalten. Die Wahl der älteren Generation z.B. führte zur Auflösung der Familie,
zur Trennung der Familienmitglieder voneinander und auch dazu, daß die
Kürenbergs ihre Heimatstadt verlassen mußten. Koeppen hat die Personen und
ihre Wahl auch psychologisch begründet.
3.1.1. Die Möglichkeit des Lebens unter dem Aspekt der
Machtdominanz
Judejahn kann als eine Person charakterisiert werden, die primär von Angst
bestimmt ist. In der Kindheit hatte er Angst vor dem Vater, der eine autoritäre
Persönlichkeit war; der Volksschullehrer beschimpfte ihn immer: „Du bist
dumm, du hast deine Aufgaben nicht gelernt, du bist ein schlechter Schüler,
eine Null, die aufgeblasen wurde“ (2,429). Den negativen Einfluß des Vaters
kann er auch später nicht bewältigen, „in jedem Tuch blieb er unverkennbar
der alte Judejahn, ein infantiler Typ, ein düsterer Knabenheld, der nicht vergessen konnte, daß sein Vater, ein Volksschullehrer, ihn geprügelt hatte, weil
er nichts lernen wollte.“ (2,408)
Schon in jüngsten Jahren findet er im Nationalsozialismus einen gewissen
Halt, hier versucht er „den kleinen Gottlieb“ zu kompensieren. Der Militarismus und die nationalsozialistische Ideologie bedeuten für ihn Sicherheit und
Lebensziel. Vom Vater zu Autoritätsgläubigkeit erzogen, braucht er auch später jemanden, dem er gehorchen kann, „brauchte er den Führer als Verkörperung und weithin sichtbaren Gott der Macht, den Befehlsgeber, auf den er sich
berufen konnte vor dem Schöpfer, den Menschen und dem Teufel: Ich habe
immer nur gehorcht, ich habe stets nur Befehle ausgeführt“ (2,428). 1915 will
er die Schule verlassen und einrücken, aber man nimmt ihn beim Militär nicht.
Zwei Jahre später kann er das Notabitur machen und wird zum Offizierslehrgang zugelassen, dann wird er Leutnant.
Seine weitere Lebensgeschichte, die Zeit zwischen der Jugendzeit und der
Erwachsenenzeit, kann als eine negative Bildungs- oder Initiationsgeschichte
aufgefaßt werden: Es ist eine Verführungsgeschichte, in der Hitler und seinesgleichen den Verführer spielen. Volker Hoffmann betrachtet die Teufelspakt172
geschichten als eine Untergruppe der narrativen Lebensgeschichten bzw. der
Lebensteilgeschichten.217 Judejahns Verpflichtung der Ideologie Hitlers gegenüber kann dabei auch als ein Teufelspakt verstanden werden. Auf Judejahn
trifft zu, was Hoffmann über die Teufelspaktgeschichten des 19. Jahrhunderts
schreibt: Der Verführer bietet dem jungen Mann gegen einen gering erscheinenden Preis Höchstwerte an Reichtum, Erotik und vor allem Macht an. Hier
kann man auch von der Vervielfältigung der Verführerfiguren und der Paktsituationen sprechen; im Zusammenhang mit der Vervielfältigung der Verführerfiguren kommt es nämlich auch hier zu einer paradoxen Rollenkombination:
Der Verführer ist ein Verführter und der Verführte verführt seinerseits. So
heißt es im Roman:
[...] und er begriff noch immer nicht, daß diese Sonne, von der er Befugnis zu töten geliehen hatte, auch nur ein Betrüger gewesen war, auch nur
ein schlechter Schüler, auch ein kleiner Gottlieb, doch des Teufels auserwähltes Werkzeug, eine magische Null, eine Schimäre des Volkes, eine Luftblase, die schließlich platzte. (2,429)
Die Konvertibilität von Verführer- und Verführtenrolle hat schon in den
Teufelspaktgeschichten des 19. Jahrhunderts zur Konsequenz, so Hoffmann,
daß der Verführer seinen ontischen Sonderstatus verliert: Er wird entdämonisiert und vermenschlicht. Im Tod in Rom werden weder Hitler noch Judejahn
als wirklich existierende übermenschliche Dämonen aufgefaßt, darauf wird im
Text mehrmals hingewiesen. Der Verweis auf den Teufelspakt, eine gewisse
Konservierung des überholten dämonologischen Wissens, wird durch die Einbeziehung des Volksaberglaubens und der bildlichen Redeweise erreicht: „Judejahns Zwingreich und Marschverband, sie waren in die Hölle zu wünschen“
(2,407), über Benito, den Kater, denkt Judejahn: „Warum hatte er das Biest
hergebracht? War Magie im Spiel?“ (2,407), Siegfrieds Gedanken über Judejahn sind folgende: „Und Judejahn hatte der Teufel geholt, so hatte ich gehofft, und wenn der Teufel ihm nun Urlaub gegeben hatte, dann war es des
Teufels Sache“ (2,469), über Judejahns Spazierfahrt mit Laura heißt es: „Er
kutschierte in des Teufels Hohlweg.“ (2,522), seine Flucht nach Ilses Ermor217
Vgl. Volker Hoffmann: Strukturwandel in den „Teufelspaktgeschichten“ des 19.
Jahrhunderts. In: Michael Titztmann (Hg.): Modelle literarischen Strukturwandels. Tübingen
1991, S. 117-128. Hier: S. 117.
173
dung ist wie eine Höllenszene beschrieben: „Die Straße war eng, und auf ihrem Grund fuhren die Automobile, kreischten, ratterten, machten einen Höllenlärm und sahen wie kriechende Ungeheuer unter dem roten Nebel aus“
(2,575), über Judejahns Tod wird geschrieben: „Niemand weiß, was in ihm
vorging; ob er nach Walhall ritt, ob Teufel ihn holten, ob seine Seele aufjauchzte, weil die Rettung nah war.“ (2,579).
Hoffmann sieht einen wichtigen Unterschied zwischen den goethezeitlichen und den spätrealistischen Teufelspaktgeschichten. Die goethezeitlichen
Figuren würden den Pakt mehr oder weniger bewußt schließen, sie wüßten
oder ahnten, daß sie dem Teufel gegenüberstehen. Judejahns Pakt wird aber
völlig undramatisch geschlossen, er ist das Ergebnis einer langen psychologischen und politischen „Entwicklung“. Und diese Tatsache stellt auch einen
Unterschied zu den von Hoffmann analysierten Teufelspaktgeschichten dar,
denn im Falle Judejahns geht es nicht um eine angeborene Anlage: Judejahn ist
kein geborener Teufel.218
Die Kaserne und die Kameraden boten Judejahn das Gefühl der Sicherheit.
Jede Haltung, die von seiner abweicht, bezeichnet er mit Schimpfworten. Die
Pfaffraths kritisiert er wegen ihrer Anpassungshaltung, denn die Position des
Bürgers ist für ihn nicht akzeptabel, er ist bürgerfeindlich. Um seine Angst zu
überwinden, wird Judejahn zum Angstobjekt, Siegfried erzählt davon, daß er
sich immer vor ihm fürchtet. Außerdem bedeutet Kommunikation für Judejahn
Wutausbruch, Aggression, Befehle, und er erkennt die Macht des Todes; er hat
oft Todesangst. Um seine Todesangst zu bewältigen, verwandelt er sich in
einen Todbringer und wird zum personifizierten Tod. Als überzeugter Nationalsozialist wird er zum überzeugten Vertreter der „Endlösung“. Besonders
seine triebhafte Sinnlichkeit macht ihn für die nazistische Ideologie anfällig.
Quack weist diesbezüglich auf die unübersehbare sexuelle Komponente des
völkischen Judenhasses hin: „Was Judejahn empfindet, wird treffend
‘Lusthaß’ bezeichnet, und es wird deutlich, daß dieses perverse Sexualmotiv
Judejahn auch bei den von ihm befohlenen Liquidierungsaktionen leitete
(2,548,cf.575)“.219 Im Zusammenhang mit diesem Gedanken müssen auch
Judejahns Wachträume in der Jugendzeit zitiert werden: „es war Sünde, sich
mit Jüdinnen zu vermischen, es war Artur Dinters vom kleinen Gottlieb ver218
219
Vgl. ebd. S. 124.
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 208.
174
schlungene Sünde wider das Blut, aber der Gedanke an die Sünde reizte die
Hoden, […]“ (2,549). Judejahn wird schließlich in Nürnberg in seiner Abwesenheit zum Tode verurteilt, kann aber entkommen.
Zur Zeit des Romangeschehens ist er militärischer Ausbilder in einer arabischen Kaserne in der Wüste, die ihm die Illusion der Macht geben kann. Es ist
niemand anderer als Judejahn, der das Ende der bürgerlichen Kultur prognostiziert: „Judejahn dachte an die Nacht des Reichstagsbrandes. Das war eine
Erhebung gewesen! Man war angetreten! Eine Epoche hatte begonnen! Eine
Epoche ohne Goethe!“ (2,425). Eva, Judejahns Frau, war während der NS-Zeit
Mitglied der Frauenschaft; auch sie ist nach der Niederlage eine Endsieggläubige, die um Hitler und Großdeutschland trauert. Eva betrachtet ihren und
Judejahns Ehebund als eng mit dem Dritten Reich verbunden. Dieser Bund
war mit Hitlers Tod gelöst. Sie empfindet sich und Judejahn schließlich als
schuldig: Das ist „die Schuld der Heilsüberlebung“ (486).
Friedrich Wilhelm Pfaffrath und seine Frau stellen „die bitter-böse Karikatur des Deutschtums, der Bürgerlichkeit und des Sippendenkens“220 dar, durch
ihr Bild wird der ungebrochene und gefährliche Nationalismus der deutschen
Familie verdeutlicht. Die Pfaffraths leben stets in der Warteposition, denn sie
wollen an Macht geraten. Richner betont, daß „der Wille zum befehlenden
Über-Menschen, zum brutalen, Leiden und Schmerz fordernden und bringenden Vater [...] das masochistische Verhältnis deutscher Bürgerlichkeit zu ihren
nationalen Führergestalten bloß (stellt)“.221 Friedrich Wilhelm Pfaffrath ist ein
protestantischer Pfarrersohn, aber ist trotzdem nicht christlich; am wenigsten
nächstenliebend. Er verfälscht seine Vergangenheit sogar vor sich selbst: Nach
seiner Erinnerung hat er Kürenberg gefördert, den Mord an Aufhäuser hat er
aber gutgeheißen und sich nie für zuständig erklärt, wenn man ihn um Hilfe für
Juden oder andere Verfolgte bat. Er fürchtete damals Judejahn, auch deshalb
wagte er nicht zu helfen. Dietrich wurde ebenfalls auf der Ordensburg erzogen,
er spielt in der ersten Geschichte aber keine große Rolle. Daß seine Erziehung
mit „Erfolg“ gekrönt war, erfahren wir in der Nachkriegsgeschichte, in der er
sein wahres Wesen zeigt. Er war schon auf der Ordensburg ein berechnender
Junge, denn er erinnert sich an diese Zeit mit den Worten: „auf der Ordensburg
beneidete ich Adolf, weil sein Vater so viel mehr war als mein Vater“ (2,487).
220
221
Thomas Richner: Wolfgang Koeppen: „Der Tod in Rom“, a. a. O., S. 88.
Ebd. S. 89.
175
Eva Judejahn, Friedrich Wilhelm, Anna und Dietrich Pfaffrath können auch
als Verführte gelten, sogar als lebenslang Verführte und ebenfalls als Verführer.
3.1.2. Lebensmöglichkeiten unter dem Aspekt der Kunstdominanz
Siegfried Pfaffraths Kindheitserinnerungen sind von Tod, Kälte und Verachtung geprägt, denn er hat niemals Geborgenheit erfahren. Die Ursache
seiner Selbstverachtung und seines Selbsthasses liegt in seiner Familie: „die
Schwestern Klingspor waren unsere Mütter, und das bedeutet ein Jahrhundert
nationaler Dummheit, soldatischen Drills, deutschbürgerlicher Begrenzung, die
leider größenwahnsinnig und tobsüchtig wurde, wenn sie endlich aus ihrem zu
engen Bett brach.“ (2,502) Als ihm seine Eltern und Dietrich zu seiner Symphonie gratulieren, empfindet er die Begegnung als Bedrohung seiner Freiheit.
Er möchte sich vielmehr von seiner Familie befreien.
Im Konzertsaal stehen Lorbeer oder Oleander. Diese Pflanzen erwecken in
ihm die Vorstellung von Krematorien, vom Tod. „Variationen über den Tod
und die Farbe des Oleanders“; so hieß seine erste Arbeit, die er seiner Großmutter widmete, „der einzigen Person in seiner Familie, die er geliebt hatte“
(2,394f). Nicht umsonst hat ihn die Liebe mit der Großmutter verbunden, denn
sie war fremd in dem von Marschstiefeln widerhallenden Haus seiner Eltern:
Als Witwe eines Pastors war sie insgeheim gegen das Hakenkreuz, obwohl sie
diese Meinung nie aussprach. Das Motiv der Liebe kommt übrigens nur im
Zusammenhang mit der Großmutter vor. Die zweite Variante des Septetts
thematisiert die Rolle des Widerstandes. Hier erscheint die Musik als Möglichkeit zur Bewältigung seiner Traumata:
[...] es war Siegfrieds Auflehnung gegen seine Umgebung, gegen das
Kriegsgefangenencamp, den Stacheldrahtzaun, die Kameraden, deren
Gespräche ihn anödeten, den Krieg, den er seinen Eltern zuschrieb, und
das ganze vom Teufel besessene und geholte Vaterland. (2,395)
Siegfried setzt sich mit Kürenberg in Verbindung und bittet ihn um Beispiele der Zwölftonmusik. Er schätzte diese Musik gerade deshalb, weil sie
von seinen verhaßten Erziehern und von den Machthabern nicht akzeptiert
wurde. Kürenberg schickte Siegfried das Werk von Schönberg und Webern
176
ins Lager. Die Zwölftonmusik eröffnete dort für Siegfried eine neue Welt: Sie
symbolisierte die Entfernung von der Sippe, „in die geboren zu sein er immer
nur entsetzlich gefunden hatte“ (2,396). Kürenberg schätzt Siegfrieds Brief als
„eine Botschaft aus dem barbarisch gewordenen Europa, die Taube, die sagte,
die Flut weiche zurück.“ (2,405). Dieser Satz verweist auf 1 Mose 8.11: Noah
erfuhr vom Ende der Sintflut, als ihm eine Taube den Ölzweig als Zeichen des
Friedens in die Arche trug. Kürenbergs und Deutschlands Schicksal während
der NS-Herrschaft und nach dem Krieg ist mit dem Schicksal der Menschen in
der biblischen Vorlage vergleichbar. Durch die Wassermassen unterzog Gott
die alte Welt der Prüfung durch sein Gericht mit seinem doppelten Urteilspruch: Verdammung für die Schuldigen und Gnade für die Auserwählten. Bei
der Flut bestand die Verfluchung der Erde darin, den Menschen mit Hilfe der
Natur zu vernichten. Der nach der Sintflut geschlossene Bund aber ist ein
Bund des Lebens. Seine Bedingungen umfassen die Ausbreitung des Lebens,
seinen Schutz und seine Heiligkeit. Koeppen vergleicht Deutschlands Schicksal mit dieser Katastrophe, mit der Sintflut, die durch die Schuld der Menschen
verursacht wurde. Kürenberg und seine Frau gehören dabei zu den Geretteten,
die in ihrer „Arche“, d.h. in der Emigration die Katastrophe überleben können.
Die Flut ist zurückgewichen, aber der Roman weist darauf hin, daß die Schuldigen weiterleben und so der Schutz des Lebens nicht gesichert ist. In diesem
letzten Punkt weicht der referierende Text von der biblischen Vorlage entschieden ab.222
Die beiden Burschen am Tiberufer sind häßlich, doch binden sie Siegfried
symbolisch an die verhaßte Erziehung in der Ordensburg, die sein Bedürfnis
nach Liebe und Begehren von „nackten Knabenkörper[n]“ sich entwickeln
ließ. Die Ursache seiner Päderastie sieht Siegfried also nicht in seiner Konstitution, sondern in der Welt der nationalsozialistischen Erziehungsanstalt, die
nicht ohne Folgen geblieben sei:
Ich wollte einsam sein, aber manchmal sehnte ich mich nach Nähe, nach
Berührung, nach einem Herden- und Stallgeruch, nach einer Welt leiblicher Gemeinsamkeit, die ich verloren und von der ich mich losgesagt
hatte, einem Zwang, aus dem ich mich befreit glaubte, die Jungenswelt
222
Der Ölzweig war schon in Alt-Rom in erster Linie Symbol der Friedensgöttin (Pax).
Die Taube mit dem Zweig des Ölbaums im Schnabel ist auch Pablo Picassos Friedenstaube,
die Picasso 1949 für den Weltfriedenskongreß in Paris lithographierte.
177
der Ordensburg, den Geruch der großen Schlafsäle, die nackten Knabenkörper in spartanischer Erziehung [...] und weiter die Welt der Männerbünde, die Horte, Lager und Heime der nationalen Bewegungen [...].
(2,504 f.)
Siegfried erkennt Kürenberg in Rom erst, als sie gemeinsam geklärt haben,
daß Kürenberg früher in Siegfrieds Heimatstadt dirigiert hat. Siegfried erinnert
sich an die Geschehnisse nicht genau, denn damals war er noch ein Kind. Die
Szene aber, als Kürenberg seinen Vater besuchte, um seinen Schwiegervater
freizubekommen, hat sich ihm klar eingeprägt. Er weiß noch, daß sein Vater
Kürenberg geraten hat, an seine Karriere zu denken und sich scheiden zu lassen. Der alte Aufhäuser wird als ein Mensch mit humanistischer Bildung geschildert: „ein Bibliophile, und ich fand Erstausgaben der Klassiker und der
Romantiker, [...] Erstausgaben der Brüder Mann, die Werke von Hofmannsthal, Rilke, George.“ (2,434) Siegfried nahm einige Bücher mit nach Hause.
Aufhäuser, der Häftling, wurde später erschlagen. Aufhäuser und sein literarisches Interesse erinnern an Edwin und seine Lieblingsdichter im ersten Roman
der Trilogie.
3.1.3. Die Möglichkeit von Leben unter dem Aspekt der Dominanz
des Glaubens
Adolf erzählte Siegfried das Ende der Ordensschule, dieser nationalsozialistischen Erziehungsburg. Die Kinder in der Uniform der Parteischule wurden
alleingelassen, und dabei führte Adolfs Weg ihn in eine Kirche, wo ihn ein
Priester fand. Hier entstand schließlich der Wunsch, dem Herrn zu dienen,
denn Adolf konnte keinem Menschen mehr glauben. Der Priester predigte aus
dem Evangelium nach Johannes:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer mein Wort hört und dem glaubt,
der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das
Gericht, sondern ist schon vom Tod zum Leben übergegangen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde, ja sie ist jetzt schon
178
da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und
die auf sie hören, werden leben. (2,462)223
Dieses Bibelzitat gehört zu den wenigen im Roman, in denen die Bedeutung einiger Elemente des Bibeltextes beibehalten wird; in den meisten anderen Fällen handelt es sich stets um die Umkehrung der Bedeutung der Bibelzitate im Roman. Das Bibelzitat drückt den Gedanken aus, daß die endgültige
Entscheidung für ewiges Leben oder Tod schon im irdischen Leben getroffen
wird. Die Millionen von Entscheidungen aber sind in Raum und Zeit verstreut,
sie offenbaren sich erst im Jüngsten Gericht, wenn die Toten aus den Gräbern
auferstehen, „die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber
Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh,4,29). Adolf denkt an
seine nationalsozialistischen Erzieher, die die Erde erobern wollten, nicht das
Heilige Grab, „doch scheuten sie Gräber nicht“. (2,462) Die Wege des irdischen Vaters Judejahn und seines Sohnes Adolf gehen hier auseinander: Adolf
wählt den Glauben und damit das Leben, Judejahn geht seinen Weg des Todes
weiter. Tod und Leben werden in der Bibel als zwei scharf voneinander getrennte Bereiche gesehen: Der Glaube ist dabei das Mittel, durch das der
Mensch von einem in den anderen Bereich hinübergeht. Adolf, der den Glauben gewählt hat, hat das Gericht schon in gewissem Sinne hinter sich, während
Judejahn, der Übeltäter, nichts als das Gericht zu erwarten hat.
Siegfried bewertet Adolfs Wahl folgendermaßen: Dieser sei aus Furcht vor
sich selbst der freien Selbstbestimmung ausgewichen. Adolfs Lebensprinzip ist
aber die christliche Liebe, die Agape. Pinzhoffer versteht seine Wahl so, daß er
durch seine Erziehung nur eine Möglichkeit erlernt hat, mit der Welt umzugehen: Im Handeln dem Herrn zu dienen, an einen Herrn zu glauben. Er ist vom
weltlichen Herrn befreit, so gehorcht er einem anderen Herrn, dem geistlichen,
den er seinen Gott nennt: „Gott ist nicht die Bedingung einer Möglichkeit
unter vielen, Ich und Welt eine Form zu geben, sondern ist die Möglichkeit
einer einzigen Form, des Glaubens an den Herrn.“224
223
224
Joh, 5,24-2
Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S 107.
179
3.2. Die zweite Geschichte
3.2.1. Das Leben unter den Bedingungen der Macht. Der Gott des
Todes und die bürgerlichen Gorgonen
Judejahns Auftritt im Roman wird folgendermaßen beschrieben:
Ein großes Automobil, lackglänzend, schwarz, geräuschlosen Getriebes,
ein funkelnder dunkler Sarg, spiegelblank und undurchsichtig die Fenster, war vor dem Pantheon vorgefahren. Der Wagen sah wie ein Gesandtschaftsauto aus, der Botschafter Plutos, der Minister der Hölle oder
des Mars mochte drinnen auf schwellenden Polstern sitzen, [...]
(2,401)225
War er Odysseus, der die Götter besuchen wollte? Er war nicht Odysseus, der verschlagene König Ithakas; dieser Mann war ein Henker. Er
kam aus dem Totenreich, Aasgeruch umwehte ihn, er selber war ein
Tod, ein brutaler, ein gemeiner, ein plumper und einfallsloser Tod.
(2,402)
Judejahn ist im Pantheon zu Besuch. Der Gott des Todes bzw. der Unterwelt und des Tötens besucht damit die antiken Götter. Pluto ist ein euphemistischer Name für Hades; dieser Beiname weist auf den Reichtum des Unterweltgottes und Judejahns hin. Mars ist der römische Gott des Krieges. Die Verflechtung der Macht und des Geldes mit dem Krieg wird schon in diesem Satz
thematisiert. Diese Zeilen lassen ahnen, und es wird später auch bestätigt, daß
die Welt in räumlicher Weise differenziert werden kann, mit dieser räumlichen
Differenzierung von Unten und Oben, von Hölle und Himmel werden auch
Charakterzüge der Figuren verbunden. Zwischen Hölle und Himmel verläuft
die Grenze des Todes, dessen Verwalter Judejahn ist. Pinzhoffer hat die räum225
Das lautlos dahingleitende Auto erinnert an eine Gondel und beide erinnern an einen
Sarg. Auto, Gondel und Sarg erinnern an die Bewegung in der Ruhe, an den Zerfall des
liegenden Körpers im Grab. Gleichzeitig wird das Eingeschlossensein in einem engen Raum
assoziiert. Als miniaturisierte Gefängnisse rücken Auto, Gondel und Sarg in die Nähe der
Kerkerphantasien. Judejahn lädt Laura zu einer Spazierfahrt ein, die sie gerne annimmt: „[...]
stieg ein, und, so sind die Frauen, das Lächeln stieg in einen Käfig“. (2,520) Vgl. Christopher
Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a. a. O., S. 30-31.
180
liche und zeitliche Gliederung der Bilder untersucht. In den Bildern seien nämlich die sinnlichen Erfahrungen Roms und die Erfahrungen mit dem Tod ausdifferenziert. Nach Pinzhoffer deutet der Palast auf einen umfassenden Raum
hin, in dem Rom als Himmel und als Hölle erscheint. Die Schönheit der Architektur und die historische Größe Roms würden als Inbegriff von menschlicher
Kultur in der Vollkommenheit des Palastes dargeboten. Der Palast aber bedeute nicht nur Kultur, sondern auch einen Bodensatz der Barbarei in Gestalt des
Gefängnisses.226
Ein Palast der Kultur ist die im Roman mehrmals erwähnte Engelsburg oder die Papstburg. Ihre Pforte führt in die Prunkgemächer der Päpste, aber
auch in den Kerker, wo die Gefangenen der Päpste litten. Judejahn besucht den
Kerker in der Papstburg: „Auch ein großes schwarzes Automobil stand vor der
Engelsburg. Ein rechtes Höllenfahrzeug. Vielleicht hatte der Teufel in der
alten Papstwohnung noch alte Geschäfte.“ (2,504) Judejahns Höllenfahrt wird
ausführlich beschrieben: Er sieht ihm bekannte Geräte wie Waffen, Rüstungen
und Kriegsgerät. Er selbst, der Kerkermeister im Dritten Reich war, fühlt sich
im Gefängnis zu Hause. Im untersten Kerker tritt er an das Grab des lebendigen Leibes, und während Adolf bei seinem Besuch von dem Grab des lebendigen Leibes erschüttert wird, findet Judejahn „Kriege und Kerker, Gefangenschaft und Tod“ (2,509) menschlich. Er kennt auch die Geschichte von Petrus,
aber sein Verständnis des Märtyrertums widerspricht dem von Adolf völlig:
„Petrus war am Marterkreuz gestorben, und seine Amtswalter hatten den Martertod ihren Feinden bestellt, so würde es bleiben, und so war es gut.“ (2,509)
Am Ende des Besuches wird Judejahn erneut mit dem Teufel identifiziert:
„Der Teufel mochte sein Geschäft in der Papstburg wohl erledigt haben, […]“
(2,510)
Ein weiterer Besuch in der Unterwelt ist das Hinabsteigen in den Weinkeller mit deutscher Küche: „In dem Keller mochten Ratten nisten, aber es zog
Judejahn hinab, [...] hinunter in diesen Keller, die feuchten schmutzigen Steinstufen hinab, die Freßlust trieb ihn. […]“ (2,453). Die Männer, die er im Keller
trifft, waren ihm einst unterstellt, „sie hatten Bevölkerungsfragen für den Führer gelöst“ (2,455f), was bedeutet, daß sie viele getötet haben und am Völkermord beteiligt waren. Die Zechkumpane sind nach Judejahn „Galgenvögel,
verlorene Haufen. Ihre Gesichter waren wie die Gesichter der Leichen“
226
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 24-34.
181
(2,455f). Judejahn mißbilligt die Kameraden, weil sie zur österreichischen
„Mischrasse“ gehören, er betrachtet sie, „wie die Kobra die Kröte betrachtet“
(2,456). Bald entdeckt er die Absicht der beiden Galgenvögel: sie wollen ihn
liquidieren. Er kann ihnen aber entkommen, weil er das Fememuster kennt,
schließlich hat er es mit anderen erfunden. So befiehlt er zum Bahnhof zu fahren, denn „der Bahnhof war ein Ziel. [...] Man konnte untertauchen, abreisen,
wieder verschwinden, wieder gestorben sein und nicht gestorben sein; Judejahn konnte eine Sage werden wie der Fliegende Holländer, und Eva würde
stolz auf ihn sein“ (2,463). Der Hinweis auf die Sage vom Fliegenden Holländer bestätigt Judejahns Rolle als Teufelsbündner im Roman. Sie berichtet von
einem holländischen Kapitän, der in seinem Verlangen, das Kap der Guten
Hoffnung bei schlechtestem Wetter zu umsegeln, die Elemente herausfordert.
Er empört sich gegen Gott, weshalb er dazu verdammt wird, bis zum Jüngsten
Tag auf dem Meer zu fahren. Diese Erzählung läßt den Holländer aber schon
zu Lebzeiten zum Teufelsbündner werden, denn als er eines Tages von seiner
Fahrt nicht zurückkehrt, ist man der Meinung, daß er wegen des Teufelspaktes
auf ewig verdammt sei, nie mehr einen Hafen anzulaufen. Außerdem soll die
Erscheinung des Geisterschiffes eine bevorstehende Katastrophe ankünden.
Judejahn, der von den Toten auferstandene Geist, ein Gespenst, ist derjenige,
der die Katastrophe nicht nur ankündet, sondern sogar verursacht.227
Der Erzähler spielt mit dem Wort „Teufel“. Judejahn wird „der Teufel“ genannt. Damit meint er einen Teufel im übertragenen Sinne des Wortes, einen
teuflischen Menschen. Judejahn hätte die beiden Kameraden zur Meldung
bestellen können: „Zur Meldung in die Hölle? Judejahn glaubte nicht an die
Hölle. Er war erwachsen. Er war aufgeklärt. Die Hölle existierte nicht. Sie war
ein Kinderschreck. Der Teufel war der schwarze Mann der Pfaffen.“ (2,464)
Auf der Flucht findet Judejahn einen Tunnel, der ihn lockt: „Wieder ging er
durch ein Tor ins Unterirdische. Es war eine Hadespforte. Der Tunnel war
gerade und kühl gekachelt, er war eine Kanalisationsröhre des Verkehrs, in der
die Omnibusse dröhnten und Neonlichter der Unterwelt Leichenfarben gaben“
(2,464). Der Tunnel hätte sein Grab werden sollen, weil die Kameraden ihn
hier erschießen wollten, aber er kann den Tunnel unversehrt verlassen, die
Höllenhunde beißen ihn nicht, und „der Hades228 spuckte ihn aus“ (2,466).
227
Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 1992, S. 346.
Hades wird hier als Aufenthaltsort der Toten verstanden. Er erhielt seinen Namen von
seinem Herrscher, dem Hüter der Toten.
228
182
Judejahn wird außerdem nicht nur mit Teufel und Hades229 gleichgesetzt, er
erscheint auch als Bulle: „Judejahn kam. Er füllte das Zimmer. Er füllte mit
seiner gedrungenen Bullengestalt das Zimmer aus“ (2,525). Der Bulle, Stier
oder Minotaurus als Verkörperung des Bösen ist bereits aus dem Roman Das
Treibhaus bekannt.
Die Stadt Rom erscheint im Kontext der im Wertesystem der einzelnen Figuren dominanten Werte, so auch im Kontext der für die Pfaffraths und Judejahns typischen Machtdominanz:
Macht hatte diese Gärten geschaffen, Macht die Villen, Macht die Paläste, Macht die Stadt gebaut, Macht die Mauer errichtet, Macht hatte die
Schätze herbeigeholt, Macht die Kunst angeregt, [...] aber die Macht war
für die Mitlebenden stets schrecklich, war Machtmißbrauch, war Gewalt,
war Unterdrückung, war Krieg, war Brandstiftung und Meuchelmord,
Rom war auf Erschlagenen gebaut, selbst Kirchen standen auf blutbesudelter Erde, [...]. (2,546 f.)
In einer Homosexuellenbar lernt Judejahn Laura, das Barmädchen kennen.
Wegen ihres verführerischen Lächelns wird sie von allen Besuchern der Bar
geliebt, und obwohl sie sich immer verrechnet, entläßt sie der Barbesitzer
nicht. Laura läßt sich gern von Männern verführen, um von ihnen Geschenke
zu bekommen. Ihr verführerisches Lächeln erweckt auch in Judejahn sexuelles
Interesse. Er vermutet, daß sie eine Jüdin ist, deshalb beschließt er, die Nacht
mit ihr zu verbringen und sie dann zu töten. So lädt er Laura zu einer Spazierfahrt ein, die eine von den Requisiten der Walpurgisnacht begleitete Fahrt ist:
Sie glitten langsam dahin, unsichtbare Kufen auf unsichtbarem Eis,
drunten schillerte die Unterwelt, tobten die Kobolde, wirrten die bösen
Wichtel, knirschten die Höllenschergen, waren erwartungsvoll, schürten
unsichtbare Feuer, badeten in Flammen, rieben sich geil ihr Glied, und
der Wagen fuhr durch die Porte Pinciana, sie sollten in den Park der Villa Borghese, […]. (2,520)
229
Hades bedeutet hier den Gott der Unterwelt. Die Griechen nannten den Gott im allgemeinen Plouton (lat. Pluto). Dieser Name, der mit „Reichtum“ zusammenhängt, war ein
Hinweis auf die Herrschaft des Gottes unter der Erde, woher der Reichtum der Früchte
wuchs.
183
Oliver Herwig hebt hervor, daß es Koeppen in Tod in Rom gelungen sei,
Beziehungslinien zwischen Machtausübung und sexueller Triebbefriedigung
herzustellen,230 zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Pinzhoffer..231 Die
Bindung an Laura verhindert Judejahns Rückkehr nach Deutschland oder in
die Wüste. In diesem Zusammenhang schreibt Pinzhoffer: „Was Judejahn an
Laura bindet und ihn davon abhält, nach Deutschland zurückzukehren, ist der
Wunsch, in Laura die Jüdin zu finden, deren Leib er sexuell mißbrauchen und
töten würde“.232 Aber es ist nicht nur Laura, die er beobachtet: Bei der Aufführung von Siegfrieds Symphonie sieht er Ilse Kürenberg, von der er sicher
weiß, daß sie eine Jüdin ist. Ihm wird plötzlich klar, daß er in Rom bleiben
muß, und er plant, die Lust durch „die Sünde wider das Blut“ zu befriedigen
und die „Sünde“ durch die Ermordung des Lustobjekts zu „sühnen“. Diese
Gedanken hatte er vorher auch im Zusammenhang mit Laura:
Er konnte sie hassen. Das war es, er brauchte eine Frau, um sie zu hassen, er brauchte für seine Hände, für seinen Leib einen anderen Leib, ein
anderes Leben, das zu hassen und zu vernichten war, nur wenn man tötete, lebte man – und wer als ein Barmädchen war jetzt für Judejahns Haß
noch erreichbar? (2,475)
Um seinen Wunsch zu erfüllen, muß er zweimal gegen nationalsozialistische Gesetze verstoßen. Die Lust an Laura kann er nur durch einen Verstoß
gegen das Verbot der „Sünde wider das Blut“ befriedigen. Er muß auch gegen
das nationalsozialistische Gebot des Tötens verstoßen, er tötet Laura nicht,
weil sie keine Jüdin ist und als „freie Kurtisane“ nur zu lieben ist. Judejahn
begeht also die „Sünde“ mit Laura und tötet dafür Ilse Kürenberg. Damit hat er
ein Leben getötet, aber nicht das Leben, das Repräsentamen der Liebe ist.233
Judejahn handelt auch hier wie in früheren Situationen aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus. Langer weist darauf hin, daß der an Laura geplante
230
Vgl. Oliver Herwig: Pandorabüchse der Not. Aufbau und Funktion des negativen
Geschichtsbildes in Der Tod in Rom. In: Gunnar Müller-Waldeck/Michael Gratz (Hg.):
Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die Ziellosigkeit, a. a. O., S. 62.
231
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 94-97.
232
Ebd. S. 96.
233
Vgl. ebd. S. 96 f.
184
und an Ilse Kürenberg vollstreckte Mord auch als Rache für den Fememord an
dem Kameraden verstanden werden kann234:
[…] wie treu war der deutsche Wald gewesen, lautlos wie der Wagen, in
dem man fuhr, schritt der Marschstiefel über den Waldesgrund aus Moos
und Tannennadeln vom Julbaum, und der Kamerad schritt voran im
Schwarzen Reiswehr-Gebüsch, Verrat Verrat Verrat krächzten die Raben, man hielt die Pistole umklammert, der Kamerad fiel in den Waldesgrund. [...] und in der Heide blüht ein Blümelein und schwarzbraun
ist mein Mägdelein, Heimweh Heimweh Heimweh, sie war nicht
schwarzbraum, die neben ihm saß, schwarz wie Ebenholz, welsch, vielleicht eine Jüdin, sie war bestimmt eine Jüdin, eine Aussaugerin, eine
Blutverderberin [...]. (2,521)
Hier geht es nicht nur um den Mord an Laura, sondern auch um den an einem Kameraden, einem durch Verrat zum Opfer gewordenen Kameraden.
Mord und Mordabsicht werden dabei montiert. Es ist eine Zitatmontage aus
Naturschwärmerei, Volkslied, Märchen und rassistischem Gedankengut.
Für Quack235 kann die Metapher des Netzes eine der Ursachen beschreiben, die dazu beitragen, daß Judejahn sich nicht danach sehnt, nach Deutschland zurückzukehren: Das Netz versinnbildliche die Zwänge der abendländischen Zivilisation, denen er in Deutschland unterworfen werden würde. Er
wolle sich von den Römern nicht besiegt sehen, denn „die abendländische
Zivilisation ist für ihn die Kolonisationsleistung des römischen Reiches“236.
Am Ende des Romans wird Judejahn aber doch von Rom besiegt, und im Museum, in dem er stirbt, wird sein Körper auf den Boden vor das Relief eines
Sarkophags gelegt: „Das Relief stellte einen Triumphzug dar, und hochmütige
Römer hatten gedemütigte germanische Krieger an ihre Pferde gefesselt.“
(2,578)
Judejahns Gedanken über seine Rückkehr lauten wie folgt: „Lohnte es
sich, heimzukehren? Noch stand ihm die Wüste offen. Noch war das Netz
deutscher Bürgerlichkeit nicht über den alten Kämpfer geworfen“ (2,430). Er
braucht den Schein der Sühne nicht, er will auch nicht begnadigt werden. Ihn
stört die Ahnung, daß die Menschen dahinterkommen könnten, wer er eigent234
Vgl. Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 242 f.
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 204.
236
Ebd.
235
185
lich ist. In den jetzigen politischen und soziokulturellen Realitäten Roms und
Deutschlands, wo die Pfaffraths wieder an der Macht sind, würden sich seine
Überlebtheit und Machtlosigkeit zeigen, die nur in der Wüste getarnt werden
können.237 Ihm wird dies allmählich bewußt, was dadurch ausgedrückt wird,
daß der Tod die Stadt nicht mehr beherrschen kann: „‘War er ein Gespenst?’
[...] Rom leuchtete. Aber ihm schien es eine tote Stadt zu sein, reif zum Abservieren, der Duce war geschändet, die Geschichte hatte Rom verlassen und mit
ihr der zu rühmende Tod“ (2,447). Auch die Freßgier ist ein Ausdruck seiner
Machtlosigkeit: Sie stellt eine Form der Vernichtung dar durch Einverleibung
dessen, was ihn anzieht und wovor er sich ekelt. Dabei ist er sowohl Subjekt
als auch Objekt. So wird Rom als ein großer verdauender Körper beschrieben,
von dem Judejahn einverleibt wird: „So trieb er ab, trieb in den Corso hinein,
einen langen Darm, gefüllt mit Wagen und Menschen. Wie Mikroben, wie
Maden, wie Stoffwechsel und Verdauung zog es durch den Längsdarm der
Stadt“ (2,445f.). Die Straße, die er betritt, wird zum Verdauungskanal; so deutet sich bereits der Zerstörungsvorgang an, dem Judejahn ausgesetzt wird.238
Die zweite Stufe der inneren körperlichen Zerstörung ist das Erleben der eigenen Verwesung: „Er fühlte, wie sein schwerer Leib sich in Würmer auflöste, er
erlebte lebendigen Leibes seine Verwesung, aber um der Auflösung zu begegnen, schlang er gegen alles Grausen weiter hinunter, was auf dem Teller lag“.
(2,429)
Der Satz „All die Blutwege und jetzt, das letzte Bild, die Hitze, die Dürre,
den Sand?“ (2,409) erinnert an Keetenheuves Guatemala-Imagination, die eine
Scheinlösung für dessen Probleme darstellt. Die Kaserne gibt Judejahn die
Illusion der Macht: „Die Kaserne war Heimat. Sie war Kameradschaft, sie war
Halt und Ordnung“ (409), und weiter: „Es war nicht ihre Unendlichkeit, die
ihn anzog, es war ihre Kahlheit. Die Wüste war für Judejahn ein großer Exerzierplatz, sie war die Front“ (2,209). Das Motiv der Wüste ist, wie alle dominierenden Motive im Roman, auf verschiedene Arten interpretierbar. Dies
hängt eng mit der Person zusammen, deren Attribut durch das betreffende
Motiv beschrieben wird. Das Afrika-Motiv oder das Motiv der Wüste wird
z.B. im Zusammenhang mit Siegfried völlig anders definiert. Die Kaserne und
die Wüste sind für Judejahn der einzige Ort, wo er sein Streben nach Macht
237
Vgl. Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 14.
Vgl. Hans-Ulrich Treichel: Fragment ohne Ende. Eine Studie über W. Koeppen.
Heidelberg 1984, S. 59.
238
186
ausleben kann. Im Zusammenhang mit dem kleinen Gottlieb konnte man bereits die psychologische Erklärung für das Zustandekommen seines Minderwertigkeitskomplexes kennenlernen: Der kleine Gottlieb hat Angst, die er nur
durch Machtausübung, d.h. Töten, kompensieren kann. Früher konnte dies zur
Bewältigung der Angst führen. Das Gefühl der Angst ist ein nicht bewältigtes
Gefühl, das Judejahn auch in der Kaserne plagt: „Es war der Geruch der
Angst; aber Judejahn wußte nicht, daß es der Geruch der Angst war. Er kannte
ja die Furcht nicht.“ (2,410) Die Angst will er in der Wüste durch Machtausübung kompensieren. Das Gefühl des Fremden bedeutet für ihn keine geistige
Erneuerung, keine Entwicklung der Persönlichkeit, sondern etwas, was er
hassen und demütigen kann:
Die Parade der Wüstensöhne! Er schaute sie an. Was er sah, waren
Mandelaugen, dunkle, glänzende, verräterische, war braune Haut, waren
gesengte Gesichter, Mohrenvisagen, Semitennasen. [...] Judejahn hatte
wenig Sinn für die Ironie des Schicksals. [...] Judejahn hatte diesen
Männern die Sanftmut genommen, die Sanftmut der Kreatur. Er hatte
ihnen den Stolz genommen, das natürliche Selbstgefühl der männlichen
Haremskinder. Er hatte sie gebrochen, indem er sie eines lehrte: Gehorchen. […] Sie waren einsatzbereit und konnten verheizt werden. (2,410)
Es kann nicht übersehen werden, daß sein Wüstenaufenthalt Züge trägt, die
auf die Wiederholung seiner Machtposition im Nazideutschland hinweisen; sie
hatte es ermöglicht, die Angst zu bekämpfen. Wie bereits erwähnt, spielt die
Möglichkeit der Machtausübung und des Tötens für die Verlängerung seines
Aufenthaltes in Rom und auch für das Nichtverlassen-Wollen der Wüste eine
wichtige Rolle: Die Wüste als „gottloses Nichts“ (2,411) wird als Gegenbild
zu religiösen Sinnsetzungen verstanden und drückt Judejahns alles vernichtenden Nihilismus aus. Judejahn glaubt nicht an Gott, glaubt nicht an die Auferstehung, er erkennt nur die Macht des Todes an:
Die Macht war der Tod. Der Tod war der einzige Allmächtige. Judejahn
hatte es hingenommen, er war nicht erschrocken, denn der kleine Gottlieb hatte es immer schon geahnt, daß es nur diese eine Macht gab, den
Tod, und nur eine wirkliche Machtübung, nur eins, was Klarheit schuf:
das Töten. Es gab kein Auferstehen. (2,442)
187
Wir begleiten Judejahn bei seinen Waffenkäufen. Der Besuch bei Austerlitz kann dabei als wichtig gelten, denn er setzt Judejahn und Seinesgleichen in
einen neuen Zusammenhang: Es stellt sich heraus, daß Judejahn nur ein kleiner
Fisch ist, die richtigen Haie, die großen Waffenexporteure, sind unauffällig, sie
lenken den Waffenhandel und dadurch auch die Weltpolitik im Hintergrund.
Es wird deutlich, daß Judejahn kein einsamer Kämpfer ist, der von der Wüste
aus Deutschland zurückerobern will. Austerlitz, den er wegen Waffenhandel
besucht, benutzt nicht seinen richtigen Namen. Er ist korrekt und vertrauenswürdig, seine Gewehre kommen im Hafen immer pünktlich an. Im zweiten
Roman der Trilogie wollte Keetenheuve die Aufrüstung verhindern, hier wird
die Möglichkeit kommender Weltbrände bezweifelt, und dieser Gedanke wird
nun im dritten Roman fortgesetzt. Die Welt rüstet auf, was mit der Steigerung
der Kriegsgefahr einhergeht: „Man hielt den Krieg am Schwelen. Vielleicht
sprang der Funke einmal über und entflammte neu die Welt. Investitionen
lohnten sich, der Tod war ein sicherer Schuldner“ (2,513).
Austerlitz hält Judejahn „für einen Mann der zweiten Linie“ (514). Austerlitz ist aber in diesem Geschäft nicht die wichtigste Person, er erwähnt „einen
General von Teufelshammer als zu den Getreuen gehörig und wieder am Werk
und nannte den kleinen Doktor, der schon beim großen Doktor Zuträger gewesen war“ (2,514). Diese Figuren sind für Judejahn nicht unbekannt, er kennt
sie aus früheren Zeiten. Diese Bösewichter stehen schon für eine neue Generation: Der eine von ihnen hatte studiert und galt als ein ehrgeiziger Intellektueller. Judejahn denkt daran, nun doch nach Deutschland zurückzukehren, „um
im deutschen Spiel zu bleiben“ (2,514). Die neue schallgedämpfte Pistole, mit
der Judejahn Ilse Kürenberg tötet, bekommt er von Austerlitz. Dieser empfiehlt die Pistole als Muster für einen größeren Wüstenbedarf: „‘wo sei keine
Wüste, kein Dschungel?’ Er fragte nicht, wo kein Tod sei.“ (2,514) Das Motiv
„Wüste“ erzeugt hier einen Hinweis auf Krieg, für Siegfried wird es aber gerade das Gegenteil bedeuten.
Judejahn wird in Rom zum Gespenst. Die Stadt vertreibt die Illusion der
Macht in der Wüste und beschwört seine Macht während des Krieges herauf,
als er als General sogar Mussolini in den Hintergrund drängte. Er wohnt in
demselben Hotel wie damals: „unter diesem Dach hatte er residiert, von hier
hatte er Botschaften in den Palazzo Venezia geschickt, in der Halle des Hauses
hatte er befohlen, die Geiseln zu erschießen“ (2,408). Jetzt traut er sich auf die
Straßen Roms, doch der „kleine Gottlieb stand ihm im Weg, und nur eine Uni188
form am Leib überwand den kleinen Gottlieb“ (2,426). In Rom kann er das
Modell Herrschen und Beherrschtwerden nicht mehr realisieren, er kann in
Rom nicht befehlen, so wird er zu einem „Clown seines Einst“ (2,428). Die
Tatsache, daß die Stadt nicht auf seinen Befehl schläft, ergrimmt ihn, er würde
gerne einen Schlafbefehl erteilen, der eingehalten werden müßte.
Wenn er es vermochte, hätte Judejahn die Stadt geweckt, selbst mit den
Posaunen von Jericho hätte er Rom wecken mögen, mit den Posaunen,
die Mauer einstürzen ließen, den Posaunen des Jüngsten Gerichts, die
der kleine Gottlieb in der Schule erst erschrocken bewundert und später
aufgeklärt ungläubig verlacht hatte. (2,472)
Es ist überraschend, daß Judejahn auf seine Machtlosigkeit mit einer umgedeuteten biblischen Parabel reagiert. Er erinnert sich an den Religionsunterricht im Gymnasium, die Umdeutung der biblischen Vorlage hat auch einen
parodistischen Effekt. Die Einnahme Jerichos war eine Tat des Glaubens. Gott
zerbrach die Befestigungen und übergab die Stadt denen, die ihm im Glauben
gehorcht hatten. Der furchteinflößende Klang der Posaunen mußte die Herzen
der Stadtbewohner mit Schrecken erfüllen.
Auf seinem Weg durch Rom sieht Judejahn die Ruinen vergangener Kulturen. Auf der Piazza Venezia verwechselt er das „weiße Ehrenmal“ des Risorgimento, das „Nationaldenkmal des zweiten Viktor Emanuel“ (2,446) mit dem
Kapitol und mit einem Mussolini-Bau. In dem Altare della Patria sieht er die
„weiß und golden strahlende Verkündigung der Wiederaufstehung des Imperiums“ (2,446), ein Symbol der nationalsozialistischen Machtillusion. Judejahn
denkt an das faschistische Reich als an die Wiedergeburt des Römischen Reiches. Die Gegenwart des Vergangenen führt Judejahn zum Palazzo Venezia,
der schon eine Ruine ist.239
In der Wüste hatte er geplant, Deutschland von dort aus zurückzuerobern.
Sein Aufenthalt in Rom hat ihn nun aber von der Hoffnungslosigkeit seiner
Vorstellung überzeugt: „Judejahn fürchtete die Zeit, er fürchtete sein Alter, er
sah den Sieg nicht mehr“ (2,532). Gottlieb Judejahn fürchtet sich auch vor
seiner Frau, Eva, dem ehemaligen Frauenschaftsweib, weil er weiß, daß sie
ihm Vorwürfe machen würde, weil er noch immer lebt. Auf die sich später als
falsch erweisende Nachricht, daß Judejahn verhaftet sei, reagiert sie mit Freu239
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 40.
189
de, denn der Heldentod Judejahns bedeute, daß er nach Walhall gehe, was die
Ehre ihrer Ehe retten könne. Eva geht in ihren Gedanken so weit, daß sie sogar
Judejahn beschuldigt, den Führer verraten zu haben. Für sie gelten immer noch
die Werte aus der Zeit des Nationalsozialismus: „[…] sie trauerte um Großdeutschland, sie beweinte den Führer, beweinte die durch Verrat und Tücke
und widernatürliches Bündnis niedergerungene germanische Weltbeglückungsidee“ (2,415). Sogar ihre Verwandten nennen sie eine Verrückte, denn
sie hat ihren Lebenssinn verloren. Sie ist eine Frau, die trauert; aber sie trauert
nicht wegen der Opfer des Dritten Reiches, es ist also keine „stellvertretende“
Trauer, die die unterbliebene Trauer ersetzen würde, sondern Trauer um den
Verlust des Führers. Sie sinnt auf Rache: „stand vergeltungsschwanger wolfsrachig umnachtet im Mythos“ (2,415), und: „sie wirkte wie ein Gespenst, eine
Eumenide, ein nordisches Gespenst, ein Nebelgespenst“ (415), „die Rachesinnende, die auf schreckliche Vergeltung Brütende, die wahre Wahrerin des
Mythus des 20. Jahrhunderts“ (2,509).240
Ihr Rassedenken ist auch nach dem Krieg unverändert:
Es quälte sie, ihn zu sehen, ihn zu sehen in der gehaßten Uniform einer
Macht, die nach ihrer Überzeugung im schändlichen Bündnis mit jüdischer Unterwelt, überseeischen Plutokraten und bolschewistischen Bestien dazu beigetragen hatte, den erhabenen Traum vom Reich, von arischer Weltbeglückung und germanischem Herrentum zu stören, vielleicht für immer zu vernichten. (2,522)
Eva Judejahns Welt ist eine Wahnwelt. Man könnte sogar sagen, daß sie
ein pathologischer Fall sei. Diese Wahnwelt war aber einmal Realität, und
diejenigen, die wir jetzt Wahnsinnige nennen, verfügten über reale Macht in
der Wirklichkeit des Dritten Reiches. Eva ist die Frau des Unterweltgottes, des
240
Hinweis auf Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“. Alfred
Rosenberg war Chefideologe der NSDAP. Ab 1941 war er Reichsminister der besetzten
Ostgebiete. Sein Buch mit dem Untertitel „Eine Wertung der seelisch-geistigen
Gestaltenkämpfe unserer Zeit“ ist 1930 erschienen. Alle Motive der faschistischen Ideologie
werden genannt: Rasse als „Gleichnis einer Seele“, die rassische Geschichtsbetrachtung als
„Ringen von Seelenwert gegen Seelenwert“, der Begriff der Ehre als „höchstes Ideal“ des
nordischen Menschen. Auch die Verächtlichmachung der Aufklärung und ihres Leitbegriffs
„Humanität“. Vgl. Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie. Stuttgart 1992, S. 413414.
190
Hades; sie ist damit eine Todesgöttin, denn sie verkündet den Tod, sieht hinter
Judejahn den Tod stehen. Sie ist angsteinflößend und sie selbst hat Angst, vor
allem vor dem Fremden, Nichtdeutschen und Neuen. Das Fremde wird hier
hauptsächlich durch Töne, Gesang und Musik vertreten: „aus dem Hof stieg
mit Essendunst ein amerikanisches Tanzlied“ (2,415), und: „wieder war es ein
Negerlied, grell frech und höhnisch“. (2,417)
Das als Motto verwendete Zitat von Dante wird von Eva gedacht: „Woher
kam der schlechte Same?“ (2,523). Wieder ein Motiv, das von unterschiedlichen Charakteren verschieden wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang stellt der schlechte Same einen Hinweis auf die rassistische Abstammungslehre dar. Das Motto, das eigentlich vom Erzähler gesprochen wird,
stellt die Frage nach der Herkunft des Bösen.241 Dazu schreibt Quack:
Der Erzähler verbindet aber mit der Frage nach der Genese eines typischen Nazi bezeichnenderweise nicht nur einen historischen oder psychologisch-biographischen Sinn, er wirft auch das philosophische Problem auf, wie das Böse in die Welt gekommen ist.242
Evas antireligiöse Wut richtet sich auch gegen den eigenen Sohn: „er hatte
sich ans Kreuz gekettet, an die ungermanische Lehre aus Judenland, das Kreuz
hing an seinem Kleid“. (2,523) Adolf sieht seine Mutter toben. Dabei wird
wieder auf die dämonologische Redeweise zurückgegriffen, um zu zeigen, daß
auch Eva Judejahn eine Verführte ist:
241
Das erste Motto „il mal seme d’Adamo“ stammt aus Dantes Inferno. Es steht am Ende
des dritten Gesanges der Hölle, als Charon, der Seelenfährmann, die Toten in seinem Nachen
über den Styx fährt:
Wie Blätter, die vom Baum im Spätherbst fallen,
und eines nach dem andern flattert weg
bis aller Schmuck der Zweige unten liegt,
so springen die verworfenen Adamskinder
auf Wink des Fergen eins ums andre ab
vom Ufer, wie der Vogel auf den Lockruf.
Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Übersetzt von Karl Vossler. Zürich 1945, S. 40.
Zitiert nach: Christl Brink-Friederici: Wolfgang Koeppen: Die Stadt als Pandämonium.
Frankfurt a. M. 1990, S. 130.
242
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 203.
191
Sie war eine Furie. [...] Eine Weile dachte er, sie sei vom Teufel besessen, aber Adolf war nicht glaubensstark genug, um an die wirkliche Existenz eines Teufels zu glauben, es gibt ihn nicht, sagte er sich, und seine Mutter war nicht vom Teufel besessen, aber von einer teuflischen Idee. Wie konnte er die Idee beschwören, wie konnte er die Besessenheit
bannen? [...] Er spürte, daß sie in ihren Ideen brannte und die Hölle in
sich trug. Es brauchte keines Teufels. Sie war ihr eigener Teufel, sie
quälte Seele und Leib. Er wollte für sie beten, ohne im Augenblick den
rechten Glauben zu haben. (2,525)
Und außerdem: [...] er hielt das Kreuz ihnen entgegen, er war bleich, und
er schien nun doch zu beten. (2,225-226) Das Beispiel der Pfaffraths zeigt, daß
auch die Bürger, die nur eine Anpassungshaltung und den Untertanengeist
vertreten, jemanden brauchen, dem sie gehorchen können. Karikierend wird
ihr masochistisches Verhältnis zu Judejahn dargestellt, dem sie sich in Gehorsam nähern: „es war wie in den alten Tagen, der große Judejahn sprach, der
große Bonze grollte, und sie unterwarfen sich, [...]“ (2,490). Sie fühlen sich
nicht schuldig, d.h. der Verdrängungsmechanismus funktioniert auch hier
reibungslos. Auf der Textebene wird aber explizit ausgesagt, daß sie genauso
schuldig sind wie Judejahn, der die Greueltaten vollzog:
Er war weiter gegangen als die Bürger in der Halle, aber sie waren es,
die ihm erlaubt hatten, so weit zu gehen. Sie hatten sein Wandern mit
dem Tod gebilligt. Sie hatten das Blut beschworen, sie hatten ihn gerufen, sie hatten ihn angefeuert, dem Schwert gehört die Welt, sie hatten
Reden geschwungen, kein schönerer Tod als in der Schlacht [...] doch
selber waren sie an ihrem Stammtisch geblieben in altdeutscher Bierstube [...]. (2,441)
Als Verbrecher kehren sie zum Tatort zurück. Der Schlachtfeld-Tourismus
demonstriert den Verdrängungsmechanismus genauso wie das Wirtschaftswunder der Restauration. So veranstalten Pfaffraths ein Picknick auf dem
Schlachtfeld beim Kloster Cassino. Es wird zu einer Kulthandlung mit Wein,
Brot und Sprüchen. Sie reden über einen gerechten Krieg, in dem alle „fair“
gestorben seien. Sie huldigen außerdem Mars, dem Gott des Krieges. Es handelt sich um eine Kulthandlung im Rausch, die „besten Fässer aus den Kellern“ (2,507) werden geholt: „und es war schön und erhebend, in idyllischer
Landschaft von einem fairen Krieg zu hören, nachdem man Mars so ge192
schmäht hatte“ (2,507). Im Krieg wurde das Leben geopfert; im Wertesystem
der Pfaffraths ist der Krieg etwas Notwendiges, Unabänderliches.243
Friedrich Wilhelm Pfaffrath und Judejahn rechnen mit der Möglichkeit eines neuen Krieges: „Auch Pfaffrath glaubte an neuen Krieg, er mußte kommen, das erforderte die Gerechtigkeit, aber Pfaffrath hielt die Zeit noch nicht
für reif, er hielt den Krieg noch nicht für nützlich für Deutschland, er errechnete noch zu unsichere Chancen, [...]“. (2,492) Judejahn entwickelt sein Zukunftsbild. Nachdem die BRD ihre Souveränität wieder zurückerhalten hat,
will er dorthin zurückkehren, denn dann würde es seiner Einschätzung nach
keine Gefahr mehr für ihn geben. Mit diesen Worten „verhexte“ er die
Pfaffraths wieder. Pfaffrath, den die Macht des Geldes anzieht, ist bereit, sogar
Siegfrieds Wahl zu akzeptieren: „In Teufels Namen denn – mochte er Kapellmeister werden; es gab auch im Musikfach hochbezahlte Stellungen“. (2,419)
Seine Verführbarkeit durch Judejahn oder andere ist nicht zu bezweifeln.
Richner analysiert Pfaffraths Traum. Die verdrängte Angst vor Judejahn
kommt im Schlaf wieder hoch: Pfaffrath wird im Traum von Judejahn, dem
schwarzen Reiter, zuerst mitgenommen und dann hinabgestoßen. Er möchte
nicht fallengelassen werden. Im Traum hat er auch Gewissensbisse; sein
Schuldbewußtsein wird aktiviert. Er denkt an eine andere Möglichkeit, an ein
demokratisches Deutschland, das Siegfried in seiner Musik beschwört, dem er
aber untreu geworden ist. Am nächsten Tag ist er „ein aufrechter deutscher
Mann und Oberbürgermeister, frei von jeder Schuld [...]“. (2,562)
Dietrich Pfaffrath ist ein richtiger Karrierist, so bemüht er sich stets darum,
an die Macht zu kommen. Er paßt sich den bürgerlichen Traditionen an, ist
strebsam und korrekt, was sein Lernen betrifft. Von ihm ist zu erwarten, daß er
im Besitz der Macht diese mißbrauchen würde. Die Liebe bedeutet für ihn
nichts, er kauft sich vielmehr am Kiosk ein Pornoheft. Sein Verhältnis zur
Prostitution in Rom ist durch bürgerliche Verachtung geprägt. Richner schreibt
in diesem Zusammenhang:
Sowohl die mangelnde Liebesfähigkeit und Erotik als auch diese Beziehung der Dirne gegenüber sind Ausdruck einer infantilen Zurückgebliebenheit, welche die Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit des potentiel-
243
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 32 f.
193
len Neo-Faschisten und realen blinden Nationalisten noch unberechenbarer und gefährlicher erscheinen lässt.244
3.2.2. Lebensmöglichkeiten unter den Bedingungen der Kunst:
Siegfried Pfaffrath und die Kürenbergs
Neben Gottlieb Judejahn kann Siegfried Pfaffrath als die Person genannt
werden, die das Leben anderer Gestalten im Roman beeinflußt. Judejahns und
Siegfrieds Bewegung im Roman wird in kontrapunktisch gesetzten, Simultaneität erzeugenden Handlungssträngen dargestellt. Hier kommt es wie in Tauben im Gras zu zufälligen und verabredeten Treffen der Familienmitglieder.
So treffen sich zufällig Siegfried, Adolf, Judejahn und die Pfaffraths in der Bar
für Homosexuelle. In der Engelsburg erblickt Adolf seinen Vater, aber er versteckt sich vor ihm. Bei Eva Judejahn kommt es auch zu einem Familientreffen
im engeren Kreis. Es gibt auch Anlässe, in deren Zusammenhang die Gedanken von mehreren Personen des Romans dargeboten werden. Solch ein Anlaß
ist etwa die Generalprobe der Symphonie am Vortag der Aufführung oder die
Aufführung der Symphonie selbst, der Judejahn, Adolf, Ilse und Kürenberg,
Dietrich, Anna und Friedrich Wilheln Pfaffrath sowie natürlich der Komponist, Siegfried, beiwohnen.
3.2.2.1. Reaktionen auf Siegfrieds Musik während der Probe.
Der Ästhetizismus der Kürenbergs und die radikale
Avantgarde von Siegfried
Der zweite Absatz des Romans beginnt mit Siegfrieds Gedanken über die
eigene Musik:
Falsch klang die Musik, sie bewegte ihn nicht mehr, fast war sie ihm unsympathisch wie die eigene Stimme, [...] die Geigen vor allem stimmten
nicht, sie klangen zu schön, das war nicht der unheimliche Wind in den
Bäumen, nicht das Gespräch, das Kinder am Abend mit dem Dämon
führten, so war die Furcht vor dem Dasein nicht, [...] inniger quält sie,
244
Thomas Richner: Der Tod in Rom, a. a. O., S. 94.
194
die uralte Angst, sie erbebt vor dem Grün des Waldes, vor der Himmelsweite, vor den Wolken, die ziehen [...]. (2,393 f.)
Hier wird das im Romananfang angesprochene Thema der Möglichkeiten
von Kunst fortgesetzt. Dort wurde die Kunst durch einen Maler, Raffael, vertreten, an dieser Stelle erscheint die Kunst im Bild der Musik. Es gibt im Roman mehrere Zeichen dafür, daß die Musik stellvertretend für alle Künste
steht. Einmal fühlt sich Siegfried als Dichter: „Ich war Petronius, der Dichter,
und ich sprach im öffentlichen Bad mit Weisen und Knaben, [...]“. (2,566)
Dahlhaus wirft das Problem auf, daß Siegfrieds Symphonie nirgends so beschrieben werde, daß irgendein musikalischer Sachverhalt dargestellt würde.245
Koeppen vermeidet es, unmittelbar über Musik zu reden. Diese Tatsache erklärt Dahlhaus damit, daß eine Vermittlung zwischen der Sprache des Romans
und der der poetischen Paraphrasierung nicht mehr möglich sei. Für die Konstruktion des Romans ist es also unmöglich, von der Musik unmittelbar zu
reden, aber es ist nicht unmöglich, sondern vielmehr notwendig, die Intentionen des Komponisten bekannt zu machen. Diese werden indirekt beschrieben
mit den Eindrücken, die Siegfried bei der Probe erhält.
Die eigene Musik gefällt Siegfried nicht mehr, besonders nicht in der
Form, in der sie von Kürenberg interpretiert und aufgeführt wird. Siegfried
hält Kürenbergs Interpretation für eine Verfälschung, denn die „Furcht vor
dem Dasein“ (2,394), das Lebensgefühl seiner Generation, die um produktive
Jahre betrogen wurde, werde „geglättet“ dargeboten. Siegfried distanziert sich
von der Gruppe der Intellektuellen, denen es um einen radikalen Neuanfang
geht; er knüpft vielmehr an die avantgardistische Tradition an, die durch die
NS-Herrschaft beendet wurde. Quack stellt die Frage, warum sich Siegfried
dieser Tradition verschrieben habe. Die Ursache sieht er darin, daß die Avantgarde ihrer Intention nach keine Massenkunst sei. Aus Siegfrieds Reflexionen
geht hervor, daß Siegfried immer noch Angst hat, wenn er sich in der Masse
befindet, hier fallen ihm die Thesen ein, die er in der Ordensschule über Massenlenkung gelernt hat. Die avantgardistische Kunst dagegen ist abgehoben
und esoterisch, da eine Massenwirkung sie nicht ausüben kann: 246
245
Carl Dahlhaus: Die abwesende Symphonie. Zu Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“. In:
Carl Dahlhaus/ Norbert Miller: Beziehungszauber. Musik in der modernen Dichtung.
Dichtung und Sprache Band 7. München 1988, S. 67-79.
246
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 215.
195
Kürenberg glättete, gliederte, akzentuierte Siegfrieds Partitur, und was
Siegfried wehe Empfindung war, das Suchen eines Klangs, eine Erinnerung an einen Garten vor aller Geburt, eine Annäherung an die Wahrheit
der Dinge, die nur unmenschlich sein konnte, das wurde unter Kürenbergs dirigierender Hand human und licht, eine Musik für gebildete Zuhörer, doch Siegfried klang es fremd und enttäuschend, die gebändigte
Empfindung strebte nach Harmonie. (2,394)247
Aus diesen Zeilen läßt sich die Sehnsucht nach dem Garten Eden heraushören, den es noch vor aller Schuld gab, und die Sehnsucht nach der Zeit, als die
Götter noch in der Stadt wohnten. Die „Wahrheit der Dinge“ ist mythischen
Ursprungs, die die Götter vielleicht noch bewahrten und an die Kunst weitergaben. Siegfried will mit seiner Musik neben der Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter auch „die uralte Angst“ zum Ausdruck bringen, womit er seinem
gebildeten Publikum und Kürenberg widerspricht, die solche Gefühle verbannen möchten. Kürenberg, als Vertreter des von Siegfried in Frage gestellten
Ästhetizismus, will alles verschönern und harmonisieren. Für Siegfrieds Musik
ist dagegen die Verschiebung des musikalischen Schwerpunktes vom Harmonisch-Klanglichen zum Formal-Strukturellen charakteristisch. Das FormalStrukturelle bedeutet nach Kondylis in der modernen Musik die Herabsetzung
dessen, was bis dahin als der geistige Gehalt der Musik galt, und die entsprechende Aufwertung des technisch-handwerklichen Aspekts. In dieser neuen
Musik wird nicht geleugnet, daß Musik Ausdruck des Geistes ist, aber man
wendet sich vom humanistisch-romantischen, bürgerlichen Geist ab und dem
analytisch-kombinatorischen zu. In der Frage der Tonalität, so Kondylis, gelten die alten ästhetischen Kriterien nicht mehr: Die konstruktivistische Einstellung der Zwölftonmusik entwickelt sich zur selben Zeit, in der man beginnt,
247
Quack weist darauf hin, daß die wichtigsten Gedanken von Siegfrieds Weltanschauung
Grundgedanken der Schopenhauerschen Metaphysik aufnehmen. Die Musik als
„Annäherung an die Wahrheit der Dinge“ entspricht der Grundintention der
Schopenhauerschen Kunstphilosophie. Diese behauptet, daß die Musik den Willen selbst
ausspreche. Die anderen Künste seien Darstellung oder Wiederholung von Ideen. Die Musik
komme Schopenhauers Ansicht nach um eine Stufe näher an das Wesen der Welt heran als
die anderen Künste, die die Nachbilder von Ideen seien. Quack weist mehrmals auf
Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung hin, um zu zeigen, daß Siegfrieds
Kunst- und Zeitauffassung mit Denkmotiven Schopenhauers zusammenhängt. Vgl. ebd, S.
213-226.
196
die Jazzmusik zu entdecken. Es ist die Leistung der Jazzmusik, daß das alte
Rhythmusempfinden durch ein viel komplizierteres polyrhythmisches Empfinden überholt wird; und gerade deshalb gibt es im Roman so viele Hinweise
auf die Jazzmusik.248
Obwohl Siegfried Kürenberg um Beispiele der Zwölftonmusik gebeten hat,
bedeutet das nicht, daß er in die Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückkehren und die Erfahrungen der NS-Zeit ausklammern möchte. Kürenberg erwartet von Siegfried „die Überraschung, eine noch nicht gesprochene Sprache“
(2,439), und ist der Meinung, daß Siegfrieds Musik ihre Sendung in der Welt
erfüllen werde.
Im Gespräch mit Adolf sucht Siegfried die Antwort auf die Frage, warum
er Musik schreibt. Die Ursache sieht er darin, daß er seine Angst, seine Verzweiflung und die schrecklichen Träume bewältigen möchte. Er sucht nach der
Antwort auf seine Fragen: „ich rätselte herum, ich stellte Fragen, eine Antwort
wußte ich nicht“ (2,517). Er versteht die Musik als einen geheimnisvollen Bau,
„zu dem es keinen Zugang mehr gab oder nur noch eine enge Pforte, die wenige durchließ. Wer im Bau saß, konnte sich mit den Draußengebliebenen nicht
mehr verständlich machen“ (2,517). Diese Metapher der „engen Pforte“ wird
meistens im Zusammenhang mit der Transzendenz gebraucht.249 Siegfried
vergleicht die Musik also mit einem schwer zugänglichen, fast transzendentalen Bereich, in den nur wenige Einlaß erhalten können. Die Musik ist für ihn
ein Spiegelbild der transzendentalen Welt, sie ist eine Alternative zur Transzendenz.250 Klaus von Schilling stellt fest, daß das Bild des „Baus, zu dem es
keinen Zugang mehr gab oder nur noch eine enge Pforte,“ in sehr ähnlicher
Funktion in Franz Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie stehe. In
dieser Erzählung solle der gewesene Affe und Artist einen Bericht erstatten, in
dem er über sein „äffisches Vorleben“ schreibe. Er könne aber dieser Aufgabe
nicht genugtun, weil er sich an sein Vorleben nicht mehr erinnere. Der Zustand
248
Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform: die
liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991, S. 199.
249
„Bemüht Euch, durch die enge Pforte einzugehen!“ (Luk, 13,24). Jesus sagt, daß es viel
wichtiger sei, Gewißheit der eigenen Errettung zu haben, als die Anzahl der Erretteten zu
kennen. Das Reich gleicht einem Haus mit einer engen Tür (Pforte), durch die nicht alle
hindurchkommen, weil sie sich in falscher Weise bemühen. Außerdem gibt es auch eine
verschlossene Tür (Vgl. Mt 25,10), wenn das Fest begonnen hat, und dann wird es für
Eintrittswillige zu spät sein.
250
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 214.
197
des vormenschlichen Lebens werde mythisiert und als Ort von Freiheit, Wahrheit und Weisheit einer heiligen Natur zugeordnet, die nur in mythischen Bildern zu fassen sei.
War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde er gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung immer
niedriger und enger [...].251
Auch dieses Bild tauche nach Schilling bereits im Tod in Rom auf: wenn
Siegfried von seiner Musik als einer „Erinnerung an einen Garten vor aller
Geburt, eine(r) Annäherung an die Wahrheit der Dinge, die nur unmenschlich
sein konnte,“ (2,394) spricht, zitiert er den Kafkaschen Kontext.252
Siegfried weiß, daß er als Künstler nicht wie etwa ein Politiker unmittelbar
auf die Welt einwirken kann, aber er ist davon überzeugt, daß er durch die
Musik das Bewußtsein der Menschen im Laufe der Zeit für das politische Verhalten sensibilisieren kann. Dies ist aber nur möglich, wenn er mit seiner Musik beunruhigt, die Vergangenheit und den Tod heraufbeschwört sowie vor der
Zukunft warnt, die sehr leicht die Wiederholung der Vergangenheit werden
kann. Siegfried bekennt sich damit zu ganzheitlicher Zuständigkeit und Verantwortung. Kürenberg dagegen verfolgt solche Ziele nicht, er will mit seiner
Musik erreichen, daß sich der Zuhörer von den Problemen seines Alltags erholt, die moderne Kunst ist für ihn l’art pour l’art:
[…] aber ihm genügte das Bewußtsein, mit neuen Zusammenstellungen
der beschränkten Tönezahl experimentiert zu haben, er hatte eine von
Milliarden Möglichkeiten vorgeführt und die Musik als sich immer weiter entwickelnde und weiter unter uns lebende Kraft gezeigt. (2,542)
Das kalkulierende Kompositionsverfahren zertrümmert nach Siegfried die
Welt, genauso wie die moderne Physik. So möchte er ohne Kalkulieren zum
Endergebnis kommen; er muß aber feststellen, daß seine Musik auch die Welt
zerstört: „Aber da hörte Siegfried den Schlußakkord seiner Musik, wie ein
Zusammenbruch aller Hoffnung hörte er sich an, wie eine Woge, die über ein
251
Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt a. M. 1970, S.
147.
252
Vgl. Klaus von Schilling: „Erinnerung an eine Zeit vor aller Schuld“, a. a. O., S. 98.
198
Schiff schlägt, und dann waren nur noch Planken da und etwas Geplätscher“
(2,495).253
Die Kürenbergs sind Vertreter des Ästhetizismus: Sie verwirklichen eine
hedonistische Lebensweise, sind Tonangeber im bürgerlichen Kulturbetrieb,
schließlich gilt in musikpolitischen Entscheidungen das Wort Kürenbergs.
Siegfried bekommt den halben Preis auch nur deshalb, weil Kürenberg mit den
Preisvergebern telefoniert hatte – die Frage der Preisverleihung war ja auch
eine diplomatische Frage. Das Ehepaar Kürenberg flieht in den Genuß des
kultivierten Essens, des Reisens und der Sexualität. Sie sind „gut beisammen
wie wohlgepflegte Tiere“ (2,404). Dieser Satz ist nicht ohne Ironie geschrieben, denn die aus Deutschland vertriebenen Kürenbergs sind heimatlos, ihre
Begeisterung und ihr Verdrängungsbestreben werden parodistisch dargeboten:
„sie waren Exkursanten, die sich’s in einer unwirtlichen Welt wirtlich gemacht
hatten und sich des Erdballs freuten“ (2,431). Die Welt der Antike ist eine
Welt, mit der sie sich identifizieren können. Der Dirigent erscheint als „wahrhaft von der Antike geformt. Sein Frack saß wie auf einer Marmorbüste, […]“
(2,530). Ilse Kürenberg, die die Musik verkörpert, erscheint in Göttergestalt:
„Auch ihr Kleid saß wie auf Marmor genäht“ (2,530). Ihr Leben wird nicht
fortgesetzt, weil sie keine Kinder haben. Das ist eine der Ursachen, weshalb sie
Siegfried sympathisch sind.
Kürenberg äußert die Meinung, „das barocke Rom sei enttäuschend“
(2,437). Diese Aussage hängt eng mit der Schilderung des Erzählers zusammen, wonach die Kürenbergs vorchristlich und nachchristlich sind. Die barocken Denkmäler Roms sind an die Macht der Kirche gebunden, und die Kürenbergs vermeiden die Denkmäler und die Glaubenssätze der christlichen
Religion. Der Grund dafür wird nicht genannt, man kann aber vermuten, daß
es hier darum geht, daß sie nach den erlebten Greueltaten der Nationalsozialisten und nach Aufhäusers Tod nicht mehr glauben können. Sie haben ihr Vertrauen der Religion gegenüber verloren. Siegfried dagegen erkennt nur die
Kunst als Wert an, deshalb zählt er sich nicht zu den Feinden der Christenheit,
aber er zieht eine Parallele zwischen den beiden seiner Meinung nach autoritären Machtorganisationen: „Sicher sind auch die Priester dumm und rechthaberisch und eigensinnig. Sie berufen sich auf Gott, um zu herrschen. Judejahn
berief sich, als er herrschte, auf Hitler und die Vorsehung.“ (2,453)
253
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 224.
199
Die Symphonie widersetzt sich den Erwartungen, die Ilse und der Dirigent
an die Musik stellen. Ilse will nicht beunruhigt werden, sie will vergessen; und
Kürenberg will mit Siegfrieds Musik brillieren. Aber wie kann man eine Musik genießen, die die Zuhörer ständig an den Tod erinnert? Die Kürenbergs,
Vertriebene des Nationalsozialismus, halten auch weiterhin am Idealismus fest,
sie beschwören nach wie vor die abendländische Tradition. In Siegfrieds und
Kürenbergs grundverschiedenen Rom-Erlebnissen spiegeln sich diese voneinander abweichenden Kunstauffassungen wider: Während die Kürenbergs nur
das Schöne, Ästhetische, Erhebende und die Denkmäler der Antike sehen,
nimmt Siegfried hinter den vermeintlich schönen Bildern Einsamkeit, Tod,
Angst und Vergänglichkeit wahr.
Sie lieben das alte, das antike, das römische Rom [...] sie lieben die sinnlos gewordenen nichts mehr tragenden Säulen, die Marmorstufen [...]
aber noch mehr liebe ich Rom, wie es lebt, wie es ist und mir sich zeigt
[...] und der Tod wirft sein unsichtbares Netz über die Stadt [...]. (2,435 f.)
Während eines Besuchs bei den Kürenbergs bekommt Siegfried den Ratschlag, nicht in den berühmten Elfenbeinturm zu steigen, sondern auf die Straße zu gehen und dem Tag zu lauschen, so könne er vielleicht den neuen Klang
finden. Was versteht Siegfried unter dem neuen Klang, unter der Musik der
Straße?
Und Siegfried dachte an die Stimmen, an die Stimmen der Straße, er
dachte an die Stimmen der Roheit, der Angst, der Qual, der Gier, der
Liebe, der Güte, des Gebets, er dachte an den Laut des Bösen, an das
Geflüster der Unzucht und den Schrei des Verbrechens. (2,440)
Wenn er aber diese Klänge in seiner Symphonie ertönen läßt, dann wird
ihm Kürenberg „mit den Harmoniegesetzen und schulmeisterlicher Strenge
begegnen“ (2,440). Siegfried ist immer mehr von Kürenberg enttäuscht, den er
einen genauen Notenleser nennt, der mit seinen klassischen Vorschriften sein
Werk zugrunde richtet. Judejahn ähnlich besucht Siegfried den Palast der Kultur, die Engelsburg. Die Engel auf der zum Palast führenden Engelsbrücke
verlieren aber für Siegfried ihre positive Bedeutung:
200
Ich ging über die Engelsbrücke zur Engelsburg, und die Engel auf ihren
Postamenten, die Engel mit ihren Marmorflügeln sahen wie zu schwer
geratene Möwen aus, die Blei im Leib tragen oder bleierne Gedanken
und sich nie mehr in die Luft erheben werden. (2,503)
Die Engel werden ihm nie „des Paradieses ungeheures Licht mehr entzünden“ (2,503), denn der Fluß hat den Engeln die messianische Valenz genommen. Im Wasser schwimmen die Leiber der vielen Erschlagenen und verhindern, daß die Engel den Sinn des Himmels andeuten.254
Die Jüdin Ilse Kürenberg, deren Vater dem Nationalsozialismus zum Opfer
gefallen ist, demonstriert das Bedürfnis nach Verdrängung der Vergangenheit:
Sie wurde von Kürenberg zur Probe eingeladen, bei der sie über Siegfrieds
Musik nachdenkt. Sie bedauert, daß sie Kürenberg nicht abgeraten hatte, Siegfrieds Symphonie für den Kongreß einzustudieren, denn seine Musik beunruhigt sie. Ilse will keinen Schmerz mehr an sich heranlassen. Jetzt wird sie aber
mit Siegfrieds Suchen nach einem Weg, der vielleicht unbegehbar ist, und mit
seiner Verzweiflung konfrontiert, und sie gesteht sich, daß Siegfrieds Musik
echt und „in all ihrer Zerfahrenheit ein Schicksalsbild und damit unabänderlich“ (2,404) ist; und obwohl sie sich der Vergänglichkeit der bürgerlichurbanen Kultur und Lebensweise bewußt ist, denn „sie durchschaute die Konvention, den Tod nicht zu sehen, das allgemeine Übereinkommen, den Schrecken zu leugnen“ (2,438), ist sie dennoch gegen Siegfrieds Darstellung dieser
Schrecken. Aufgeregt von Siegfrieds Symphonie setzen sich Ilse und Kürenberg in ein Restaurant an der Piazza Navone. Sie sehen dabei das Oval der
alten Arena, „genossen das Glück, daß die Kämpfe vergangen waren“ (2,405).
Dieser letzte Satz ist zweideutig: Es können sowohl die blutigen Kämpfe in der
Arena als auch die Kämpfe im Weltkrieg gemeint sein. Später entschließen sie
sich zum Besuch des Nationalmuseums in den Thermen des Diokletian. Die
Bewunderung der Statuen aus der Zeit der Antike lenkt ihre Gedanken vom
Tod und von den Kämpfen der jüngsten Vergangenheit ab: „Sie liebten die
Antike. Sie liebten den festen Marmor, die erhabenen Gestalten, die der
Mensch nach seinem Bilde schuf, die kühlen Sarkophage, [...]“ (2,405). Dieses
Liebesmotiv verbindet die Kunst mit dem antiken Eros, dessen Stellenwert
durch das Bild der Aphrodite Anadyomene oder durch ihre römische Entsprechung der Venus von Cirene angedeutet wird. Diese Verbindung von Kunst
254
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 25.
201
und Eros bringen die Kürenbergs zum Tragen: „Sie betrachteten die Ungeheuer der Sage und versonnen den schönen Leib der Venus von Cirene und das
Haupt der schlafenden Eumenide“ (2,405). Die Plastik der schlafenden Eumenide kehrt später in Ilse Kürenbergs Traum wieder. Der Schlaf weist auf Ilses
Schuld hin, die den Tod ihres Vaters verdrängen wollte. Im Unterbewußten
können diese Gedanken nicht verdrängt werden, und sie lassen Ilse zur Rachegöttin werden: „doch Ilse träumte, sie sei die Eumenide, die schlafende Eumenide, die besänftigend die Wohlwollende genannt, die Rachegöttin“ (2,406).
Die Eumeniden, auch Erinnyen genannt, spiegeln den alten griechischen Glauben an göttliche Gerechtigkeit in der Vergeltung wider: Mit ihrem Werk der
Vergeltung schützen sie diejenigen, die menschliches Recht nicht schützt.
Diese Funktion war für ein ordnungsgemäßes Leben in der Gesellschaft erforderlich. In Aischylos’ Tragödie Eumeniden wird davon berichtet, wie Athene
bei den Eumeniden erreichte, daß sie von der Verfolgung des Orest abließen:
Sie hatte die Eumeniden dazu überredet, ihre Funktionen als Göttinnen der
Vergeltung aufzugeben und die Rolle der gütigen Eumeniden anzunehmen.255
Ilse verdrängt ihre Rachegefühle im Zusammenhang mit der Ermordung ihres
Vaters, und im Traum kehren diese Gefühle zurück, allerdings in abgeschwächter Form, denn sie träumt nicht von einer aktiv handelnden, sondern
von einer schlafenden Eumenide.
3.2.2.2. Die Badeschiff-Szene
Das Badeschiff wird aus Siegfrieds Perspektive beschrieben: „Das Schiff
wiegte sich auf dem trägen Wasser und sah wie die Arche Noah aus. Es war
eine schöne und schmutzige Arche Noah. Allerlei Getier, kreischende junge
Enten und Gänse, junge Katzen, junge Hunde verschiedenster Rassen und
Mischungen wälzten sich verträglich an Deck“ (2,504). Es ist eindeutig, daß es
hier um die Banalisierung der biblischen Geschichte geht. Siegfried hat mit
Noah nichts Gemeinsames: „Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel zu
seinen Zeiten; er wandelte mit Gott.“256 Auf dem Badeschiff befinden sich der
Bademeister, der Faun genannt wird, der schöne Knabe Ganymed und die
255
256
Vgl. Reclams Lexikon der antiken Mythologie, a. a. O., S. 181 f.
Das erste Buch Mose 6,9-10
202
beiden häßlichen Strichjungen: sie stellen keine typische Besatzung für Noahs
Arche dar. In der gleichzeitig stattfindenden Szene des Hinabsteigens in den
untersten Kerker wird auch Judejahn Noah genannt. In beiden Fällen wird auf
das Nichtbestehen der biblischen Konstellation hingewiesen.
Siegfried ist nicht der wirklich Befreite. Er meint nur, sich aus den Fesseln
der Vergangenheit befreit zu haben. In der Analyse der ersten Geschichte wurde deutlich, wie seine Homosexualität zu Tage trat: durch inhumane Erziehung. Die Vorgänge auf dem Badeschiff sollen deutlich machen, daß Künstlertum und Homosexualität nicht unbedingt miteinander verbunden sind. In der
Badeschiff-Szene erblickt Siegfried zuerst den schönen Ganymed, dann verbindet er sich mit einem der häßlichen Buben. Die beiden Knaben sind ihm
widerlich, doch fühlt er sich durch „Herkunft und Erziehung in unterweltlicher
Weise“ verbunden. Der häßliche Junge tritt als „schlechtes Gewissen“ auf und
macht die Sehnsucht schuldvoll. Eros ist häßlich, so wird sich Siegfried auch
hassen. Er sieht „den schönen Ganymed“ traurig an, denn „der schöne Knabe
lag zwischen ihnen, rauh angepackt, nicht von Adlerfängen, von scheußlich
unreinen Geiern, Zeus-Jupiter war tot, auch Ganymed war wohl tot, ich verfluchte mich, ich stieg zu den Toten hinab“ (2,505). Dieses Hinabsteigen steht
für den Weg in die Unterwelt, ist aber auch eine Form der Erinnerung, und
durch diesen Vorgang, der in die Vergangenheit führt, werden die Ordensburg
und Judejahns Gang in die Unterwelt in Erinnerung gerufen. Durch das Abenteuer mit dem römischen Strichjungen wird sich Siegfried seiner Vergangenheit bewußt. Dies hilft ihm, zu seinem Selbstbewußtsein zu finden. Siegfried
weigert sich, sich fortzupflanzen. Diese Tatsache erklärt er nicht mit seiner
Homosexualität, sondern mit seiner Erfahrung von Unmenschlichkeit und Tod
im Dritten Reich und der Vorstellung von der Möglichkeit der Wiederkehr der
nationalsozialistischen Macht:
In Tag- und Nachtträumen sehe ich die Bräunlinge und die nationale
Dummheit marschieren. Und darum will ich mein Leben leben, solange
der nationalistische Gott noch entkräftet ist und mich nicht hindern kann.
(2,517)
203
3.2.2.3. Figurenreaktionen auf Siegfrieds Symphonie
Ein zweites Mal wird über Siegfrieds Musik während der Aufführung seiner Symphonie reflektiert. Dahlhaus ist der Meinung, daß das Werk auch von
späteren Aussagen der Rezeptionsästhetik zeugt. Die Musik ist nicht objektiv
gegeben, sondern diejenigen, die die Musik hören, konstituieren sie.257 Es muß
hinzugefügt werden, daß die Eindrücke der Protagonisten des Romans so verschieden sind, daß sie viel mehr über die Rezipienten als über Siegfrieds Symphonie aussagen. Diese Passage ist ein Beispiel für eine multiperspektivische
Darstellung, in der es Koeppen gelungen ist, simultane Vorgänge erzählerisch
wiederzugeben.
Siegfried hört die jungen Leute auf der Galerie pfeifen; es ist die angemessene Reaktion auf seine Musik, schließlich wollte er ja mit seiner Musik beunruhigen. Er kann mit ihr nicht außerhalb der historischen Zeit stehen, denn die
politischen Kämpfe lassen auch ihn nicht unberührt: „Ich hatte von reiner
Schöpfung geträumt, aber ich war verführt worden, in die Erdkämpfe einzugreifen. Ich weiß nicht, ob reine Schöpfung möglich ist, die unbefleckte
Empfängnis aus dem reinen Nichts, [...]“. (2,539) „Das reine Nichts“ wird mit
dem Wüsten-Motiv verbunden, es kann für die Welt „vor aller Geburt“ stehen
oder im Zusammenhang mit dem Afrika-Motiv für die Urkraft, die Unberührtheit des Kontinents, von dem das Leben ausgegangen war.
In Judejahns Verhalten spiegelt sich der Künstler- und Intellektuellenhaß
des Dritten Reiches wider. Für ihn ist das Musizieren eine unmännliche Beschäftigung, aber schließlich geht er doch ins Konzert, denn er will die „Familienentartung“ (2,533) der Pfaffraths sehen. Im Grunde zählt für ihn nur Militärmusik, und er kann nicht begreifen, daß Siegfried kein Fiedler, sondern der
Komponist der Symphonie ist. Er findet diese Musik entsetzlich und langweilig. Judejahn klatscht am Ende aber am lautesten, weil er sich nicht traut, in der
vornehmen Frackgesellschaft zu schimpfen, was er jedoch gern getan hätte. Er
unterstützt also mit seinem Jubeln die Kunstauffassung des reichen italienischen Publikums, obwohl er dieses verachtet. Nach Langer beabsichtigt Koeppen mit Judejahns Gestalt eine Satire auf die „Deutsche Innerlichkeit“.258 Mit
der Szene am Brunnen von Trevi ironisiert Koeppen Judejahns Innerlichkeit
257
258
Vgl. Carl Dahlhaus: Die abwesende Symphonie, a. a. O., S. 72.
Vgl. Anneliese Langer: Zeit- und Kulturkritik, a. a. O., S. 232-234.
204
und die seiner Volksgenossen, die beim nächtlichen Zusammentreffen mit dem
chauvinistischen Frauenchor ihre alten, unveränderten Gedanken zum Vorschein treten lassen.
[…] eine Sprache hatte sich durchgesetzt, und ein deutscher Frauenchor
stand vor der Säulengrotte, [...] und sang „Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum“, sang das Lied inmitten von Rom, sang es inmitten der Nacht, keine Linde rauschte, weit und breit wuchs kein Baum,
[...] sie blieben sich treu, blieben treu ihrem treuen Gemüt, sie erlebten
ihren Lindenbaum, ihren Brunnen, ihr Vor-dem-Tor, eine erhabene
Stunde. (2,564)
Die deutschen Touristen stören die Römer. Als die Römer darauf reagieren,
antworten sie mit Spott und nationalistischen Aussagen. Langer weist darauf
hin, daß das deutsche Lied und die Sangesfreude der Deutschen hier kein Zeichen von Gemütstiefe und Zartheit seien. Diese Szene ist vielmehr als Parodie
auf die deutsche Innerlichkeit zu verstehen, die durch die Umkehr der Motive
erreicht wird.259
Siegfrieds Eltern haben dem Konzert gegenüber Vorurteile, die beweisen,
daß Siegfrieds Komposition, die avantgardistische Kunst, genauso wie früher
abgelehnt wird und noch immer die Rolle des Widerstandes spielt. Friedrich
Wilhelm Pfaffraths Meinung über den Musikkongress lautet: „und das Programm des Musikkongresses verkündete Surrealismus, Kulturbolschewismus
und negroide Neutönerei“ (2,420). Die Pfaffraths, die im politischen und kul259
Nach Friedhelm Marx knüpft Koeppen mit dieser Szene an Thomas Manns Zauberberg
an, wo eine derartige Wirkung des Lindenbaumlieds prognostiziert wird. Das Lied gehört zu
den musikalischen Leidenschaften Hans Castorps. Für Castorp ist es ein Heimwehlied mit
Todessehnsucht und Lebensüberwindung. Der Erzähler des Romans fügt hinzu, daß andere
das Lied dazu nützen könnten, um die Welt zu unterwerfen. Koeppen verlängert Manns
Prognose bis in die Nachkriegszeit. Der Tod in Rom setzt sich von dieser Form des
Kulturchauvinismus ab, und der Erzähler sympathisiert mit dem Küchenjungen, der
Jazzrythmen im Stil des belcanto singt. Friedhelm Marx erwähnt Herrn Behrend aus dem
Roman Tauben im Gras, der ein frühes Beispiel für die Kultur der Vermischung gibt. Er ist
Leiter einer Jazzband im „Negerklub“ und spielt den Jazz so, daß immer noch etwas vom
Freischütz zu hören ist.
Vgl. Friedhelm Marx: Polyphonie. Musik und Romanform bei Wolfgang Koeppen. In:
Gunnar Müller-Waldeck/ Michael Gratz (Hg.): Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die
Ziellosigkeit, a. a. O., S. 144.
205
turellen Leben das schnelle Vergessen repräsentieren, sind über die Musik
ihres Sohnes entsetzt. Sie hatten vor dem Krieg zwar das humanistische Gymnasium besucht, es hat sie jedoch nicht zu Humanität erzogen. Die Beschreibung des Musikzimmers ironisiert diese Bildung des deutschen Bürgers:
„Beethovens zu oft abgestaubte Totenmaske über dem Zwölf-Röhren-Apparat
in der Musikecke des Wohnzimmers oder Wagners bedeutenden Barettträger
und sichtbar vom Genius geküßt“ (2,536). Die Kunst hat für sie mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam: sie ist „eine rosa Kuppel über dem grauen Erdkreis,
[...] Pfaffraths glaubten an den Konditortempel der Kunst, aus süßer Masse
allegorisch ideal geformt“ (2,536 f). Sie reagieren mit Empörung auf Siegfrieds Musik, weil sie darin ihre nationalen Gefühle verhöhnt sehen und auch
kultische Elemente aus dieser Musik heraushören. Das Fremde, das NichtDeutsche oder sogar Negroide, macht sie unruhig – genauso, wie das Lied des
Küchenjungen in Eva Judejahn Widerwillen weckt.
[...] sie meinten Jazz-Rythmen zu erkennen, einen Urwald ihrer Einbildung, einen Negerkral voll Entblößung und Gier und dieser Dschungel
entarteten Getöses wurde wieder abgelöst von einfach langweiligen Stellen. (2,537)
Dietrich, der an Diederich Heßling aus Heinrich Manns Der Untertan erinnert, ist der Prototyp des Karrieristen. Auch er hat Angst vor dem Fremden
und dem Neuen, denn es könnte seine Chancen verringern. Die konstruierte
Musik, die Überlegung in der Symphonie machen ihn unruhig, und deshalb
will er in Zukunft mehr auf Siegfried achten.
Adolf beurteilt die Symphonie vielmehr aus der Sicht der Kirche: Er stellt
fest, daß Siegfrieds Musik keine Musik des Teufels sein könne, da sie die
Sehnsucht nach dem Lob der Schöpfung enthalte, obwohl sie „kein Lied an die
Freude“ sei. Dieser Ausdruck verweist auf Beethovens IX. Symphonie und auf
ihre „Rücknahme“ durch Adrian Leverkühn.
Adolf gefiel die Musik des Vetters nicht. Sie stimmte ihn traurig, ja sie
quälte ihn, aber er versuchte, sie zu verstehen. [...] Was drückte er aus?
Adolf meinte, Gegensätzliches, wohltuenden Schmerz, lustige Verzweiflung, mutige Angst, süße Bitternis, Flucht und Verurteilung der Flucht,
traurige Scherze, kranke Liebe und eine mit üppigen Blumentöpfen bestellte Wüste, das geschmückte Sandfeld der Ironie. War diese Musik
206
Gott feindlich? Sie war wohl nicht. Es war auch Erinnerung an eine Zeit
vor aller Schuld in den Klängen, an die Schönheit und den Frieden des
Paradieses und Trauer um den in die Welt gesetzten Tod, es war viel
Verlangen nach Freundlichkeit in den Noten, kein Lied an die Freude
zwar, kein Panegyrikus, aber doch Sehnsucht nach Freude und Schöpfungslob. (2,538)
Adolfs Verständnis kommt dem Siegfrieds am nächsten: Er nimmt in dessen Musik einander widersprechende Gefühle wahr, die übrigens durch Oxymora ausgedrückt werden. Die Kritik am deutschen Bürgertum sieht er mit
dem Stilmittel der Ironie verwirklicht. Später verurteilt aber Adolf Siegfrieds
Musik als „anarchisches Treiben“. Er deutet die Symphonie autobiographisch,
so „als würde ihm in einem zerbrochenen Spiegel die Kindheit reflektiert“
(2,538). Er sieht die Schauplätze in der Ordensburg vor seinen Augen; dabei
ist seine Meinung keine unvoreingenommene, er unterwirft vielmehr das
Werk der Zensur der Kirche und zieht den Schluß, daß die Kirche diese Musik
nicht billigen würde. Er nennt Siegfried einen „Ringenden“, womit er einen
Ausdruck der religiösen Restauration verwendet.
Ilse Kürenberg sitzt neben Adolf Judejahn. Sie vergleicht ihn mit Luther:
„Vielleicht ist er ein Mystiker. Und dann: Er ist ein katholischer Geistlicher,
aber er sieht wie der rebellierende Luther aus“ (2,535). Jetzt weiß sie, warum
ihr Siegfrieds Musik unsympathisch ist: „Es war zu viel Tod in diesen Klängen, und ein Tod ohne den heiteren Todesreigen auf antiken Sarkophagen“
(2,5335). Vergeblich versuchte Kürenberg die Musik zu bändigen, „die Musik
verkrampfte sich, sie schrie, das war Todesangst, das war nordischer Totentanz, eine Pestprozession, und schließlich veschmolzen die Passagen zu einer
Nebelwand“ (2,535). Nach der Aufführung sieht sie die Verkörperung des
Todes: den „von den Toten zurückgekommenen“ (2,542) Judejahn mit Entsetzen. Dieses Treffen ist für Siegfried, als sähe er „die Gorgonen“ (2,543) und
Ilse sah Judejahn und Siegfrieds Eltern wie Gespenster: „die Mordlemuren
eines alten Vaters“. (2,543)
Für Siegfried ist das unbemerkte Verschwinden die einzige Möglichkeit,
seine Unabhängigkeit zu wahren. Unabhängigkeit bedeutet hier, daß sein
Wunsch nach Verwandlung erfüllt wird: „ich will nicht bleiben, wie ich heute
bin, ich will nicht dauern, ich will in ewiger Verwandlung leben“. (2,482 f.)
Seine Eltern und Judejahns, die „Gorgonen“, vergegenwärtigen Siegfried sein
früheres Eingebundensein in die nationalsozialistische Ideologie. Die Gorgo
207
Medusa zwingt ihre Opfer, sie nachzuahmen. Der mimetische Zwang manifestiert sich in der Form der Lähmung, deren Allegorie die von der Gorgo erzeugte Versteinerung ist.260 Weil sich Siegfried entscheidet, in ewiger Verwandlung zu leben, wird er vom Zugriff verschiedener Ideologien bewahrt: „Die
Loslösung von einem bürgerlichen Lebensentwurf zugunsten einer ungerichteten Wandlungsfähigkeit wird an vielen Stellen in Koeppens Texten als Augenblick des Glücks umschrieben.“261
3.2.2.4. Das Afrika-Motiv
Siegfried will mit Hilfe des gewonnenen Preises nach Afrika fahren. In der
Schilderung der geplanten Afrika-Reise werden die Beweggründe gezeigt:
Ich würde nach Afrika reisen. In Afrika würde ich eine neue Symphonie
schreiben. Vielleicht würde ich sie im nächsten Jahr in Rom den Engeln
vorspielen; die schwarze Symphonie des schwarzen Erdteils würde ich
den weißen Engeln von Rom auf dem alten Götterhügel vorspielen. Ich
weiß, Europa ist schwärzer. Aber ich will nach Afrika reisen, ich will die
Wüste sehen. (2,569)
Siegfrieds Plan klingt exotisch: Auf Kürenbergs Empfehlung will er nach Mogador gehen, um dort in der alten maurischen Festung zu leben. Ihm gefällt der
empfohlene Aufenthaltsort, weil der Name des Ortes schwarz genug klingt.
Hielscher versteht die Reise als eine wichtige Verschiebung aus der abendländischen Welt nach Afrika und in die Wüste. Die Kürenbergs verkörpern Antike und Avantgarde; in der Verbindung der „römischen Engel“ mit der „Symphonie des schwarzen Erdteils“ wird aber nun der Gedanke der Vereinbarkeit
der vorchristlichen mit der nachchristlichen Welt thematisiert. Hielscher betont
den Wunsch nach Exotik. Diese verdeutlicht das Verlangen, die Verjüngung
260
Vgl. Carmen Ulrich: Im Angesicht der Venusstatue. Mythische Elemente in Wolfgang
Koeppens literarischem Werk. In: Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner, Gunnar MüllerWaldeck u. Roland Ulrich (Hg,): Jahrbuch der Internationalen Wolfgang KoeppenGesellschaft. München 2001, S. 91-104.
261
Ebd. S. 97.
208
und Authentizität im „Fremden“ zu finden. Afrika würde die Entfernung von
Kürenberg bedeuten, den Siegfried am Anfang verherrlichte, der aber seine
Symphonie verfälschte, – aber auch Entfernung von der Familie, die ihm sogar
nach Rom folgte und dort seine Freiheit bedrohte. Europas Sinnstrukturen
gelten in Afrika nicht mehr, dort wird Siegfried von der abendländischen Kultur nicht beeinflußt.262
Im Gespräch mit Adolf vergleicht sich Siegfried mit Kaliban: „Ich war
häßlich, häßlich wie Kaliban. Es war kein Spiegel da, kein magischer Spiegel;
er hätte mir Kalibans Gesicht gezeigt ‘von Nattern ganz umwunden’“(2,518).
Das Kaliban-Motiv ist erneut ein Hinweis auf Afrika. In Shakespeares Drama
Der Sturm erscheint der schwarze, mißgestaltete Caliban als der bewußtseinsdumpfe, triebgesteuerte Rohstoff des Lebens, der auch die wilden Kräfte der
Natur versinnbildlicht. Siegfried identifiziert sich lieber mit der schwarzen
Magie Calibans als mit der weißen Prosperos. Hier verwischen sich die Grenzen zwischen den sogenannten barbarischen und zivilisierten Momenten: Judejahn aus dem Abendland bricht die Menschenwürde der „Barbaren“, der Wüstensöhne; aus der Sicht der Kultur der „Barbaren“ ist die Zivilisation, in der die
Völker in Weltkriegen einander töten, Ausdruck des „Barbarischen“. Das Romanende wirft die Frage auf, ob Siegfried in der Wüste komponieren wird, ob
er den neuen Klang finden und durch ihn den Tod in Rom besiegen kann.
Siegfried erwartet von seiner geplanten Afrikareise die Erfahrung einer Welt,
die der eigenen vorausliegt:
[...] der Umweg über Afrika, der Blick in die fremde Kultur soll die
Schicht des „schwärzeren“ Europas erleb- und darstellbar machen, soll
helfen, jenen Bereich des Kreatürlichen zu vergegenwärtigen, der alles
bewußte Handeln grundiert, der das Dasein und Leben selbst zwar trägt,
der aber als Sinnzusammenhang nicht mehr faß- und formulierbar ist.
Dies nicht in analytischer Absicht, nicht mit der Intention, einen vernünftigen Sinn aufzufinden oder zu setzen, sondern als mythisches Bild,
in dem die untergründigen Mächte und unbewußten Emotionen unübersehbar präsent sind.263
262
263
Vgl. Martin Hielscher: Zitierte Moderne, a. a. O., S. 167-171.
Klaus von Schilling: „Erinnerung an eine Zeit vor aller Schuld“, a. a. O., S. 100.
209
Da er die in Afrika zu schreibende Symphonie den europäischen Engeln
vorspielen möchte, bedeutet seine geplante Afrika-Reise nicht, daß er dort
untertauchen möchte. Er will vielmehr das Fremde erkunden, den fremden,
Europa vorausliegenden Kulturraum erforschen. Dieser Raum ist nur in den
mythischen Bildern greifbar, die dazu dienen, ein Vorbewußtes, den bewußten
Handlungen Vorhergehendes, sicht- und hörbar zu machen. Siegfrieds Musik
spricht sowohl vom Tod in der jüngsten Vergangenheit als auch vom „Garten
vor aller Geburt“, der an ein vormenschliches Paradies erinnert, als auch von
der Vorstellung einer „Zeit vor aller Schuld“, die auf die folgenschwere Vergangenheit und die begangene Schuld verweist.264
Mit dem Wüsten-Motiv ist auch das der Sonne verbunden. So heißt es am
Ende des Gebets des Papstes: „Die Sonne war ein Gott, und sie hatte viele
Götter stürzen sehen; wärmend, strahlend und kalt hatte sie die Götter stürzen
sehen. Es war der Sonne gleichgültig, wem sie leuchtete“ (2,480). Die Sonne
steht für die Unberührtheit der Natur, so verdeutlicht auch die Wüste den Zustand vor der Schöpfung, den Siegfried zur Erneuerung seiner Kunst braucht.
Im Zusammenhang mit Judejahn wurde die Mehrdeutigkeit des Motivs der
Wüste bereits erörtert: Die Wüste ist für Judejahn ein Ort des Nihilismus. Siegfried, anknüpfend an die Tradition der Eremiten, versteht die Wüste aber als
einen Ort der spirituellen Erneuerung, aber nicht im religiösen Sinn des Wortes: „Augustinus ging in die Wüste. Aber der Quell war damals in der Wüste.“
(2,447) Dieser letzte Satz bedeutet, daß diese Wüsten-Allegorie in der christlichen Religion durchaus vorkommt, davon hat sich aber Siegfried entfernt.
Augustinus war der einflußreichste Lehrer der alten Kirche. Seine Zeit war
eine ausgesprochen kritische: Das durch die Völkerwanderung bedrohte weströmische Imperium erlitt seine erste große Niederlage. Die Westgoten nahmen
Rom 410 ein. Davor aber waren bereits alle heidnischen Kulte 391 verboten
und das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden. Die Polemik zwischen Christen und Heiden wurde danach immer schärfer. Dies hat Augustinus
dazu veranlaßt, sein Werk Über den Gottesstaat gegen die Heiden (De civitate
Dei contra paganos) zu schreiben. Es ist eine umfassende Apologie gegenüber
der heidnischen Welt und eine neue Deutung der Weltgeschichte.265 Über den
Kampf und die simultane Existenz der heidnischen und der christlichen Kultur
264
265
Ebd. S. 101.
Vgl. Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 78-85.
210
dachte auch der Papst nach. Er erwähnte in seinem Gebet die „christianisierten
Tempel“ und die „entwendeten Kultstätten der alten Heiden“ (2,479-480). Am
Bahnhof sah er „Scharen von neuen Heiden ankommen [...] und sie waren
gottloser und gottferner als die alten Heiden, deren Götter zu Schatten geworden waren“ (2,480). Augustinus’ Zeit, die Spätantike, war die Zeit der Verbreitung der christlichen Religion und im Zusammenhang damit die Zeit des Zurückweichens des Heidentums. Siegfried sieht jetzt die Zeit der nachchristlichen, nachbürgerlichen Epoche heraufkommen. Die Wüste wird nun nicht
mehr mit der Antike verbunden, sondern mit Siegfrieds Vorstellung vom „reinen Nichts“ und der Sehnsucht nach diesem vor der Schöpfung.266 Das beherrschende Motiv in den musikalischen Bildern ist der Tod bzw. die Angst oder
die Angst vor dem Tod: Der Tod ist in allen Erscheinungen des Lebens und
der Geschichte präsent, sowohl in der politischen Gegenwart – so wird Indochina mehrmals erwähnt – als auch in der jüngsten Vergangenheit. Siegfried
will den Tod in seiner Musik zeigen, aber ihn dadurch auch zugleich bannen.
Die Erfahrung des Fremden und die Ich-Erweiterung im Fremden tragen dabei
zur Bannung der Todesangst bei.
3.2.3. Das Leben unter dem Aspekt der Dominanz des Glaubens
In der Charakteristik Adolfs spielt Angst eine wichtige Rolle. Er reflektiert
über seine Angstgefühle, und auch die anderen Personen gehen davon aus,
daß er Angst hat. Adolf hat Angst vor sich selbst, vor seiner Mutter und seinem Vater sowie vor der Wirkung der Vergangenheit. Die Bekämpfung der
Angst bedeutet für Adolf Vergangenheitsbewältigung. Wie Siegfried ist er von
der Vergangenheit nicht frei:
Adolf schritt durch die Pforte des Doms. Seine Erziehung schritt mit
ihm. Diese Erziehung war nicht vollendet, sie war jäh abgebrochen worden, und zudem verleugnete er sie. [...] Wenn er allein war, wenn er mit
einem sprach [...], dann war Adolf von der Vergangenheit der Ordensburg gelöst, frei von ihren Parolen, aber wenn er sich unter der Menge
bewegte, wenn Massen ihn umdrängten, ihn verwirrten und erbitterten,
dann rührten sie die Listen der nationalsozialistischen Erzieher in ihm
266
Vgl. Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 225.
211
auf, die Lehre von der Massennützung, von der Massenverachtung, der
Massenlenkung [...]. (2,499)
Er zweifelt daran, daß seine Wahl des Priesterberufs richtig war, und denkt
darüber nach, ob er vielleicht wieder „in einer Organisation steckte, die mit
allem Mordgesindel unwillentlich, aber zwangsläufig grotesk und tragisch
verbunden blieb“ (2,499). Adolf geht allein in die Peterskirche und macht sich
Sorgen um seine weitere berufliche Laufbahn. Dabei stellt er sich die Frage, ob
er vor dem Heiligtum genügen würde, ob es seinen Glauben stärken würde.
Ihn verwirren die Pracht und der Ballast dieser heilen Welt. Zweifel an seinem
Glauben erweckt Rom, das für ihn die Welt seiner Vergangenheit repräsentiert.
Er geht durch die Via della Conciliazione, deren Pylonen ihn an das Nürnberger Parteitagsgelände erinnern:
[...] an Nürnberg erinnerte ihn die Via della Conciliazione, an das Parteitaggelände leider, nur jenes Aufmarschfeld war dem Knaben prächtiger
erschienen als dieser Weg zur Erzkirche, von dem er Pracht nicht erwartete, Pracht nicht wünschte, [...] (2,497)
Adolf sieht Gemeinsamkeiten im Erscheinungsbild und in der Organisationsform der römischen Kirche mit der nationalsozialistischen deutschen
Staatspartei. Der heilige Ort gibt ihm nicht den Glauben, sondern macht ihm
Angst und löst Verzweiflung aus. Adolf sieht die enge Verflechtung der Kirche mit der jeweiligen Macht: „Warum ließ die Kirche sich mit Kaisern und
Generalen ein? Warum übersah man sie nicht in Purpur und in Fräcken, in
lamettabehängten Uniformen und schlichten Diktatorenjoppen“ (2,500). In den
Geistlichen sieht er Angestellte oder Beamte, die ihren Dienst verrichten, die
Altäre werden zu Verkaufstischen in einem großen Warenhaus, die Beichtväter sind Schalterbeamte einer großen Bank, die Beichtstühle scheinen ihm wie
die Marmorplatten der Geldwechsler. Adolf „fühlte sich von Zweifeln bedrängt, vielleicht vom Teufel versucht, der vielleicht kein Teufel war, denn wie
hätte ein Teufel in das Haus Gottes [...] gelangen können [...]“. (2,501) Erst der
Anblick der Pietá von Michelangelo gibt Adolf den Glauben zurück: Die
künstlerische Gestaltung des Leidens verleiht ihm die Kraft des religiösen
Ausdrucks, mit dem er um die christliche Nächstenliebe bittet. Mit dieser will
er von jetzt an allen Menschen begegnen. Michelangelo hatte seine Pietá für
St. Peter auf einen Felsen gesetzt, womit Petrus gemeint war. Denn Christus
212
hatte selbst zu Petrus gesagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich
meine Kirche bauen.“ (Matth. 16,18) Der Anblick des Felsens, des Körpers
Christi und die Darstellung seines Leidens haben zu Adolfs Wandlung beigetragen; die Zeifel wurden vom Glauben an die christliche Liebe abgelöst. Der
dominante Wert des Glaubens erscheint in Verbindung mit der Kunst. Rom hat
Adolf gezeigt, wie durch das Leiden der Glaube zurückgewonnen werden
kann.
In der Engelsburg wird Adolf mit dem Tod konfrontiert: In den Verliesen
des Palastes begegnet er seinem Vater Judejahn, dem Unterweltgott. Er erblickt ihn vor der untersten Amphora der Gefangenschaft des Leibes. Adolf
betet „für die Seelen der unbekannten Gefangenen“ (2,506), und er erwartet
einen neuen Erlöser, der die Welt vom Töten des Leibes befreien würde. Judejahn erschüttert das Leiden der hier gestorbenen Gefangenen nicht: „ [...] folgte er seinem Bedürfnis und verrichtete seine Notdurft in das Loch für den
ärmsten Gefangenen. Adolf sah wie Ham seines Vaters Noah Blöße, doch wie
Sem und Japhet bedeckte er sein Gesicht mit den Händen“ (2,509).
Richner interpretiert diese Szene mit den Mitteln der Psychologie. Seiner
Ansicht nach ist Adolf nicht fähig, in sich Vater und Mutter zu überwinden, er
vermag sie nicht zu beseitigen; er sucht sogar die Versöhnung mit dem mächtigen Vater und der ihn ablehnenden Mutter. Auch will er den Eltern mit
christlicher Liebe begegnen, denn das christliche Gebot fordert, die Eltern zu
ehren und lieben. Wie Sem und Japhet in der biblischen Geschichte unterwirft
er sich dem väterlichen Gebot, da die Furcht vor dem Vater stärker ist als der
Wille zum freien Ich.267 In der biblischen Geschichte wird die Beachtung des
väterlichen Gebotes positiv bewertet, weil Noah ein gläubiger Mensch ist, der
mit dem Herrn im Bunde steht. Hier kündigt Hams vorsätzliche Respektlosigkeit das Übergreifen der Saat der Schlange auf die Übriggebliebenen an. Die
Nacktheit kann an die Verführung des Satans erinnern, das Bedecken der Blöße an Gott, denn er machte dem gefallenen Menschen Kleider. Sem und Japhet
werden in ihren Nachkommen gesegnet, der patriarchalische Fluch gilt Ham
und seinem Sohn Kanaan. Die Unterordnung Kanaans deutet den Sieg über
den Satan an.268 Die biblische Vorlage wird hier aber völlig uminterpretiert:
Judejahn ist selbst der Satan, der dadurch, daß er seine Notdurft in das Loch
267
268
Vgl. Thomas Richner: Der Tod in Rom, a. a. O., S. 76.
Vgl. Donald Guthrie/ J. Alec Motyer (Hg.): Kommentar zur Bibel. Wuppertal 1998, S.
104.
213
für den ärmsten Gefangenen verrichtet, die grausame Hinrichtung der urchristlichen Gefangenen wiederholt. Er segnet und verflucht niemanden. Adolf dagegen ist in einer Person Ham, Sem und Japhet: Er sieht die „Blöße“ seines
Vaters, aber er bedeckt nicht ihn, sondern nur seine eigenen Augen, um dies
nicht zu sehen. Wegen des falsch verstandenen Respekts und der christlichen
Barmherzigkeit verurteilt er aber seinen Vater nicht, sondern gibt ihm zusammen mit dem Priester die letzte Ölung. Das Vater-Sohn-Verhältnis wird durch
diese biblische Parabel das zweite Mal thematisiert. Durch die stattfindende
Umkehrung und die Modifizierung der Bedeutung der biblischen Geschichte
wird die Erbschaft der Vätergeneration in Frage gestellt. Pinzhoffer unterstreicht, daß Adolf das Prinzip des Tötens nicht überwunden, sondern nur
verdrängt habe. Er verschließe die Augen vor der Gestalt des Todes, genauso
werde er auf die Liebe verzichten, mit Hilfe derer der Tod besiegt werden
könne. Adolf will dem Tod und damit seinem Vater mit christlicher Liebe
begegnen; vor der Liebe, die ihm Laura aber schenken will, flieht er.269
Siegfried versucht, nach seiner Erquickung im Tiber Adolf „zur Freude zu
taufen“ (2,512). Er schildert ihm seine Vision von seiner „Freude“, die in der
Sprache der Musik durch die Vermischung der verschiedenen Musiktraditionen entsteht, die er aber nur in seiner Imagination wahrnimmt und später während seiner Afrika-Reise realisieren will:
„Sieh die Engel hier“, rief ich, „und male dir aus, sie schwingen sich auf,
ihre schwarzen Marmorflügel flattern, sie fliegen zum Kapitol und tanzen mit den alten Göttern. Hörst du es nicht, Pan spielt das Saxophon,
und Orpheus singt zum Banjo kleine Dschungellieder!“ Wirklich, ich
fand auf einmal die plumpen Engel schön; wirklich, ich sah sie fliegen,
ich sah sie Boogie-Woogie tanzen; [...] ich ließ die himmlische Jazzband
auf dem Hügel des Kapitols musizieren, ich träumte die Musik, ich
träumte die Tänze, [...]. (2,511 f.)
Da Siegfried in Adolf die Freude am Leben durch die Kunst nicht erwecken kann, will er Adolf durch Lauras Liebe Freude bereiten. Nach der Aufführung von Siegfrieds Symphonie kehren Adolf und Siegfried in der Homosexuellenbar ein. Laura ist überrascht, daß sie dort einen Priester sieht, sie sieht
aber Adolf an, daß er nicht schwul ist; sie will sich dem Priester schenken, um
269
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 110.
214
ihm Freude zu bereiten. Siegfried begleitet nun die beiden im nächtlichen
Rom; dabei folgt ihnen Judejahn, dem sich Laura verweigert hat. Adolf wird
von Laura, der Priesterin der Aphrodite Anadyomene, zur Liebe geweiht. Die
Weihung erfolgt durch das Wasser der Fontana delle Naiadi.
Sie überquerten den Platz, und Laura tauchte ihre Finger in das Wasser
des Brunnens, tauchte sie in die kleine Fontana delle Naiadi, und wie mit
Weihwasser benetzte sie, eine fromme Katholikin, mit dem Wasser der
Naiadi das Haupt ihres stummen Diakons. (2,564)
Sein Priestertum hindert ihn daran, Laura zu lieben, deshalb flieht er. Siegfrieds und Adolfs Auffassungen von der Welt unterscheiden sich in einigen
Punkten: Adolf will im Namen der christlichen Religion allen sündigen Menschen vergeben. Für Siegfried ist dies unmöglich; und diese Meinung spricht
er während seines Gesprächs mit Adolf aus:
[...] weil sie andere durch ihre Auffassungen und mit ihren Auffassungen
gequält haben, weil sie mir eine militärische Erziehung aufbrummten,
weil sie einen Krieg anfingen, weil sie Leid brachten, weil sie unendlich
zerstörten, weil sie aus unserer Heimat ein Land der Intoleranz, der
Dummheit, des Größenwahns, des Zuchthauses, des Richtblocks und des
Galgens machten. Weil sie Menschen getötet haben oder behaglich in ihren Häusern blieben, obwohl sie wußten, daß Menschen getötet wurden.
(2,516 f.)
Für Siegfried ist die Gegenwart wichtig, er glaubt nicht an die Hölle, und Adolf wird nach der Priesterweihe den Schuldigen ihre Sünden vergeben. Judejahns Sterbeszene ist schließlich eine Satire auf die Lossprechung von den
Sünden durch den römischen Priester:
Der Vater war noch nicht tot, und da fiel Adolf das Wichtigste ein – es
gab die Hölle es gab die Hölle es gab die Hölle. [...] Der Priester betete.
Er betete: „Durch diese heilige Salbung und seine gütige Barmherzigkeit
verzeihe dir der Herr, was du durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken
und Berühren gesündigt hast.“ (2,579)
215
3.2.4. Lebensmöglichkeiten unter den Bedingungen der Liebe
Laura repräsentiert im Roman die Liebe. Sie macht die Kasse zu einem
Quell der Freude. Auch Judejahn ist von Lauras Lächeln beeindruckt, denn sie
lächelt verführerisch; sie ist ein einfältiges und unbekümmertes Mädchen.
Laura verdankt ihre Eigenschaften einem beliebten Motiv der Italien-Literatur:
Sie entspricht dem Bild des natürlich-schönen und verführerischen Mädchens.270 Laura lernt in der Homosexuellenbar Judejahn, Adolf und Siegfried
kennen. Die Liebe dieser drei Männer zu ihr entfaltet sich entsprechend ihrer
Weltanschauung oder Einstellung. Für Judejahn ist Laura ein bezauberndes
Mädchen, ein Schneewittchen – aber auch eine „Jüdin“, die es zu hassen gilt.
Diese Gefühle drückt die Sprachmontage aus Märchen und rassistischem Gedankengut aus:
[...] sie war nicht schwarzbraun, die neben ihm saß, schwarz wie Ebenholz, welsch, vielleicht eine Jüdin, sie war bestimmt eine Jüdin, eine
Aussaugerin, eine Blutverderberin, die lachte, jetzt auch mit dem Mund,
rot wie Blut, lachte sie über ihn, rot wie Blut, weiß wie Schnee war ihr
Gesicht weiß wie Schnee, noch nicht, noch nicht ganz, beinahe weiß wie
Schnee, den es zu Hause gab im deutschen Wald, Leichen waren
schneeweiß, [...] (2,521 f.)
Die „faschistische“ Form der Liebe bewegt sich zwischen der Fortpflanzung als Leben und der „Liebe“ als Töten. Judejahn verkörpert beide Arten der
„Liebe“. Da er glaubt, eine Jüdin zu lieben, kann er seine Sünde nur durch das
Töten der Frau sühnen. Pinzhoffer versteht diese Form der „Liebe“ folgendermaßen: Das Subjekt sehe im Anderen nicht das Leben, sondern wolle vielmehr
den Tod beherrschen. Er ist der Meinung, daß Laura als „die Liebe“ Judejahn
als „den Tod“ besiegt habe. Ich kann diese Aussage nicht nachvollziehen,
270
Die berühmteste Laura-Gestalt in der italienischen Literatur ist Laura in Francesco
Petrarcas Das Buch der Lieder (Canzoniere). Das durchgängige Thema des Canzoniere ist
die unerfüllte Liebe des lyrischen Ichs zu seiner Geliebten Laura. Laura wird nicht so stark
vergeistigt, wie das bei Petrarcas Vorgängern der Fall war. Er gibt ihr sinnlich-erotische
Züge. Man kann diese Mädchenfigur auch in Goethes Italienischer Reise finden. Goethe wird
mit einer jungen Mailänderin bekannt gemacht, die schon einem anderen versprochen ist. Das
Motiv des italienischen Mädchens fand Eingang in die deutsche Literatur. Durch dieses
Motiv erhalten literarische Geschehnisse in Italien einen erotischen Bezugspunkt.
216
denn, wie schon erörtert, tötet Judejahn Ilse und nicht Laura nur deshalb, weil
er von Ilse sicher weiß, daß sie eine Jüdin ist.271
Nach dem Mord an Ilse Kürenberg verbirgt Laura ihren Kopf unter einem
Kissen:
Sie war noch immer nackt, und sie deckte das Kopfkissen nun über ihren Kopf, weil ihr Gesicht nicht mehr lächelte und weil sie das Weinen
ersticken wollte. So war sie auf dem zerwühlten Bett anzusehen wie der
kopflose schöne Leib der kopflosen Aphrodite Anadyomene. (2,576)
In der nächsten Zeile wird die Szene beschrieben, in der Adolf im Museum
der Diokletianischen Thermen vor der kopflosen Aphrodite Anadyomene
steht. Überall sieht er schöne Körper aus Marmor: Die Venus der Cirene,
Faune und Hermaphroditen, eine schöne und harmonische Welt, die er Siegfrieds Welt nennt. In ihr gibt es keine Hölle und nicht einmal die Gestalten der
Unterwelt sprechen von Schrecken. Adolfs Religion schließt Harmonie und
Eros aus. Die Intention, Religion und Liebe zu versöhnen, geht von Siegfried
aus. Er führt Adolf zu Laura, die diesen nicht zur christlichen Sünde verführen,
sondern ihm christliche Freude schenken will. So will sie helfen, der Religion
die Liebe zurückzugeben. Laura möchte die erkaltete christliche Liebe mit dem
warmen Eros des Lebens bereichern. Indirekt ist die unbewältigte Erziehung in
der Vergangenheit daran schuld, daß Adolf, weil er den Beruf des Priesters
gewählt hat, auf die Liebe verzichten muß.
Obwohl Siegfried Laura schön findet, kann er sie als Päderast nicht lieben,
denn „er liebte die herbe bittere Schönheit der Knaben, und seine Bewunderung galt etwas dreckigen von wilden Spielen zerschrammten Straßenjungen“
(2,551). Wesentlich ist auch, daß er sich nicht fortpflanzen will: „Körperliche
Zeugung schien Siegfried ein Verbrechen zu sein“ und „Der Same befleckte
die Schönheit, und die Geburt war dem Tod zu ähnlich; vielleicht war sie ein
Tod“ (2,552). Siegfrieds Aversion gegen die Zeugung neuen Lebens ist auch
mit seinen Erinnerungen an die Erziehung in der Ordensburg verbunden. Seine
existentielle Unsicherheit, die Furcht vor der Wiederkehr der nationalsozialistischen Macht, hindern ihn daran, Kinder in die Welt zu setzen.
Die Kürenbergs dagegen lieben sich; sie führen aber eher eine ästhetische
Lebensweise. Ilse hat eine Figur wie eine Marmorstatue; sie ist keine Frau, die
271
Vgl. Gerhard Pinzhoffer: Wolfgang Koeppens „Tod in Rom“, a. a. O., S. 98.
217
den Sinn ihres Lebens in Kindern sehen würde, daher ist sie Siegfried sympathisch:
Da kam Ilse Kürenberg auf mich zu. [...] war von fester Gestalt, aber
fettfrei, und sie war ihm sympathisch, weil sie kinderlos war. Er dachte:
Sie hat nicht geboren, sie hat sowenig geboren, wie die Statuen in den
römischen Gärten geboren haben, und vielleicht ist sie doch die Göttin
der Musik, die Muse Polyhymnia [...] (2,494).
4. Wolfgang Koeppen und Thomas Mann. Formen der
Intertextualität
4.1. Der intertextuelle Titel
Titel als Zitate sind Manifestationen der Titelreferenz, vor allem in dem
Fall, wenn ein Titel einen anderen zitiert. Susanne Holthuis geht davon aus,
„daß die Referenz auf den Referenztitel total oder partiell und nicht-modifiziert
oder modifiziert erfolgen kann“.272 Sie erwähnt die „klassischen“ Titelzitate, in
denen es um eine totale Übernahme geht. In diesem Fall wird der Bezugstitel
vollständig wiederholt. Es gibt aber auch die Möglichkeit, daß eine Modifikation von Titelzitaten durch Addition oder Substitution von Nomina erfolgt.
Diese Zitate drücken dann eine mehr oder weniger explizite Referenz auf den
Bezugstitel aus. So stellt der Romantitel Der Tod in Rom sofort eine deutliche
Verbindung zu Thomas Manns Der Tod in Venedig her, nur durch Austausch
der Städtenamen. Ob es auch eine intertextuelle Relation zwischen den zugehörigen Texten gibt, kann erst in einer Interpretation geklärt werden. Hier gilt
die Einschränkung, „daß der Explizitheitsgrad der Titelreferenz nichts über die
Art, Intensität und Funktion der intertextuellen Verarbeitung im und für den
Kotext selbst aussagt“.273 Als Rezeptionsanweisung provoziert der Titel aber
eine bestimmte Rezeptionserwartung und aktiviert Deutungsschemata.
272
Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption.
Tübingen 1993, S. 149.
273
Ebd. S. 149.
218
Der Titel weist darauf hin, daß sich Der Tod in Rom durchaus mit Thomas
Manns Werk auseinandersetzt. Der Titel des Romans ist mehrdeutig. Erzählt
wird von Judejahns und Ilse Kürenbergs Tod, auch vom Tod des Todes, denn
Judejahn ist nicht einfach ein ehemaliger SS-General, sondern auch die Personifikation des Todes seiner Zeit. Der Doppeltod, d.h. der Tod von zwei wichtigen Romangestalten ist ein wichtiges Motiv in der Trilogie (In Tauben im
Gras sterben Edwin und Josef; im Treibhaus Elke und Keetenheuve). Erzählt
wird in enger Bezugnahme auf Thomas Manns Der Tod in Venedig. Darauf
wird auch durch das zweite Motto und die Variation des Zitats am Ende des
Romans aufmerksam gemacht. Es geht hier um den letzten Satz der MannNovelle, in dem Aschenbachs Todesnachricht mitgeteilt wird: „Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von
seinem Tode“ (2,391). Die Paraphrase am Ende des Koeppen-Romans lautet:
„Die Zeitungen meldeten noch am Abend Judejahns Tod, der durch die Umstände eine Weltnachricht geworden war, die aber niemand erschütterte“
(2,580).
Nicht nur der Titel und das Motto weisen auf die Zusammenhänge zwischen Koeppens Roman und Manns Novelle hin: „Der Binnenbereich des
‘Tod in Rom’ ist vielmehr, tropfengleich, übersät mit Zitaten und Allusionen,
die sich auf weitere Werke Manns beziehen. Koeppen hält die Erinnerung an
Mann ständig präsent, provoziert ständig zum Vergleich.“274
4.2. Koeppens Thomas Mann-Essays Die Beschwörung der schweren
Stunde (1975) und Die Beschwörung der Liebe (1980)
Koeppen beschäftigte sich mit Manns Werken ein Leben lang. Es war ein
„Verehrung nicht ausschließendes Interesse“275, mehr Bewunderung als Begeisterung. Ein zum 60. Geburtstag Manns geschriebener Brief zeugt von dieser deutlichen Verehrung.276 Der zu Manns 100. Geburtstag verfaßte Essay
274
Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a. a. O., S. 177.
Wolfgang Koeppen: Thomas Mann. Die Beschwörung der schweren Stunde. In:
Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke, a. a. O., Band 6. S. 193-195, hier: S. 193.
276
Diesen Brief hat Koeppen am 4. Juni 1935 von Den Haag geschickt. Der Brief lautet
folgendermaßen: „Sehr verehrter Herr Thomas Mann! Ich danke Ihnen für Ihr Werk und für
Ihr Leben in unserer Zeit. Viele junge Deutsche, Zwanzigjährige und Dreissigjährige,
275
219
Die Beschwörung der schweren Stunde277 beginnt mit der Aufzählung der
Einwände, die Koeppen gegen Manns Werk aufbringt. Der erste Punkt betrifft
die Fähigkeit des „Durch-Schauens“, vor der Mann zurückschrickt: „[...] der
allzu flüchtige Blick in die Abgründe, sein augurenhaftes Augenzwinkern, daß
er das Unglück des Menschen kennt, doch wendet er sich schnell, wie erschrocken, von ihm ab, klebt eine Vandeveldetapete oder stellt eine Bibliothek davor“278. Mann reflektiere nach Koeppen die sozialen und existentiellen Probleme der Menschheit nur in geringem Maße. Er verlasse die Abgründe und
habe wenig Verständnis für die Probleme der Unterdrückten. Koeppen nennt
Manns Romane Gesellschaftsromane, aber Mann denke an eine Gesellschaft
„im konservativen Sinn der Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft“279. Seine
Personen freuten sich mit ihm, in diese Gesellschaft hineingeboren zu sein.
Der arbeitende und handwerkende Mensch werde nur zur spöttischen Betrachtung und zur Belustigung der reichen Bürger vorgeführt. Koeppen mußte später feststellen, daß sein Urteil ungerecht war. Widerlegt fühlte er sich schon
durch den Schluß des Zauberberg, auf den er ebenfalls in Tod in Rom Bezug
nimmt, in dem Thomas Mann eine Schlacht des Ersten Weltkrieges auf fünf
Seiten meisterhaft zusammengedrängt erzählt.
Hans H. Schulte verteidigt in seinem Artikel Mann gegen die Anklagepunkte der Thomas-Mann-Polemik des Jubiläumsjahrs, die da waren: das Versagen gegenüber dem Zeitanspruch, das Realitätsdefizit seiner erzählten Welt,
Exzentrik und Preziosität des Erzählens, Egozentrik, Egomanie und nihilistische Ironie.280 Gegen den Hauptvorwurf, daß Mann keinen gesellschaftskritierkennen in Ihnen heute den Schriftsteller, der die Fackel trägt und das Feuer bewahrt; und
durch die Gegenwart ihres Wortes, das sie lieben, fühlen sie sich verpflichtet. Erlauben Sie
mir den Tag zu erwähnen, an dem das Blatt mit Ihrem ersten Nachruf auf Fischer in Berlin
von Hand zu Hand ging und als eine Botschaft empfunden wurde, die das Leben schöner
machte. In aufrichtiger Bewunderung und Verehrung spreche ich Ihnen meine Gratulation zu
Ihrem sechzigsten Geburtstag aus.“
Der Brief wird im Thomas Mann-Archiv Zürich aufbewahrt. Zitiert nach: Christoph
Haas: Wolfgang Koeppen – Eine Lektüre, a. a. O., S. 186.
277
Wolfgang Koeppen: Die Beschwörung der schweren Stunde, a. a. O.
278
Ebd. S. 193.
279
Ebd.
280
Hans H. Schulte: Ist Thomas Mann noch lebendig? Verständigungsschwierigkeiten
zwischen einem deutschen Klassiker und seinem Publikum. In: Hans H. Schulte/Gerald
Chapple: Thomas Mann. Ein Kolloquium. Bonn 1978, S. 105.
220
schen Realismus zeige, stellt Schulte die Frage, wer mehr über den Zersetzungsprozeß des Großbürgertums zu sagen gehabt habe als eben Thomas
Mann. Er habe den Nachfahren ein differenzierteres Bewußtsein von der Endzeitlichkeit jener literarischen Kultur „geschaffen“. Somit habe er zum Neuansatz herausgefordert. Schulte schreibt in diesem Zusammenhang: „In den Krisenzeiten der Sozial- und Kulturgeschichte ist der exakt artikulierende und
distanzierende Letzte ein genauso unentbehrlicher Wegbereiter wie der frisch
zupackende Erste, wie ihn viele in Brecht erkennen.“281 Aus dieser Perspektive
darf man Thomas Mann seine Klassenposition und die Verklärung von Bürgertugend nicht übelnehmen.
Koeppen liebte die Novelle Tod in Venedig. In diesem Zusammenhang kritisierte er aber Manns Position, der in dem Bemühen, seinen Helden Aschenbach in tadelloser Form zu erhalten, die Wirklichkeit von Unzucht und Verbrechen entfernt; Mann sei nicht bereit, die potentiellen Konsequenzen zu tragen:
Das Erlebnis bleibt platonisch, man war Gast auf einem Symposion, hat
den Phaidros gelesen, nach der Welt der Ideen gestrebt und ist
schließlich Mitglied einer Akademie, um alles verständig und in Grenzen zu genießen und in Ehren sterben zu können.282
Schulte wirft Koeppen vor, daß dieser nicht bemerke, daß das Gewagte der
Sprache, die sich Aschenbach eröffnet, alles Ungeheure übersteigt, was das
wirkliche „Verbrechen“ zu bieten hätte: „Diese Sprache ist gerade in ihrer
Raffinesse so unerhört und entschieden schamlos, daß sie ihre hartnäckige
Besessenheit, auf ihren Spürgängen die verborgensten (und damit enthüllendsten) Winkel der Lebenspeinlichkeit auszuleuchten, oft genug an die Grenze
des Geschmacklosen vortreibt.“283
Manns spätere Position zum Naziregime wird von Koeppen nicht kritisiert:
„Ich muß den politischen Thomas Mann, den Widerstandskämpfer gegen Unmenschlichkeit und Diktatur, hier auslassen.“284 Aber sein Schaffen wird einer
281
Ebd. S. 107.
Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke, a. a. O., Band 6, S. 194.
283
Hans H. Schulte: Thomas Mann, a. a. O., S. 117.
284
Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke, a. a. O., Band 6, S. 195.
282
221
umfassenden Kritik unterworfen, sowohl seine Lebenspraxis als auch seine
ästhetische Position und die allzusehr betonte Repräsentanz:
Thomas Mann war ein Fürst im Reich der Literatur. Er verwaltete dieses
Reich lange Zeit. Er stand ihm vor mit der Liebe eines Jünglings und der
Weisheit des Erfahrenen. Es machte ihm Vergnügen, die Meister zu interpretieren. Er hat nie ihren Ruhm beschnitten. Er hat sie in sein Licht
gesetzt, von Staub befreit in ein Schaufenster, vergeßt sie nicht. Leiden
und Größe der Meister, das ist Theodor Storm und Thomas Mann, das ist
August von Platen und Thomas Mann, ist Thomas Mann plus Goethe,
am Ende Thomas Don Quijote. Es ist erstaunlich und sehr zu bewundern.285
Der Roman Der Tod in Rom geht zeitlich diesem Essay Koeppens voran,
und die bereits dargestellten Momente der Kritik an Manns Werk sind durch
die Strategie des Romans, durch Zitate, Allusionen und Paraphrasen, im Roman schon enthalten. Der im Jahre 1980 geschriebene Essay Die Beschwörung
der Liebe ist eine Art individueller Rezeptionsgeschichte. Koeppen hat Manns
Novelle dreimal unter verschiedenen Umständen gelesen. Nun wiederholt
Koeppen seine Gedanken aus seinem anderen Essay, in dem er darüber
schreibt, daß Mann wieder „heil herauskam“ und seine Auferstehung „auf
einer höheren Sprosse des Ruhms“286 gefeiert habe. Koeppen wundert sich,
daß die Provokation der „Familienglückgesellschaft“ des deutschen Kaiserreichs unbegriffen verging. Die Rezensenten haben auf die Päderastie nicht
geachtet und die Tatsache, daß in der Novelle ein Knabe geliebt wird, als List
des Artisten und als eine Absicht, die Gefühle parodistisch zu beschreiben,
verstanden.
Koeppen war fünfzehn, als er die Novelle das erste Mal las: „Die Liebe zu
einem Knaben schien mir ästhetischer, ethischer und intellektueller zu sein als
Mädchenliebe, fern der Gefahr fleischlicher Zeugung und der Familiengründung.“287 Während der zweiten Lektüre der Novelle lebt Koeppen in Holland
und arbeitet an seinem Roman Die Mauer schwankt. Jetzt fühlt er mehr Distanz als Begeisterung. Vor allem Aschenbach sieht er in einem anderen Licht:
285
Ebd.
Wolfgang Koeppen: Die Beschwörung der Liebe. In: Wolfgang Koeppen: Gesammelte
Werke, a. a. O., Band 6, S. 197.
287
Ebd. S. 198.
286
222
„Sein Wort ‘durchhalten’, das noch den Knaben beeindruckt hatte, war mir zu
einem Schwadronierwort des unangenehmen Deutschen geworden; die Bücher, die Aschenbach schreiben wollte, konnten nun Hilfen des platten Nationalismus sein“.288 Was Koeppen begeistert hat, war „der Aufbau des Werks,
des Kunstwerks, seine Verstrickung mit allerlei Boten auf der konsequenten
Bahn des Todes, den Figuren des Verfalls, der Demütigung, des Zweifels am
Ich, den Elend- und Traumgestalten der Angst vor der Ausstoßung aus einer
Gesellschaft, die Aschenbach teuer war, […]“289.
Zum dritten und letzten Mal liest Koeppen die Novelle als alter Mann in
Venedig. Er vergißt alles vorher Geschriebene und Gelesene: „Der Tod in
Venedig ist einfach ein schönes Buch. Vielleicht keine schönsten Seiten, doch
des Dichters schönstes Werk. Keine Patina, die hatte es bei seinem Erscheinen,
eine Schutzschicht aus der Kultur, ich meine, keine Alterung. Die Schutzschicht ist dünn geworden, das verjüngt.“290
Koeppen schließt seinen Essay mit der Zurücknahme des letzten Satzes aus
Tod in Rom: „Ich habe mir einmal etwas herausgenommen, eine Paraphrase
auf den Schlußsatz des ‘Tod in Venedig’. Ich möchte Herrn von Aschenbach
in all ihrer Reinheit die Zeile zurückgeben: ‘Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.’“291
4.3. Die Rolle von Thomas Manns Der Tod in Venedig und Doktor
Faustus als Referenztexte für Wolfgang Koeppens Roman Der
Tod in Rom
Susanne Holthuis spricht von „schöpferischen Textinterpretationen“292,
wenn ein Autor bei der interpretativen Verarbeitung eines gegebenen literarischen Textes einen neuen hervorbringt. Diese Referenztypen basieren auf
komplexen Textverarbeitungsprozessen, die geleitet sind von bestimmten Interpretationszielsetzungen des Autors, „etwa einer Evaluierung des Referenztextes, um darauf aufbauend gegebenfalls auch zu einer anderen Relationie288
Ebd. S. 200.
Ebd.
290
Ebd. S. 201.
291
Ebd. S. 202.
292
Susanne Holthuis: Intertextualität, a. a. O., S. 145.
289
223
rung seiner Komponenten und damit zu einer ‘Uminterpretation’ zu gelangen.“293 Die Interpretationsvorgaben des Autors bestimmen, in welchem Maße
der Referenztext re-linearisiert bzw. transformiert wird. Konkurrierende Bedeutungsrelationen entstehen zwischen den Referenztexten (hier: Thomas
Manns Der Tod in Venedig und Doktor Faustus) und dem referierenden Text.
Die intertextuellen Bezüge werden stufenweise modifiziert und kommentiert.
In den vorangegangenen Kapiteln der Interpretation zu Der Tod in Rom
habe ich auf die Analyse der die Thomas-Mann-Werke betreffenden intertextuellen Bezüge bewußt verzichtet, denn ich wollte die Fragen der Intertextualität im Zusammenhang mit den Mann-Werken getrennt behandeln. Natürlich ist
eine solche Analyse nicht nur erst nach dem Abschluß der allein den referierenden Text betreffenden Interpretation möglich. Im Hinblick auf den intertextuellen Titel setzt der Deutungsmechanismus sofort ein. Die intertextuelle
Ausrichtung der Analyse kann zu jedem Zeitpunkt einsetzen. Der Tod in Rom
kann auch ohne die Berücksichtigung seiner Hinweise auf Manns Werke verstanden werden. So ist die Intertextualität in dieser Hinsicht keine Deutungsvoraussetzung, sondern eine Deutungserweiterung. Diese Form der Interpretation nennt Holthuis Komplementär-Interpretation, die zu einem vollständigeren und komplexeren Verständnis der Textwelt führt.294
Zu beantworten ist die Frage, welche Rolle die Referenzwerke für die Bedeutungskonstitution spielen. Dabei muß die Interpretation auf den gesamten
Text ausgerichtet werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß der referierende Text und nicht der Referenztext die Bedeutungskonstitution dominiert.
4.3.1. Der Tod in Venedig als Referenztext
Die Charaktere Siegfried Pfaffrath, Kürenberg und Gottlieb Judejahn hat
Koeppen unter Bezugnahme auf Gustav Aschenbach entworfen: Siegfried als
Künstler und Päderast steht dabei Aschenbach am nächsten. In einigen Textpassagen wird die Illusion des ästhetischen Wesens der Knabenliebe aufrechterhalten:
293
294
Ebd.
Ebd. S.209.
224
Siegfried war Päderast, er war keine Tante, die Zuneigung erwachsener
Männer war ihm unangenehm, er liebte die herbe bittere Schönheit der
Knaben, [...], sie waren ein Anblicksbegehren und eine Phantasieliebe,
eine geistig ästhetische Hingabe an die Schönheit, ein aufregendes Gefühl voll Lust und Traurigkeit; doch Umarmungen wie die auf dem Badeschiff waren Geschehnisse blinder Torheit, waren freudlose Höllenfahrten, ein wahnsinniger Versuch, das Unberührbare zu berühren, die
Tollheit, den Gott im Schmutz zu fassen, wofür Siegfried mit einer
flüchtigen, schnell wieder vergehenden Euphorie beschenkt wurde.
(2,551)
Ein anderes Mal glaubt Siegfried, der Dichter Petronius zu sein: „ich genoß
das Gespräch weiser Männer und die Schönheit der Knaben“, aber im gleichen
Moment durchbricht er diese Illusion: „und ich wußte, es gibt keine Unsterblichkeit und die Schönheit verfault“ (2,566). Das Liebesobjekt Aschenbachs ist
Tadzio, der polnische Junge. Die polnische Sprache, deren Aschenbach nicht
mächtig ist, klingt „wie Musik“ und verkörpert für ihn Dionysos’ Kunst. Die
Hermes-Metamorphosen, denen Aschenbach auf seinem Weg nach Venedig
begegnet, sind dabei nur Tadzios Präfigurationen: Sie schneiden hässliche
Grimassen, Tadzio selbst dagegen lächelt und repräsentiert die vollkommene
schöne Form. Die Todessymbolik ist den anderen Hadesboten zugeschrieben,
in Bezug auf Tadzio wird nur seine unterminierte Gesundheit erwähnt. Der
polnische Knabe ist der Maskengott Dionysos im Gewande des Apoll: In Tadzios Gestalt kann Dionysos Aschenbach überwältigen. Tadzio ist für Aschenbach ein Kunstwerk, eine griechische Statue mit dem klassischen Profil. In
Der Tod in Rom erscheinen Siegfried die Kürenbergs und nicht Ganymed, der
Strichjunge auf dem Badeschiff, als Kunstwerk. Tadzio verfügt über die Attribute des Todesgottes Hermes und des Liebesgottes Eros; auch wird geschildert, wie er aus dem Meeresschaum geboren wird wie Aphrodite. Aphrodite
Anadyomene wird in Tod in Rom Laura genannt – eine Liebesgöttin, die Adolf
zur Freude und zur Liebe verführen will.
Aschenbach will seine homoerotische Neigung mit Hilfe der Entstellung
der platonischen Lehre legitimieren. Seine Aussage „So ist die Schönheit der
Weg des Fühlenden zum Geiste“, die er als Zusammenfassung des Abschnittes
aus dem Phaidros versteht, ist in dieser Bedeutung bei Platon nicht zu finden.
Aschenbach zählt sich zu den Geweihten, die ein irdisches Abbild sehend
leicht zum Anblick der Schönheit selbst gebracht werden können. Bei Platon
225
heißt es, daß der sinnlich verhaftete Mensch, nicht aber der Fühlende zum
Geiste geführt wird, da man die Schönheit mit dem Auge wahrnimmt.295 In der
Fortsetzung wird „der Fühlende“ durch das Wort „der Künstler“ ersetzt. Aschenbach schließt seinen Gedankengang mit den Worten, daß der Liebende
göttlicher sei als der Geliebte. Diese Auffassung wird aber bei Platon nicht von
Sokrates, sondern von Phaidros vertreten. Aschenbach will durch diese Worte
sein Benehmen rechtfertigen, seine Rechtfertigung wird aber durch den ironischen Erzählerkommentar relativiert.
In der Szene am Strand ist für Aschenbach die Werkschöpfung eine Ersatzhandlung: Der Rausch ersetzt den Liebesakt. Das in Tadzios Anwesenheit
zustande gebrachte Werk ist das Produkt einer Krise, die Aschenbach nun zum
Opfer des Dionysos macht.
Und zwar ging sein Verlangen dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten,
beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen
Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien,
und seine Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug..296
Die Verstellung des mythischen Modells verrät die Liebes-Akt-Natur dieses Schreib-Aktes. Der in einen Adler verwandelte Zeus hat mit Ganymeds
Entführung anderes vorgehabt, als dessen „Schönheit ins Geistige zu tragen“.
Ganymed wurde wegen seiner Schönheit in die himmlischen Sphären entführt,
damit er Zeus’ Mundschenk werde. Der in einen Adler verwandelte Zeus habe
ihn selbst entführt, gewöhnlich wird auch ein Liebesverhältnis als Grund angegeben. Wenn man den letzten zitierten Satz der Novelle mit seiner in der
Analyse der Badeschiff-Szene bereits zitierten Paraphrase vergleicht,297 kann
man feststellen, daß es sich bei Koeppen nicht um eine Verstellung der platonischen Ideen handeln kann: Das Liebesabenteuer wird überhaupt nicht mit
dem Schaffen in Verbindung gesetzt. Der Ich-Erzähler greift zwar das am
285
Vgl. Josef Häfele, Hans Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am
Main: Diesterweg 1992, S. 99.
296
Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf
Bänden. Band IX. Berlin 1956, S. 504.
297
„Aber der schöne Knabe lag zwischen ihnen, rauh angepackt, nicht von Adlerfängen,
von scheußlich unreinen Geiern, Zeus-Jupiter war tot, auch Ganymed war tot, ich verfluchte
mich, ich stieg zu den Toten hinab.“ (2,505)
226
Romananfang schon angesprochene Thema von den toten Göttern wieder auf
– es ist aber die Zurücknahme der mythischen Konstellation, und das Hinabsteigen zu den Toten steht hier für die Vergegenwärtigung der Erziehung in
der Ordensburg. Mit der Erwähnung der „Toten“ wird nicht nur die Existenz
der Götter in Frage gestellt, sondern auch an die Kameraden und Soldaten von
damals erinnert, von denen viele schon tot sind: „Es war Lust und Vergangenheit, die ich empfand, es war Erinnerung und Schmerz, und ich haßte mich“
(2,508).
Der Knabe und die beiden Jünglinge tragen in dieser Szene des Romans
grellrote Badehosen. Die rote Farbe symbolisiert wie auch in Der Tod in Venedig die Erotik: Der schöne Knabe, Ganymed genannt, kann – wie ich bereits
erörtert habe – mit Tadzio verglichen werden, während die beiden häßlichen
Jünglinge Hades-Attribute besitzen: „Der Knabe war schön. Die beiden Burschen aber hatten eine fleckige und kranke Haut; sie hatten ordinäre und böse
Gesichter. Ich kannte ihre Art. Sie waren mir widerwärtig.“ (2,504)
Im Zusammenhang mit Aschenbach schreibt Quack: „Die Macht der Konvention ist so groß, daß die Vorstellung eines erotischen Tabubruchs zum
Symbol für chaotische Kulturauflösung werden kann“.298 Da Siegfried Aschenbachs Skrupel nicht kennt, vermeidet er den geschlechtlichen Kontakt
nicht. Er empfindet darüber Ekel, denn er berührt ja nicht den schönen „Ganymed“, sondern einen der häßlichen Jungen. Seine Ekelgefühle hängen also
nicht mit seinen Moralvorstellungen, sondern mit der Widerwärtigkeit des
Strichjungen zusammen. Siegfried bekennt sich offen zu seiner Homosexualität. Wie das Zitat am Anfang dieses Kapitels beweist, sucht Siegfried trotz
seines Abenteuers am Tiber-Ufer die Befreiung von jeder Form der Geschlechtlichkeit. Dies hängt eng mit seinem Geschichtspessimismus zusammen: Er fühlt sich der Macht und dem Machtmißbrauch ausgeliefert und will
diesen Kreislauf durchbrechen, deshalb weigert er sich, sich fortzupflanzen,
und sucht die Lösung in (hetero)sexueller Abstinenz.299
Alles, was bei Thomas Mann feinsinnig erzählt wird, wird bei Koeppen
bewußt provozierender dargeboten. So bezieht sich die Todesnachricht bei
298
Josef Quack: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 242.
Vgl. Oliver Herwig: Wolfgang Koeppens Absage an den Ästhetizismus. Die Strategie
der literarischen Auseinandersetzung mit Thomas Mann im Roman „Der Tod in Rom“. In:
Zeitschrift für Germanistik. N.F. 3 (1995), S. 548.
299
227
Thomas Mann auf die Künstlerfigur, bei Koeppen auf die des Mörders. Siegfrieds Untergang wäre nicht denkbar: Zwar werden die Konzepte seines früheren Lebens von ihm geleugnet, sie waren ihm aber von einer äußeren Macht
aufgezwungen worden. Aschenbach dagegen muß einsehen, daß er die Wiederkehr der verdrängten Wünsche nicht verhindern kann, und da er die Konsequenzen daraus fürchtet, gibt es für ihn keinen Ausweg.
Über die anderthalb Seiten, die Aschenbach beim Anblick Tadzios geschrieben hat, erfährt der Leser nichts genaueres. Es steht aber außer Frage,
daß dieser Text in der Tradition des bisherigen Schaffens Aschenbachs steht.
Mit diesem Werk scheint Aschenbach zu einem würdigen Abschluß seiner
schriftstellerischen Laufbahn gelangt zu sein. Der Erzähler drückt darüber
seine Kritik aus:
Es ist sicher gut, daß die Welt das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis
der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals
verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben.300
Siegfried dagegen, der mit seiner Musik beunruhigen will, strebt danach,
die Entstehungsbedingungen seiner Kunst, d.h. die nationalsozialistische Erziehungsanstalt mit allen ihren Konsequenzen, zu zeigen. Das Verhältnis des
Erzählers von Tod in Venedig zu Aschenbach ist durch zunehmende Ironie
gekennzeichnet, jedoch gibt er das klassische Schönheitsideal nicht auf, seine
Position ist gegenüber der von Aschenbach nicht grundsätzlich neu. Der Erzähler in Tod in Rom wählt nicht eine ironische, sondern eine einfühlende
Erzählhaltung. Die Sichtweisen von Siegfried und dem Erzähler unterscheiden
sich dabei nur geringfügig, sehr oft wird auch in der Ich-Form erzählt, was
aber nicht bedeutet, daß Siegfried und der Erzähler stets gleicher Meinung
sind.
Es ist nicht einfach, die Zusammenhänge zwischen Aschenbach und Kürenberg zu analysieren. Mann zeichnet zunächst Aschenbachs Werkgeschichte
nach: Am Anfang steht die realistische „Prosa-Epopöe“ über Friedrich den
Großen, dann folgt „Maja“, das Leitmotivgewebe des Gesellschaftsromans,
schließlich die essayistisch-philosophische Reflexion „Geist und Kunst“, die in
300
Thomas Mann: Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 505.
228
der Tradition der klassischen Ästhetik steht. Diese Entwicklung schreitet ins
Klassisch-Neuklassische. Aschenbach entwickelt sich dabei zu einem die Gesellschaft repräsentierenden Schriftsteller, der Vorbildfunktion erfüllt.301 Seine
schriftstellerische Position kann folgendermaßen zusammengefaßt werden:
Flucht in die Bürgerlichkeit, Popularität und Wirkung, die bis ins „Amtlich-Erzieherische“ reicht, Präzeptorenschaft, Ruhm und Nobilitierung,
Repräsentanz und Staatsschriftstellertum begründet. Für die Ästhetik:
weg von Naturalismus und Neuromantik und Rückkehr zum klassischen
Symbolbegriff mit allen seinen Folgen; Reduktion aufs Repräsentative,
Auslöschung des Charakteristisch-Einzelnen zugunsten des MusterhaftTypischen, Primat der geglätteten Oberfläche, Vertilgung des Stoffes
durch die Form.302
Das Streben nach Erfolg verbindet Aschenbach mit Kürenberg: Kürenberg
bereist die Welt und treibt Musikpolitik; auch Ilse wird als Vertreterin der
„Betriebsamkeit“ in der Welt der Musik genannt. Beide haben pädagogische
Ambitionen und verkörpern Würde. Die erwähnten Gemeinsamkeiten bewegen sich aber nur auf der Oberfläche. Die pädagogische Würde, die Aschenbach ausstrahlt, ist nur Fassade, hinter der Dekadenz und Homosexualität stehen. Er ist zudem nicht imstande, den Schein der Würde aufrechtzuerhalten;
die „dionysische“ Raserei besiegt die „apollinische“ Form. Siegfrieds Verhältnis zu Kürenberg ist ambivalent. Einerseits schwärmt er für die Kürenbergs:
„[...] auf einmal begriff ich, daß Kürenbergs mir voraus waren, sie waren der
Mensch, der ich sein möchte, sie waren sündelos, sie waren der alte und der
neue Mensch, sie waren antik und Avantgarde“ (2,431); andererseits entdeckt
Siegfried zum einen Kürenbergs latenten antimodernen Klassizismus, mit dem
er seine Musik verfälscht oder „glättet“, und hinter dem Hedonismus und
Weltbürgertum des Ehepaares zum anderen das Fortleben der traumatischen
Erlebnisse im Dritten Reich. Siegfrieds Kritik an Kürenberg wird dabei immer
deutlicher formuliert.
Übereinstimmungen und Abweichungen charakterisieren auch die einerseits von Aschenbach, bzw. dem Fremden, und andererseits von Judejahn
vertretene Todesthematik in den beiden Werken. Die mythologische Todes301
302
Vgl. Werner Frizen: Thomas Mann. Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 36-37.
Ebd. S. 38.
229
thematik des Tod in Venedig wird in Tod in Rom durch eine neue, die jüngste
Vergangenheit betreffende, Bedeutungsschicht erweitert. Der Fremde am
Nordfriedhof ist der erste Vertreter des Todes: antike und christliche Todesgottheiten und Todesdarstellungen verfolgen Aschenbach. Judejahn trägt einen
Anzug aus englischem Flanell und dieser „erinnerte [...] an eine gebirglerisch
bäurische Lodentracht. Der Mann hatte borstiges, kurzgeschorenes ergrautes
Haar und trug eine große dunkle Sonnenbrille, die ihm allerdings gar nicht
bäurisches, viel eher ein geheimnisvolles, listiges, weithergereistes [...] Aussehen verlieh“ (2,401 f). Judejahn wird damit direkt zu Aschenbachs Fremdem,
also zum ersten Todesboten in Beziehung gesetzt: „seinem Aussehen ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden verlieh. Freilich trug er
dazu [...] einen gelblichen Gurtanzug aus Lodenstoff.“303 Aschenbach gleitet in
einer sargähnlichen Gondel durch Venedig. Auch Judejahns Auto wird so
ähnlich als „ein funkelnder dunkler Sarg, spiegelblank und undurchsichtig die
Fenster“ (2,401) beschrieben. Der Fremde im Tod in Venedig wird außerdem
mit mythologischen Attributen versehen: Er ist der Götterbote, der als Totengeleiter zwischen den Welten vermittelt. Auch Judejahn wird zusätzlich zu
seiner mythologischen Rolle als Hades und Unterweltgott in die Todesthematik seiner Zeit gesetzt: „dieser Mann war ein Henker“, „er selber war ein Tod,
ein brutaler, ein gemeiner, ein plumper und einfallsloser Tod“ und „das Symbol des Zwanges, der Aufmärsche, des Krieges“ (2,402). Eine handlungsbestimmende Rolle spielen für Judejahn die Triebe, „die wiederum im Nationalsozialismus, der Volksgemeinschaft (gegen die sich Koeppen vehement stellt)
sowie in den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust blutig
Gestalt annehmen“.304
In beiden Werken ist die Todesthematik mit der Liebesthematik verbunden,
aber auf unterschiedliche Art und Weise: Aschenbach stirbt am Ende einen
Liebestod, Vorausdeutungen nehmen seinen Tod bereits vorweg. Im Falle von
Judejahn verbinden sich ebenfalls Tod und Liebe, hier geht es aber nicht um
den Liebestod an sich, sondern um das Töten des Objektes der Liebe im faschistischen Rassenhaß. In Tod in Rom sind die Vorausdeutungen auf den Tod
in weit größerer Zahl zu finden als in Tod in Venedig. Diese Hinweise sind in
Koeppens Roman explizit, bei Mann hingegen sind die Todesandeutungen
303
304
Thomas Mann: Der Tod in Venedig, a. a. O., S. 457.
Oliver Herwig: Wolfgang Koeppens Absage an den Ästhetizismus, a. a. O., S. 183.
230
indirekter Art und offenbaren ihren Sinn erst zum Ende hin: „Koeppen verzichtet hier, nicht unbedingt zum Vorteil seines Romans, auf die bekannte
‘doppelte Optik’ Manns, deren er sich sonst, wenn auch in gewandelter Form,
gerne bedient.“305 Der Erzähler in Tod in Rom will eine eindeutige Kritik ausüben, deshalb ist er für die radikale Darstellung der Ereignisse.
Die Triebwünsche Judejahns werden im großstädtischen Chaos Roms wiedergegeben. Das Anwachsen der Triebe infolge der Einsicht, daß es unmöglich
ist, seine Ziele zu verwirklichen, zeigt sich in der Auflösung seines Körpers,
was sich in Freßgier, sexueller Gier, Schweißausbrüchen und Halluzinationen
manifestiert. „Zucht“ und „Durchhalten“ sind dagegen die Lieblingsbegriffe
Aschenbachs. Die Liebe zu Tadzio führt aber schließlich zur Zerstörung seiner
inneren Disziplin. Durch die italienischen Erlebnisse spielt bei Aschenbach
und Judejahn nicht mehr die Disziplin, sondern das Triebleben die führende
Rolle.
4.3.2. Thomas Manns Doktor Faustus als Referenzmodell
Es gibt viele Hinweise darauf, daß Manns Roman Doktor Faustus das
zweite große Referenzmodell für den Tod in Rom ist. Wenn man sich den
vollständigen Titel von Thomas Manns Roman vor Augen hält (Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem
Freunde), fällt sofort ins Auge, daß sich ja Siegfried nicht als Komponisten,
sondern als „Tonsetzer“ vorstellt: „Ich bin Tonsetzer. Das ist, schreibt man
nicht für das Große Wunschkonzert, ein Beruf, so lächerlich wie mein Name“
(2,401). Er schreibt nicht für das „Große Wunschkonzert“, weil er sich als
sozialverantwortlichen Künstler versteht und das apolitische Verhalten nicht
akzeptieren kann. Das Wort „Tonsetzer“ wirkt hier anachronistisch, weil Siegfried Vertreter der modernen Kunst ist.
Der von Thomas Mann 1945 gehaltene Vortrag Deutschland und die Deutschen enthält bereits die Musikästhetik des Doktor Faustus.306 Der dämonische
305
Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a. a. O., S. 183.
„Es ist ein großer Fehler der Sage und des Gedichts, daß sie Faust nicht mit Musik in
Verbindung bringen. Er müßte musikalisch, müßte Musiker sein. Die Musik ist dämonisches
Gebiet, [...]. Sie ist christliche Kunst mit negativem Vorzeichen. Sie ist berechnetste Ordnung
und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich, an beschwörenden, inkantativen Gesten reich,
306
231
Charakter der Musik widerspricht absolut der Tradition der abendländischen
Musiktheorie. Die Ästhetik des Doktor Faustus verwandelt die Musik „in eine
von Dämonen umwitterte melancholische Kunst“.307 Es war auch der Erfahrungshintergrund des Dritten Reiches, der Thomas Mann auf die Idee brachte,
daß die Musik zum dämonischen Gebiet gehöre. Die Tatsache, daß das von
ihm geliebte Werk Wagners von der Macht des Bösen okkupiert war, hat zu
dieser Einstellung beigetragen.308
Sowohl Adrian Leverkühn als auch Siegfried Pfaffrath schreiben Zwölftonmusik, und in beiden Romanen wird dieses avantgardistische Kompositionsprinzip mit politischem Gehalt angereichert. Thomas Mann setzt sie mit
Teufelswerk und schwarzer Magie in Verbindung, während Koeppen ihr eine
entgegengesetzte Bedeutung gibt: Mit Hilfe dieser Musik drückt Siegfried
seinen Protest gegen den Nationalsozialismus und die bestehende politische
Ordnung aus. So stellt Adolf in seinen Gedanken über Siegfrieds Musik fest,
daß diese Musik eben keine Verbindung zum Teufel habe, während Leverkühn
in seinem letzten Auftritt vor seinen Freunden und Bekannten bekennt, daß er
mit Hilfe des Teufels komponiert habe: „Lädt aber einer den Teufel zu Gast,
um darüber hinweg und zum Durchbruch zu kommen, der zeiht seine Seel und
nimmt die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals, daß er verdammt ist“ 309.
Siegfrieds Symphonie steht in Opposition zu Dr. Fausti Weheklag. Für
beide Werke ist ihre Verbindung mit dem Nationalsozialismus wichtig, indem
sie ihn bewältigen wollen. Dr. Fausti Weheklag kennen wir zum einen aus
Zeitbloms Interpretation, zum anderen aus Leverkühns Erörterungen und Geständnissen im letzten Kapitel des Romans. Allmählich entziehen sich ihm die
Zuhörer, nur die Getreuesten bleiben zurück, die aber nur noch seinem Zusammenbruch beiwohnen können. Sein erstes Hauptwerk (Apocalypsis cum
Zahlenzauber, die der Wirklichkeit fernste und zugleich die passionierteste der Künste,
abstrakt und mystisch. Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein, so müßte er
musikalisch sein, denn abstrakt und mystisch, daß heißt musikalisch, ist das Verhältnis der
Deutschen zur Welt, […].“
Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen. In: Gesammelte Werke. Band XI. Reden
und Aufsätze, a. a. O., S. 1131 f.
307
Dieter Borchmeyer: Musik im Zeichen Saturns. Melancholie und Heiterkeit in Thomas
Manns Doktor Faustus. In: Eckhardt Heftrich / Thomas Sprecher (Hg.): Thomas Mann
Jahrbuch. Bd. 7. Frankfurt a. M. 1995, S. 123.
308
Ebd. S. 136.
309
Thomas Mann: Gesammelte Werke, Band VI, a. a. O., S. 662.
232
figuris) ist bereits eine Warnung vor dem Unheil, das zweite stellt nun das
Ende dar: Es ist die Darstellung eines vorweggenommenen Endes in der Klage. „‘Dr Fausti Weheklag’ bleibt so nach der Intention Thomas Manns die
Utopie eines Werks, das am Unheil teilhat und nur versprechen kann, den
Fluch zu bannen.“310
Doktor Faustus ist ein Künstlerroman und ein Roman über Deutschland.
Die beschriebene Epoche ist die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, der
Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Deutschlands. Leverkühn
gibt sich dem von Nietzsche antizipierten Rausch hin, indem er sich bewußt
mit Syphilis infiziert und den Pakt mit dem Teufel eingeht. Leverkühns Hineinsteigen in diesen Rausch und seine Hingabe an den esoterischen Kunstschein entspricht genau dem selbstgewählten Weg der Deutschen in den „faschistischen Völkerrausch“. Leverkühn zieht sich in ästhetische Bereiche zurück und verachtet die Gesellschaft.311 Siegfried dagegen beschwört in seiner
Musik und in seinen Gedanken auch eine nachbürgerliche Kunst herauf, deren
Anfänge er in einer Zeit vor den Menschen sieht und zu deren Schaffen er
Impulse und Material auf dem Urkontinent Afrika sucht: Er will die „schwarze
Symphonie“ in Afrika schreiben und sie dann den Engeln in Rom spielen. Es
soll eine polyphone Musik sein, die die Musiktraditionen vermischt. Durch
diese Musik hofft er, die Kultur zu erneuern, die deutsche Krankheit Nationalismus und nationale Überheblichkeit zu heilen.
Thomas Mann hat wegen der „polyphonen“ Verschränkung der zwei Zeitebenen den Erzähler Zeitblom eingeschaltet, um die Entwicklung des Komponisten und die Zeitgeschichte aufeinander beziehen zu können. Leverkühns
Biographie von 1885 bis 1940 und Deutschlands Geschichte bis 1945, d.h.
Leverkühns Zusammenbruch im Jahre 1930 sowie der politische Zusammenbruch von 1945 werden gleichzeitig dargestellt und aufeinander bezogen.
Auch Siegfrieds Leben und die Zeitgeschichte stehen in Zusammenhang, aber
auf eine andere Art und Weise. In der Ordensburg ist er dem Zeitgeschehen
ausgeliefert, nach dem Krieg leistet er mit seiner atonalen Musik Widerstand
und ist davon überzeugt, daß mit Hilfe der „geheimnisvollen“ Macht der Zeit
die Musik das Bewußtsein der Menschen beeinflussen kann. Serenus Zeitblom
310
Klaus von Schilling: „Erinnerung an eine Zeit vor aller Schuld“, a. a. O., S. 92.
Vgl. Hannelore Mundt: „Doktor Faustus“ und die Folgen. Kunstkritik und Gesellschaftskritik im deutschen Roman seit 1947. Bonn 1989, S. 19.
311
233
dagegen ist Vertreter und Erzähler des Scheiterns des klassischen Humanismus.
Siegfrieds Symphonie ruft die Erinnerungen der Zuhörer wach. Dahlhaus
hat dazu geschrieben: „Aus der Einsicht aber, daß Musik als ästhetischer Gegenstand nicht objektiv gegeben ist, sondern durch den, der sie wahrnimmt,
konstituiert werden muß, ergibt sich [...] die Konsequenz, daß sich die Identität
des Werkes in die unbestimmte Menge von Rezeptionen auflöst.“312 Ilse Kürenberg, die durch die Symphonie an ihre Vergangenheit erinnert wird, identifiziert Siegfrieds Musik mit Klängen, denen nichts Humanes innewohnt:
[...] denn auch in Siegfrieds Symphonie war trotz aller Modernität ein
mystisches Drängen, eine mystische Weltempfindung, von Kürenberg
lateinisch gebändigt, aber Ilse Kürenberg ergründete jetzt, warum ihr die
Urkomposition bei aller Klarheit der Wiedergabe unsympathisch blieb.
Es war zu viel Tod in diesen Klängen, [...] die Musik verkrampfte sich,
sie schrie, das war Todesangst, das war nordischer Totentanz, eine Pestprozession, und schließlich verschmolzen die Passagen zu einer Nebelwand. (2,535)
Ilse Kürenbergs Musikbeschreibung enthält nordisch-mittelalterliche Elemente, wobei ihre Assoziationen mit der Welt des Doktor Faustus verbunden
sind. Die Schilderung ähnelt der Beschreibung von Zeitbloms Heimatstadt
Kaisersaschern, denn die Straßen dieser Stadt haben sich etwas von der „hysterischen“ Stimmung des Mittelalters bewahrt.313 Siegfrieds Musik scheint auf
das „Urdeutsche“ zurückzuverweisen, und beim Anblick der Judejahns und
der Pfaffraths in der Pause wird Ilse bewußt, warum sie die mystischmittelalterliche Todesstimmung befallen hat:
Und sie ahnte auch, wer Judejahn war, der Mann im Hintergrund,
der Mann der Endlösung, der sie mit entkleidenden Blicken ansah.
Sie dachte: Ich will nicht so träumen. Und sie dachte: Das ist diese
Symphonie, die mir unsympathisch war, das ist der Priester an der
Tür, ein germanischer Mystiker, vielleicht ein Heiliger [...]. (2,543)
312
313
Carl Dahlhaus: Die abwesende Symphonie, a. a. O., S. 72.
Vgl. Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a. a. O., S. 179.
234
Mann schreibt schon in den während des Ersten Weltkriegs entstandenen
Betrachtungen eines Unpolitischen über die Rolle der Kulturbürger, Träger
des Deutschtums zu sein. Er sieht auch den Nationalsozialismus als Folge der
Tradition der deutschen Kultur, der er irrationale und dämonische Züge zuspricht. Während der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ist er
von der Fragwürdigkeit der deutschen kulturellen Traditionen überzeugt. Diese
Zweifel drückt Mann in Doktor Faustus aus. Leverkühn, Vertreter des
Deutschtums, will die Bindung an die bürgerliche Tradition lösen, deshalb
verfällt er ins Primitive und Dämonische. Koeppen polemisiert Mann auf die
Weise, daß er Leverkühns Attribute auf drei Figuren verteilt. Der Rausch und
das Motiv des Teufelspaktes werden mit Judejahn verbunden. Damit ist der
Träger der teuflischen Idee und Vertreter des faschistischen Gedankengutes
gerade nicht Siegfried, der Künstler, sondern der aus dem Kleinbürgertum
stammende Judejahn. Wie ich schon erörtert habe, ist Judejahn Verführer und
Verführter in einer Person, der den Teufelspakt schließt, um zu Macht, Geld
und Erotik zu kommen. Judejahn ist ein entdämonisierter Teufel und ein verteufelter Mensch – das Böse in einer Person. Zu Kultur hat er keine Beziehung; so stammt sein Bekanntenkreis nicht aus dem Kulturbürgertum, sondern
aus dem der Waffenhändler.
Neben der Zwölftonmusik verbindet Siegfried die homoerotische Neigung
mit Adrian Leverkühn. Dessen Verbindung zu Rudi Schwerdtfeger würde die
Gesellschaft nie akzeptieren. Diese Neigung entspricht der Bedingung seiner
Künstlerexistenz, wonach seine Gefühle kalt bleiben müssen. Die Beziehung
zu Schwerdtfeger wird von Lebens- und Weltabgewandtheit dominiert.314 Für
Siegfried besteht dieses Liebesverbot nicht, wegen der Unfruchtbarkeit und
der Angst vor Fortpflanzung schätzt er aber seine Bindung an Knaben höher
als die Liebe zu Frauen. Für Siegfried bedeuten nicht Ästhetizismus und Innerlichkeit das größte Problem, sondern die nichtbewältigte Vergangenheit und
die Angst vor dem erneuten Auftreten von Macht und Machtmißbrauch in der
Generationsfolge.
Zwar identifiziert Koeppen Deutschlands Schicksal nicht mit dem Versagen des Kulturbürgertums und der Künstler, das bedeutet aber nicht, daß das
Werk keine Kritik dieser Gesellschaftsschicht und des Ästhetizismus enthalten
würde. Als Kulturbürger entpuppen sich auch die Pfaffraths, die in ihren Reak314
Vgl. Ebd. S. 31.
235
tionen auf Siegfrieds Musik ihre Vorstellungen über die Rolle der Kunst zum
Ausdruck bringen: Sie sehen sie im schönen Schein, in der Realitätsfeindlichkeit. Vertreter der nicht-engagierten Kunst und des Ästhetizismus sind – wie
mehrfach erörtert – Kürenberg und seine Frau Ilse. Es ist kein Zufall, daß gerade Ilse Judejahn zum Opfer fällt. Ihr Tod ist die Widerlegung der Haltbarkeit
der ästhetischen Position.
5. Die Struktur des Romans
Ähnlich wie die beiden ersten Romane der Trilogie besteht Der Tod in
Rom aus zwei Geschichten. Auch hier können die Figuren nach dem dominanten Wert in ihrem Wertesystem gruppiert werden. Die dominanten Werte sind
dabei Macht, Kunst, Glaube und Liebe. Die Konfliktfiguren sind in der Regel
Vertreter der Machtdominanz; Judejahns und Pfaffraths unterscheiden sich nur
in der Form und der Intensität der Macht: Judejahn ist ein Henkertyp, die
Pfaffraths sind „Mitläufer“, die den Schein der Bürgerlichkeit bewahren können. Judejahn verehrt das autoritäre System und kann seinen Minderwertigkeitskomplex nur durch Macht kompensieren. Er will „die Epoche ohne Goethe“, das Ende des bürgerlichen Humanismus erleben und vertritt den Weg der
Aufhebung der bürgerlichen Kultur im Nationalsozialismus. Diese Konfliktfiguren verursachen schließlich das Auseinanderfallen der Familie, die Trennung von Eltern und Söhnen sowie die Trennung der Kürenbergs von ihrer
Heimatstadt und Aufhäusers Tod.
Den Vertretern des Wertesystems mit Machtdominanz werden Figuren mit
anderen dominanten Werten gegenübergestellt. Für Siegfried ist die Kunst ein
Mittel des Widerstandes: Am Ende der ersten Geschichte trifft er die Entscheidung, mit Hilfe der Zwölftonmusik Widerstand zu leisten und die Vergangenheit zu bewältigen. Aufhäuser, Vertreter der humanistischen Bildung, fällt
dagegen den Konfliktfiguren zum Opfer, und Adolf hat den Glauben und dadurch das Leben gewählt. Hier gehen die Wege von Vater und Sohn auseinander. Judejahn will nicht den Glauben wählen, er entscheidet sich für die Macht
und damit auch für den Tod.
In der zweiten Geschichte werden diese dominanten Werte von denselben
Charakteren weiterhin vertreten. Die Frage ist aber, wie sich diese Wertvor236
stellungen nun unter dem Einfluss des Rom-Erlebnisses verändert haben. Judejahn kam mit dem Ziel nach Rom, in Zusammenarbeit mit Pfaffrath seine
Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten. Das Gefühl der Machtlosigkeit und
die Aufhebung des Modells vom Herrschen und Beherrschtwerden führen ihn
dazu, die eigene Überlebtheit und die Unmöglichkeit des Sieges einzusehen.
Er will das Leben unter den Bedingungen der Macht und des Todes nicht aufgeben, muß aber einsehen, daß er sein Ziel, die erneute Erstarkung des Nationalsozialismus in Deutschland nicht verwirklichen kann.
Für Siegfried bleibt die Kunst auch weiterhin der dominante Wert: In Rom
entdeckt er Kürenbergs latenten Antimodernismus und distanziert sich von
ihm. Dabei überprüft er auch die eigenen Kunstvorstellungen. Die Avantgarde
mit ihrer Zwölftonmusik führt seiner Ansicht nach zur Zertrümmerung der
Welt; die konstruktivistische Form der Musik entspricht deshalb nicht mehr
seinen eigenen Vorstellungen. Er sucht nun den neuen Klang, die neue Musik
in Afrika, deren Wesen er in der Vermischung der Kulturen, in einer neuen
(postmodernen?) Form der Kunst sieht. Die Kürenbergs bleiben typische Repräsentanten des Ästhetizismus, der mit Ilses Todesverfallenheit und schließlich
ihrem Tod verbunden ist, während Adolf eine Zeit des Zweifelns am christlichen Glauben und an seiner Wahl des Priesterberufes in der Hauptstadt des
Katholizismus erlebt. Die Verbindung des religiösen Erlebnisses mit der Kunst
(Michelangelos Pietá) und das „Wunder der Christwerdung“ in der Engelsburg
führen zur Bestätigung seines Glaubens. Auch Laura, die Vertreterin der Liebe, kann diese Grundeinstellung Adolfs und auch die von Judejahn und Siegfried nicht verändern.
Diese Geschichte endet mit der wiederholten Trennung der Figuren voneinander. Ilse Kürenbergs Tod spiegelt das Schicksal des alten Aufhäuser wider. Der Tod Judejahns, „der Tod des Todes“, bringt ein wenig Hoffnung im
Vergleich zu Siegfrieds pessimistischer Zukunftsprognose.
237
6. Das Verhältnis von Mythologie und Zeit- bzw. Kulturkritik
Die frühe Koeppenforschung hat auf die Allgegenwart der mythologischen
Verweise nervös reagiert und die Relativierung des kritischen Ansatzes durch
die mythologischen Referenzen kritisiert. Erlach schreibt in diesem Zusammenhang: „Es besteht bei Koeppen mitunter die ganz unanalytische und irrationale Tendenz, die Geschichte sowie die ökonomischen, sozialen und politischen Vorgänge zu mythisieren und zu dämonisieren“315. Klaus Haberkamm
stellt fest, daß „mythische Weltsicht“ und Zeitkritik einander ausschließen:
Für Koeppens Nachkriegsromane eine über die Perspektive der Figuren
hinaus auf den Verfasser weisende mythische Weltsicht als Konsequenz
einer grundsätzlichen persönlichen Unentschiedenheit festzustellen heißt
zu erkennen, daß Koeppen kein politischer Autor ist! Mehr noch: Koeppen ist nie ein politischer Schriftsteller gewesen, weder in seinen Vorkriegs- noch in seinen Nachkriegsromanen. Zwar läßt sich der Mythos
einem politisch-ideologischen Programm dienstbar machen, wie man
weiß, Politik ersetzen kann er nicht.316
Die „mythisierende Tendenz“ in Koeppens Werken erklärt Haberkamm
damit, daß Koeppen als leidenschaftlicher Leser im bildsamsten Alter in den
Mythoskult der zwanziger Jahre hineingewachsen sei. Seiner Ansicht nach
wäre es erstaunlich, wenn sich Koeppen der beherrschenden Macht des ideellen Klimas hätte entziehen können.317 Haberkamm geht noch weiter, indem er
feststellt:
Die dem Mythosbegriff innewohnende Ganzheitvorstellung, die keine
Teilung durch Alternativen zuläßt, mußte Koeppens unsicherer Intelligenz, die aus unvollständig ausgebildetem Situations- und Problembewußtsein nicht Partei ergreifen konnte und die Parteinahme scheute,
höchst willkommen sein.318
315
Dietrich Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, a. a. O., S. 175.
Klaus Haberkamm: Wolfgang Koeppen. „Bienenstock des Teufels“, a. a. O., S. 265.
317
Vgl. Ebd. S. 246.
318
Ebd. S. 247.
316
238
Nach Haberkamm fordere der Mythos übergeschichtliche, also ewige Gültigkeit. Koeppens Geschichtsauffassung müßte demnach in der Nähe eines
solchen zeitenthobenen, mythischen Geschichtbildes stehen.319 Die jüngere
Forschung sieht dieses Problem differenzierter: Haas320 teilt die in die Nachkriegsromane eingewebten mythologischen Verweise in drei Gruppen; das
Kennzeichen der ersten Gruppe sei nur ex negativo zu benennen. Zu dieser
Gruppe gehören mythologische Verweise, in denen man keinen Sinn entdecken kann. Als Beispiel erwähnt Haas die erste Schilderung des Aufeinandertreffens von Odysseus Cotton und dem Dienstmann Josef im Roman Tauben
im Gras. Ich halte eine solche Aussage für übereilt, schließlich ist die „Sinnlosigkeit“ eines mythologischen Hinweises meist relativ; was sinnlos zu sein
scheint, muß entschlüsselt werden. Das erwähnte Beispiel wird nicht von jedem Forscher als ein sinnloses betrachtet, so gibt z.B. Anneliese Langer eine
Erklärung dafür.
Die mythologischen Zitate der zweiten Gruppe besitzen laut Haas eine illustrative Funktion. Wenn eine Romanfigur den Namen einer mythologischen
Figur trage, geschehe dies oft, um sie oder die Beziehung, die sie zu einer
anderen Romanfigur unterhalte, zu charakterisieren. So nennt Siegfried den
schönen Knaben „Ganymed“. Das ist ein deutlicher Verweis auf den berühmtesten Geliebten des Zeus und auch auf die Verstellung des mythologischen
Vorbildes von Aschenbach in Thomas Manns Novelle.
Die mythologischen Figuren der dritten Gruppe haben eine parodistische
Funktion, so Haas. Wenn sie und ihre Entsprechung im Roman nichts Gemeinsames haben, dann wirke das komisch. Ein meiner Ansicht nach gutes
Beispiel bringt Haas für diese Gruppe aus dem Roman Das Treibhaus:
Die Menschen standen vor einer Kinokasse an [...]. Keetenheuve stellte
sich in die Reihe. Ariadne führte ihn, Theseus, der sich ins Dunkel wagte, Ariadne sagte: „Nachrücken zur Mitte!“ Ihre Stimme war hochnäsig
piepsig. Sie war als Ordnerin über eine ungezogene Menschheit gesetzt,
die nicht rechtzeitig zur Mitte rückte [...]. Er tastete sich hinaus aus diesem Labyrinth. Er verließ eilig das Kino. Es war eine Flucht. Ariadne
piepste hinter ihm drein: „Rechts halten! Zum Ausgang rechts halten!“
Theseus auf der Flucht Minotaurus lebt. (2,328 und 332)
319
320
Ebd.
Christoph Haas: Wolfgang Koeppen, a. a. O., S. 87-95.
239
Die Aufforderung der Platzanweiserin im Kino „Zur Mitte nachrücken!“
bringt „die politischen Tendenzen des Jahrzehnts auf die Formel“321. Das banale Geschehen und der banale Ort bedeuten die „Ankunft ihres Mythos im
Alltag“322. Der Schritt vom Erhabenen zum Komischen ist damit vollzogen.
Haas faßt folgendermaßen zusammen:
Die triviale Gegenwart ironisiert nicht nur die in sie versetzten erhabenen Mythen, sondern die erhabenen Mythen ironisieren auch die triviale Gegenwart. Sie lassen deren Schäbigkeit und Gemeinheit nur um so
deutlicher hervortreten. Die Mythen sind für Koeppen, wenn er sie in
parodistischer Absicht zitiert, weniger Gegenstand als Mittel aufklärerischer Kritik.323
Haas weist auf die Widersprüche und Ambivalenzen der Verwendung der
mythologischen Zitate hin: Sie seien im Kontext der Nachkriegsromane fremd,
weil sie das schlechthin Andere der modernen Industriegesellschaft darstellten,
gleichzeitig seien sie aber auch vertraut, weil sie Elemente eines Bildungsgutes
seien: „Koeppen verklärt die Mythen nicht als Zeugnisse einer besseren ‘Welt
von Gestern’, sondern setzt sie kühl kalkulierend für seine literarischen Zwecke ein.“324 Hier können nun Rezeptionsprobleme vorliegen, was bedeutet, daß
die Rekonstruktion der mythologischen Referenzen an den Leser besondere
Verarbeitungsanforderungen stellt. So kann es vorkommen, daß spezifische
Textelemente nicht eindeutig als Intertextualitätsindikatoren funktionalisiert
werden können. Die Aufgabe, das Geflecht der Analogien und Kontraste von
Romanfigur und mythologischer Figur zu entwirren, erschwert die Rezeption
der Nachkriegsromane. Die Leitfrage besteht darin, ob und inwieweit die
Textwelt aufgrund der Verarbeitung mythologischer Hinweise angereichert
und verändert wird, ob und in welchem Ausmaß intertextuelle Wissensbestände im Deutungsprozeß verarbeitet werden. Die Identifizierung der mythologischen Hinweise hängt dabei vom Grad ihrer Explizitheit, ihrer Markierung und
vom entsprechenden Wissensbestand des Lesers ab. Fehlende Detailkenntnisse
321
Karl Heinz Götze: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, a. a. O., S. 75.
Vgl. Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre, a. a. O., S. 89.
323
Ebd.
324
Ebd. S. 90.
322
240
über die mythologischen Gestalten können dazu führen, daß die mythologischen Zusammenhänge nur unvollständig verarbeitet werden.
Die Kultur- und Bildungskritik ergibt sich nun vor allem aus den verschiedenen Formen der intertextuellen Bezugnahme auf literarische Werke und
mythologische Zusammenhänge. Für Koeppens Zitiertechnik ist der Synkretismus charakteristisch: Die Mythologeme und die religiösen Versatzstücke
verschiedener Kulturen werden nebeneinander benutzt, um Verfall und Bedeutungsverlust kultureller Traditionen auszudrücken. Ich bin insoweit mit der
Meinung von Haas einverstanden, daß die Präsenz der mythologischen Zitate
unterschiedlichen Ursprungs die zeitkritisch-aufklärerische Ausrichtung der
Nachkriegstrilogie nicht unterminiere. Bildungs- und Kulturkritik resultieren
überwiegend aus den verschiedenen Formen der abweichenden Bedeutungsinterpretation der mythologischen Hinweise. Je weniger die der bürgerlichen
Kultur zugrundeliegenden Kulturtraditionen von einer Figur akzeptiert werden
bzw. je weniger diese Figur als Vertreter der bürgerlichen Tradition betrachtet
werden kann, desto größer ist die Diskrepanz zwischen dem von dieser Figur
oder im Zusammenhang mit dieser Figur formulierten intertextuellen Verweis
und der mythologischen Vorlage.
Ein wichtiger Stützpfeiler der abendländischen Kultur ist der christliche
Glaube. Es gibt im Roman zahlreiche Hinweise auf die Bibel und den Religionsunterricht. Wie schon erörtert, wird auf den Noah der Sintflutgeschichte
sogar dreimal, je aus verschiedenen Perspektiven hingewiesen. Zuerst wird die
Noah-Geschichte aus Kürenbergs Perspektive kurz dargestellt. Neben einigen
Analogien gibt es bedeutende Abweichungen, wobei die wichtigste ist, daß die
Schuldigen überleben und deshalb der Schutz des Lebens nicht gesichert werden kann. In einer der beiden simultan dargestellten Szenen geht Siegfried auf
das Badeschiff, und in der anderen steigt Judejahn in den untersten Kerker
hinunter. Die Darstellung des Badeschiffes als ein Schiff, das Siegfried an die
Arche Noah erinnert, führt mit Hilfe der abweichenden Bedeutungskonstitution zur Banalisierung der biblischen Vorlage, was auch daraus resultiert, daß
Siegfried eine Denkweise hat, die zwar nicht christenfeindlich ist, die aber von
seiner Ungläubigkeit zeugt. Judejahn, Feind des christlichen Glaubens, ist kein
modernes Abbild des biblischen Urvaters, der mit Gott im Bunde steht, sondern in der umgedeuteten Geschichte der Vertreter des Satans. Adolf, der in
dieser Geschichte Ham, Sem und Japhet verkörpert, will diese „Blöße“ seines
Vaters nicht sehen. Das Gebot des Respekts vor dem Vater wird hier umge241
deutet, denn vor Judejahn dürfte er weder Respekt haben noch christliche
Barmherzigkeit gelten lassen. Durch einen anderen biblischen Hinweis werden
das Vater-Sohn-Verhältnis und die Frage des Glaubens thematisiert: Im Zusammenhang mit Adolf, der gläubig ist, wird auf die schon früher zitierte Bibelstelle bestätigend verwiesen, der Predigt entsprechend wählt er den Glauben
und damit das ewige Leben. Der Christenfeind Judejahn begibt sich auf den
Weg der Ungläubigkeit, und damit wartet auf ihn der Tod. Durch Judejahns
metaphorische Identifizierung mit dem Teufel wird sein böser Geist hervorgehoben.
Judejahn reagiert auf seine Machtlosigkeit mit einer umgedeuteten biblischen Parabel: Er will die Bewohner der Stadt mit den Posaunen von Jericho
wecken. Die Umdeutung hat hier einen parodistischen Effekt. Es wirkt seltsam, daß Judejahn Jerichos Einnahme, die eine Tat des Glaubens ist, heraufbeschwört. Sein Bildungsweg wird kritisiert, indem er alles Gelernte spöttisch
verlacht. Die nationalsozialistische Definition der christlichen Religion wird
von Eva Judejahn gegeben: „die ungermanische Lehre aus Judenland“ (2,523).
Es wird nicht nur auf Texte hingewiesen, sondern auch auf Werke der bildenden Kunst, z.B. auf Michelangelos Pietá. Der referierende Text nimmt hier
zum einen auf ein Werk der bildenden Kunst Bezug, zum anderen auf die
Bibel.
Die Hinweise auf die antike Mythologie sind zahlreich. Judejahn wird mit
bösen bzw. negativen Figuren in Verbindung gesetzt: Er ist Hades, aber nicht
Odysseus, der verschlagene König Ithakas. Die Pfaffraths huldigen dem Gott
des Krieges, Mars. Vertreter der Werte der antiken Kunst sind vor allem die
Kürenbergs. Ihre Schwärmerei für die Antike ist ein Zeichen des Ästhetizismus: „sie lieben das alte, das römische Rom [...] sie lieben die sinnlos gewordenen nichts mehr tragenden Säulen“ (2,495). Siegfrieds und Adolfs Welt
unterscheiden sich ebenfalls darin, daß bei Siegfried die antiken Götter und
ihre erotische Ausstrahlung dominieren, während bei Adolf die christliche
Kultur und innerhalb dieser der Ausdruck des Leidens.
Im Werk gibt es zudem Hinweise auf Richard Wagner und Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Diese Neubelebung des Mythos und der
germanischen Mythologie führte in den zwanziger und dreißiger Jahren zu
irrationaler Wirklichkeitsverdrängung und zur Barbarei. Koeppen benutzt den
nordischen Mythos in der Wagnerschen Rezeption zu Anspielungen auf die
Zeit der NS-Herrschaft. Der Name „Elke“ erinnert „an Wagner und seine hys242
terischen Helden, an eine verschlagene, hinterlistige und grausame Götterwelt“
(2,242). Die nationalsozialistischen Führer werden „blutdürstige Götter“
(3,488) genannt. Eva Judejahn wird als „Norne“325 bezeichnet, „umnachtet im
Mythos“. Sie ist die „wahre Wahrerin des Mythos des 20. Jahrhunderts“ und
sieht ihren Mann nach Walhall reiten.
Die Verwendung der mythologischen Verweise in ihrer abweichenden
Funktion drückt Kritik an den Komponenten der abendländischen Kultur aus.
Das spezifisch Deutsche an dieser Kritik ist die Einbeziehung der germanischen Mythologie in die erwähnte Zeit- und Kulturkritik.
325
„Norne“ bedeutet Schicksalsgöttin.
243
HILDE SCHAUER
V. Schluß
Aus der Analyse der drei Romane kann man den Schluß ziehen, daß sich
der Autor in den Romanen der Trilogie mit verschiedenen Denkformen auseinandersetzt. Edwin und Kürenberg stehen mit der Auflösung der bürgerlichen
Denkform im Zusammenhang. Philipp, Keetenheuve und Siegfried sind Vertreter der modernen Denkform. Koeppen hat sich Anfang der fünfziger Jahre
intensiv mit verschiedenen Denkformen auseinandergesetzt, weil es in der
Situation des Neuanfangs von besonders großer Bedeutung war, Antwortversuche auf kulturelle Orientierungsfragen zu zeigen.
Im Rahmen des bürgerlichen Ideals sollte die Persönlichkeit die Synthese
von Vernunft und Trieb bzw. Kultur und Natur verwirklichen. Viele Figuren
in Koeppens Romanen bemühen sich erfolglos, diese Synthese von Vernunft
und Trieb zu realisieren. Edwin propagiert das Gleichgewicht, aber ähnlich
wie Aschenbach kann er seinen Trieben nicht Einhalt gebieten. Wie in der
Interpretation erörtert, sind die Kürenbergs Vertreter des Ästhetizismus oder
des l’art pour l’art. Die Theorie des l’art pour l’art ist aber nicht bürgerlichen,
sondern antibürgerlichen Ursprungs. Bürgerliches Denken verlangte eine Einbettung der Kunst in die Gesellschaft und ihre Normen. Diese Einbettung wurde durch die Bindung des Schönen an das Wahre und Gute realisiert. Wenn
die Kunst von ihrer sozialen Aufgabe losgelöst wird und nur das freie Spiel
eines Subjekts bedeutet, kann vom Ästhetizismus gesprochen werden. Beide
Typen, sowohl Edwin, der die Ideale der bildungsbürgerlichen Semantik propagiert, aber in seinem Leben und Schaffen negiert, als auch Kürenberg, der
ziellos experimentiert bzw. seine Frau, die dem Tod nicht ins Auge sehen
kann, erweisen sich als lebensunfähig und sterben oder gehen zugrunde. Dem
bürgerlichen Wunsch nach Lebenslust und Gesundheit werden Dekadenz und
morbide Stimmungen (ennui, spleen) entgegengestellt, die vor allem Keetenheuve charakterisieren. Kaiser ist Vertreter der unpolitischen deutschen Innerlichkeit. Seine Thesen werden verworfen, wenn Kay das von ihm skizzierte
Deutschlandbild mit den realen Verhältnissen in Deutschland vergleicht. Philipp ist von der Sinnlosigkeit der Kunst überzeugt, das unterscheidet ihn von
Siegfried, der an die Wirkungskraft der Kunst glaubt.
244
Die Künstlerfiguren, Philipp, Keetenheuve (als Dilettant) und Siegfried, irren umher und suchen vergeblich nach einem festen Orientierungspunkt. Für
sie ist die unaufhörliche Introspektion und die quälende Selbstanalyse charakteristisch. Das Ich fühlt sich ständig als jemand anderes, es schwebt zwischen
verschiedenen Identitäten wie Keetenheuve, der sich während der ganzen
Handlung verschiedene Rollen vorstellt und verzweifelt eine andere Identität
sucht. Er trägt verschiedene Masken, mit denen er sich jedesmal identifiziert.
Die Berufung auf Farbige von Seiten der Künstler in Werken der Moderne
bedeutet ein Suchen nach Mitteln, um die akademischen Regeln bürgerlicher
Kunst zu überwinden. Dadurch, daß Farbige in den Mittelpunkt gestellt worden waren, wurde die Provokation des bürgerlichen Kultur- und Geschichtsverständnisses erreicht. In den Romanen der Trilogie kann man zahlreiche
Stellen finden, die die Spontaneität und die Emotionalität von Afroamerikanern hervorheben, so etwa die Darstellung von Odysseus Cotton und Washington Price, die Beschreibung der schwarzen Soldaten, die Elke begleiten, usw.
Siegfried will nach neuen Formen der Kunst in Afrika suchen; in dieser Hinsicht kann der im Roman indirekt erwähnte Pablo Picasso von Bedeutung sein,
für den Afrikas Kunst eine wichtige Rolle spielt, und mit dem Koeppens
Künstlergestalten einige Motive teilen. Seine Förderin der frühen Pariser Jahre
war Gertrude Stein, die zu den ersten Sammlern seiner Werke gehörte. Nach
Vorbild der schwarzafrikanischen Plastik und der Gemälde Cézannes gelangte
Picasso zu einer radikalen Reduktion des Gegenständlichen auf geometrische
Strukturen. Charakteristisch für Picassos analytischen Kubismus war die Simultaneität verschiedener Ansichten eines Bildgegenstandes. Der Bildgrund
wurde mit vorgefundenen Realitätsfragmenten (z.B. Zeitungsausschnitten)
angereichert und das Bildganze so auf eine neue Bedeutungsebene gehoben.
Die kubistischen Prinzipien der Kombination heterogener Elemente wurden
um eine symbolische, mit literarischen Bezügen angereicherte Dimension
erweitert. Zu einem zentralen Thema entwickelte sich der Stierkampf, dem
Picasso 1935 eine Folge von Radierungen widmete. Er verknüpfte den antiken
Minotaurus-Mythos mit modernen Stierkampfszenen, die auch in seinem Monumentalgemälde Guernica anzutreffen sind.
Der Kampf der bürgerlichen und der modernen Denkformen wird in
Koeppens Romanen in der Beschreibung der Kunstwerke der verschiedenen
Kunstrichtungen und selbst in den Romanen als literarischen Werken themati245
HILDE SCHAUER
siert. Philipp entfernt sich von der humanistischen und bürgerlichen Erziehung, die seiner Ansicht nach in der Politik schwerwiegende Folgen hatte. Er
ist Anhänger der französischen Moderne und thematisiert die Schwierigkeiten
der Aneignung der modernistischen Schreibweise und des modernen Denkens.
Er sucht die Freiheit von der linearen, von der chronologischen Zeit und will
Fragmente des Lebens im Kunstwerk der Vergangenheit entreißen. In der
Wiederheraufholung der Vergangenheit bleibt er noch bei den Erinnerungen
stehen, sein Werk läßt noch auf sich warten. Keetenheuves nichthierarchistisches Denken zeigt sich im Pazifismus und seiner Vorliebe für die
moderne Poesie und die moderne Architektur. Seine Architekturphantasien
über die Corbusier-Hausungs-Maschinen entsprechen dem Anspruch des technischen Zeitalters.
Das Prinzip der modernen Musik wird in Tod in Rom durch Siegfrieds atonale Musik thematisiert. In der Zwölftonmusik kann die Verräumlichung der
Welt und der Weltwahrnehmung dadurch geschehen, daß das hierarchisierte
synthetische Ganze in gleichwertige Elemente aufgelöst wird. Diese Elemente
werden miteinander kombiniert. An die Stelle der endlosen Melodie treten
parallele Melodielinien, die nicht auf der Basis harmonisch-klanglicher Gesetze konstruiert sind. Die Verräumlichung der Musik geht mit einem hohen Grad
der Formalisierung einher, doch eben diese Eigenschaft der modernen Musik
ist es, die Siegfried zur Kritik an der eigenen Musik führt. Bei der extremen
Formalisierung seines Werkes war der Wunsch betont, jenseits aller Gefühle
die musikalischen Grundelemente in ihrer Einheit wiederzuentdecken.
Der zweite Leitgedanke, der die Trilogie durchzieht, ist die Darstellung der
Wertdominanzen für die einzelnen Figuren. In Tauben im Gras gibt es zwei
Liebespaare, Herr Behrend und Vlasta bzw. Washington und Carla, die sich
voneinander nicht trennen und für die die Liebe am wichtigsten ist. Der erste
Roman der Trilogie drückt noch einen gewissen Grad an Optimismus aus, daß
es eine Gesellschaft geben könne, in der Rassengleichheit und Liebe vorherrschten. Viele kleinbürgerliche Gestalten haben aus der Geschichte nichts
gelernt und würden Hitlers Machtpolitik gutheißen. Für den Vertreter der bildungsbürgerlichen Semantik, Edwin, sind Glaube und bürgerliche Kunst die
dominanten Werte, diese aber unterstützen die Machthabenden, von denen er
selbst Unterstützung erhofft. Macht und Transzendenz spielen für Philipp, den
Anhänger der modernistischen Schreibweise keine Rolle, er ist ja ein überzeugter Nonkonformist. Emilia dagegen kann sich von der Macht nicht trennen
246
und ist nicht imstande, den Schritt ins Reich der Kunst zu tun. Mit den gleichen Problemen kämpft Elke im Roman Das Treibhaus: Sie kann nämlich die
Ideenwelt der Eltern nicht bewältigen und mit Keetenheuve ins Reich der Intellektuellen hinübergehen. So kann die Liebesgeschichte von Elke und Keetenheuve als Fortsetzung der von Emilia und Philipp betrachtet werden. Keetenheuve und Elke sprechen über Fragen der Transzendenz. Keetenheuve ist
nicht gläubig, so nimmt er Elke die letzte Hoffnung, die der Transzendenz, und
so ist er auch fähig Selbstmord zu begehen. Keetenheuve ist ein Vertreter des
Pazifismus, das bedeutet, daß er jede Form der Macht- und Gewaltanwendung
verurteilt: Damit kann man das Hauptthema des Romans nennen. Um den
Machtansprüchen Genüge tun zu können, muß man Machtkämpfe bzw. Kriege
führen. Die Machtgier braucht Bodenschätze, um diese Kriege führen zu können, außerdem muß die Waffenindustrie entwickelt werden, deren Industrieabgase für das Entstehen der Treibhausluft verantwortlich sind, die Keetenheuves Nicht-Wohlbefinden verursachen. Die Konfliktfiguren als Anhänger
der Aufrüstung vertreten eine Politik der Macht.
Im Tod in Rom vertritt Judejahn eine Extremform der Macht: den Tod, der
ihm Sicherheit und Lebensziel gibt. Alle anderen Werte – Glaube, Liebe und
Kunst – sind für ihn ohne Bedeutung. Liebe charakterisiert die nicht-nationalsozialistischen Familienmitglieder der Familien Pfaffrath und Judejahn. Siegfried hat seine Großmutter geliebt, für Adolf ist die christliche Liebe wichtig.
Mit der Macht ist der Tod, mit dem Glauben das Leben verbunden. Evas antireligiöse Wut richtet sich gegen den eigenen Sohn, der Machtwahn vernichtet
die natürlichen Bindungen in der Familie.
Die Musik ist für Siegfried Ausdruck des analytisch-kombinatorischen
modernen Geistes, der nicht hierarchisch aufgebaut ist. So vertritt Siegfried
sowohl in seinen politischen Vorstellungen als auch in seiner künstlerischen
Praxis eine machtfeindliche Position und die Meinung, daß die Kunst mit der
geheimnisvollen Macht der Zeit die Menschen beeinflußen und die Machtorientiertheit vernichten kann. Siegfried gibt eine neue Deutung der „Freude“, die
als moderne Variante der „Ode an die Freude“ der IX. Symphonie Beethovens
gedeutet werden kann: Freude bedeutet in der Sprache der Musik die Vermischung der verschiedenen Musiktraditionen, allgemeiner ausgedrückt denkt
Siegfried hier an eine multikulturelle Kunst, die die gegenseitige Anerkennung
der kulturellen Werte der einzelnen Nationen bedeutet. Diese Kunst ist keine
von dem Bildungsbürgertum praktizierte hohe Nationalkunst, die zeitweise mit
247
HILDE SCHAUER
der Überbetonung der nationalen Qualitäten verbunden ist. Nicht umsonst sind
die wichtigsten Vertreter der modernen Denkweise in den Romanen der Trilogie Gegner der Macht.
In Koeppens Romanen wird der Zweifel an der Gleichsetzung von abendländischer Kultur und europäischer Geschichte, den Adorno und Horkheimer
in der Dialektik der Aufklärung schon thematisiert hatten, ausgedrückt. Es geht
auch um die Sorge wegen der Korrumpiertheit humanistisch-christlicher wie
aufklärerischer Werte. In der 1944 erschienenen Dialektik der Aufklärung, die
aus der Erfahrung von Nationalsozialismus, Stalinismus, USA-Kapitalismus
und Zweitem Weltkrieg entstanden ist, untersuchen Horkheimer und Adorno
das Verhältnis des Menschen zur Natur, wie es der Geschichte der Zivilisation
zugrundeliegt. Sie kommen zu einem ambivalenten Ergebnis: Einerseits sei es
gut gewesen, daß sich der Mensch aus der absoluten Abhängigkeit von der
Natur losgelöst habe, andererseits habe aber der Mensch einen falschen Weg
zu seiner Befreiung gewählt. Er habe nämlich das Prinzip von Herrschaft für
sich verwendet, indem er die Natur beherrsche, genauso mache er es in der
Gesellschaft gegenüber den Schwachen und Abhängigen. Das Mittel, mit dem
der Mensch seine egoistischen Ziele erreichen könne, sei paradoxerweise seine
Vernunft. Diese nennen Horkheimer und Adorno „instrumentelle Vernunft”.
Bei aller technischen und wissenschaftlichen Rationalität ist unsere Zivilisation
doch gefährdet. Die Autoren des genannten Werkes suchen den Ausweg im
Denken: Der Mensch solle einsehen, wie blind seine Naturherrschaft sei. Der
Mensch müsse sich mit der unterdrückten Natur versöhnen.326
Ähnlich wie Horkheimer und Adorno stellte Koeppen die humanistischen
Ideale (Freiheit des Willens, Selbstbestimmung des Subjekts, Fortschritt durch
Vernunft) in Frage. Der Romananfang der Tauben im Gras verbindet Natur
und Geschichte im Bild des drohenden Unheils. Die von Menschen geschaffenen Flugzeuge scheinen genauso unbeherrschbar zu sein wie die elementaren
Kräfte der Natur. Die modernen Vögel künden ihm die Wiederkehr der Vergangenheit an. Der Autor erörtert den komplexen Zusammenhang von technischer Entwicklung, Naturausbeutung und Kriegsgefahr. Indem Koeppen auf
naturgeschichtliche, mythologische, märchenhafte und tagespolitische Themen
326
Vgl. Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 438.
248
anspielt, drückt er seine Kritik der instrumentellen Vernunft aus.327 Technik
und Geist widersprechen einander auch in Edwins Vortragsszene:
[...] aber leider drang statt der Worte nur Geräusch zu seinen Zuhörern,
ein Gurgeln und Knacken und Raspeln wie von Jahrmarktspritschen.
Edwin, am Lesepult, merkte zunächst nicht, daß die Lautsprecheranlage
des Saales in Unfunktion geraten war. [...] Die Technik rebellierte gegen
den Geist, die Technik, das vorlaute, entartete, schabernacksüchtige, unbekümmerte Kind des Geistes. (2,184)
Der folgende Satz drückt die Abhängigkeit des Menschen von dieser irrationalen und inhumanen Macht der Technik noch klarer aus:
[...] wir können uns nicht mehr verständigen, nicht Edwin redet, der
Lautsprecher spricht, auch Edwin bedient sich der Lautsprechersprache,
oder die Lautsprecher, diese gefährlichen Roboter, halten auch Edwin
gefangen: sein Wort wird durch ihren blechernen Mund gepreßt, es wird
zur Lautsprechersprache, zu dem Weltidiom, das jeder kennt und niemand versteht. (2,202)
Die Traditionsskepsis war nicht allein eine Einstellung Koeppens, sondern
für die ganze Epoche charakteristisch. Über die Epochenstimmung schreibt
Lorenz:
Der Rückfall in schlimmste Barbarei, auf einem hohen Niveau der
menschlichen Zivilisation, und der Sprung in ein neues Stadium der
technischen Entwicklung – das konnte nicht folgenlos bleiben für die intellektuelle und künstlerische Selbstvergewisserung des Menschen in der
Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Sinnvakuum legitimierte die unterschiedlichsten Neuansätze, sofern diese sich auf die Kritik der in Mißkredit geratenen abendländischen Tradition einließen.328
Wenn man die aufgedeckte „mögliche Welt“ der Romane mit der Schilderung der realen Welt vergleicht (ich denke an die in der Einleitung schon dargestellten beiden Studien Bollenbecks), kann man feststellen, daß bei Koeppen
die „dunkle“ Erinnerungsvariante des kollektiven Alltagsbewußtseins über327
328
Vgl. Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur, a. a. O., S. 119.
Ebd. S. 90.
249
HILDE SCHAUER
wiegt. Er zeigt mehr von den Restaurations- als von den Modernisierungstendenzen. Der Autor stellt den von Bollenbeck angedeuteten semantischen Sonderweg des deutschen Bildungsbürgertums dar, auch dessen Ende, das in Edwins Tod symbolisch geschildert wird. Die stabilisierende Wirkung der Moderne wird von Koepppen in der Politik kaum, in der Kunst nur zögernd gezeigt. Er verweist nur selten auf die Vertreter der deutschen Moderne, es werden vor allem französische und amerikanische Autoren der Moderne genannt.
Es wird gezeigt, wie sich die Reaktivierung der bildungsbürgerlichen Semantik
vollzieht. Nach Bollenbeck herrsche in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ein
Pluralismus der künstlerischen Richtungen. Das literarische Experiment und
die atonale Musik werden hochgeschätzt. Diese Tendenzen gelten in der beschriebenen Welt der Romane weniger und auch die Akzeptanz der internationalen Moderne läßt noch auf sich warten. Die geschilderten Abweichungen
ergeben sich aus dem fiktionalen Charakter der Romantrilogie.
250
VI. Literatur
a) Primärliteratur
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Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Hamburg: Fischer 1962.
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Koeppen, Wolfgang: Gertrude Stein und die dritte oder vierte Rose (1961).
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Koeppen, Wolfgang: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
Koeppen, Wolfgang: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000.
Littner, Jakob: Aufzeichnungen aus einem Erdloch. München: Kluger 1948.
Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt am
Main: Fischer 1974.
Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. In: Thomas Mann: Gesammelte
Werke in dreizehn Bänden. Band IX. Frankfurt am Main: Fischer 1974, S.
478-501.
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•
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•
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke. Band IX. Erzählungen. Berlin: Aufbau 1956, S. 455-537.
Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. In: Thomas Mann: Gesammelte
Werke in dreizehn Bänden. Band VI. Frankfurt am Main: Fischer 1974.
Mann, Thomas: August von Platen. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke
in dreizehn Bänden. Band IX. Frankfurt am Main: Fischer 1974, S. 268281.
Mann, Thomas: Deutschland und die Deutschen. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band XI. Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer 1974, S. 1126-1147.
Platen, August von: Tristan. In: Günter Häntzschel (Hg.): Gedichte und
Interpretationen. Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Band 4.
Stuttgart: Philipp Reclam 1983, S. 35.
Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Stuttgart: Philipp Reclam 1993.
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von Schlegel und Tieck. Hamburg: Reinbeck 1968.
Stein, Gertrude and Virgil Thomson: Four Saints in Three Acts. New York:
Music Press 1948.
b) Sekundärliteratur
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Altenhofer, Norbert: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein/Taunus: Athenäum 1983.
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Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft
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Nadya Luer
Form und Engagement
Untersuchungen zur Dichtung und Ästhetik Erich Frieds
ISBN 3-7069-0214-1, 298 S.
Thomas Tavernaro
Der Verlag Hitlers und der NSDAP
Die Franz Eher Nachfolger GmbH
ISBN 3-7069-0220-6, 171 S.
Jeanne Benay (Hrsg.)
»Es ist schön, wenn der Bleistift so schwingt«
Der Autor Peter Handke
ISBN 3-7069-0256-7, 144 S.
www.praesens.at | [email protected]

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