DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 39

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 39
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
27. September 1999
Betr.: Serie, Kaukasus, Liebe, SPIEGEL Spezial
V
or zehn Jahren begann sich die DDR von innen her aufzulösen, um wenig später ganz zu verschwinden. Besonders dramatisch waren jene 100 Tage, die
zwischen dem mutigen Schnitt durch den Eisernen Vorhang an der ungarischen
Grenze und der Öffnung des Brandenburger Tors lagen. 20 SPIEGEL- und SPIEGEL-TV-Redakteure haben noch einmal recherchiert, Geheimdienstdossiers studiert, Augenzeugen befragt und Regierungsakten gesichtet. So lässt sich der Niedergang des
SED-Staates nun fast minutiös rekonstruieren. „Die Geschichte der Einigung muss nicht neu geschrieben werden“,
sagt Autor Jochen Bölsche, 54, „aber viele spannende
Geschichten dahinter lassen sich erst jetzt erzählen.“ Die
13-teilige SPIEGEL-Serie „100 Tage im Herbst“ beginnt in
diesem Heft (Seite 52).
D
er Amtssitz von Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow ist gesichert wie
eine Festung: Schwer bewaffnete Männer stehen auf dem Hof, vor den Stahltüren und im Vorzimmer des Politikers. Seit russische Streitkräfte Ortschaften in
der Nähe der Hauptstadt Grosny bombardieren, sind die Sicherheitsvorkehrungen
weiter verschärft worden. „Es gibt ja nicht mehr viele, die sich hierher wagen“, begrüßte Maschadow SPIEGEL-Korrespondent Jörg R. Mettke, 56, vergangenen Donnerstag zum Gespräch. Der Journalist war über die benachbarte Kaukasusrepublik
Inguschien eingereist. Nach dem Willen Moskaus sollte dies gar nicht mehr möglich sein. „Wieder mal eine ausländische Geisel?“, fragten die Grenzer scherzend
Mettkes tschetschenischen Begleiter. Dann durfte er passieren (Seite 216).
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
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Beyer, Knöfel
egelmäßige Eifersuchtsschübe und Dauersehnsucht, darüber klagen viele Regierungsbeamte, die nach Berlin gezogen sind und ihre
Liebe in Bonn zurücklassen mussten. Doch auch in
anderen Berufsgruppen sind solche bitteren Seelenzustände verbreitet – wer heute Karriere machen will, kann seine Koffer packen: Mancher
Arbeitgeber verlangt weltweite Mobilität, Fernbeziehungen entwickeln sich zu einer Lebensform
der Zukunft. Die SPIEGEL-Redakteurinnen Susanne Beyer, 30, und Ulrike Knöfel, 30, haben
sich unter Liebes-Nomaden umgehört. Beide
sammelten selbst Erfahrungen mit Fernbeziehungen. „Nicht alles daran ist schlecht“, sagt Beyer,
„solche Partnerschaften bleiben jedenfalls aufregend“ (Seite 174).
A
uch der Literaturbetrieb kommt am Internet nicht vorbei. Herstellung und Vertrieb von Büchern werden zunehmend digital abgewickelt, wer will, kann Kafka auf seinen Handcomputer laden. „Die Zukunft des Lesens“ ist
anlässlich der Frankfurter Buchmesse Titelthema im neuen
SPIEGEL Spezial. Außerdem im Heft: das neue Zentrum
der Popszene in Malmö, die Erlebnisse eines Verfassungsschutz-Spitzels und Mozart an den Ufern des Amazonas.
SPIEGEL Spezial, das Reportage-Magazin, ist von Dienstag
an im Handel.
Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft
Titel
Philosophenstreit über die Menschenzucht........ 300
Die Provokationen des Peter Sloterdijk ............. 302
Angriffe auf den linksliberalen Mainstream –
die Intellektuellendebatten der letzten Jahre..... 306
Interview mit dem Philosophen
und Bio-Ethiker Ludger Honnefelder über
Moral und Naturwissenschaften ......................... 317
Endzeit-Angst bei den Grünen
SPIEGEL-Essay
A. VOELKEL / MELDEPRESS
Peter Glotz: Digitaler Kapitalismus ..................... 82
Deutschland
100 Tage im Herbst
Wende und Ende des SED-Staates:
Jochen Bölsche über den Untergang der DDR .. 52
„Wir wollen raus“ –
Massenprotest und Massenflucht ..................... 61
Porträt: Bärbel Bohley und das Neue Forum .. 78
Wirtschaft
Trends: Mannesmann und Thyssen/Krupp planen
Milliardendeal / Banken wollen samstags öffnen .. 115
Geld: Angst vorm Herbst-Crash /
Attraktive Baustoff-Aktien ................................. 117
Affären: Wie die WestLB seit Jahren Milliarden
am deutschen Fiskus vorbeischleust ................... 118
Steuern: Erben im Visier der Finanzpolitik ....... 120
Autoindustrie: Managerkrieg bei
DaimlerChrysler................................................... 126
Schulden: Berater als Abzocker........................ 130
Erdöl: Die neue Macht des Opec-Kartells .......... 132
Spekulation: Interview mit drei Daytradern
über Börse und Geldgier.................................... 134
Elf Aquitaine: Die dubiose Vermittlerrolle
des Dieter Holzer............................................... 138
Internet: Erfinder ohne Fortune........................ 142
Medien
Gunda Röstel, Fischer
Der Staat will mehr vom Erbe
PDS: Annäherung an die CDU?
Seite 106
In Thüringen und Sachsen hat die PDS die Sozialdemokraten als führende Oppositionspartei überrundet. Doch die Freude der Postkommunisten hält sich in Grenzen: Die Schwäche der SPD rückt weitere rot-rote Regierungen in weite Ferne. Manche PDS-Vordenker spekulieren gar auf Bündnisse mit der CDU.
Herr der Cyberwelten
Seite 178
Der Japaner Shigeru Miyamoto, 46, ist der Star der
Videospiel-Erfinder. Seine phantasievollen Geschöpfe wie der quirlige Klempner „Mario“ oder
der jugendliche Held „Link“ im Märchenspiel
„Zelda“ wurden zu Ikonen der Popkultur. Im
SPIEGEL-Gespräch erzählt Miyamoto, wie er die
opulenten Kunstwelten schuf, warnt vor Gewalt im
Videospiel und verrät, wie lange seine Kinder vor
dem Bildschirm hocken dürfen: „Zwei Stunden
pro Tag sind das Maximum.“
M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE
Gesellschaft
6
Seite 120
Eine gewaltige Umverteilung kommt in Gang: Die
Eltern des Wirtschaftswunders treten ab und übertragen ein Billionen-Vermögen an die nächste Generation. Das Finanzamt
geht heute fast leer aus.
Das soll sich ändern: Der
Reichtum von Vermögenden wie Gloria von Thurn
und Taxis oder Michael
Otto weckt die Begehrlichkeit der Politik. Rot-Grün
plant die Erhöhung der
Erbschaftsteuer.
Gloria von Thurn und Taxis, Unternehmer-Paar Otto
Trends: Zeitung für Prostituierte /
Interview mit Musikproduzent Dieter Bohlen ... 145
Fernsehen: Neues Gerichts-TV bei Sat 1 /
Enttäuschende Quoten für Wigald Bonings
Morgen-TV ........................................................ 146
Fernsehen: In Brasilien boomen Sex-Shows ..... 148
Musik-TV: Viva-Chef will an die Börse............... 154
Werbung: Gags für den Osten ............................ 160
Talkshows: Maybrit Illner, die neue
Polit-Talkmoderatorin des ZDF.......................... 164
Szene: Mütterhaus im Internat / New Yorker
Designer entwerfen Hautenges im Militär-Look ... 173
Partnerschaft: Wie Fernbeziehungen aufs
Liebesleben wirken ............................................ 174
Computerspiele: SPIEGEL-Gespräch mit
dem Videospiel-Designer Shigeru Miyamoto...... 178
Psychologie: Die Leiden vergewaltigter
Frauen in den Balkan-Kriegen ........................... 184
Interview mit der Psychologin Edita Ostojiƒ
über Hilfe für Opfer sexueller Gewalt................ 186
Unternehmer: Der Bierkrieg des BayernPrinzen Luitpold ................................................ 188
Schon denken grüne Abgeordnete darüber nach, wohin sie
sich politisch retten sollen,
wenn ihre Partei auch bei
den nächsten Wahlen abstürzt.
Joschka Fischer, heimlicher Parteichef und vorige Woche gefeierter Redner vor der Uno,
kommt die Endzeit-Stimmung
gelegen. Er will die Grünen auf
seinen Kurs zwingen. Wichtigstes Ziel: Ablösung des Sprecherinnenduos Röstel/Radcke.
FOTOS: M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE
Panorama: Hochtief-Vorstand unter Betrugsverdacht / Prinz Charles backt für die Expo ........ 17
Regierung: Grüne in Untergangsstimmung......... 22
Kanzler: Die Last mit der Symbolik .................... 26
Außenpolitik: Schröder auf dem Balkan............. 27
Hauptstadt: Verkehrschaos im Regierungsviertel 28
SPD: SPIEGEL-Gespräch mit
Ministerpräsident Wolfgang Clement über
die Modernisierung seiner Partei ......................... 30
Kirche: Bischöfe in der Abtreibungsfrage ratlos ... 32
Finanzen: Zahlen für die ärmeren Länder?......... 36
Politisches Buch: Der Tagebuchschreiber
Walther Leisler Kiep............................................ 44
Karrieren: Ex-Terroristin als Friedenshelferin..... 48
Strafjustiz: Der Fall Jenny.................................. 90
Senioren: Elektronische Fußfesseln für
Heimbewohner .................................................... 94
Aids: Richter wollen ärztliche Schweigepflicht
einschränken ....................................................... 98
Umwelt: Allergien durch Geflügelfabriken? ...... 100
Wahlen: Der unaufhaltsame Aufstieg der
PDS im Osten .................................................... 106
Blindgänger: Bedrohliche Monsterbomben....... 112
Seite 22
Miyamoto-Figur „Link“
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FOTOS: AP (gr.); REUTERS ( kl.)
Ausland
Tiananmen-Platz in Peking, Autopräsentation
Panorama: Schlag gegen Hamas /
Hofer wartet auf das Urteil in Teheran............... 191
China: Die KP feiert sich selbst ......................... 194
Taiwan: Tigerstaat mit wackligem Fundament... 204
Italien: Andreotti und die Mafia........................ 206
Indonesien: Tragödie in Osttimor ..................... 210
Interview mit Präsidenten-Beraterin Dewi......... 214
Kaukasus: SPIEGEL-Gespräch mit
Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow
über den Konflikt mit Russland.......................... 216
Europa: Kompetenz-Chaos in der
EU-Außenpolitik................................................ 220
Nachruf: Raissa Gorbatschowa .......................... 222
Venezuela: Ein Fallschirmspringer räumt auf.... 224
Island: Kampf um grüne Energie ...................... 230
USA: Jobwunder macht die Armen ärmer ......... 234
Sport
Stars: SPIEGEL-Gespräch mit der
Eisschnellläuferin Franziska Schenk .................. 242
Fußball: Deutsch-polnischer Grenzverkehr ....... 247
Gleichberechtigung: US-Synchronschwimmer
darf nicht zu den Olympischen Spielen.............. 251
Spiegel des 20. Jahrhunderts
50 Jahre Sozialismus in China
Seite 194
Statt auf Maos Sozialutopie, die Millionen Tote kostete, setzen die Erben des Großen
Steuermanns auf Marktwirtschaft und Nationalismus. Die KP, die jetzt den 50. Jahrestag ihrer Revolution feiert, träumt von der Weltmacht – doch die Grundlagen
ihrer Herrschaft bröckeln. Die Chinesen nehmen sich neue Freiheiten.
Die Steuertricks der WestLB
Seite 120
Seit Jahren schleust die Westdeutsche Landesbank (WestLB) Milliarden über diverse Londoner Fondsgesellschaften am deutschen Fiskus vorbei. Dem Staat entgehen
Einnahmen aus Gewerbe- und Körperschaftsteuer in Millionenhöhe.
Das Jahrhundert der Massenkultur:
Die Traumfabrik Hollywood .......................... 255
Kultur
Szene: Rückkehr des Traumpaares Julia Roberts
und Richard Gere ins Kino / Thomas Manns
„Doktor Faustus“ als Theaterstück .................... 267
Musikbetrieb: Die Nebengeschäfte der
Berliner Philharmoniker .................................... 270
Kunst: Eine Karlsruher Ausstellung zeigt,
was Künstlern zum Internet einfällt ................... 274
Literatur: Barbara Gowdys Elefanten-Roman
„Der weiße Knochen“ ....................................... 276
Autoren: Frank McCourts weltweiter Erfolg ..... 278
Bestseller ......................................................... 284
Film: Sebastian Schippers „Absolute Giganten“.. 286
Klassiker: Unbekannter Brief
Friedrich Hölderlins aufgetaucht........................ 288
Auszüge aus dem Brief des Dichters .................. 288
Pop: Das Comeback des Countrysängers
Kris Kristofferson............................................... 294
Wissenschaft + Technik
Rücktritt auf Probe
Seite 242
N. BAUMGARTL / BILDERBERG
Schön, schnell und gescheit: Franziska Schenk
verdankt ihre Popularität
nicht nur dem sportlichen Erfolg, sondern
auch ausgefallenen Werbekampagnen. Als Interviewgast bei Talkshows
war die Eisschnellläuferin ein gefragter Star.
Nun gönnt sie sich erst
mal ein Jahr Pause und
versucht sich als TVModeratorin: „Ich will
Schenk
mich ausprobieren.“
Prisma: Zwangsbremsung von Pkw
per Computer / Japanisches Superteleskop
auf Hawaii ......................................................... 297
Prisma Computer: Roboterbaukasten von
Lego / Körper-Kopien als Kunstobjekte ............. 298
Anthropologie: Der Urmenschen-Forscher
Ron Clarke – Meister im Knochenpuzzle........... 320
Automobile: Nachbesserungen an der S-Klasse
von Mercedes ..................................................... 324
Verhaltensforschung: Warum lacht
der Mensch beim Kitzeln? ................................. 326
Briefe .................................................................... 8
Impressum................................................... 14, 328
Leserservice ..................................................... 328
Chronik ............................................................. 329
Register ............................................................ 330
Personalien....................................................... 332
Hohlspiegel/Rückspiegel ................................ 334
Jahrhundert-Mode
Berliner Filzharmonie
Seite 270
Deutschlands edelster Klangkörper spielt eine dubiose Doppelrolle: Als „Berliner Philharmonisches Orchester“ verrichtet er – hoch subventioniert – öffentlichen Dienst,
als „Berliner Philharmoniker“ macht er beste Geschäfte mit Videos und CDs.
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Die Kleider und Designer einer Epoche. Außerdem in
kulturSPIEGEL, dem Magazin für Abonnenten: Der
amerikanische Schriftsteller
Bret Easton Ellis über das
Geheimnis des Glamours.
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Briefe
„Soziale Gerechtigkeit
ist erst dann erreicht,
wenn jeder das hat, was
der andere nicht hat.“
Dr. Dr. Wolfgang Erbe aus Osnabrück zum Titel
„Was ist soziale Gerechtigkeit?“
SPIEGEL-Titel 37/1999
Etwas mehr Volk unters Geld streuen
Nr. 37/1999, Titel: Was ist soziale Gerechtigkeit?
Wenn jeder Wähler vor den Wahlen im
Saarland, in Brandenburg, Thüringen und
in Nordrhein-Westfalen das SPIEGELGespräch mit Bundesfinanzminister Hans
Eichel zu lesen bekommen hätte, wäre
wohl der katastrophale Wahl-Einbruch für
die SPD nicht in diesem Ausmaß erfolgt.
Hamburg
Eric Marr
Die Ideen der beiden Jungdynamiker Ederer und Schuller sind nicht schockierend,
sondern vollkommen unsinnig. Denn die
,,Deutschland AG“ kann sich ihre Mitglieder im Gegensatz zu einem Unternehmen
nicht aussuchen. Unternehmen stellen im
Normalfall nicht jeden Menschen ein, dessen Eltern schon Mitarbeiter des Unternehmens sind. Außerdem kann sich ein Staat
von vielen verlustreichen „Geschäftsfeldern“ nicht trennen. Unter solchen Bedingungen wäre jedes Management überfordert.
Köln
Jan Bruners
Auch Sie lassen offen, was unter sozial gerecht zu verstehen ist. Dabei ist die Deutung sehr einfach. Schließlich weiß jeder,
Peter Janssen
Dr. Erhard Behrbalk
Offensichtlich lebt Herr Eichel in einem anderen Land, oder er hat schon lange keinen
Kontakt zu den Menschen mehr. Wie sonst
könnte er davon ausgehen, dass die Menschen das, was er als Zukunftsprogramm
bezeichnet, als sozial gerecht empfinden.
Schröder, Blair und neoliberalen
Konsorten möchte ich den Rat
mit auf den Weg geben – wenn
sie die nächsten Wahlen nicht
mit aller Gewalt verlieren wollen: Bitte etwas mehr Volk unters Geld streuen.
Dresden
Tübingen
Andreas Meißner
Wir brauchen Chancengleichheit am Start,
das heißt Erbschaftsteuer auf 99 Prozent,
Kindergeld und Bafög hoch. Sämtliche Subventionen und Steuerabschreibungen abschaffen und die europäische Quellensteuer einführen. Wir sollen dabei aber nicht
unsere Fürsorge- und Solidaritätspflichten
herunterschrauben, das heißt obligatorische private Anteile an Renten und Gesundheitssystem, die von rein steuerfinanzierten großen Anteilen gestützt werden.
Frechen (Nrdrh.-Westf.) Stephan Dützmann
Der Versuch, materielle Gerechtigkeit für
alle zu schaffen – von den Politikern gern,
aber fälschlicherweise als soziale Gerechtigkeit angepriesen –, kann nur in einer
umfassenden, staatlich verordneten Gleichmacherei enden, was letztlich „soziale Diktatur“ bedeutet, in der die einen etwas gleicher sind als die anderen.
Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. September 1949
Klage gegen Herforder Wunderdoktor Bruno Gröning Das bayerische
Innenministerium wertet seine Heilungen als „freie Liebestätigkeit“.
Mao Tse-tung proklamiert die „Volksrepublik China“ In der Frage der
Anerkennung gehen Großbritannien und die USA getrennte Wege.
Italienischer Alarmruf: „Helft dem Süden“ Doch für Rom ist die oberitalienische Industrie wichtiger. Graham Greenes „Der Dritte Mann“
in Wien verfilmt Von Regisseur Carol Reed mit Orson Welles in der
Hauptrolle.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Sie haben für die Debatte die angemessenen Beschreibungen und Fragen geliefert.
Danke für die zum Teil ausgezeichnete Argumentation. Es geht nicht um neoliberale Deregulierung, sondern um soziales „readjustment“.
Witten (Nrdrh.-Westf.) Prof. Birger Priddat
Universität Witten/Herdecke
Andrej Schmalzriedt
Gab es zu irgendeiner Zeit
„wirklich einmal gleiches Recht Demonstration gegen Arbeitslosigkeit (in Hamburg)
für alle?“ Ich glaube, danach su- Idealisten suchen nach Gerechtigkeit
chen die Idealisten nicht nur in
diesem Land, sondern in der Welt. Ich hof- was individuell gerecht ist, nämlich behalfe, nicht vergebens, denn die Revolution ten zu dürfen, was legitim erworben wurhat lange genug ihre Kinder gefressen.
de. Und weil nicht sozial gerecht sein kann,
Bingen
Irmtraud Schäfer
was individuell ungerecht ist, dürfte jedem
rasch klar werden, dass angesichts großer
In einem Zeitraum, in dem sich heute das Umverteilungen hier zu Lande große soGesamtwissen der Menschheit verdoppelt, ziale Ungerechtigkeit herrscht. Zahlen
schafft es nicht ein einziger der verkruste- doch vier Prozent der einkommensteuerten Politvereine, auch nur den zehnten Teil pflichtigen Bevölkerung 40 Prozent der
seines Parteiprogramms zu aktualisieren. Einkommensteuer und 40 Prozent nur vier
Leipzig
Roy Kummer
Prozent. Mehr Umverteilung kann diese
soziale Ungerechtigkeit nur verschärfen.
Was soll diese unsägliche Forderung nach Brüssel
Dr. Hardy Bouillon
einer Erhöhung der Erbschaftsteuer? Jetzt
Centre for the New Europe
Stephanskirchen (Bayern) Jürgen Engelhardt
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Leipzig
Titel: Reichskriminaldirektor Arthur Nebe beschäftigt Astrologen
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D. TODD / ACTION PRESS
Rodgau (Hessen)
Ein glänzender Artikel der Herren Fleischhauer/Schäfer/Schumann, der sich deutlich abhebt von anderen. Die dringenden
Reformen, die endlich von einer Regierung
angefasst werden, werden indes an Lächerlichkeiten scheitern: Schröder hat vergessen, seine SPD zu überzeugen und der
„Bild“-Zeitung zu sagen, dass
sie das Reformprogramm der
Bevölkerung erklären darf.
stimmt der SPIEGEL auch noch in diesen
„Neider-Chor“ mit ein. Sicherlich fällt einem Erben das Vermögen eher zu, als dass
er es mit eigener Arbeit verdient hat. Aber
was ist denn daran ungerecht?
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Briefe
Soziale Gerechtigkeit? Die Antwort ist einfach: Soziale Gerechtigkeit herrscht, wenn
sich Arbeit und Vorsorge lohnen. Nicht jedoch, wenn unbequeme Jobs oft ausgeschlagen werden auf Grund eines Sozialsystems, das von zunehmend gestresst
Arbeitenden getragen werden muss. Nicht,
wenn ein Europa-Beamter doppelt so viel
verdient wie ein Bundesbeamter gleicher
Qualifikation, steuerfrei. Nicht, wenn Erträge aus Sparguthaben und nun auch aus
Kapital-Lebensversicherungen besteuert
werden, andererseits Erträge aus Spekulationsgeschäften de facto steuerfrei bleiben
und man dem leichtfertigen Verschwender
Schuldenerlass in Aussicht stellt. Nicht,
wenn unfähige oder missliebige Spitzenbeamte abgestellt werden mit großzügigen
Bezügen. Nicht, wenn ein einziger – eventuell mit politischer Nachhilfe – in Bauland gewandelter Acker mehr hergibt als
mehrere Jahre Arbeit. Nicht, wenn sich
Steuersparkonstruktionen eher lohnen als
Wert schöpfend konstruktive Arbeit.
das in Berlin. Ich habe den Eindruck, dass
sich Leute wie Kunert oftmals wissentlich
mit der DDR-Führung anlegten. Etwas Besseres als eine Ausbürgerung ohne Gefahr
konnte ihnen doch nicht passieren. Und das
Risiko einer Haft wegen Republikflucht, die
jedem DDR-Bürger bevorstand, gab es doch
auch nicht. Deshalb ist es sehr schmutzig,
sich abwertend über die restlichen 17 Millionen DDR-Bürger zu äußern, die in keiner
Weise so privilegiert waren.
Radisleben (Sachsen-Anh.)
Peter Muser
Wenn das SED-Politbüro im Januar 1971 an
Breschnew schrieb, dass Ulbricht sich gern
auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin
sieht, so gehört dieser Vorgang vermutlich in
die Vorbereitungsphase seiner Ablösung.
Mit Sicherheit war das aber keine neue Erkenntnis, denn zu meiner Zeit als DDR-Bürger bis 1961 und damit zehn Jahre vor diesem Schreiben war schon für Ulbricht die
Bezeichnung „Sachsenlenin“ landläufig.
Hamburg
Hartwig Bunzel
St. Leon-Rot (Bad.-Württ.)
Hermann Tropf
Wollen wir „gerecht“ mit dem
englischen „fair“ übersetzen und
„sozial gerecht“ mit „fair-play“?
Das hieße: 1. Alle müssen sich an
die gleichen Spielregeln halten. 2.
Jeder muss auch die anderen einmal an den Ball kommen lassen
– auch der Staat. Zurzeit verfügt
der deutsche Staat über rund die
Hälfte aller Ballkontakte, fast
jede zweite erwirtschaftete Mark
wird zunächst durch ihn bewegt:
Ist das noch „sozial gerecht“?
Bonn
Dr. Peer-Robin Paulus
AG Selbständiger Unternehmer
Redakteure Augstein, Becker mit DDR-Chef Ulbricht (1957)
Ihre Titelfrage hätte lauten müs- Zu langer Händedruck des Spitzbarts?
sen „Was ist sozial gerechtfertigt?“ Denn solange es Leute gibt, die al- Ich bin doch sehr verwundert, dass Sie in
les ausnutzen, was die Solidarkassen her- Ihrem hervorragenden Beitrag zur ehemageben, selbst wenn sie nicht bedürftig sind, ligen DDR das Bild Ihres Herausgebers
wird es auch keine Gerechtigkeit im so- nicht gezeigt haben. Augstein ist bei einem
zialen Sinne geben können.
SPIEGEL-Gespräch von 1957 mit Ulbricht
als Stenograf abgebildet. Offenbar beSteinburg (Schlesw.-Holst.)
Peter Fiting
fürchtete er einen zu langen Händedruck
des Spitzbarts, der die Hand so lange hätdrücken können, bis die SED-Fotografen
Schwierigeres und härteres Leben te
ihr Bild im Kasten hatten. Das Gespräch
Nr. 37/1999, 40 Jahre DDR:
führte allerdings Augsteins Freund und
Günter Kunert über die Ära Ulbricht
Mitgeschäftsführer Hans Detlev Becker.
Ein Schriftsteller wie Herr Kunert kann und Hamburg
Hans Neumann
will sich wahrscheinlich nicht in die Lebenssituation der vielen Menschen auf dem Leser Neumann erinnert sich richtig. Das
Lande versetzen, die auf Grund von Eigen- Bild hätte aber nicht in den Text gepasst,
tum nicht so ohne Weiteres der sowjeti- der gedruckt wurde. Indes ist Augstein
schen Besatzungszone den Rücken kehren nicht der Stenograf gewesen.
–Red.
wollten oder konnten.Viele hofften ja auch,
dass es bald zu einer Wende kommen wür- Selbstverständlich waren Ulbricht die Maßde. Dazu lebte Herr Kunert wohl zu sehr in nahmen der Teilung Berlins bereits beseiner privilegierten Berliner Künstlerszene, kannt, als er den Satz „Niemand hat die
fernab vom Leben auf dem Lande. Dieses Absicht, eine Mauer zu bauen“ prägte.
Leben war sicher schwieriger und härter als Plauen (Sachsen)
Dietrich Schönweiß
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Für Mendes Ablösung gekämpft
Nr. 37/1999, FDP: Die Partei
setzt sich von Guido Westerwelle ab
B. KARWASZ
Dass Herr Westerwelle Herrn Mende unter
die erfolgreichsten FDP-Vorsitzenden einreiht, ärgert mich. Ich habe damals unter anderem als Bundesvorsitzender der Jungdemokraten für dessen
Ablösung gekämpft.
Mende war weder
bei Wahlen so erfolgreich, aber schon gar
nicht mit seiner Politik. Er hat jahrelang
der Modernisierung
der FDP, den Reformen nach innen
sowie einer neuen
Ostpolitik entgegenBaum
gestanden. Erst mit
Scheel, Genscher, Lambsdorff, Flach, Dahrendorf, Maihofer und anderen ist die FDP
zu einer entscheidenden, wirklich liberalen
politischen Kraft geworden, oft umstritten,
aber letztlich erfolgreich. Hätten wir doch
heute nur ein wenig von dieser Kraft! Nur
eine durchgreifende liberale Erneuerung
könnte die FDP noch retten. Mit personellen Veränderungen allein ist es nicht getan.
Köln
Gerhart R. Baum
Bundesminister a. D.
Den Franken wird man’s nicht danken
Nr. 37/1999, TV-Serien:
Die „Lindenstraße“ – Versuch eines Abschieds
WDR
Jetzt hat mich endlich einer durchschaut!
Dass ausgerechnet dem SPIEGEL das gelingt, ist nicht ganz so schlecht, als wenn es
zum Beispiel der ,,Bamberger Bote“ gewesen wäre. Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, diese elendige Wollmütze abzustreifen und mit ihr all die verwelkten
Ideale der 68er. Wie oft habe ich mir schon
gewünscht, ein bisschen Humor zu haben,
für den ich sogar einige Wochen meines luxuriösen Auslandslebens hergegeben hätte. Wie oft schon habe ich die Zeit meiner
Adoleszenz in der
fränkischen Provinz
und vor allem die
restpastoralen Erziehungsversuche meiGeissendörfer
ner Vorfahren verflucht. Es hat nichts
genutzt. Deswegen gibt’s aber Gott sei Dank
wenigstens diese Fernsehserie, bei der aber
leider niemand gemerkt hat, dass sie eigentlich eine Satire ist. Aber wie schon meine
Oma väterlicherseits immer gewusst hat:
,,Den Franken wird man’s nicht danken.“
Köln
Hans W. Geißendörfer
„Lindenstraßen“-Regisseur
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Briefe
Woher nehmen wir Deutschen das
Recht, uns als Kritiker betätigen
und Spielberg des Eigennutzes und
der Gewinnsucht überführen zu
müssen? Diskutieren nicht gleichzeitig Politiker und Manager über
Zeit und Höhe von Entschädigungszahlungen und über die Möglichkeit, diese steuerlich abzusetzen? Wo ist auf breiter Ebene in
Deutschland eine Betroffenheit
und Umkehr der Herzen zu sehen?
Büdingen (Hessen)
Uli Meissner
Dass 50 000 Menschen, die die
Shoah überlebten, ihren Enkelkindern ein Videoband zeigen können mit Einzelheiten ihres Lebens,
über die manche bis zu diesem Interview nie gesprochen hatten, erscheint mir wichtiger zu sein als
die Bedenken einiger Wissenschaftler, die alles viel „besser“ gemacht hätten.
M. LENGEMANN
Ludwigsburg (Bad.-Württ.) E. Tschepe
Shoah-Projektmanager Spielberg
Technik für die Gameboy-Generation
Prophet im eigenen Land
Nr. 37/1999, Hollywood: Historiker kritisieren
Steven Spielbergs Shoah-Projekt
Was ist denn gegen die Vorgehensweise
von Herrn Spielberg einzuwenden, die
wahrscheinlich mehr Menschen die Augen
für die unfassbaren Vorgänge vor 60 Jahren
öffnet, als dies in den letzten Jahrzehnten
die Gralshüter der sogenannten Wissenschaft je in ihren Elfenbeintürmen vermochten. Auch Herr Broder muss akzeptieren, dass die technischen Möglichkeiten
der heutigen Zeit genutzt werden müssen,
um auch die Gameboy-Generation für solche Themen zu interessieren.
Prüm (Rhld.-Pfalz)
Mario Schmitz
Ich frage mich oft: Was war denn jüdische
Identität vor der Shoah? Worüber in aller
Welt haben damals jüdische Zeitungen geschrieben? Was haben die lebenden Juden
gemacht, als es noch keine Über-Lebenden
gab? Doch meinen Sie wirklich, dass da ein
durchgeknallter, hybrider jüdischer Regisseur noch viel Schaden anrichten kann?
Wir Über-Lebenden müssen uns damit einrichten, dass es unter uns auch Spielbergs
und andere Meschuggene gibt. Falls wir uns
nicht irgendwann auf unsere jüdischen Werte besinnen, die im Eigentlichen unsere
Identität ausmachen, dürfen wir uns über
Spielberg nicht beklagen. Er hat es auf seine Art wenigstens versucht. Mischung aus
Schmock und Schlemihl, der er nun mal ist.
St. Ippolito (Italien)
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Ich möchte auf ein Projekt, das das
Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam und das Fortunoff Video Archive der Yale University von 1995
bis 1996 durchgeführt haben, aufmerksam machen. Unter dem Titel
„Archiv der Erinnerung“ wurden 78 Interviews mit Überlebenden der Shoah vorrangig aus der Region Berlin und Brandenburg
aufgezeichnet. Es sind lebensgeschichtliche,
offene Interviews, die ohne Gebühr im Haus
der Wannsee-Konferenz in Berlin eingesehen werden können. Dem „Propheten“ im
eigenen Land wird oft nicht geglaubt, und er
wird häufig nicht zur Kenntnis genommen.
mit konservativen Ständen, mit Zensur.
Tucholsky war Moralist und kämpfte gegen ein unmoralisches Deutschland. Er
bezahlte für seine Haltung den höchsten Preis. Ist alles Satire, was sich so nennen darf? „Peep“, eine Sendung, die sich erkennbar mit angeblich satirischen Inhalten
produziert? Das Goldene Kalb Quote bedankt sich.Wer ist das nächste Opfer? Übrigens schreibt Tucholsky weiter: „Nirgends
verrät sich der Charakterlose schneller als
hier (in der Satire), nirgends zeigt sich fixer,
was ein gewissenloser Hanswurst ist …“
Mainz
Jürgen Kessler
Leiter des Deutschen Kabarettarchivs
Wo sich infantile Instinktjournalisten orientieren an Triebphantasien verklemmter
Schlammdackel, damit die Einschaltquoten
stimmen, entstehen keine Satiren, sondern
Machwerke für den Geschmack des Massenpublikums. Anstatt diesem „dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze
Land bedrückt und dahockt: fett, faul und
lebenstötend“, so Tucholsky, wird er zum
Maßstab der Medien„kultur“ gemacht.
Braunschweig
Reinhard Walzer
Geschmacklos oder nicht – entscheidend
ist doch vielmehr: Es ist nicht einmal witzig.
Das FKK-Video der ,,Gerd-Show“ ist einfach nur vulgär, flach und ohne jeden Esprit.
München
Florian Römer
Potsdam
Dr. Irene Diekmann
Moses Mendelssohn Zentrum, Uni Potsdam
„Bild“-Schlagzeile zur „Peep“-Sendung
Noch viel, viel mehr und schärfer
Nr. 37/1999, Satire: „Peep“-Show erregt den Kanzler
Tucholskys „Was darf Satire? Alles“ stammt
aus dem Jahre 1919. Hintergrund: die Konventionen des untergegangenen Kaiserreichs, die anhaltende Auseinandersetzung
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Hauptstadt, Kirche, Senioren,Aids,Wahlen, Blindgänger,Werbung, Unternehmer: Ulrich Schwarz; fürRegierung, Kanzler, Außenpolitik, SPD,
Finanzen, Karrieren: Dr. Gerhard Spörl; für 100 Tage im Herbst: Jochen
Bölsche; für Trends,Geld,Banken,Steuern,Autoindustrie,Schulden,Erdöl, Spekulation,Affären, Internet, Fernsehen (S. 148), Musik-TV: Gabor
Steingart; für Titel (S. 302, 306, 317), Fernsehen (S. 146, 147), Talkshows,
Szene, Partnerschaft, Psychologie, Musikbetrieb, Kunst, Literatur, Bestseller,Film,Pop: Wolfgang Höbel; für Panorama Ausland,China,Taiwan,
Italien,Indonesien,Kaukasus,Europa,Nachruf,Island,USA,Kanzler (S.
27): Dr. Romain Leick; für Stars, Fußball, Gleichberechtigung: Matthias
Geyer; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Prisma, Titel (S. 300), Computerspiele,Anthropologie,Automobile,Verhaltensforschung,Umwelt,Chronik: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr.
Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald;
für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTOS: AKG (2); Arno Breker/Galerie für gegenständliche
Kunst, Kirchheim/Teck; DC Comics; Eidos Interactive; Institute for
Genomic Research; Sygma
Jonathan Stern
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Phantasien verklemmter Schlammdackel?
Wenn „alles erlaubt“ ist und die Quote es
verlangt, wird dann demnächst ein Gummikardinal die keusche Moderatorin in Gretchenmaske penetrieren? Was soll das Adenauer-Histörchen mit einem harmlosen Politscherz in der Sprechblase, verglichen mit
diesem obszönen schweinigelnden FarceBundeskanzler. „Die Leute mögen das einfach“, so Elmar Brandt. Manche Leute mögen noch viel, viel mehr, Herr Brandt, und
noch viel, viel schärfer. Ist das Grund genug?
Gstaad (Schweiz)
Gunter Sachs
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
In der Heftmitte befindet sich in einer Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Firma Peek & Cloppenburg, Düsseldorf. Einer Teilauflage klebt ein Prospekt der Deutschen
Bank, Frankfurt/M., sowie eine Postkarte des SPIEGELVerlags/Abo. bei. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Topdeq, Pfungstadt, Meiniger Verlag, Neustadt, und
die Verlegerbeilage kultur/SPIEGEL/SPIEGEL-Verlag bei.
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Deutschland
Panorama
KO S OVO - E I N S AT Z
Auf verminten
Schmugglerpfaden
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Manager unter Verdacht
I
n der Affäre um den Ausbau des Berliner Großflughafens Schönefeld ermittelt die Staatsanwaltschaft der Bundeshauptstadt jetzt auch gegen das
größte deutsche Bauunternehmen, den
Essener Hochtief-Konzern. Der Vorwurf
lautet auf Betrug in jenem Auswahlverfahren, in dem ein Bewerberkonsortium
um Hochtief zunächst den Zuschlag erhalten hatte – Anfang August jedoch
stoppte das Oberlandesgericht Brandenburg den Fortgang des Sechs-Milliarden-Mark-Projekts wegen Verfahrensmängeln.
Der für das Airport-Geschäft zuständige HochtiefVorstand Wolfhard
Leichnitz sowie die Projekt-Geschäftsführer Constantin von Alvensleben
Leichnitz
und Reinhard Kalenda sollen, so die
Strafverfolger, unzulässige Kontakte zu
Berliner Spitzenpolitikern gesucht haben – Eigentümer des Flughafens sind
der Bund sowie die Länder Berlin und
Brandenburg. Hintergrund des Ermittlungsverfahrens ist der Einsatz eines
Berliner Journalisten mit besten politischen Verbindungen, den Hochtief als
Berater verpflichtet hatte. Der Emissär
pflegte etwa regelmäßige Kontakte zum
Leiter der Berliner Senatskanzlei Volker
Kähne.
Die Staatsanwaltschaft sieht hierin einen Verstoß gegen die Vergaberichtlinien, nach denen solche Lobbyarbeit
nicht statthaft gewesen sei. Die Hochtief-Manager bestreiten die Vorwürfe.
Der Einsatz des Emissärs sei keine
verbotene Geheimaktion gewesen,
die Politiker selbst hätten Hintergrundgespräche sogar vielfach gewünscht. Der beauftragte Journalist
habe sich überdies in den Gesprächen als Hochtief-Verbindungsmann geoutet.
DPA
FLUGHAFEN
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AP
G. MENN / AGENTUR FOCUS
ie vergangene Woche bei einem MinenUnfall im Kosovo verwundeten fünf Bundeswehrsoldaten gehörten zu einer Spezialeinheit mit heiklem Auftrag. Die sogenannte
Task Force Border (Einsatzgruppe Grenze) der
Oldenburger Fallschirmjägerbrigade 31 soll im
karstigen Gebirge an der Grenze zu Albanien
„illegale Grenzübertritte verhindern“ – und
dazu die auf keiner Landkarte verzeichneten
Trampelpfade auskundschaften, auf denen
Schmuggler und UÇK-Kämpfer heimlich Konterbande und womöglich weiterhin Waffen und
Munition ins Land schleusen.
Abseits von befestigten und von Minen geräumten Straßen lassen sich die Späher meist von
angeworbenen Einheimischen führen. Wegen
des hohen Minenrisikos sind sie nur tagsüber unterwegs, stets begleitet von Sicherungskräften, Deutsche Kfor-Soldaten beim Minenräumen im Kosovo
einem Arzttrupp und Spezialisten für Minenund Munitionsbeseitigung. Für die Gegend um den Ort Morina nordwestlich von Prizren, in dessen Nähe die Soldaten von
kaum entdeckbaren kleinen Plastiktretminen verletzt wurden,
gab es weder von den Serben noch von der UÇK Unterlagen
über Minensperren.
Zwei Soldaten mit schweren Beinverletzungen wurden nach
Deutschland ausgeflogen; die drei anderen, darunter der Arzt,
kamen mit Splitterschrammen, Beulen und blauen Flecken
davon.
Abtransport der verletzten Bundeswehrsoldaten
TERRORISMUS
Spurenvergleich
M
it Hilfe der österreichischen
Behörden hofft das Bundeskriminalamt (BKA), weitere Erkenntnisse zu
den bisher unaufgeklärten Mordanschlägen der Roten Armee Fraktion
(RAF) zu bekommen. In der vergangenen Woche ersuchte das BKA die Wiener Kollegen um die Herausgabe von
Büchern, Aufzeichnungen und Kleidungsstücken, die in der Wohnung von
Horst Ludwig Meyer und Andrea
Klump sichergestellt worden sind.
Meyer wurde in der vorvergangenen
Woche bei einem Schusswechsel mit
der österreichischen Polizei getötet, seine Begleiterin Klump festgenommen.
Die Habe der beiden mutmaßlichen
RAF-Mitglieder soll mittels kriminaltechnischer Methoden mit alten Spuren
von den Anschlägen gegen Spitzenmanager in den achtziger Jahren verglichen werden.
17
Panorama
ERNÄHRUNG
F
ür die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover soll der englische Thronfolger und Biobauer Prinz Charles gesunde Lebensmittel liefern. Unter dem Markennamen „Duchy Originals“
vertreibt der Prince of Wales bereits Bisquits mit Orangen- oder
Zitronengeschmack in deutschen Teeläden. Die Rohstoffe der, so
ein Fachverkäufer, „im Biss etwas trockenen“ Prinzenrollen
stammen aus rund 140 Hektar biodynamisch bewirtschaftetem
Ackerland im westenglischen Gloucestershire. Dort führte der
Expo-2000-Umweltbeauftragte Jürgen Resch bereits Gespräche
mit Prinz Charles über die Lieferung von
Bioprodukten. Nach den Expo-Kriterien
verpflichten sich alle gastronomischen
Betriebe, den Einsatz von „mindestens
zehn Prozent“ Lebensmitteln aus kontrolliertem Anbau „sicherzustellen“. Dies
gilt auch für den voraussichtlichen HauptNahrungslieferanten – den amerikanischen Fast-Food-Konzern MacDonald’s.
Eingriff in den Markt
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kommunalen Stadtwerke mit ihrer teuren, aber umweltfreundlichen Kombination von Fernwärme- und Stromproduktion vor Billigkonkurrenten geschützt
werden. Per „Hausverfügung“ setzte er
vergangene Woche eine elfköpfige Projektgruppe ein, die bis Dezember eine
„Netzzugangsverordnung Strom“ entwerfen soll.
Nach einer internen Beratung im
Kanzleramt hieß es am vergangenen Donnerstag, es bestehe
„Einigkeit darüber“, dass den
„betroffenen Stadtwerken faire
Wettbewerbsbedingungen zu sichern“ seien. Nachteile der
kommunalen Unternehmen
könnte eine entsprechend hohe
Gebühr ausgleichen, welche die
Stadtwerke von den Stromkonzernen für deren Nutzung der
Verteilernetze erhalten sollen.
Die Verordnung sei „unmittelbar
nach Jahreswechsel in das Bundeskabinett einzubringen“.
n Europa hergestellte synthetische
Drogen würden mittlerweile weltweit
verkauft, so Europol-Chef Jürgen Storbek in einem Bericht über die innere Sicherheit in Europa. Alle EU-Mitgliedstaaten meldeten die zunehmende Internationalisierung bei der Organisierten Kriminalität. Täter, die bislang beispielsweise in den Niederlanden oder in
Belgien synthetische Drogen für den regionalen Markt hergestellt hätten,
ließen inzwischen in Polen oder den
baltischen Staaten produzieren und belieferten ganz Europa, Südostasien und
Teile Nordamerikas. Entgegen früheren
Erwartungen sei die Drogenkriminalität
weiter gestiegen. Nach Cannabisprodukten hätten synthetische Drogen nun
den größten Marktanteil in Europa.
nister, die Parlamentarischen und die
beamteten Staatssekretäre einen monatlichen Sonderbeitrag in Höhe von 250
Mark“ zahlen sollten, zusätzlich also
3000 Mark für das ganze Jahr 1999. Obschon „der Beitrag in Zukunft auch monatlich“ gezahlt werden könne, lässt die
Zahlungsmoral von Schröder und anderen Spitzengenossen zu wünschen übrig:
Die Kontrollkommission des Präsidiums
hat die Zahlungen bereits angemahnt.
Drogenlabor (bei Bremen)
DPA
ntgegen seinen bisherigen Absichten
muss Bundeswirtschaftsminister
Werner Müller die Marktregeln im neuen Stromwettbewerb doch gesetzlich
festschreiben lassen. Nur so können die
„Duchy“-Kekse, Prinz Charles (l.)
Umspannwerk in Freiburg
SPD
Zuschlag für Schröder
W
egen der katastrophalen Kassenlage ihrer Partei sorgt sich SPDSchatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier.
In einem Bettelbrief an „alle Amtsträger
der SPD“ forderte sie, dass „der Bundestagspräsident, die Bundestagsvizepräsidentin, der Bundeskanzler, die Mi18
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K R I M I N A L I TÄT
Exportschlager
Rauschgift
I
DPA
STROM
FOTOS: DPA (re.); KLEINHEMPEL (li.)
Prinzenrolle für die Expo
Deutschland
Schröder sagt aus
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em Europa-Ausschuss des Bundestags muss Bundeskanzler Gerhard
Schröder an diesem Mittwoch anderthalb Stunden lang Rede und
Antwort zur Hausbau-Affäre
des früheren Kanzleramtsministers Bodo Hombach stehen.
Die CDU/CSU-Fraktion will
wissen, ob der Kanzler die EURegierungschefs vor Hombachs
Berufung als Balkan-Koordinator über die Vorwürfe gegen
Hombach informiert hat.
Die Union wirft Schröder vor,
er habe seinen damaligen
Hombach
ARBEITSMARKT
Gewinn mit
630-Mark-Jobs?
M
it der umstrittenen Neuregelung
bei den 630-Mark-Beschäftigungen
„richtig zu liegen“, dafür rühmt sich
Arbeitsminister Walter Riester. Bestätigt
sieht er sich durch zwei vertrauliche
Studien. Nach einer vorläufigen Auswertung des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik sind für
Kanzleramtschef weggelobt, obwohl er
von dessen Verstrickung in eine Affäre
wusste. Dass es den sogenannten VIPService der Firma Veba für Hombachs
Haus gegeben hat, steht nach Ansicht
von Unions-Obmann Ronald Pofalla
fest, nachdem Hombachs Bauleiter
vor sechs Wochen wegen
Meineids verurteilt wurde.
Der Mann hatte die Existenz
eines solchen Sonderservice
für Prominente früher bestritten.
Falls Schröder die Fragen
nicht zur Zufriedenheit der
CDU/CSU beantwortet, bereitet die Union die Initiative zur
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor.
JARDAI / MODUS
H O M BAC H - A F FÄ R E
die ersten Monate 804 000 Minijobs abgemeldet worden und 560 000 neu hinzugekommen. Zusätzlich entstanden
aus Billig-Beschäftigungen jedoch
154 000 reguläre Vollzeitstellen. Die
Neuregelung habe, so assistiert die
Kienbaum Unternehmensberatung,
„nur geringen Einfluss auf Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung“.
Die neuen Zwangsmitglieder in der Alters- und Krankenversicherung bringen
allein der Rentenkasse dieses Jahr 1,6
Milliarden Mark an Mehreinnahmen
statt der veranschlagten 1,2 Milliarden.
B. BOSTELMANN / ARGUM
von 7 bis 22 Uhr (im Sommer bis 24 Uhr) von den
Straßen verbannen. Berlin,
Paris und Wien wehren sich
dagegen. In Deutschland
müssen die Brummis bisher
ab Mitternacht von den Autobahnen verschwinden, in
Frankreich ab 22 Uhr und
in Österreich schon um 15
Uhr am Samstag. Die Verkürzung des Fahrverbots
sei ein falsches Signal, argumentieren die Verkehrsminister. Wenn die Fahrer
die Nacht durchbrausen
dürften, würden die Spediteure am Samstag viel
Lkw-Stau auf der A 5 bei Frankfurt am Main
mehr Lkw in Gang setzen.
Dadurch werde der Lasterverkehr am
L A S T WA G E N
Samstag-nachmittag dichter – zu Lasten des Pkw-Verkehrs, der Umwelt
und der Bahn. Die Einführung eines
Fahrverbots in Randstaaten wie Finnm Mittwoch kommender Woche
land – wo es derzeit kein Fahrverbot
wollen die EU-Verkehrsminister
gibt – bringe nicht viel, weil dort am
über das Sonntagsfahrverbot für Lkw
Wochenende ohnehin kaum Brummis
verhandeln. Die EU-Kommission will
führen.
Laster an Sonntagen europaweit nur
Sonntags mehr Brummis
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Panorama
Deutschland
Am Rande
Mit der FDP geht
es rapide bergab,
dafür wird Berlin
immer schöner
und sauberer. Wo
ist da der Zusammenhang? Gemach, die Antwort
findet sich in Zehlendorf, einem
besseren Bezirk im Südwesten der
Hauptstadt, der von gut betuchten
bis vermögenden Bürgern bewohnt
wird. Wie überall in der Stadt hat
die Verwaltung auch in Zehlendorf
öffentliche Toiletten geschlossen,
um die Kosten der Wartung einzusparen. Letzte Woche wurde eine
der stillgelegten Bedürfnisanstalten wieder in Betrieb genommen.
Allerdings nicht als Pinkelbude,
sondern als Parteizentrale. Außen
knallgelb angestrichen und innen
vollständig entkernt und renoviert,
dient das Häuschen der FDP als
Bezirksgeschäftsstelle. Von hier aus
werden die 270 eingetragenen Zehlendorfer Freidemokraten verwaltet. Sie sind der ganze Schatz der
Partei, sozusagen die Raison d’être,
denn in der Verordnetenversammlung des Bezirks ist die FDP seit
1994 nicht mehr vertreten. Auch für
die Zehlendorfer Liberalen gilt seitdem die Parole: Die Basis ist die
Grundlage des Fundaments. Wo
die Wähler wegbleiben, müssen
wenigstens die Mitglieder bei
der Stange gehalten werden.
70 000 Mark hat der Umbau des
Toilettenhäuschens gekostet, umgerechnet rund 260 Mark pro Kopf,
„mehr als wir uns leisten können“,
sagte die Bezirksvorsitzende bei
der Eröffnung der sanierten Lokalität. Und wenn es bei den nächsten
Wahlen wieder schief geht, kann
das neue Parteibüro notfalls wieder
als öffentliches WC benutzt werden. Gegen eine kleine Gebühr, sagen wir: eine Mark, damit sich diesen Luxus alle Liberalen in Zehlendorf leisten können.
20
JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
Kinkelpause
Ehepaar Wehner, Honecker (1987 in Wehners Bonner Haus)
ZEITGESCHICHTE
Besuche beim kranken
Wehner
A
m Ende seines Lebens fühlte sich
Herbert Wehner, bis 1983 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion,
bei SED-Chef Erich Honecker besser
aufgehoben als bei den eigenen Genossen. Das legen Aufzeichnungen des
SED-Emissärs Wolfgang Vogel nahe, die
jetzt in der Gauck-Behörde lagern. Der
von seiner Demenzerkrankung gezeichnete Wehner beklagte sich danach 1986
bei Vogel, dass führende Sozialdemokraten ihm gegenüber „lediglich
Pflichtübungen abhalten“. Über die Be-
suche Vogels im Auftrag Honeckers
zeigte Wehner sich den Aufzeichnungen
zufolge „zu Tränen gerührt“ und erklärte, „niemand kümmere sich so um ihn“
wie der Staats- und Parteichef.
Über seine eigene Partei äußerte sich
Wehner bitter: Er sei „an der Zerstrittenheit der SPD gescheitert“. Langfristig
befürchte er „eine Spaltung der SPD“.
Dem SED-Chef Honecker hingegen prophezeite der kranke Wehner „noch
große Aufgaben“. Ganz uneigennützig
waren Vogels Besuche nicht. Der SEDAnwalt wollte Wehners Ehefrau Greta
überzeugen, alle Dokumente über den
Kontakt zu Honecker aus dem Privatarchiv Wehners zu entfernen – vergebens.
Wehner starb im Januar 1990, neun Monate vor dem Ende der DDR.
G E H Ä LT E R
Der Osten holt auf
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as Bundesinnenministerium (BMI)
hält die Debatte über die Angleichung von Ost- und West-Gehältern im
Öffentlichen Dienst für „irreführend“.
Brutto erreichen die Ost-Bezüge zwar
nur 86,5 Prozent vom West-Niveau.
Nach Berechnungen des Ministeriums,
denen die Experten das Nettogehalt zu
Grunde gelegt haben, bewegen sich die
Ost-Einkünfte tatsächlich aber weit
über 90 Prozent, „in Einzelfällen werden sogar 100 Prozent erreicht oder
leicht überschritten“, heißt es im BMIReport. Wegen der unterschiedlichen
Zusatzversorgung und ihrer Besteuerung bekommt ein West-Referent der
Vergütungsgruppe II a, 40 Jahre, verheiratet, 2 Kinder, (Bruttogehalt 7276
Mark) rund 4260 Mark ausgezahlt. Sein
Ost-Kollege (Brutto 6295 Mark) erhält
dagegen 4058 Mark und damit über 95
Prozent des Netto-West-Gehaltes.
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Nachgefragt
Teures gutes Gewissen
Im Wettbewerb auf dem
Strommarkt ist Ökostrom
teurer als normaler Strom.
Wieviel wären Sie bereit,
bei einer Jahresrechnung
von 1000 Mark für umweltfreundlichen Strom mehr
zu zahlen?
Angaben
in Prozent
GESAMTDEUTSCHLAND WEST
OST
nichts
35
31
50
50 Mark
19
19
21
100 Mark
25
27
16
200 Mark
und mehr
7
8
2
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 21. und 22.
September; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende
Prozent: weiß nicht/ist mir egal
Werbeseite
Werbeseite
FOTOS: DPA
Koalitionspartner Fischer, Schröder: Mächtige Männer, in ihren Parteien widerwillig akzeptiert
REGIERUNG
Ein Knochen für den Pitbull
Das Angebot von Außenminister Joschka Fischer, als Retter der Grünen einzuspringen,
mobilisiert ebenso viel Widerstand wie Zustimmung. Unterwirft sich
die Partei dem populärsten Politiker Deutschlands, oder bringt sie sich um ihre Existenz?
D
ie grünen Youngster saßen über einen Teller Nudeln gebeugt, als der
Zeitungsverkäufer im italienischen
Restaurant mitten im Berliner Regierungsviertel aufkreuzte. Außenminister Joschka Fischer, so lautete eine Meldung auf der ersten Seite, sehe die Grünen
in einer „existenzbedrohenden“ Krise.
Und die wolle er jetzt im Alleingang bewältigen.
Die Nachwuchspolitiker guckten gequält. Die Supermann-Masche mochte ja in
der Öffentlichkeit ankommen. Intern jedoch wirkt sie verheerend. „Sind wir denn
alle Idioten?“, fragt einer.
Dann wandten sie sich wieder ihrem
Thema zu: Haben die Grünen noch eine
Zukunft? Zerreibt die Öko-Partei sich am
Atomausstieg? Verweigert die Basis die an22
geblich notwendige Parteireform? Und
steigt Fischer dann einfach aus?
Inzwischen glauben die jungen Grünen
so fest an ihre Horrorszenarien, dass sie,
natürlich ganz hypothetisch, schon ihre eigene politische Zukunft diskutieren: Einer
würde sich ganz aus der Politik verabschieden. Eine andere erwägt den Übertritt
zur Union. Nur zur SPD will keiner wechseln.
Die kleine vertrauliche Runde illustriert
die grassierende Untergangsstimmung in
den Reihen der Grünen. Eine Serie von
Wahlniederlagen, in Brandenburg und im
Saarland, in Thüringen, Nordrhein-Westfalen und zuletzt in Sachsen, hat sie aufs
Höchste verunsichert.
Ein bis zwei Prozentpunkte verlor die
Öko-Partei im Osten und damit praktisch
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die Hälfte ihres ostdeutschen Marktanteils,
der stabil unter der Fünfprozentmarke
liegt. Mit einem Minus von 2,9 Prozentpunkten hat ihr der Wähler in NordrheinWestfalen das schlechteste Ergebnis beschert, seit sie dort zum ersten Mal, 1984,
antrat. Auf die Bundesebene umgerechnet,
droht der Exitus.
Ratlosigkeit hat die frisch nach Berlin
Zugereisten befallen. Sie rätseln über die
Ursachen des Niedergangs, warum Stammwähler, Frauen, und, besonders schmerzlich, die Jungen wegbleiben. Falsche Themen? Keine richtige Führung? Beim Regieren das Profil verloren?
Auf Jahrzehnte sei in den neuen Bundesländern kein Milieu wie im Westen aufzubauen, hat Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer intern bilanziert.
Deutschland
Früher habe er durchaus gewusst, „wie
die Grünen aus einer Krise herausfinden“,
beschreibt der einstige Parteisprecher Ludger Volmer, jetzt Staatsminister im Auswärtigen Amt, seine trostlose Seelenlage:
„Heute weiß ich es nicht.“
Auf dem Flug zur Uno-Vollversammlung
nach New York offenbarte auch der Außenminister seine Furcht: „Bis zur Unkenntlichkeit in der Koalition zu verschwinden
oder aber die Koalition zu verlassen“, verriet Joschka Fischer der „Zeit“, sei die fatale Alternative. Gefährlichste Bruchstelle:
der Atomausstieg.
Die Fischer-Partei laboriert an ähnlichen
Symptomen wie der Koalitionspartner
SPD. In der Regierungsverantwortung
scheitern viele Ideen an der Realität, das
politische Personal pflegt die seit Jahrzehnten lieb gewonnenen Zwiste, der
mächtige Mann – hier Fischer, dort Schröder – wird allenfalls widerwillig akzeptiert.
Hinter den mit Verve geführten Strategie- und Strukturdebatten verbirgt sich,
dass die Flügel der Partei inhaltlich nicht
zueinander finden. Sollen die Grünen nun
werden wie die PDS, was manche der
wahlkämpfenden Nordrhein-Westfalen mit
ihrem Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“
ansteuern? Oder sollen sie sich in eine Art
Öko-FDP verwandeln, wie es jungen Bundestagsabgeordneten vorschwebt?
Die Parteienforscher helfen nicht viel
weiter bei der Suche nach Auswegen aus
der Krise. Für die meisten Wähler, das hat
der Mainzer Politikprofessor Jürgen W. Falter festgestellt, waren seit jeher „ökopazifistische Glaubensgewissheiten und das gesinnungsethische Engagement für nicht materielle Interessen charakteristisch“. Und:
„Dies hat sich nicht grundlegend geändert.“ Eine neue Positionierung sei „ein
äußerst riskantes Unterfangen“, warnt Falter: „Das könnte den Untergang der Partei zur Folge haben.“
Ganz unvermittelt könnte der Öko-Partei der Untergang auch praktisch, nicht nur
theoretisch drohen: wenn im Winter Cas-
Grüne Gremien
Abbau grüner Wahlplakate (in Dresden): Den halben Marktanteil eingebüßt
tor-Transporte rollen, ohne dass ein von
der Basis akzeptierter Atomausstieg vorliegt, wenn die rot-grüne Koalition im Februar in Schleswig-Holstein abgewählt
wird oder im Mai in Nordrhein-Westfalen.
Die grüne Partei steht unvermittelt vor
einem Showdown nach Western-Art: Überwindet sie ihre antiautoritären Reflexe und
überträgt ihrem Star Fischer quasi die Alleinherrschaft? Oder brechen sie mit ihm,
dem populärsten Politiker Deutschlands,
was wohl gleichbedeutend wäre mit seiner
Vertreibung?
Denn Fischer findet, dass es nur eine Lösung geben kann – und die heißt Fischer.
Genüsslich zelebrierte der heimliche
Vorsitzende bislang seine Abneigung gegen
die eigene Partei. Sollten die Grünen doch
eine Wahl nach der an-
Führungsstruktur von Bündnis 90/Die Grünen
AP
BUNDESV ORSTAND
Röstel
Radcke
berät den Bundesvorstand
zwei gleichberechtigte Sprecherinnen
Bundesschatzmeister
Antje Radcke und Gunda Röstel
Dietmar Strehl
Politischer
Geschäftsführer
Frauenpolitische
Sprecherin
Reinhard Bütikofer
Angelika Albrecht
L ÄN D E R R AT
wählt den Bundesvorstand
PAR TEIRAT
BUNDESV ERSAM M LUN G
Neu eingerichtetes Gremium:
25 Delegierte koordinieren die
Arbeit zwischen den einzelnen
Gremien.
Entspricht dem Parteitag bei anderen Parteien und entscheidet über
Programm, Satzung und politische
Richtlinien.
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Zwischen den Bundesversammlungen entscheidet
der Länderrat über die politischen Richtlinien und
koordiniert die Arbeit der
Gremien auf Bundes- und
Landesebene.
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deren verlieren – irgendwann, rechnete er
kühl, werde der Leidensdruck groß genug
sein, ihm als Retter die Macht anzutragen,
einen Teil erst einmal nur und schließlich
auch die ganze.
Lästig war ihm die Partei geworden, zuletzt auch zuwider. Seine Berichte aus dem
Auswärtigen Amt für die Fraktion bekamen den Charakter einer hoheitlichen Gewährung von Information. Kabinettskollegin Andrea Fischer ließ schon mal sicherheitshalber einen Stuhl zwischen sich und
dem Außenminister frei. Andere wagten
sich gar nicht erst so nah heran. Missliebige Journalisten schnitt er monatelang, der
Rest musste seinen langatmigen Ausführungen lauschen.
Er bringt eigentlich keine Lust mehr auf
für die mühseligen Sitzungen mit den ideologischen Kleingärtnern aus seiner Partei.
Schon bei seinem Amtsantritt hatte er
sich eine klare Arbeitsteilung überlegt:
„Die sollten ihre Arbeit machen, und
ich mach einen guten Job als Außenminister. Ich war doch froh, dass ich
mich da rausziehen konnte.“
Als die Partei in Sachsen am vorletzten Sonntag erwartungsgemäß wieder an der Fünfprozenthürde scheiterte,
entschied der Ober-Grüne, dass der Schrei
nach Führung nunmehr unüberhörbar sei.
Das Szenario dafür hatte er lange schon
fertig im Kopf – nun muss er es nur früher
als geplant in die Tat umsetzen. Bis Mitte
der Legislaturperiode, heißt seine Zielmarke, soll die Partei auf Linie liegen, auf
seiner natürlich.
Nun lässt Fischer im Auswärtigen Amt
nach urgrünen Themen fahnden, weil er
die Trennung von Außenpolitik und grüner
23
J. GIRIBAS
Deutschland
Außenminister Fischer in der Uno: „Ich war doch froh, dass ich mich da rausziehen konnte“
24
den unaufhaltsamen Niedergang an. Die
Parteiführer hatten den mäßigen Bundestagswahlkampf 1998 vorbereitet und den
berühmten Magdeburger Parteitagsbeschluss – fünf Mark für den Liter Benzin
– zu verantworten. Seither, das belegen die
Umfragen, wird die einstige Modepartei
vor allem als mäkelige Verbotspartei wahrgenommen.
Weil ein weiteres Debakel dieser Güte
das Aus bedeutete, müssten die Grünen
die Frühjahrswahlen „wie Bundestagswahlen“ organisieren, beschwor Fischer
A. SCHOELZEL
Politik aufheben will. Wie im KosovoKrieg, als er an die antifaschistischen Wurzeln der Partei appellierte, soll sein außenpolitischer Hoheitsdrall dauerhaft in die
Partei hineinwirken.
Zuletzt hatte er, ganz Staatsmann, nach
eigener Erkenntnis „zunehmend Seifenblasen abgesondert“ und war in blasse
„Kommuniqué-Sprache verfallen“. Jetzt
tritt hinter dem grauen Grünen wieder die
Farbe des angriffslustigen Politikers hervor. „Ein richtiger Pitbull ist nur dem Knochen verpflichtet, der ihm hingehalten
wird“, sagt er.
Wichtige Entscheidungen der GrünenPartei werden künftig im vornehmen
Dahlemer Gästehaus der Bundesregierung
an der Pacelli-Allee fallen, wo der Amtschef derzeit nächtigt. Dort trifft sich künftig montags früh der „Wohlfahrtsausschuss“, dem die Spitzen von Partei und
Fraktion angehören samt Ministern. Schon
die Ortswahl wirkt wie ein Symbol des
Wandels, und so soll es auch sein.
In der Fraktion, kündigte Fischer an,
werde er demnächst, wann immer möglich, präsent sein und das Regiment übernehmen. Wie in Oppositionszeiten will er
der Partei über den Bundestag Profil verschaffen, mit harter Hand und nach dem
Motto „Führen und wachsen lassen“ – eine
Watsche auch für seinen Freund, den Fraktionschef Rezzo Schlauch.
Die erwünschte Folge: Die Partei, aus
Fischers Sicht die eigentliche Schwachstelle, wird entmachtet. Der Führung –
neben Gunda Röstel vor allem Antje
Radckes Vorgänger Jürgen Trittin – lastet er
Fischer-Kandidat Schulz
„Wir schnitzen ein Team“
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seine Truppe. Denn letztlich werde in Kiel
und Düsseldorf „über die rot-grüne Koalition in Berlin entschieden“.
Im Klartext: Erobert die CDU alleine
oder mit der FDP die beiden rot-grünen
Bastionen, kann sie mit ihrer Bundesratsmehrheit Rot-Grün in Berlin blockieren.
„Dann sind wir stehend k. o.“, beschreibt
Schlauch die Konsequenzen. Ob Große Koalition, Neuwahlen oder eine abgehalfterte Schröder-Regierung – ab Mai 2000 wäre
die Öko-Partei erst einmal erledigt.
Nach dem Vorbild von Franz Münteferings erfolgreicher SPD-Wahlkampfzentrale wird daher, organisatorisch und räumlich getrennt von der Partei, eine grüne
„Kampa“ eingerichtet. Dort soll Achim
Schmillen, einer von Fischers engsten
Vertrauten, die Regie führen – so wie schon
im Bundestagswahlkampf 1998 bei Fischers
siebenwöchiger Solotour durch die Republik.
Wie im letzten Jahr muss Schmillen
Sponsoren auftreiben, denn die Kassen
sind klamm. Eine Agentur wird noch gesucht, die für professionelle Vermarktung
des Stars sorgt. „Damals ist es gelungen, Fischer mit den Grünen zu identifizieren“,
meint Schmillen stolz, „jetzt müssen wir
seine Popularität für die Partei nutzen.“
Der schwierigste Teil von Fischers Operation wird sein, den Weg an die Parteispitze freizumachen für seine Favoriten
Fritz Kuhn und Renate Künast bei gleichzeitiger Abfindung der amtierenden Sprecherinnen Röstel und Radcke. Ein Parteitag
müsste dafür einen der Gründungsgrundsätze mit Zweidrittelmehrheit auf-
K.-B. KARWASZ
Grüne Kuhn, Schlauch: Ende der Trennung von Amt und Mandat?
Tatsächlich scheint die Partei noch nicht
beglückt vom großen Retter Fischer. Im
Parteirat am vergangenen Montag betrachtete kaum jemand eine Strukturreform als Allheilmittel.
Insbesondere Vertreter aus NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen übten
Kritik an ihrer Fraktion und den Ministern:
Das Gesamtbild der Regierung sei desaströs.
Bei ihren klassischen Themen hätten die
Grünen ihr Profil verloren. Mit Anleihen
bei der FDP und Anbiederung an die neue
Mitte sei auch kein Erfolg zu erzielen.
M. URBAN
heben: die Trennung von Amt und Mandat.
Fischer kategorisch: „Das muss weg.“
Dann könnte die bei zwölf Prozent gehandelte Berliner Spitzenkandidatin
Künast auch gleichzeitig Parteichefin werden und Fraktionsvorsitzende in der
Hauptstadt bleiben – so wie Kuhn in Stuttgart. Dann könnte der einstige DDR-Bürgerrechtler und Parlamentarische Geschäftsführer Werner Schulz, wie vorgesehen, Generalsekretär der Grünen werden.
„Das ist ein Angebot“, lockt der große
Stratege Fischer großmütig, „und dann
schnitzen wir ein Team.“
Seit langem schon stöhnt er über den
„Dilettantismus“ gerade des derzeitigen
Sprecherinnen-Duos. Bislang allerdings begegnete Fischer Röstel und Radcke eher
nonchalant. „Niemand sagt den Mädels ins
Gesicht: Ihr bringt’s nicht“, klagt ein Fischer-Freund.
Fischers Problem: Wie kann er die glücklosen Sprecherinnen, die an der Basis
schon wieder Minderheitenschutz-Reflexe
auslösen, loswerden, aber gleichzeitig eine
Zweidrittelmehrheit auf dem Parteitag
gewinnen?
Nach zahlreichen Gesprächen mit
Parteifreunden dämmert ihm, dass die Aussichten für den Coup nicht unbedingt rosig
sind. Da beide Sprecherinnen „an gnadenloser Selbstüberschätzung leiden“, wie
ihre Gegner glauben, werden sie freiwillig
ihren Platz kaum räumen – oder nur für einen Nachfolger Fischer, der allerdings lieber virtueller Präsident ohne konkrete Ämter bleiben möchte. Eine verzwickte Falle.
Dann nämlich müsste er sich einem Parteitag stellen, mit riesigem Restrisiko. Dass
sich die Partei einem Alleinherrscher unterwirft, ist ziemlich unwahrscheinlich, der
Leidensdruck reicht womöglich erst nach
einem Wahl-Debakel in Nordrhein-Westfalen aus.
Fischer-Kandidatin Künast: Führen und wachsen lassen
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Gerade der Umgang des Kanzlers mit
dem kleinen Partner sorgt nach einem Jahr
gemeinsamen Regierens für Unmut. Es
herrscht der Eindruck: Gerhard Schröder
macht mit den Grünen, was er will – und
Fischer macht mit, um die Partei auf seinen
Kurs zu zwingen.
„Die Grünen stehen am Abgrund“,
warnt der grüne hessische Vorstandssprecher Hartmut Bäumer. Sie dürften nicht
jeden Preis fürs Regieren zahlen. Fraktionschef Schlauch hat verstanden: „Der
Mittelbau mobbt gegen uns.“
Die Unbeweglichkeit seiner Partei
bestärkt den einstigen Straßenkämpfer
Fischer, der sich zum Staatsmann wandelte, im düsteren Verdacht, die Grünen seien doch nur ein Projekt der 68er,
von denen er selbst sich längst abgenabelt hat.
Fremd sind ihm die Oldies geworden, die immer noch Kampfeinsätze der
Bundeswehr, Großflughäfen wie Autobahnen verbieten und ganz schnell aus
der Kernenergie aussteigen wollen: „Wir
schleppen noch viel von der Programmatik der siebziger und achtziger Jahre mit
uns herum.“
Fischer muss sich nun wieder notgedrungen mit Gunda Röstel statt vorzugsweise mit Madeleine Albright über die
Weltlage unterhalten. Und außer mit Hubert Védrine wird er auch mit Hans-Christian Ströbele über Krieg und Frieden reden. Halb ernsthaft, halb selbstironisch
barmt er: „Quel malheur.“
Jürgen Hogrefe, Paul Lersch,
Hajo Schumacher
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Deutschland
Tief bewegt
In Berlin ist deutsche Geschichte
immer präsent – unverdächtige Kanzler-Worte bekommen da
schnell eine fatale Bedeutung.
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PRESSEFOTO BACH & PARTNER
ie Götter blickten ungerührt auf die
geschäftige Runde. Um an die erste
Sitzung des Bundeskabinetts unter
Konrad Adenauer zu erinnern, die der
Kanzler vor 50 Jahren ins Bonner Naturkunde-Museum Alexander Koenig einberufen hatte, tagte die Regierung Schröder
im alten Museum von Berlin. Das sollte eine
heitere Erinnerung an das Bonner Provisorium von einst sein – und auch ein Zeichen
von Kontinuität. Denn in Berlin bekommt
vieles einen bombastischen Stellenwert,
was am Rhein politischer Alltag war.
Auf Schritt und Tritt mussten Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Minister in der vergangenen Woche erleben, wie
ihr Reden und Handeln vom historischen
Hintergrund verzerrt und überwältigt zu
werden drohte. In Berlin wird einfach allzu vieles unversehens symbolisch – und
kann auch schon mal gegen die Handelnden verwendet werden.
Der Bundeskanzler scheint sich dieser
Situation sogar bewusst zu sein, wie er am
vorigen Mittwoch gleich zweimal bewies.
Erst verlief der Besuch des israelischen
Premiers Ehud Barak in Berlin ziemlich
harmonisch – ohne forsche Töne von der
neuen Normalität, die Schröder auch gern
anschlägt. Und selten äußerte er sich so
abgesichert, vorsichtig und politisch korrekt zur Außenpolitik wie wenig später vor
den „Schlüsselfiguren des europäischen
Journalismus“, die ihm lauschten.
„Deutschlands Zukunftsfähigkeit wird
sich beweisen an seiner Zuverlässigkeit und
seiner Berechenbarkeit“, versicherte der
Regierungschef vor dem hochkarätigen Forum der „Frankfurter Allgemeinen“. Was
das für ihn bedeute, lieferte er ausführlich
in freier Rede nach: dass es zur Nato keine Alternative gebe; dass die EU erweitert
werden müsse; dass Deutschland diese Vorhaben in „enger Abstimmung mit Frankreich“ betreiben werde, in Partnerschaft
mit den USA und in Hoffnung auf die
außenpolitische Stabilität in Russland.
Von Adenauer über Willy Brandt und
Helmut Schmidt bis Helmut Kohl hätten
alle seine Vorgänger zustimmend genickt.
Auch der vorsichtige Vorschlag ist nicht
anstößig, für ganz Europa Verhältnisse zu
schaffen, wie sie in der Bundesrepublik
Deutschland in den vergangenen 50 Jahren
zu materiellem Wohlstand, demokratischer
Verlässlichkeit und sozialem Frieden geführt hätten. Und Schröder fasste zusammen: „Das Modell Deutschland muss Modell Europa werden.“
Keiner im Publikum stöhnte auf.
Es liegt wohl mehr an Berlin als an
Schröder, dass sein „Modell Deutschland“-
DPA
KANZLER
Baustelle des Berliner Kanzleramtes, Modell (o.): Bombastischer Alltag
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Satz wenig später so artikuliert wurde, als
habe er gesagt, am deutschen Wesen solle
wieder einmal die Welt genesen.
Ein Teilnehmer an einer privaten Gesellschaft hatte – wie die „Süddeutsche
Zeitung“ tags darauf vermeldete – die
Schröder-Äußerung im schnarrend-anmaßenden Tonfall Adolf Hitlers persifliert.
Die Leute passierten da gerade am späten
Abend per Boot die von Scheinwerfern erhellte monumentale Baustelle des künftigen Kanzleramtes.
Für die Größe des Baus ist Helmut Kohl
verantwortlich, nicht der Nachfolger. Aber
in dieser Umgebung, in der einst Albert
Speer seinem Führer einen gigantischen
Germanen-Tempel errichten wollte, sind
Emotionen und historische Assoziationen
oft stärker als die Realität.
Am selben Tag hatte sich der Kanzler
schon einmal bemüht, den Verdacht historischer Verantwortungslosigkeit zu widerlegen. Den israelischen Ministerpräsidenten Barak begleitete er ins KZ Sachsenhausen und versicherte dort: „Wir werden
gegen alle Formen des Faschismus und des
Rassismus angehen.“ Das müsse für die
heutige, aber auch für die künftigen Generationen gelten. „Diese tiefe Überzeugung haben wir aus Bonn mitgebracht und
werden wir in Berlin bewahren.“
Das ist ziemlich schwer. Der protokollarische Empfang des Staatsgastes Barak
durch das Wachbataillon im Hof des Kanzleramtes verwandelte sich bei argwöhnischen Berlin-Skeptikern gleich zur Militärparade. Hatten die Berliner nicht sogar
das Brandenburger Tor geschlossen? Ja, sie
hatten. Aber nicht die Bundesregierung bat
darum, sondern der Verkehrssenator. Und
auch nicht wegen des Staatszeremoniells,
sondern wegen einer Werbeveranstaltung
von VW.
Politik in Berlin, das ist, als ob einer in
einem Spiegelkabinett von sich ein klares
Bild vermitteln wollte. Was allein hilft, ist
offenbar verlässliches und unzweideutiges
Handeln.
So war es an diesem Tag vor allem Bundespräsident Johannes Rau, der verkörperte, was Schröder sagte – eine langjährige persönliche Freundschaft zu Israel und
eine enge persönliche Bindung zu Barak.
Der bekannte ihm, dass er „tief bewegt“
sei in Berlin.
Und es war wohl auch kein Zufall, dass
in Raus Amtssitz „Bellevue“ der geschichtsmächtige Tag mit einer weiteren
Symbol-Szene zu Ende ging.
Marcel Reich-Ranicki, in Polen geborener Jude und deutscher Literaturkritiker,
las da ein Kapitel aus seinem Buch „Mein
Leben“, das vom Ende des Warschauer
Ghettos handelte. Als er vom Podium herabstieg, etwas zittrig nach anstrengendem Vortrag, reichten ihm zwei Männer
stützend die Hand: der deutsche Präsident
Rau und sein polnischer Kollege Adam
Kwaśniewski.
Jürgen Leinemann
FOTOS: DPA
REUTERS
Kanzler Schröder mit Rumäniens Premier Vasile, bulgarischen Geistlichen, Albaniens Premier Majko: Lob und Tadel verteilt
AU S S E N P O L I T I K
Lili Marleen in Tirana
Albanien, Bulgarien und Rumänien unterstützten die Nato
im Kosovo-Krieg. Gerhard Schröder dankt
mit einer Tour de Force durch die Armenhäuser Europas.
N
achts in Bukarest, und kein Rumäne ist mehr in Sicht außer dem Kellner. Gerhard Schröder nippt im
fünften Stock des Hotels Hilton am Rotwein und entlässt eine Pannenmeldung in
den Zigarrennebel: „Kündigen die mir hier
Rumäniens Arbeitsminister an. Sag ich: Sie
sprechen aber vorzügliches Deutsch. Sagt
der: Ich bin der deutsche Botschafter.“
Schröders rotblonder Tischgenosse lacht
kurz, pafft ebenfalls ein Wölkchen und
schaut versonnen in die Ferne. Politik ist
nicht sein Job. Themawechsel also, hin
zur Liaison Graf/Agassi, zum DaviscupMatch gegen Rumänien, zur Psyche von
Siegern; Boris Becker ist als Teamchef in
Bukarest, sein Duzfreund Gerhard als
Regierungschef.
Die Nähe des Tennishelden tut Schröder
gut am vergangenen Donnerstag. Frühstück in Tirana, Lunch in Sofia, Abendessen in Bukarest – binnen 14 Stunden sind
an seinen müden Augen drei Länder samt
Premierministern, dazu zwei Präsidenten,
Oppositionelle, singende Popen und leidende Kinder vorbeigezogen.
Es war Schröders erklärter Wille, mit
einer Tour de Force Dank zu sagen für
die Hilfe, die Jugoslawiens Anrainerstaaten der Nato während des Kosovo-Kriegs
gewährten. Albanien hat damals über
400 000 Flüchtlinge aufgenommen, Bulgarien die Detonation fehlgeleiteter Raketen
auf dem eigenen Staatsgebiet ertragen und
dazu, wie auch Rumänien, wirtschaftliche
Einbußen in dreistelliger Millionenhöhe.
Also durchquert der Kanzler als Zeichen
der Solidarität Tirana, in Enver Hodschas
altem Mercedes 600; er konferiert in Todor
Schiwkows Sofioter Residenz und tafelt in
Nicolae Ceau≠escus Bukarester Gästehaus
– umgeben vom Protz der untergegangenen Diktatoren, lernt er die Wünsche ihrer
demokratischen Erben kennen.
Alle wollen sie in die EU, so schnell wie
möglich. Keiner hat auf absehbare Zeit
eine realistische Chance. Die Berichte der
Europäischen Kommission über Reformfortschritte werden im November veröffentlicht. Bulgarien darf mit Lob rechnen,
vielleicht sogar mit einer Einladung zu Beitrittsverhandlungen. Rumänien hat Tadel
zu gewärtigen und Albanien bestenfalls ein
baldiges Assoziierungsabkommen.
Trotzdem sind die Erwartungen an
Deutschland „zum Teil beunruhigend
hoch“, wie es in Schröders Umfeld heißt.
Dem größten EU-Staat wird zugetraut,
beim Europäischen Rat in Helsinki im Dezember die quälende Prozedur abkürzen
zu helfen. Solidarität im Kosovo-Krieg und
innere Demokratisierung, so die Hoffnung
der Beitrittskandidaten, müssten für Mängel bei den makroökonomischen Basisdaten entschädigen.
Schröder dämpft die Erwartungen, wird
aber dennoch mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Er ist der erste deutsche Kanzler auf
Besuch in Albanien seit dem Zweiten Weltkrieg, der erste in Rumänien seit Helmut
Schmidt, und in Bulgarien war seit Kohls
Visite 1993 keiner mehr da.
In Tirana, wohin deutsche Soldaten ab
1943 kräftig Stiefel gesetzt haben, spielen
sie unter vollmondbeschienenen Zypressen nach dem Bankett den Landser-Hit
„Lili Marleen“. Höflichkeitshalber fragt
der Bundeskanzler den jungen Premier
Pandeli Majko: „Do you know this melody?“ Majko verneint.
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In Sofia führt ein Metropolit seinen hohen Gast durch die prachtvolle NewskiKathedrale, erwähnt strahlend, dass die
Klimaanlage ein deutsches Produkt sei,
und lässt zum Abschied einen Glaubensbruder vor dem Altar mit schwellendem
Bass und liturgischer Inbrunst ein Loblied
auf den „Kanzler Gerhard Schredder“ anstimmen. Der schreibt ins Gästebuch „Eine
wundervolle Stätte der Andacht“ und hetzt
weiter nach Bukarest.
Dort ist schon Boris Beckers früherer
Manager, der Multi-Unternehmer Ion Tiriac, beim Bankett aufgeboten. Er versucht,
was Rumäniens Premier vorher durch einen 25 Minuten langen Monolog missraten
ist – den Eindruck von Dynamik zu erzeugen. Tiriac kumpelt mit dem Kanzler
und wünscht sich über gedünstetem Donau-Stör ein Machtwort: Schröder solle
klarstellen, dass Rumänien für deutsche
Unternehmer eine sichere Sache sei, nötigenfalls durch Hermes-Bürgschaften.
Noch ist Schröders Fähigkeit, sich im Interessengestrüpp des Balkans zurechtzufinden, weniger ausgeprägt als seine Absicht, dort Flagge zu zeigen. Mit dem
Führungsanspruch aber wächst die Verantwortung – auf des Kanzlers Kurztrip fehlt
es nicht an Warnsignalen.
Albaniens Führung tue „nichts, um den
Verdacht zu entkräften“, dass ihr ein Anschluss des Kosovo gelegen käme, heißt es
im deutschen Tross. Schröder aber scheint
das wenig zu beirren. Er denkt in Märkten,
weniger in Machtsphären, und lobt deshalb lieber Bulgarien. Das Land hat schon
1997 den Kurs des Lew an die D-Mark gekoppelt und damit neben der Inflation auch
seinen wirtschaftspolitischen Spielraum
stark eingeschränkt.
Rumänien sperrt sich bisher gegen so
viel Verzicht auf Souveränität und büßt
dafür mit dem Verfall der Staatsfinanzen.
„Hier muss noch harte Arbeit geleistet
werden“, urteilt der Bundeskanzler ungnädig in Bukarest.
Zu seiner Linken steht dabei Rumäniens
Premier Radu Vasile, reglos wie ein Schulbub, dem der Klassenlehrer die Versetzung
verweigert.
Walter Mayr
27
Deutschland
H AU P T S TA D T
Berliner Chaostage
Z
wei Kilometer vor dem Ziel gab
Bernhard Edler von der Planitz
entnervt auf. Der Protokollchef des
Auswärtigen Amts verließ fluchtartig sein
Auto und winkte verzweifelt einen Streifenwagen herbei. Um die Akkreditierung
der ausländischen Botschafter im Bundespräsidialamt nicht zu verpassen, bediente
sich der Spitzenbeamte der Ordnungsmacht und entkam gerade noch rechtzeitig
dem Verkehrsstau am Brandenburger Tor.
Der Metropole droht seit dem Regierungsumzug nahezu täglich der Verkehrskollaps: Die Stadt verwandelt sich dann
für mehrere Stunden in einen gigantischen
Parkplatz.
Am vergangenen Dienstag erwies sich
die vielbeschworene Hauptstadtfähigkeit
der Berliner endgültig als Schimäre. Der
Staatsbesuch des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak, dazu der normale
Berufsverkehr auf den maroden Straßen
des Regierungsviertels und schließlich auch
noch die Fan-Invasion britischer Fußballfreunde zum Champions-League-Spiel
Hertha gegen Chelsea London – da ging
gar nichts mehr.
1700 Polizeibeamte sicherten die Straßen, die unzähligen Kontrollen und Sperren angesichts der höchsten Sicherheitsstufe nervten selbst stauerprobte Autofahrer. Und die Politiker, von Bonn noch
allzeit freie Fahrt gewöhnt, wollten sich
mit dem Platz in der Schlange nicht abfinden. Doch die Herren, die so gerne wie
Kartengrundlage:
GrafikBüro Adler & Schmidt
e
Reichstag
Tiergarten
28
Richtung Westen gesperrt
Französische Straße
aße
lmstr
Voßstraße
Potsdamer
Platz
Behrenstraße
Pariser
Platz
Wilhe
Ebertstraße
Straße
Brandenburger Tor in
Richtung Osten gesperrt
Unter den Linden
Brandenburger Tor
des 17. Juni
Ost-WestVerbindungen
in Berlin-Mitte
Friedrichstr.
e
Spr
weiland das Politbüro ihr Viertel durch- nung: Die Kolonne hatte den Flughafen
fahren, sind auch Opfer ihrer Knauserig- noch gar nicht verlassen.
keit. Bund und Senat streiten seit Jahren,
Die Protokollstrecke, auf der sich zu
wer wieviel für die Infrastruktur am Re- Spitzenzeiten bis zu sechs Regierungskongierungssitz zahlt.
vois bewegen, führt zu allem Überfluss
Deshalb ist das Chaos auch zu einem durch zwei der sensibelsten Verkehrsgroßen Teil hausgemacht. So muss die Po- punkte der Stadt – die Riesenkreisel am
lizei in der Verkehrsregelungszentrale, vom Ernst-Reuter-Platz und an der Siegessäule.
CDU-Experten Alexander Kaczmarek als Auf den insgesamt zehn Straßen, die sich
„Dependance des Verkehrsmuseums“ ver- hier treffen, bildet sich blitzartig eine exspottet, die 1600 Berliner Ampeln mit einer plosive Gemengelage. Noch bevor die PoTechnik aus dem Jahr 1979 steuern. Da lizeieskorten den Ort erreichen, gehen die
wird die Freischaltung der Protokollstrecke ersten Beschwerden über Notruf 110 ein.
vom Flughafen Tegel ins Regierungsviertel
„Die Autofahrer dort drehen schnell
jedes Mal zum Abenteuer.
durch“, weiß Polizeihauptmeister Jens
Lange vor dem geplanten Start der Ba- Radsey. Für einen 34-jährigen Polizeiberak-Kolonne stieg Polizeioberkommissar amten endete der Kampf um die Vorfahrt
Volker Galuba in der Kreuzberger Zentra- im Krankenhaus. Der Motorradfahrer des
le auf ein knarrendes Blechpodest vor einer riesigen
Berlin-Karte. Der Beamte
notierte sich jede Ampelnummer entlang der geplanten Fahrstrecke, um sie
später selbst in den Computer einzugeben.
Um 17.51 Uhr legte Galuba auf Zuruf die Signalanlage 14K14058 lahm, in
diesem Moment sprangen
an der Einmündung Seidelstraße / Avenue Jean Mermoz alle Ampeln auf Rot.
Eher zufällig kam nach
zehn Minuten die Entwar- Baustelle im Regierungsviertel: Explosive Lage
Geplante Verlängerung zur
Ebertstraße
Leipziger Straße
Mohrenstraße
Richtung Westen: Umleitung
über Voßstraße
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Barak-Vorauskommandos war trotz Blaulicht und Sondersignal von einem Mercedes 600 SE gerammt worden.
Zum Reizklima trägt auch die Chuzpe
bei, mit der schon bei kleinsten Anlässen
den Autofahrern Rot gezeigt wird.Während
die Ampeln für die Barak-Eskorte abgeschaltet wurden, war der Gast längst beim
Kanzler angekommen – mit einem Helikopter des Bundesgrenzschutzes. Das
Durchschleusen des Konvois war lediglich
ein Test für künftige Staatsbesuche.
Die Angst vor Blamagen ist nicht unbegründet. So saß im vergangenen Jahr der
portugiesische Staatspräsident Jorge Sampaio zwischen Schloss Charlottenburg und
Potsdamer Platz 20 Minuten im Stau fest –
für Sicherheitsexperten ein Super-GAU.
Entsprechend rigoros agieren die Ordnungshüter jetzt, behandeln die neue Po-
C. BACH / PRESSEFOTO BACH & PARTNER
Die angebliche Hauptstadtfähigkeit der deutschen Metropole wird beinahe
täglich widerlegt. Staatsbesuche, Baustellen und Volksfeste
machen die Straßen des Regierungsviertels zu einem gigantischen Parkplatz.
die Berliner nach dem Fall der Mauer vehement stritten, wird zunehmend für Feste
aller Art gesperrt. Der Kanzler gab dort
seinen Einstand, VW bejubelte den 100millionsten Volkswagen, und die Unicef feierte hier eine Kinderparty.
„Wozu ist ein Tor da, wenn es nicht
geöffnet wird“, fragt irritiert ADAC-Vorstand Eberhard Waldau angesichts der Tatsache, dass die wichtigste der wenigen OstWest-Verbindungen im Regierungsviertel
in diesem Jahr bereits 19 Tage für jeglichen
Autoverkehr gesperrt war. Solange am
Potsdamer Platz noch gebaut wird und andere Straßen plötzlich als Sackgasse enden, haben die Berliner kein Verständnis
dafür, wenn ausgerechnet das Nadelöhr
zum Rummelplatz wird.
„Für ein paar Mark Miete die Mitte
blockiert“, klagte der „Tagesspiegel“, als
jetzt die Veranstalter der Japan-Parade für
6,50 Mark Standgebühr pro Tag und Quadratmeter das Tor mit Genehmigung der
Polizei für sieben Tage zumachen durften.
Die Verkehrsverwaltung hatte drei Tage
zugestanden. Bis zum Jahresende stehen
bereits vier weitere Vollsperrungen fest.
„Hier herrschen chaotische Verhältnisse“, klagt der Vorsitzende der Berliner Taxifahrer-Innung, Wolfgang Wruck, „selbst
Schleichwege gibt es nicht mehr.“ Die Kun-
M. EBNER / MELDEPRESS
lit-Elite ebenso rau wie
Alteingesessene. Abgeordnete und Mitarbeiter verweigern schon mal das
Vorzeigen des Ausweises
und versuchen, auf dem
kleinen Dienstweg Strafzettel, die im Rheinland so
schön unverbindlich waren, zu erledigen. Viele
West-Berliner fühlen sich
inzwischen an die Vopos
aus DDR-Tagen erinnert –
obwohl nur noch ein
knappes Viertel der 14 500
Schutzpolizisten ihre Sozialisation bei der Volkspolizei erfahren haben.
„Die Beamten sind inzwischen körperlich völlig
überfordert“, klagt Klaus
Eisenreich von der Berliner Polizei-Gewerkschaft
– insgesamt hätten sich bereits 1,35 Millionen Überstunden angesammelt. Permanent würden Beamte
aus den Nachbarbezirken
zu Sonderschichten nach
Berlin-Mitte abgezogen.
Eisenreich: „Rund um das
J. BAUER
Verkehrsleitstelle Berlin: Jeder Staatsbesuch ein Abenteuer
Stau am Brandenburger Tor: „Die Mitte blockiert“
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Regierungsviertel gibt es
polizeifreie Zonen.“
Ein Ende der Chaostage
ist nicht in Sicht. Am zweiten Tag des Besuchs von
Barak teilte dieser sich
die Aufmerksamkeit der
Polizei mit 25 000 demonstrierenden Heilberuflern.
Zeitgleich legten vier weitere Protestmärsche die
Stadt lahm. Es folgten bis
zum Wochenende eine
Japan-Parade, der BerlinMarathon und eine ZDFShow am Brandenburger Tor.
Der historische Durchgang, für dessen Öffnung
für den Fahrzeugverkehr
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den beschweren sich, sie müssen den Stau
teuer bezahlen: 67 Pfennig kostet die Taximinute im Berliner Stau. Ist der doppelte Betrag des Normalpreises erreicht, schalten mitleidige Droschkenkutscher deshalb
schon mal die Taxi-Uhr vorzeitig ab.
Auf der Homepage des Regierenden
Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU)
monieren Bürger in wütenden Schreiben
den „täglichen Wahnsinn des Verkehrskollapses“. Doch der Politiker, der für seine Wiederwahl am 10. Oktober mit dem
Schlagwort „Mehr Mobilität“ und demonstrativem Joggen wirbt, ist auf Turnschuhe der Marke „ebi“ umgestiegen. Die
Runner, Stückpreis 97,60 Mark, werden
nun auch per Internet vertrieben. Zu bestellen unter dem wegweisenden Stichwort: „Ja, auch ich mach mich fit für
Berlin.“
Steffen Winter
29
J. DIETRICH / NETZHAUT
Wahlkämpfer Clement (in Dortmund): „Wir haben viele Leute am Wegesrand stehen lassen“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Eine krasse Vertrauenskrise“
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement über die Wahlschlappen
der SPD, Modernisierung und die Hoffnung auf eine Stimmungswende
SPIEGEL: Herr Clement, im Berliner Wahlkampf soll Bundeskanzler Schröder nicht
mehr plakatiert werden. Muss die SPD ihre
Modernisierer verstecken?
Clement: Unsinn. Wir müssen unser Wirtschafts- und Sozialsystem an die weltwirtschaftliche Lage anpassen. Das wissen unsere Bürgerinnen und Bürger auch. Unsere Nachbarn in Europa haben das längst
getan. Eine Mehrheit hält das Zukunftsprogramm der Bundesregierung ja offensichtlich für richtig …
SPIEGEL: … aber die SPD nicht mehr für die
richtige Partei.
Clement: So ist es derzeit wohl. Bei den
jetzigen Wahlen, auch bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, sind viele
unserer Wählerinnen und Wähler zu Hause geblieben. Wenn im Norden von Essen,
wo überwiegend Industriearbeiter wohnen, die Wahlbeteiligung unter 35 Prozent
fällt, dann ist das mehr als ein Warnsignal.
Aber die Leute sind für uns nicht verloren,
auch wenn wir in einer sehr kritischen Phase sind.
SPIEGEL: Warum war das erste Regierungsjahr im Bund so erfolglos?
Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Horand
Knaup, Joachim Preuß und Andrea Stuppe.
30
Clement: Es war kein erfolgloses Jahr, aber
ein Jahr mit großen Problemen. Zuerst die
630-Mark-Leute, die Haushilfe, die sich was
dazuverdient; ich schätze, mindestens eine
Million Leute, die einen Zweitjob gehabt
haben, fühlen sich betroffen. Dann kommen
die so genannten Scheinselbständigen dazu
und schließlich die Rentnerinnen und Rentner, die sich übervorteilt fühlen. Wir haben
viele Leute am Wegesrand stehen lassen.
SPIEGEL: Schlechtes Handwerk?
Clement: Auch – und wir haben zu viel auf
einen Schlag verbessern wollen.
SPIEGEL: Verstehen Sie die Kritik der Gewerkschaften?
Clement: Teilweise. Es ist beispielsweise so,
dass wir mit dem niedrigeren Beitrag, der
für Empfänger von Arbeitslosenhilfe in die
Rentenkasse gezahlt wird, auch Vorruheständler treffen. Die sind guten Gewissens
in den Vorruhestand gegangen, haben jetzt
aber für ihre Rente eine geringere Bemessungsgrundlage als bisher. Für Stahlkocher,
die vor dem 58. Lebensjahr in Vorruhestand gegangen sind, kann das spürbar weniger Rente bedeuten.
SPIEGEL: Wenn Sie es ändern wollen, müssen Sie das Sparpaket aufschnüren.
Clement: Ja, aber nicht in der Substanz verändern. Zu Korrekturen im Detail wird es
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auch im Vermittlungsverfahren kommen.
Kompromisse, wie sie sich vergangene Woche im Bundesrat abgezeichnet haben, sind
denkbar und wünschenswert.
SPIEGEL: Wollen Sie die Gesellschaft und
ihre Sozialsysteme nun modernisieren oder
nicht?
Clement: Wir wollen, wir müssen und wir
werden unsere Systeme modernisieren.
Aber wir müssen es intensiver, besser
vermitteln.
SPIEGEL: Warum ist der Bundesregierung,
deren Kurs Sie ja grundsätzlich unterstützen, der Spagat zwischen Modernisierung
und traditioneller Politik bisher nicht
gelungen?
Clement: Weil wir in der Wahrnehmung
der Menschen nicht wirklich an das glauben, was wir tun. Das heißt: In der Gesamtheit, vor allem in der Führung unserer Partei, haben wir nicht das nötige Vertrauen ausgestrahlt, sondern das, was
wir tun, ständig selbst angezweifelt. Das
kann nicht gut gehen. Stichwort: Sommertheater.
SPIEGEL: Haben Sie nicht auch vor der Wahl
falsche Erwartungen geweckt?
Clement: Wir haben vor der Wahl nicht klar
genug gemacht, ob wir – wie Oskar Lafontaine – die Lösung unserer Wirtschafts-
Deutschland
SPIEGEL: Wie würde der Modernisierer
Clement den sozialdemokratischen Urwert
Gerechtigkeit definieren?
Clement: Chancengleichheit und Schutz
vor Ausgrenzung und Armut.
SPIEGEL: Bedeutet Umverteilung, die manche Genossen einfordern, in Ihren Augen
auch Gerechtigkeit?
Clement: Natürlich bleiben alle Versuche
einer gerechten Vermögensverteilung richtig, aber der Weg über eine Vermögensteuer ist uns verbaut. Es ist rechtlich problematisch und politisch – im Bundesrat –
nicht durchsetzbar.
SPIEGEL: Wäre nicht eine Anhebung der
Erbschaftsteuer ein solcher Versuch?
Clement: Ich kann das nicht empfehlen. Sie
treffen damit die Falschen, namentlich den
Mittelstand, und wecken bei anderen –
wenn auch zumeist unbegründete – Ängste. Ich würde begrüßen, wenn es gelänge,
dass die Vermögenden – etwa über Stiftungslösungen – Hochschulen oder Bildung
allgemein mitfinanzierten. Darüber lohnt
das Nachdenken.
SPIEGEL: Das wäre doch so ein Symbol,
auf das die Wähler offenbar großen Wert
legen.
Bürger zu uns Politikern, zu allen Politikern.
SPIEGEL: Das ist bei Affären wie der um
den Kölner Oberbürgermeister-Kandidaten Heugel auch kein Wunder.
Clement: Verfehlungen gibt es überall, übrigens nicht nur in Parteien. Der Verdacht allerdings, dass wir Politiker überwiegend
an den eigenen Vorteil dächten, ist schrecklich. Das ist zur Zeit das größte Handicap,
das wir im politischen Deutschland haben.
SPIEGEL: Haben Sie in Nordrhein-Westfalen
zu spät reagiert?
Clement: Gemessen an dem, was uns jetzt
entgegenschlägt: ja. Aber es nützt ja nichts,
wir müssen uns gegen den bösen Schein
wehren, den es offensichtlich gibt.
SPIEGEL: Und was wollen Sie dagegen unternehmen?
Clement: Wir müssen Konsequenzen ziehen und mit bestem Beispiel vorangehen.
Wir wollen die Altersversorgung der Ministerinnen und Minister ändern und für
mehr Transparenz bei den Einkünften und
der privaten Ausstattung der Regierungsmitglieder sorgen. Jedes Kabinettsmitglied
soll sein Vermögen offen legen, und zwar
gegenüber einer unabhängigen Stelle, die
M.-S. UNGER
und Finanzprobleme vorwiegend auf dem
internationalen Feld suchen sollten oder
vor allem in Deutschland. Auch die ersten
Handlungen der Regierung Schröder/Lafontaine haben den Eindruck erweckt, als
ob wir in Deutschland auf einer Insel der
Seligen lebten. Diese Illusion ist erst vor
der Sommerpause zerstört und durch das
Zukunftsprogramm ersetzt worden.
SPIEGEL: Soll das etwa heißen, die SPD
hätte sich von Anfang an für mehr Schröder und weniger Lafontaine entscheiden
sollen?
Clement: Sie hätte sich früher für einen
vernünftigen Mix aus Angebots- und Nachfragepolitik entscheiden müssen. Da liegt
die Ursache für die Konflikte, die sich über
den Sommer hinaus ausgewirkt haben.
SPIEGEL: Den 1400 Abgeordneten und Räten der SPD, die gerade in NordrheinWestfalen ihr Mandat verloren haben,
nützt das nicht mehr.
Clement: Wir haben wirklich eine Klatsche
eingesteckt – und das hatte auch, nicht nur,
mit dem Bundestrend zu tun.
SPIEGEL: Über die Jahrzehnte hat sich offenbar zu viel Filz festgesetzt.
Clement: Die Frage ist nicht, ob man 30
oder 40 Jahre regiert, sondern ob man die
Fähigkeit zur Erneuerung aus eigener Kraft
hat oder nicht. Das ist das Kriterium, und
das ist bei uns offensichtlich recht unterschiedlich entwickelt.
SPIEGEL: Auch Sie wollten sich an der Arbeitslosenquote messen lassen. Sie ist seit
Ihrem Amtsantritt nur um 0,6 Prozentpunkte gefallen.
Clement: Das wären in zehn Jahren immerhin rund fünf Prozentpunkte – nicht
schlecht! –, aber wir werden noch schneller sein!
SPIEGEL: Das reicht aber nicht, um im Mai
die Landtagswahl zu bestehen.
Clement: Warten Sie’s ab!
SPIEGEL: Zweckoptimismus?
Clement: Zuversicht!
SPIEGEL: Vergangene Woche haben Sie ein
Papier vorgelegt, das nach Johannes Rau,
nach sozialdemokratischer Seele klingt.
Eine Kurskorrektur des Modernisierers
Clement?
Clement: Ach was. Mein Kurs heißt soziale Marktwirtschaft. Das Ziel unserer Politik ist Gerechtigkeit. Jeder andere Eindruck wäre falsch. Wir dürfen darüber die
politische Meinungsführerschaft nicht verlieren. Deshalb kommt die Positionsbestimmung jetzt.
SPIEGEL: Ist der neue Wolfgang Clement,
der sich in dem Strategiepapier präsentiert,
wirklich neu oder ist er nur netter zu SPDLinken und Gewerkschaften?
Clement: Natürlich gehe ich ein auf Kritik.
Aber wenn mir nachgesagt wird, ich sei
ein Modernisierer, dem die soziale Gerechtigkeit gleichgültig sei, so antworte ich:
Mein ganzer Lebensweg und meine ganze
Lebenshaltung stehen im Widerspruch zu
solchen Annahmen.
Sozialdemokraten Müntefering, Clement: „Verfehlungen gibt es überall“
Clement: Wir brauchen keine Inflation der
Symbole, die haben die konkrete Politik oft
zu sehr verdeckt. Wenn Politik und Symbolik nicht mehr zusammenpassen, führt
das zu Verwirrung.
SPIEGEL: Haben Sie sich als Sozialdemokrat nicht viel zu weit von der Basis
entfernt?
Clement: Es gibt eine krasse Vertrauenskrise im Verhältnis der Bürgerinnen und
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darüber wacht, dass unsere Angaben zutreffen.
SPIEGEL: Mangelt es führenden Sozialdemokraten nicht auch an Authentizität?
Clement: Diese Sorge hab ich nicht. Ich fühle mich im Ruhrgebiet zu Hause wie eh
und je.
SPIEGEL: Die Popularität von Kanzler Schröder ist spürbar gesunken. Sind seine Auftritte im Wahlkampf noch von Nutzen?
31
Deutschland
Clement: Natürlich kommt der Kanzler
32
KIRCHE
Tolle Leistung
Ein privater katholischer Verein will die Arbeit der kirchlichen
Schwangerenberatung übernehmen.
Weiterer Ärger mit dem Vatikan ist nicht ausgeschlossen.
A. VARNHORN
zu uns nach Nordrhein-Westfalen, und
das ist gut so. Wir nehmen die Themen und Probleme auf, die den Leuten
auf den Nägeln brennen. Kneifen gibt’s
nicht!
SPIEGEL: Bei den jungen Leuten kommen
Sie nicht mehr an. Die laufen scharenweise davon.
Clement: Das ist wirklich bedrückend. Es ist
sowohl eine Distanz zu den Inhalten, die
wir präsentieren, als auch zu der Form, in
der wir das tun, zu verspüren. Dabei ist es
wohl so, dass wir eher in Konkurrenz zur
Freizeitindustrie stehen als zum politischen
Gegner.
SPIEGEL: So werden Sie junge Leute kaum
ködern.
Clement: Ortsvereinssitzungen der SPD
sind heute nun mal kein Event, sondern
für Außenstehende ziemlich strapaziöse
Veranstaltungen ohne besondere Anziehungskraft.
SPIEGEL: Welche Verbesserungsvorschläge
machen Ihre fünf Töchter?
Clement: Die sind stärker auf ihre beruflichen Entwicklungen konzentriert. Das ist
vermutlich nicht untypisch, aber in den
Parteien heute, nicht nur bei uns, ohne
großen Widerhall.
SPIEGEL: Sie mahnen auffallend oft einen
gesellschaftlichen Konsens in den großen
Fragen der sozialen Gerechtigkeit an. Das
klingt nach jemandem, der einer Großen
Koalition zustrebt.
Clement: Überhaupt nicht. Ich habe bei
allem, was wir in unserem Bundesland
diskutieren, das niederländische Beispiel vor Augen. Die haben ihre Erfolge – Senkung der Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, Renten- und Steuerreform –
durchweg auf dem Weg des Konsenses
erzielt. Sie sind viel pragmatischer als
wir und haben politischen Fragen nur
selten prinzipielle Bedeutung beigemessen. Dazu haben wir leider eine starke
Neigung.
SPIEGEL: Welche Funktion hat der Bundesparteitag im kommenden Dezember
für Sie?
Clement: Das ist der nächste Ankerpunkt
für uns. Da müssen wir unsere Kräfte
sammeln.
SPIEGEL: Welches Motto empfehlen Sie?
Clement: Ich würde am liebsten ein riesiges
Tuch über unser Parteihaus hängen, auf
dem nur zwei Worte stehen: modern und
sozial.
SPIEGEL: Das gab es schon mal: „Innovation
und Gerechtigkeit“.
Clement: Damit sind wir gut gefahren.
SPIEGEL: Braucht die Partei einen stellvertretenden Vorsitzenden Clement?
Clement: Da habe ich eine andere Priorität.
Mein Ehrgeiz ist: Ich will bei uns in Nordrhein-Westfalen gewinnen und dieses Land
ins neue Jahrtausend führen.
SPIEGEL: Herr Clement, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Bischof Lehmann (r.), Amtsbrüder*: Hitzige Debatte über den Ukas aus Rom
V
on Montag dieser Woche an können die katholischen Bischöfe in
den 27 deutschen Bistümern endlich einmal selbst bestimmen – zumindest
über den Zeitpunkt, ab wann sie der neuesten Papstorder zur Abtreibung gehorchen wollen.
Ein Drittel von ihnen, darunter der Kölner Kardinal Joachim Meisner, will die
kirchlichen Beratungsstellen anweisen, ab
sofort keine Scheine mehr auszustellen,
die nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz für eine Abtreibung erforderlich
sind – so wie es Johannes Dyba, der Erzbischof von Fulda, seinen Amtsbrüdern
schon seit 1993 vormacht.
Mindestens zehn Oberhirten, die Bischöfe von Limburg, Trier, Erfurt, Regensburg,
Münster, Magdeburg, Essen, Aachen, Osnabrück und Hamburg dagegen wollen erst
einmal alles beim Alten lassen und die Sache verschleppen. In sechs Wochen müssen
die deutschen Bischöfe und Kardinäle oh-
* Beim Eröffnungsgottesdienst der Deutschen Bischofskonferenz am Montag voriger Woche im Dom zu Fulda.
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nehin zu der alle zwei Jahre fälligen Visitation im Vatikan antanzen, jeder von ihnen wird zum Einzelgespräch vom Papst
empfangen. Dann können die Abweichler
dem Pontifex, so hoffen sie wenigstens,
nochmals eindringlich ihre Not mit dem
jüngsten Papstbefehl vortragen.
Doch der Heilige Vater dürfte sich nach
den Querelen der vergangenen Monate
kaum umstimmen lassen. Sein Nuntius in
Deutschland, Giovanni Lajolo, revidierte
auf der Herbsttagung der Deutschen Bischofskonferenz vergangene Woche in
Fulda ausdrücklich seinen Brief vom Juni,
in dem er die Zustimmung der römischen
Kurie zu dem trickreichen Beschluss der
deutschen Oberhirten annonciert hatte,
zwar weiterhin den von Rom beanstandeten Schein auszustellen, aber mit dem Zusatz, der könne künftig keinesfalls als Zugang zur Abtreibung benutzt werden.
Noch nie hat ein Thema die katholischen
Mitra-Träger der Republik so erhitzt wie
die Debatte um diesen Ukas aus Rom.
Kaum war der Papstbrief zu Beginn der
Bischofskonferenz in Fulda verteilt, da ging
DPA
es unter den Würdenträgern, Durchschnittsalter 67 Jahre, lautstark zur Sache.
Der geballte Zorn traf vor allem den Kölner Kardinal, der durch seine heimliche Intervention beim Papst den Mitbrüdern das
Verdikt des Vatikan eingebrockt hat.
Schnell bildete sich um Meisner eine
größere Traube schwarzgewandeter Herren: „Joachim, die Nummer mit Rom war
keine tolle Leistung“, empörte sich ein Mitbruder. Ein anderer beklagte sich darüber,
dass er von Meisners vatikanischer Extratour erst aus der Presse erfahren habe.
Ein dritter schrie Meisner an: „Hast du
noch deinen Brief an die Priester in Köln
mit dabei, den du gleich nach unserer letzten Konferenz geschrieben hast?“ Darin
hatte der Kardinal ausdrücklich für einen
Verbleib im staatlichen Beratungssystem
plädiert.
Als Meisner das verneinte, hielt ihm der
Münsteraner Oberhirte Reinhard Lettmann das Schreiben hin: „Lies das mal vor,
was du da vor wenigen Wochen geschrieben hast. Da hast du noch unsere gemeinsame Haltung verteidigt.“
Immer wieder kam in den erregten Debatten von Fulda die Besorgnis der Oberhirten durch, wie sie ihren Gläubigen und
vor allem den Mitarbeiterinnen in den
kirchlichen Familienberatungsstellen den
Bannstrahl des Papstes gegen ihre bisherige Arbeit verklaren sollen.
Am Ende stand blanke Ratlosigkeit. Die
Minderheit, die sich dem Befehl aus Rom
nicht ohne weiteres und widerspruchslos
fügen will, verhinderte einen Beschluss der
Bischofskonferenz, postwendend aus der
staatlichen Schwangerenberatung auszusteigen.
Laut Lehmann, den die große Mehrheit
seiner Amtsbrüder auch aus Trotz für sechs
weitere Jahre zum Konferenzvorsitzenden
wählte, entscheidet ab sofort jeder Bischof
für seine Diözese, wie lange er den Schein
noch auszustellen gedenkt. Er gehe davon
aus, dass „zumindest in den nächsten Wochen“ noch fast alle Bistumsleiter bei der
bisherigen Praxis blieben.
Doch auch Lehmann weiß, dass der Ausstieg unvermeidlich ist. Wie er sich selbst
verhalten wird, blieb bis Freitag ebenso im
Kirchliche Schwangerenberatung
20 000 „Konflikt-Frauen“ pro Jahr
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Nebel wie die Haltung des restlichen Drittels seiner Konfratres. Beraten wollen die
Bistümer, beteuerte Lehmann, auf jeden
Fall weiter – auch wenn eine Beratung
ohne Schein für eine Frau, die abtreiben
lassen will, wertlos ist.
Doch sie bringt Geld. Denn der Staat
gibt dafür ebenfalls Zuschüsse – nach Paragraf 3 des Schwangerschaftsgesetzes. Dort
heißt es, dass die Länder auch für eine allgemeine Ehe- und Familienberatung durch
Träger unterschiedlicher Weltanschauung
zu sorgen haben.
Die sechs Beratungsstellen in Dybas
Diözese Fulda etwa, die sich bereits vor
sechs Jahren aus der staatlichen Konfliktberatung verabschiedet haben, erhalten
90,32 Mark für jeden Beratungsfall. Rat suchende Schwangere in Notlagen sind kaum
darunter. Die wenden sich an die Gesundheitsämter oder Pro Familia.
Nach den Berechnungen von Caritas
und Sozialdienst katholischer Frauen kommen in die bundesweit 264 katholischen
Beratungsstellen Jahr für Jahr etwa 20 000
echte „Konflikt-Frauen“. Von mindestens
5000 weiß man, dass sie sich nach
der Beratung für das Kind entschieden
haben.
Was den – Gewissen hin, Gewissen her
– auf strengen Gehorsam gegenüber dem
Papst verpflichteten Bischöfen nicht möglich ist, wollen nun prominente Laien
versuchen. Am vergangenen Freitag gründete das Zentralkomitee der deutschen
Katholiken in Fulda den Verein „Donum
Vitae“ (Geschenk des Lebens), der die
Schwangerenkonfliktberatung der offiziellen Kirche übernehmen soll. Donum
Vitae würde zwar als „katholisch“ firmieren, unterläge aber nicht der vatikanischen
Rechtsgewalt.
Zu den Unterstützern zählen prominente katholische Politiker wie die CDUMinisterpräsidenten Bernhard Vogel
(Thüringen) und Erwin Teufel (BadenWürttemberg), Ex-Arbeitsminister Norbert
Blüm, Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse (SPD) sowie die bayerische Sozialministerin Barbara Stamm (CSU).
Ob die Initiative Erfolg hat, muss sich
erst noch erweisen. Die katholischen Beratungsstellen arbeiten bislang nach dem so
genannten integralen Konzept: Familienberatung, allgemeine Schwangerschaftsund Konfliktberatung greifen ineinander.
Wird die Konfliktberatung von einem Verein übernommen, müsste der nicht nur Personal bei den kirchlichen Stellen abwerben, sondern auch eine ganz neue, kostenträchtige Struktur aufbauen.
Die einfachste Lösung ist allerdings unrealistisch: Dulden die Bischöfe die Konfliktberatung weiterhin in ihren Kirchenräumen, nur unter privater Regie, bliebe
die praktische Arbeit die gleiche – und der
Vatikan wäre ein weiteres Mal düpiert.
Da aber ist in jedem Fall Joseph Kardinal Ratzinger vor.
Peter Wensierski
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Deutschland
FINANZEN
Einheit ohne Rückgrat
Die Südländer wollen nicht mehr für den Rest der Republik zahlen. Per Verfassungsklage
stellen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen den Finanzausgleich
zwischen den Ländern in Frage. Der Vorstoß trifft Ostdeutschland am härtesten.
DPA
D
Kläger Koch, Stoiber, Teufel*: Aufstand der Zahlmeister
Gerechter Ausgleich?
Geber- und Nehmerländer im Finanzausgleich 1998
Summe je Einwohner in Mark
Zuweisungen des Bundes
Finanzausgleich zwischen den Ländern
Geberländer
Mrd. Mark
Hamburg
Nordrhein-Westfalen
Hessen
Baden-Württemberg
Bayern
0,61
3,09
3,44
3,47
2,90
—
—
—
—
—
361
172
569
333
240
0,91
0,00
0,88
0,79
4,89
1,04
1,21
1,99
1,16
0,43
0,23
2,13
0,32
1,99
1,54
3,76
2,65
2,89
4,53
2,65
1,18
2,02
4506
117
1594
295
2525
1424
1536
1453
1546
400
2078
Nehmerländer
Bremen
Schleswig-Holstein
Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen
Berlin
Brandenburg
Sachsen-Anhalt
Sachsen
Thüringen
Rheinland-Pfalz
Saarland
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reimal musste Jutta Limbach am
Mittwoch vergangener Woche neu
ansetzen, bis sie endlich alle vor
dem Bundesverfassungsgericht erschienenen Ländervertreter im Protokoll hatte.
Sie sei von dem Andrang geradezu „überwältigt“, spottete die Präsidentin.
Acht Regierungschefs und 13 Minister
waren mit einem Tross von Fachbeamten
und Rechtsberatern nach Karlsruhe gereist,
um in der zweitägigen Anhörung zum Länderfinanzausgleich die heimischen Interessen zu verteidigen. Es geht wieder mal
um die Milliarden der Steuerbürger, und
es geht um das Kräfteverhältnis zwischen
armen und reichen Bundesländern, letztlich geht es um den föderalen Aufbau des
Staates.
Auf Antrag der Länder Bayern, BadenWürttemberg und Hessen prüft das höchste
deutsche Gericht, ob der Länderfinanzausgleich, eine Art Unterstützungskasse für
arme Länder, rechtens ist oder ob die reichen Kläger zu sehr geschröpft werden.Von
dem Urteil, das erst in einigen Monaten folgen wird, erhoffen sich nicht nur die Kläger
eine bessere Kassenlage. Auch Bundesfinanzminister Hans Eichel spekuliert auf
einige Milliarden für sein Sparprogramm.
Auf dem Prüfstand in Karlsruhe steht ein
Stück Selbstverständnis der Bundesrepublik – die Frage, ob der Bund und die reichen Länder auch weiterhin so viel Geld
an die armen Provinzen der Republik abgeben müssen, dass diese bei Schulen und
Polizeiwachen, bei Straßen und Grünanlagen mithalten können. Oder ob es in
Deutschland künftig so etwas wie den Mezzogiorno in Italien geben wird – verarmte
Landstriche ohne Entwicklungschancen.
Über 50 Milliarden Mark werden derzeit
jährlich zwischen Bund und Ländern hin
und her geschoben. Rund 80 Prozent davon
gehen nach Berlin und in die neuen Bundesländer – das Programm ist zum Instrument im Aufbau Ost geworden. Im Westen
profitieren vor allem noch Bremen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und das Saarland von den Unterstützungsgeldern.
Auch das Klageland Bayern hat 38 Jahre
lang kassiert. Seit sich der Freistaat jedoch
vom Bauernland zum Hightech-Standort
entwickelt hat, muss auch er für die Län* Am vergangenen Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht.
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FOTOS: T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Bundesverfassungsgericht*: Gelegenheit, die Macht zu zeigen
dersolidarität zahlen – im vergangenen
Jahr 2,9 Milliarden Mark. Nun passt Ministerpräsident Edmund Stoiber die ganze
Richtung nicht mehr. Das System, findet
der Bayern-Chef, sei „leistungsfeindlich“.
Unterstützung bekommen die Bayern
von Baden-Württembergs Regierungschef
Erwin Teufel (CDU), der 1998 rund 3,5
Milliarden Mark für die föderalen Habenichtse aufbringen musste, und von Hessens neuem CDU-Regierungschef Roland
Koch, der mit 3,4 Milliarden Mark dabei
war. Wie Stoiber wollen auch sie in Karlsruhe einen Nachlass durchsetzen.
Damit der Vorstoß jedoch nicht nur nach
kleinlicher Rabattfeilscherei aussieht, begründet Bayern seine Klage mit einem neuen Republikmodell – dem „Wettbewerbsföderalismus“. Nur wenn die Länder untereinander konkurrieren, so die Klageschrift aus München, hätten die Armen
überhaupt einen „Anreiz zu eigener Initiative und zur Leistungssteigerung“.
Wer sich als nicht konkurrenzfähig erweist, dem raten die Kläger zu möglichst
geräuschloser Selbstaufgabe. Von „lebensunfähigen Ländern“ spricht Baden-Württemberg in seiner Vorlage für Karlsruhe.
Vielleicht können die kleinen Weststaaten wie Bremen oder das Saarland ihre
öffentlichen Defizite tatsächlich senken,
wenn sie den Regierungs- und Beamtenapparat mit einem größeren Land teilen
würden. Aber Länderneugliederungen
durch Aushungern sieht das deutsche Verfassungsrecht nicht vor. Und den Hauptnutznießern des Systems hilft eine Fusion
ohnehin wenig: Selbst beim Zusammenschluss der fünf neuen Länder entstünde
keine blühende Provinz.
Sie sollten sich nicht zum „Hebel“ im innerstaatlichen Verteilungskampf benutzen
lassen, beschwor der rheinland-pfälzische
Finanzminister Gernot Mittler (SPD) am
vergangenen Mittwoch die Richter.
Der Appell richtete sich wohl vor allem
an Paul Kirchhof. Der konservative Jurist,
dem als Berichterstatter eine Schlüsselstellung in dem Verfahren zukommt, greift
gern kräftig in die Politik ein. Anfang dieses Jahres schrieb er Parlament und Re* Oben: Paul Kirchhof (3. v. l.), rechts neben ihm Präsidentin Jutta Limbach, am vergangenen Mittwoch; unten:
mit Bremens Bürgermeister Henning Scherf während
der Anhörung zum Finanzausgleich.
38
gierung penibel vor, wie sie, allen Sparzwängen zum Trotz, mit vielen zusätzlichen Milliarden ihre Familienpolitik zu gestalten haben.
Jetzt hat Kirchhof wieder so eine Gelegenheit, seine Macht zu zeigen, und er
scheint sie nutzen zu wollen. Der Finanzausgleich sei sehr „kompromissanfällig“,
ließ der Jurist mit der Vorliebe für detaillierte gerichtliche Vorgaben die Länderfürsten zu Beginn der Anhörung wissen.
Die ärmeren Länder halten den Heidelberger Rechtsprofessor, der Ende des Jahres in Karlsruhe ausscheidet, seit langem
für voreingenommen. Kirchhof hatte schon
1981 in einem Gutachten für das Land Baden-Württemberg gefunden, der Finanzausgleich nehme den reichen Ländern zu
viel weg.
Mitte der achtziger Jahre vertrat er die
Stuttgarter Landesregierung sogar vor dem
Bundesverfassungsgericht. Damals konnte
er sich an seiner späteren Wirkungsstätte
nicht durchsetzen. Umso mehr drängt es
ihn nun, sich selbst Recht zu geben.
Der Versuch Bremens, Niedersachsens
und Schleswig-Holsteins, den Verfassungsrichter deshalb als befangen aus dem Verfahren zu drängen, scheiterte im Juli.
Siegesgewiss präsentieren sich seither
Stoiber, Teufel und Koch in der Öffentlichkeit. Wenn ein Bundesland eine Million Mark mehr an Steuern einnehme, hätte es nach dem jetzigen Ausgleichssystem
am Ende nur noch magere 13 000 Mark zusätzlich in der Kasse, kritisieren sie.
Das Finanzsystem ist in der Tat kompliziert bis hin zur Unkenntlichkeit – da bleibt
der Bezug zur Leistung wie zur Bedürftigkeit der Beteiligten auf der Strecke. Zudem
spielt bei dem großen Verteilungskampf
auch noch die Bundesregierung mit. Denn
Bund und Länder finanzieren sich weitgehend aus den gleichen Steuerquellen – vor
allem aus den Einnahmen der Umsatz-, Einkommen- und der Körperschaftsteuer.
Die Steuer-Milliarden werden anschließend zwischen Bund und Ländern
hin und her geschoben – ein für Laien
kaum zu durchschauendes Labyrinth.
Da geht es um „Einwohnerveredelung“
und „Umsatzsteuervorwegausgleich“, um
„Steuerzerlegung“ und „Bundesergänzungszuweisungen“.
Das System war von Anfang an umstritten. Seit den Gründerjahren der Bundesrepublik debattieren Bund und Länder, ob
arme Länder eher von Bedarfsfall zu Bedarfsfall Milliarden vom Bund zugesteckt
bekommen sollen oder ob sich die Länder
besser untereinander stützen, um so von der
Zentralregierung unabhängiger zu sein.
Sechs Jahre dauerten die Verhandlungen, bis schließlich der Finanzminister der
Großen Koalition, Franz Josef Strauß, 1969
das in wesentlichen Grundsätzen noch heute geltende Verteilungs- und Ausgleichsverfahren durch alle Parlamentsgremien
bugsiert hatte. Seither war der komplizierte Milliarden-Transfer in der Öffentlichkeit nur selten ein Thema.
Erst als 1995 auch die hilfebedürftigen
Ostländer und Berlin in das System einbezogen wurden und sich die umgewälzte
Summe (1994 rund zehn Milliarden Mark)
mehr als vervierfachte, wuchs in einigen
Staatskanzleien der Groll.
Zwar bekennen sich die Kläger-Länder
weiter wortreich zur Osthilfe – doch ihre
Forderungen und ihre Aktionen zielen genau gegen die Hauptempfänger.Wir sind so
fleißig, lautet die unterschwellige Botschaft, und müssen doch so viel an die Faulen abgeben. Bayern, wetterte Stoiber, könne andere Länder „nicht dran hindern,
wirtschaftlich den Wagen an die Wand zu
Kieler Regierungschefin Simonis*
Vermögensteuer für die Länderkasse
Werbeseite
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Deutschland
fahren“, aber „die Reparapertenjargon „Einwohnerveredelung“ geturkosten können sie nicht
nannt. Diesen Bonus, den Karlsruhe in
bei uns abbuchen“.
früheren Urteilen bestätigt hat, soll das GeUnd noch einen Trumpf
richt diesmal kippen – Richter Kirchhof
präsentiert der Bayern-Chef
hatte dies 1981 bereits vorgeschlagen.
seither gern als Beweis für
Die Folge wäre, dass Hamburg, das seit
weiß-blaue Tüchtigkeit: Der
1950 Zahlerland ist, künftig 1,5 Milliarden
Freistaat sei bisher das einMark mehr für den Finanzausgleich abgezige Bundesland, das sich im
ben müsste. Berlin mit seinen chronischen
Finanzausgleich vom NehFinanznöten müsste sogar auf 4 Milliarden
mer- zum Geberland geMark – knapp zehn Prozent des Haushalts
mausert habe. Mit dem glei– verzichten. Das Minus ist nach Einschätchen Argument agitiert er
zung des Deutschen Instituts für Wirtallerdings auch gegen den
schaftsforschung (DIW) nicht zu verkraften.
Länderfinanzausgleich: Ein
„Völlig verfehlt“ sei der Vorschlag seiner
System, das bisher nur eiParteifreunde, giftete deshalb Berlins
nem Land aufgeholfen habe,
Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU)
könne wohl nicht funktiound fügte spitz hinzu, man solle in der Disnieren. Richtig daran ist: Mit
kussion doch bitte auch mal berücksichSteuer-Milliarden allein lastigen, woher die bayerischen Firmen so
sen sich keine wettbewerbsviele Aufträge bekämen.
fähigen Strukturen schaffen.
Denn über Bonner
Doch ohne ein AusgleichsStaatsaufträge für die Luftsystem wären die neuen
fahrt- und Rüstungsindustrie
Milliarden
Bundesländer in Kürze
hätten sich die Bayern seit
Mark
bankrott.
Jahren ihren ganz spezielSelbst der Sozialdemolen Finanzausgleich besorgt.
sind zwischen 1995 und
krat Eichel, heute BundesfiWütender Protest auch
1998 im Rahmen des
nanzminister in Berlin, ver- Baustelle in Ostdeutschland*
aus Hamburg: Wenn die
Länderfinanzausgleichs
suchte als Ministerpräsident
Kläger sich durchsetzten,
in die neuen Bundeskurz vor den hessischen Landtagswahlen stolz waren. „Die haben
empörte sich Finanzsenatoländer und nach Berlin
mit dem Finanzausgleich Politik zu ma- geglaubt“, erinnert sich
rin Ingrid Nümann-Seidegeflossen.
chen und präsentierte publikumswirksam Brandenburgs amtierende
winkel, müsse die HanseFinanzministerin Wilma
eine eigene Verfassungsklage.
stadt pro Kopf sechs bis
Dabei hat Hessen dem jetzt gescholte- Simon (SPD), „jetzt wird es ganz irre in sieben Mal mehr in den Finanzausgleich
nen Regelwerk Mitte der neunziger Jahre, den Kassen klingeln.“
einzahlen als etwa Baden-Württemberg.
Doch der Geldsegen blieb aus. Da mochals die neuen Länder aufgenommen wurMit einer Flut von finanzwissenschaftden, ebenso zugestimmt wie alle übrigen ten einige schon bald nichts mehr von ihrer lichen und juristischen Expertisen verZustimmung zu dem Finanzpaket wissen. suchten die Angegriffenen, sich gegen den
Bundesländer – inklusive Bayern.
Vorausgegangen war ein heftiger Streit Grimmig registrierten sie, dass manche Ha- Beutezug zur Wehr zu setzen. Die reichen
zwischen dem damaligen Bundesfinanz- benichtse pro Einwohner besser dran waren Klageländer, moniert etwa die Verwalminister Theo Waigel (CSU) und den Län- als sie selbst, sobald alle Länder- und Bun- tungswissenschaftlerin Gisela Färber im
derregierungschefs. Waigel hatte zunächst deszuschüsse zusammengezählt sind.
Auftrag des chronisch klammen Saarlands,
Die Konsequenzen hat München dem unterschlügen in ihren Kalkulationen, dass
vorgeschlagen, dass Bonn den Osten je
Bundesverfassungsgericht in seiner Klage die Nehmerländer wegen ihrer Armut einach Bedarf direkt alimentiert.
Doch die Länder fürchteten, bei stritti- vorgerechnet. Danach rutscht Bayern, nen höheren Finanzbedarf haben, etwa
gen Gesetzesvorhaben könnte die Bun- nachdem die Zuschuss-Milliarden von weil sie viel mehr für Sozialhilfe und
desregierung die von ihr finanziell abhän- Bund und Ländern in Umlauf gesetzt wur- Wohngeld aufzubringen hätten.
gigen Ostpolitiker zum Wohlverhalten im den, bei der Finanzkraft pro Einwohner
So musste Bayern im vergangenen Jahr
vom 4. auf den 15. Platz ab. Baden-Würt- pro Kopf 350 Mark für Sozialhilfe zahlen,
Bundesrat erpressen.
Der rettende Kompromissvorschlag kam temberg und Hessen präsentierten ähnli- während die Summe für jeden Bremer zur
dann ausgerechnet aus Bayern. Seither gilt: che Kalkulationen.
gleichen Zeit mehr als dreimal so hoch war.
Nach dem Willen der Landesregierungen
In „einem Teufelskreis“ sieht deshalb der
π Länder mit unterdurchschnittlicher Finanzkraft bekommen von den reichen in München und Stuttgart soll Karlsruhe Magdeburger Politik-Professor Wolfgang
Renzsch die armen Länder: „Höhere LasLändern und vom Bund Zuschüsse, bis deshalb
sie pro Einwohner fast so viel Geld (99,5 π den größten Teil der Bundeszuschüsse ten, höhere Verschuldung und geringere Infür verfassungswidrig erklären und
vestitionen erlauben es ihnen nicht, sich am
Prozent) zur Verfügung haben wie der
π die Zahlungspflicht der reichen Länder eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.“
Länderdurchschnitt.
auf maximal die Hälfte ihrer über- In dem von Stoiber und seinen Mitstreitern
π Gleichzeitig zahlt der Bund für besondurchschnittlichen Einnahmen begren- geforderten Wettbewerb wären sie damit
dere Belastungen, etwa für die Hauszen – eine Forderung, die sich eng an von vornherein die großen Verlierer.
haltssanierung in Bremen und im SaarIdeen von Richter Kirchhof anlehnt.
Das gilt ganz besonders für die Ostlänland oder für den Wirtschaftsaufbau in
Den Stadtstaaten wollen die Kläger der. Zwar will Bayern ihnen einen BunOstdeutschland, zusätzliche Hilfsgelder.
Für ihr Entgegenkommen rangen die ebenfalls Vergünstigungen streichen lassen. deszuschuss von 14 Milliarden Mark jährLänderchefs Waigel noch ein besonderes Nach dem geltenden System wird Ham- lich lassen, aber damit könnten sie ihren
Zugeständnis ab. Statt 37 Prozent konnten burg, Bremen und Berlin pro Kopf ein er- Nachholbedarf kaum decken. Denn bisher
sie 44 Prozent der Mehrwertsteuereinnah- höhter Finanzbedarf zugebilligt, im Ex- haben die Neuen gerade mal für die Hälfte ihrer Ausgaben Mittel aus eigener Kraft.
men kassieren – ein Verhandlungserfolg,
Die „endgültige finanzielle und politische
auf den die Ministerpräsidenten besonders * Talbrücke bei Gräfenroda in Thüringen.
S. THOMAS
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VARIO-PRESS
mensteuertarif für den eigenen Bedarf um
einige Prozentpunkte anheben zu können.
Zudem wollen viele Länderfürsten die
Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern künftig strikter trennen, um die
Bundesregierung daran zu hindern, Wohltaten auf Kosten der Länder zu verteilen.
„Ziel muss es sein“, sagt der niedersächsische Finanzminister Heinrich Aller (SPD),
„wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch.“
Experten wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der GesamtJahre
wirtschaftlichen Entwicklang,
lung oder die Speyerer
Verwaltungswissenschaftzwischen 1950 und 1986
lerin Färber schlagen dessowie 1992, profitierte das
halb vor, dass
Land Bayern vom Finanzπ der Bund die von ihm
ausgleich und kassierte 6,7
initiierten Aufgaben entMilliarden Mark – nach heuBundesrepublik Deutschland
weder selbst umsetzt
tigem Wert ein Mehrfaches.
Aus dem rückständigen
oder den Ländern alle
nur wenig zu tun. Denn weAgrarland wurde eine dynaKosten erstattet, die
der können die Länder über
mische Wirtschaftsregion.
durch die Ausführung
die Höhe ihrer Einnahmen
von
Bundesgesetzen
frei entscheiden – die wichentstehen;
tigen Steuersätze bestimmt
allein der Bund; noch haben sie große π die Einnahmen aus der Einkommen- und
Körperschaftsteuer ganz in die LänderSpielräume bei der Frage, wie viel sie
kassen fließen.
wofür ausgeben wollen. Auch die Gesetze
Was im Modell vernünftig erscheint,
werden überwiegend vom Bund gemacht,
und selbst wenn die Länder über den Bun- bringt im Alltag schnell neue Schiefladesrat mitbestimmen können – daran, dass gen. Um beispielsweise die erste Forsie am Ende die Zeche bezahlen müssen, derung zu erfüllen, müsste zunächst mit
viel Geld eine eigene Bundesverwaltung
ändert sich meist nichts.
Beispiele hierfür gibt es genug. Etwa aufgebaut werden – bei der allgemeinen
beim Paragrafen 218, als Bonn die Reform Kassenlage ziemlich unrealistisch. Oder
mit der Schaffung von Kindergartenplätzen aber die Länder müssten vom Bund die
verknüpfte. Oder bei der Aufnahme von Mittel für die Ausführung von GesetBürgerkriegsflüchtlingen, für deren Woh- zen zugewiesen bekommen. Dann allernung und Sozialhilfe die Bundesländer auf- dings könnten sogar die eigensinnigen
Bayern schnell zu weisungsgebundezukommen haben.
Auch beim Ausgleich zwischen armen nen Vollstreckern der Berliner Zentrale
und reichen Ländern sind die Ministerprä- schrumpfen.
sidenten keineswegs nur unter sich – die
Kaum realistisch ist wohl auch, dass sich
„Bundesergänzungszuweisungen“ machen Länder wie das strukturschwache Meckmit 26 Milliarden Mark 45 Prozent der Aus- lenburg-Vorpommern ohne zusätzliche
gleichssumme aus.
Hilfe über höhere Einkommensteuersätze
Diese Abhängigkeit vom Bund möchten sanieren könnten.
viele Länder gern verringern und fordern
Dennoch ist klar: Der Finanzausgleich,
deshalb ein Finanzsystem, das ihnen einen der in seiner jetzigen Fassung nur noch
größeren Spielraum garantiert. Eine For- bis zum Jahr 2004 gilt, muss reformiert
derung lautet, die Höhe der Erb- werden. Im Dezember 1998 haben die
schaftsteuer jeweils in den Ländern fest- Ministerpräsidenten und die Bundessetzen zu lassen. Bisher füllt diese Steuer regierung deshalb eine Arbeitsgruppe
zwar auch allein die Länderkassen, deren eingesetzt. Die Fachleute aus Bund und
Ländern sollten Vorschläge erarbeiten,
Höhe wird jedoch vom Bund bestimmt.
Für die 1997 abgeschaffte Vermögensteu- wie das Finanzgeflecht ab 2005 aussehen
er, deren Erträge ebenfalls allein den Län- kann.
Wie ein Kompromiss lauten könnte,
dern zustanden, machte Kanzler Gerhard
Schröder den Vorschlag, die Länder sollten ist noch unklar. Im Juli brachten Bayern,
über die Wiedereinführung der umstrittenen Baden-Württemberg und Hessen die ArSteuer entscheiden können. Die Resonanz beitsgruppe vorläufig zum Scheitern. Die
darauf war allerdings eher verhalten. Le- Forderung von Berlin und anderen Bundiglich Schleswig-Holsteins Regierungsche- desländern, die Verfassungsklagen zurückfin Heide Simonis plädiert für die Abgabe. zunehmen, lehnten die Kläger ab. Statt
Weil mit Vermögen- und Nachlass-Steu- sich mit den Länderkollegen am Verhandern allein ohnehin kein Staat zu machen lungstisch herumzuschlagen, setzen sie
ist, wollen Stoiber, Teufel und Koch den lieber auf Richter Kirchhof in Karlsruhe.
Karen Andresen
Ländern das Recht sichern, den Einkom-
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Hightech-Produktion in Bayern*
Handlungsunfähigkeit“ befürchtet Sachsens CDU-Finanzminister Georg Milbradt,
und Brandenburgs Finanzministerin Simon
glaubt, die Kläger wollten der Einheit „das
Rückgrat brechen“.
Ganz falsch liegt die Sozialdemokratin
damit wohl nicht. Schon seit längerem sind
die Zeichen unübersehbar, dass einige unionsgeführte Länder zwar auch Bremen
und dem Saarland gern den Geldhahn abdrehen würden. Vor allem aber gilt der
Aufstand der Zahlmeister dem kostspieligen Aufbau Ost.
Der Wunsch, die Lasten dafür endlich
loszuwerden, ist dort besonders heftig, wo
Landesteile – etwa der Raum um Hof in
Bayern oder das strukturschwache Nordhessen – jahrzehntelang von der Zonenrandförderung profitiert haben und nun
neidvoll zusehen müssen, wie Hilfsgelder
ins benachbarte Thüringen oder Sachsen
gepumpt werden.
„Hans Eichel“, erinnert sich eine Sozialdemokratin, „hat uns ständig damit in den
Ohren gelegen, dass Betriebe ins benachbarte Thüringen abwandern und er seinen
armen Nordhessen deshalb die Osthilfen
nicht mehr erklären könne.“ Jetzt, als Bundesfinanzminister, hat der SPD-Politiker
wieder mehr Verständnis für den Finanzbedarf in Neu-Fünfland. In Hessen aber fordert nun CDU-Nachfolger Koch „politische
Erfolgshaftung“ für die Osthilfen.
In der Bayern-Klage klingt das, wenngleich in zurückhaltendes Juristendeutsch
verpackt, ganz ähnlich. Politiker, heißt es
dort, könnten für ihre Entscheidungen nicht
zur Verantwortung gezogen werden, wenn
deren Beschlüsse „infolge des Finanzausgleichs deren Wähler nicht mehr belasten“.
Professor Kirchhof hatte das vor 18 Jahren so formuliert: „Die Nachteile finanzwirtschaftlicher Fehlentscheidungen“ in einem Land dürften nicht „auf ein anderes
Land überwälzt“ werden.
Das klingt gut, hatte aber schon damals
mit der finanzpolitischen Realität in der
* Check eines „Eurofighters“ im Dasa-Werk in Manching.
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Deutschland
POLITISCHES BUCH
„Option für Ziel 1“
DPA
Walther Leisler Kiep galt als „amerikanischster“ deutscher
Politiker. Freimütig verrät der einstige Außenseiter in der CDU,
wie er heimliche Kanzler-Träume hegte und scheiterte.
Parteifreunde Kiep, Kohl*
S
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
eit mehr als einem halWenig fromme Wünsche
ben Jahrhundert pflegt
er ein Hobby, das an sich
man-Politikers? So verhielt er
zwar nicht ungewöhnlich ist,
sich jedenfalls; doch den öfaber in dieser Dauerhaftigkeit
fentlich fast immer verbindlich
enormes Beharrungsvermöauftretenden Hanseaten muss
gen verrät: Nahezu Abend für
im stillen Kämmerlein ein
Abend schreibt sich der in
gewaltiger Rochus gepackt
Kronberg lebende Versichehaben.
rungsmakler Walther Leisler
Bisweilen sitzt er da tief
Kiep, 73, die jeweiligen Tagesbetroffen über die „im Gesereignisse von der Seele. Seitrigen“ verhaftete Union, um
ne in 52 ledergebundenen
ihr düstere Erkenntnisse ins
Kladden festgehaltenen NotiStammbuch zu schreiben:
zen füllen mittlerweile zigtauZornig registriert der Chrosende von Blättern im DINnist, der auf Grund seiner
A4-Format.
Funktion dem CDU-PräsidiDarf es da verwundern,
um angehört, in den beiden
Schwesterparteien haarsträudass den Verfasser, der ab Mitbende „Methoden“: Die erinte der Sechziger in der Politik
nern ihn zunehmend „an die
von sich reden machte, solche
Cosa Nostra“.
Aufzeichnungen zur „WeiterDie wachsende Distanz des
verarbeitung“ reizten? Die
betuchten und damit weit„günstige Materiallage“ nutgehend unabhängigen Unterzend, legt der ehemalige
nehmers resultiert aus einer
Schatzmeister der CDU und
Erfahrung vom 17. Mai 1972.
in seiner Partei einer der weAn diesem Tag wird in Bonn
nigen eigenwilligen Köpfe nun
über die Ostpolitik der regieeinen umfänglichen Extrakt
renden Sozial-Liberalen, den
aus dem Fundus vor**.
Grundvertrag, entschieden –
Kiep selbst bezeichnet den
und der eindeutige BefürworBand, der im Kern die Zeit seiter Kiep sieht sich von seinem
nes Aufstiegs bis zum abrupPartei- und Fraktionschef Raiten Niedergang 1982 umfasst,
ner Barzel zu einem Sündenfreimütig als „Experiment“ – Tagebuch-Autor Kiep: „Aus einer Kampfsituation frisch formuliert“
fall gezwungen.
und das ist es wohl auch: Die
Man möge es „Opportunismus, Feigheit
„aus einer Kampfsituation heraus frisch nem furiosen, auf zahllose Hausbesuche
formulierte Textmasse“, die mit Brief- fußenden „Canvassing“-Wahlkampf in den oder wie auch immer nennen“, notiert er
wechseln und in sich geschlossenen bio- Bonner Bundestag einzog, einen erstaun- am Abend, aber er habe den schwankenden Freund, der ja vorher selbst seine Zugrafischen Abhandlungen angereichert lich harschen Ton an.
Wirklich respektiert werden von ihm un- stimmung signalisiert hatte, nicht bloßstelwird, bietet selbstverständlich Angriffster den damaligen Granden der CDU nur len wollen. Freilich von jenem Augenblick
flächen.
Ein Tagebuch bewahrt seinen Wert ja die Kollegen Gerhard Stoltenberg und Ri- an ist der glücklose Herausforderer Willy
nur dann, wenn der Autor die in der Re- chard von Weizsäcker. Dem „chauvinis- Brandts für ihn „erledigt“.
Kiep geht in der Folgezeit, was die Nortrospektive schwächer erscheinenden Pas- tischen“ Hessen Alfred Dregger begegnet
sagen nicht nachträglich glättet – dieser der oberste Kassenwart ebenso misstrauisch malisierung des Verhältnisses zu den WarVersuchung hat er mutig widerstanden. Für wie dem „kleinkarierten“ Karl Carstens. schauer-Pakt-Staaten anbelangt, strikt sei„ganz schön arrogant“ hält der Christ- Im Sommer ’79 schmäht er Kurt Bieden- nen eigenen Weg. Er hält es insofern mit
demokrat heute, dass er etwa unter dem kopf nach dessen Votum zu Gunsten des dem amtierenden US-Präsidenten Richard
16. September 1974 zu Papier bringt, in der künftigen, erstmals von der CSU gestellten Nixon, der sich bereits 1968 Moskau und
Führung seiner Fraktion versammele sich Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß er- Peking zu öffnen begann – eine nach Aufausschließlich „geballte Mittelmäßigkeit“; grimmt als „Drahtzieher“.
Hatte Kiep – häufig „Kiep-smiling“ ge- * Mit dem CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Philipp
aber so empfand er das eben.
Und überhaupt schlägt der gebürtige nannt –, der sportive Nonkonformist mit Jenninger am 16. September 1981 im Bundestag.
Walther Leisler Kiep: „Was bleibt ist große Zuversicht.
Hamburger, der erst nach dem Bau der dem Faible für schnelle Motorräder und **
Erfahrungen eines Unabhängigen. Ein politisches TageMauer den Konservativen beitrat und schnittige Autos, nicht das Image eines all- buch“. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 446 Seiten;
schon vier Jahre später im Taunus mit ei- zeit distinguierten, weltläufigen Gentle- 42 Mark.
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Kiep-Gegner Barzel, Strauß (1972)
„An die Cosa Nostra erinnert“
Strauß mit Helmut Schmidt), sprießen die
Gelüste.
Für die immer noch aus der Regierung
ausgesperrten Unionsparteien stellt sich
drängender denn je die Frage, welche ihrer
Führungskräfte die FDP endlich herüberziehen könne, und der liberale Kiep weiß
Rat. Immerhin ist er ja „nicht nur zum
höheren Ruhme Ernst Albrechts“ – des damaligen Ministerpräsidenten – in ein Landeskabinett eingetreten, sondern hat in
Hannover die nach 1966 erste BürgerblockKoalition vorangetrieben.
Also fasst er die eigene Kanzlerkandidatur („Option für Ziel 1“) ins Auge. Mit
Sorgfalt vermerkt der ehrgeizige Christdemokrat alle sich ergebenden Anzeichen,
die ihn in seiner Hoffnung bestärken. Mal
entdeckt er sich in einer von „Bild“ publizierten Reihe der „2o interessantesten
Deutschen“ – oder er zitiert den Historiker
Golo Mann, der „mich neben Kohl genannt
und im Übrigen den baldigen Abschluss
der Ära Schmidt angekündigt hat“.
Die Prognose vom bevorstehenden Ende
des Bonner Bündnisses erweist sich als richtig; bloß wer redet da noch von Kiep? Der
Schatzmeister der CDU sieht sich im Herbst
’82 längst in die unselige Parteispenden-Affäre verstrickt. Sie wird ihn ein volles Jahrzehnt belasten, ehe der Bundesgerichtshof
einen zwischenzeitlich ergangenen Schuldspruch wegen schwerer Rechts- und Verfahrensmängel wieder kassiert.
Aber der Weltbürger aus Kronberg und
Nachfahr jenes berühmten Jakob Leisler,
der anno 1691 im Kampf um die Unabhängigkeit New Yorks gehängt wurde, hätte auch sonst kaum „Ziel 1“ erreicht.
Seine einzige Chance lag – wenn denn
überhaupt – in einer bis 1984 von den Freien Demokraten durchgehaltenen sozialliberalen Koalition.
Darauf setzt er, und um sich in Stellung
zu bringen, sucht Kiep das „Modell Niedersachsen“ mit einem persönlichen Tri-
fassung des überzeugten „Atlantikers“ unerlässliche Neuorientierung westlicher
Strategie.
Denn was für die USA gut ist, muss
der Bundesrepublik erst recht wichtig
sein, analysiert der viel zitierte „amerikanischste“ aller deutschen Politiker. Dass
er darüber in der Union zusehends an den
Rand gedrängt wird – „dummes Geschwätz“, poltert der Intimfeind FJS –, untergräbt zwar seine Chancen, aber es bestätigt ihn auch.
Er leidet an den stagnierenden Christparteien, und er sieht sich zugleich in der
Rolle des schärfsten Kritikers, der seinen
Tagebüchern mitunter selbst das im Grunde Undenkbare anvertraut. „Man mag es
kaum schreiben …“ (Notiz vom 23. November 1972 nach der Niederlage Barzels
gegen Brandt), doch es erscheint ihm „fast
besser“, die Bundestagswahlen nicht gewonnen zu haben.
Und auch im Sommer ’76, als Helmut
Kohl die Union führt, treiben den inzwischen zum niedersächsischen Finanzminister gekürten Walter Leisler Kiep
wenig fromme Wünsche um:
Sollte eine Mehrheit der deut- Privatmann Kiep (1976): „Ohne eine Spur im Schnee“
schen Bevölkerung tatsächlich
dem neuen Kanzlerkandidaten folgen, solange der von
Dregger und FJS dominiert
werde? Man müsse „fast hoffen“, dass sie sich dem verweigere.
So grübelt ein Mann, dem
es sicher unbezweifelbar um
den „Anschluss Deutschlands
an eine der Zeit gemäße, die
Realitäten respektierende Politik“ geht. In diese „sachlichen Erwägungen“ fließt nun
allerdings öfter auch der Spaß
an der eigenen Macht ein.
Schon als Rainer Barzel kippt,
in Sonderheit aber in den
Jahren 198o/81 (vor und nach
dem schließlich erfolglosen
Kräftemessen des Franz Josef
46
umph zu bekräftigen. Als CDU-Spitzenbewerber schlägt er im Sommer 1982 in
seiner Heimatstadt Hamburg die sieggewohnten Sozialdemokraten, doch die FDP
bleibt hängen.
Und dann kommt der kalte Winter. In
Bonn regiert der „merkwürdige Kohl“, der
seinen bar jeder Hausmacht kämpfenden
Rivalen leichterhand abgeschüttelt hat,
während der desillusionierte Konkurrent
an der Waterkant die fälligen Neuwahlen
versiebt. „15 Jahre Politik“, heißt danach
sein bitteres Fazit, „ohne eine Spur im
Schnee zu hinterlassen.“
Warum so ein Buch, in dem der Verfasser
auf mehr als 400 Seiten spannend zu lesende Details anbietet, das sich andererseits
aber auch in mancherlei Klein-Klein verfieselt? „Freitag, 11. 1. 198o … Massage. Gegen
1/ 1o Uhr per Porsche nach Kreuth …“. Das
2
Kiepsche Genrebild einer eh ziemlich komplizierten christlichen Parteien-Familie
wirkt mitunter etwas überladen.
Doch sein Werk, das „den Nachgeborenen im Jahr 5o der Bundesrepublik ein
Stück ihrer Geschichte erzählen will“, ist
im Großen und Ganzen zu loben. Anstatt
einen der üblichen, häufig genug wohlfeilen Memoirenbände zu fabrizieren, steht
der Autor zu seinen zwangsläufig nicht immer verfertigten Gedanken – auch wenn er
dabei selbst weniger gut aussieht.
Dass ein Mensch vom Typus Kiep einen
vom Schlage Straußens für gefährlich hält,
lässt sich leicht erklären – nur wie kam es
dann zu jener eigenartigen Liaison im Bundestagswahlkampf 198o? Da rückt der
Hanseat als eine Art unerklärter SchattenAußenminister in die Kernmannschaft des
bulligen Bayern auf, distanziert sich aber
zugleich von ihm.
„Ich sage Dir ganz offen, dass ich Deine
politischen Absichten und Intentionen immer weniger verstehe“, beschwert sich
brieflich der vor Wut kochende Parteichef
Helmut Kohl, und der Adressat nimmt die
Rüge hin. Zumindest in dieser
Phase ist er mit sich selbst
nicht im Reinen.
Er möchte halt „irgendwie
dem Staate dienen“ – ein Motiv, das den hoch engagiert seinen vielfältigen Ämtern und
Ehrenämtern nachgehenden
Macher und Mäzen noch heute beseelt. Als Aufsichtsrat bei
VW lernte Kiep, der ursprünglich der FDP zuneigte
und in der CDU scheiterte,
den Sozialdemokraten Gerhard Schröder schätzen.
Dem Kanzler arbeitet er
nun als „Persönlicher Beauftragter für internationale Sondermissionen“ zu. Und Schröder wird dafür am Dienstag
dieser Woche in Berlin Kieps
Buch präsentieren.
DPA
WEDO PRESS
Deutschland
Hans-Joachim Noack
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F. HORVAT / SABA
Psychologin Maier-Witt*: „In besonderer Weise geeignet, Menschen zu helfen“
Verhinderte
Friedenstaube
Die ehemalige RAF-Aktivistin
Silke Maier-Witt als „Friedensfachkraft“ im Kosovo? Einige
Ministerien haben Angst vor
dem öffentlichen Echo.
S
iebzig Frauen und Männer meldeten
sich auf die kleine Anzeige in der
„Zeit“. Sie reizte derselbe heikle Job:
Frieden schaffen ohne Waffen in der derzeit unfriedlichsten Region des europäischen Kontinents. Nach fünfmonatigem
Training sollen die Bewerber den verfeindeten Volksgruppen im Kosovo als „Friedensfachkräfte“ bei der Suche nach einem
Zusammenleben jenseits von Terror und
Mord helfen.
Unter den drei ausgewählten Bewerbern
beeindruckte die Friedensarbeiter eine
schmale, nicht mehr ganz junge Frau. Sie,
lobte ein Kommissionsmitglied, erscheine
„in besonderer Weise geeignet, Menschen
zu helfen, von Hass und Gewalt abzulassen
und neue gewaltfreie Wege zu gehen“.
Die Gelobte heißt Silke Maier-Witt und
ist 49 Jahre alt. Die „eigenen Erfahrungen“, die die Diplompsychologin in den
Augen der Tester für den Friedensdienst
qualifizierten, sammelte sie in den siebziger Jahren in einem ausgesprochen unfriedlichen Umfeld – als Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ (RAF).
Ein Vierteljahrhundert später lässt sie
nun der Staat zu einer von zunächst 16
Friedensfachkräften für den Balkaneinsatz
ausbilden – just jener Staat, den Maier* Am vorletzten Sonntag mit serbischen Flüchtlingen, die
in ihr Dorf in der Krajina zurückkehren.
48
Witt und ihre Genossen seinerzeit mit der
Waffe in der Hand bekämpften. Der Kurs,
in dem die Teilnehmer Konflikte auch in extremen Stress-Situationen mit friedlichen
Mitteln einzudämmen lernen, wird mitfinanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ).
Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
(„Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik“)
kommt damit einer alten Forderung aus
der Friedensbewegung nach. Neben den
Soldaten der Bundeswehr soll künftig ein
kleines Kontingent ausgebildeter Konflikthelfer beim Aufbau „zivilgesellschaftlicher
Strukturen“ helfen.
Geschaltet hatte die Anzeige für den
Kurs in „gewaltfreier Konfliktbearbeitung“
Ende Juni das Forum Ziviler Friedensdienst. Der Zusammenschluss aus 30 kirchlichen und anderen nichtstaatlichen Friedensgruppen streitet seit seiner Gründung
im Jahre 1994 mit wenig Geld und viel Engagement für eine zivile Alternative zu militärischen Einsätzen auf dem Balkan und
in anderen Krisenregionen.
Die zur Friedenskämpferin gewandelte
frühere RAF-Frau Maier-Witt wirkte auf
das Ministerium indes alles andere als friedensstiftend. Im Gegenteil: Panik kam auf
im Haus der einstmals „roten Heidi“.
Zwar ist die Ministerin, in den siebziger
Jahren Juso-Bundesvorsitzende, über jeden Verdacht erhaben, jemals mit den
RAF-Desperados sympathisiert zu haben.
Die BMZ-Spitze aber fürchtet Schlagzeilen
der Boulevardpresse wie etwa: „Bundesregierung schickt Terroristin auf Friedensmission ins Kosovo“.
Obschon RAF-Anwälte es in der rotgrünen Bundesregierung zum Kanzler oder
Innenminister gebracht haben und ein einstiger Straßenkämpfer nun Chefdiplomat
ist, schrillten auch im Justizressort von
Herta Däubler-Gmelin (SPD) die Alarmglocken. Zweifel kamen auf, „ob wir das in
der Öffentlichkeit durchhalten können“.
Wie eine geheime Kommandosache behandelte man den Vorgang im BMZ wod e r
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chenlang. Nur die Ministerin, der zuständige Referatsleiter und der beamtete Staatssekretär Erich Stather waren eingeweiht.
Der stoppte schließlich die ganze Aktion.
Ende Juli, wenige Tage vor dem Start
des Ausbildungskurses im regierungseigenen Bonner „Haus Venusberg“, ließ das
Ministerium wissen, Maier-Witt sei als Teilnehmerin unerwünscht. Die erfuhr davon,
als sie im fernen Oldenburg schon die Koffer packte.
Ihren Job hatte sie gekündigt, den Ausbildungsvertrag mit dem Forum Ziviler Friedensdienst ordnungsgemäß unterzeichnet.
Nun musste das Forum die verhinderte Friedenstaube auf eigene Kosten beschäftigen.
Nach weiteren Krisengesprächen durfte
Maier-Witt mit einer Woche Verspätung
immerhin als „Hospitantin“ in den Kurs
einsteigen. Derzeit sammelt die konvertierte RAF-Frau bei einem Praktikum in
der Krajina erste Eindrücke. „Der Hass in
den Köpfen“, sagt sie, „ist auch nach vier
Jahren noch frisch.“
F. RUCH
KARRIEREN
Maier-Witt auf RAF-Fahndungsplakat (1979)
„In glaubhafter Weise distanziert“
Deutschland
Ob Maier-Witt jedoch, wie geplant, ab
Anfang nächsten Jahres in ähnlichen Projekten im Kosovo zum Einsatz kommen
darf, steht in den Sternen. Zwar suchte sie
nach ihrer vorzeitigen Haftentlassung 1995
wie kaum eine zweite frühere Militante
den Weg „zurück in die Gesellschaft“.
Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ bescheinigte ihr, die Auseinandersetzung mit
der eigenen Vergangenheit „mit großer Offenheit und auch öffentlich“ zu führen, was
ihr „den Eindruck von Stärke“ verleihe.
Maier-Witt hatte sich der RAF angeschlossen, kurz bevor 1977 die Gewalt im
Deutschen Herbst kulminierte. Nach drei
Jahren im Untergrund setzte sie sich, mit anderen Aussteigern, ins DDR-Exil ab. Nach
ihrer Festnahme 1990 gab sie umfassend
Auskunft über ihre Zeit im Untergrund und
wurde dank der Kronzeugenregelung nur
zu einer zehnjährigen Haftstrafe vor allem
wegen ihrer Beteiligung an der SchleyerEntführung verurteilt.
Schon als Freigängerin arbeitete sie als
Nachtwache in einem Altersheim, schloss
später das in der Haft begonnene Psychologie-Studium ab und ließ sich zur Familientherapeutin ausbilden – allerdings verliefen die Jobs selten ohne Probleme.
Die Anstellung im Altersheim erhielt sie
nach eigenem Bekunden erst durch Intervention bei der damaligen niedersächsischen Justizministerin Heidi Alm-Merk
(SPD). Selbst Bewerbungen für unentgeltliche Praktika oder ehrenamtliche Tätigkeiten lösten Vorbehalte aus.
Weil an der freundlichen Frau so gar
nichts Angsteinflößendes zu entdecken
war, kam es immer wieder zu absurden Situationen. Absagen wurden mit Entschuldigungen („Ich hoffe, dass andere mutiger
sind als wir“) garniert.
Umso erfreuter reagierte Maier-Witt, als
im Juli die Zusage des Forums Ziviler Friedensdienst eintraf. Ein „wirklicher Glücksfall“ sei das gewesen, nach vielen vergeblichen Bewerbungen endlich „etwas, was
mich reizt und wofür ich qualifiziert bin“.
Mittlerweile hat sich die Situation wie
gewohnt kompliziert. Beistand erbat MaierWitt ausgerechnet von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die in den siebziger
Jahren mehrfach Ziel von RAF-Anschlägen gewesen war. Es werde sicherlich
„nicht ohne Wirkung bleiben“, schrieb
Maier-Witt an Generalbundesanwalt Kay
Nehm, wenn er dem Ministerium deutlich
mache, dass „von meiner Person keine Bedrohung ausgeht“.
Der Karlsruher Oberankläger reagierte
prompt. Seit Ende 1979 habe sich MaierWitt „in glaubhafter Weise von der Gewaltideologie der RAF distanziert“, bestätigte er der Bittstellerin. Dem Bundesjustizministerium habe er mitgeteilt, dass
es gegen die Tätigkeit als Friedensfachkraft
„keine Bedenken“ gebe, fügte Nehm hinzu
und wünschte der Ex-Terroristin „viel Erfolg für Ihr Vorhaben“. Gerd Rosenkranz
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Öffnung der Berliner Mauer 1989: „Eine der phantastischsten administrativen Fehlleistungen in der langen, wechselvollen Historie der
Die un(v)erhoffte Einheit
Politik und Medien feiern den 10. Jahrestag des Volksaufstandes von 1989, der
binnen weniger Monate die DDR hinwegfegte. Inzwischen umranken Mythen den Herbst der
Helden und der Wunder – Thema einer neuen, 13-teiligen
SPIEGEL-Serie, die in diesem Heft beginnt. Von Jochen Bölsche
Ost-Berlins Außenminister war außer sich
vor Empörung: „Aber
das ist ja Erpressung!“, zürnte Oskar
Fischer , „ja sogar Verrat!“
Der Wutausbruch des SED-Politikers
zielte am 31. August 1989 auf dessen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn. Der
Außenminister war nach Ost-Berlin geflogen, um die DDR-Regierung über die wohl
folgenschwerste Entscheidung des Budapester Reformkabinetts zu informieren.
Bereits Anfang Mai hatte der westlich
orientierte Ministerpräsident Miklós Németh im Einvernehmen mit Kremlchef
Michail Gorbatschow den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich
geöffnet, den er als „grausamen Anachronismus“ empfand. Nun erklärte Horn,
Budapest fühle sich nicht länger verpflich52
tet, in Ungarn urlaubende DDR-Bürger
davon abzuhalten, die offene Grenze gen
Westen zu passieren.
Fischer war fassungslos. „Wissen Sie
denn, dass Sie damit die DDR im Stich lassen und zur anderen Seite überwechseln?“,
schimpfte er. Ost-Berliner Spione hatten
zuvor gemeldet, Bonn habe den Ungarn als
Gegenleistung einen 500-Millionen-MarkKredit versprochen. Drohend prophezeite
Fischer dem Abweichler: „Das wird schwerwiegende Folgen für Sie haben!“
Dramatischer hätte der Minister nicht
irren können.
Die Entscheidung der ungarischen Regierung entfesselte politische Kräfte, die
noch im selben Herbst den SED-Staat hinwegfegen sollten und im Folgejahr die
Landkarte Europas veränderten wie ein
Weltkrieg. Keine andere Phase der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts birgt mehr Dramatik als die
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rund 100 Tage, die zwischen der Grenzöffnung am 10. September und der Öffnung
des Brandenburger Tores zu Weihnachten
liegen – Thema der 13teiligen SPIEGELSerie „100 Tage im Herbst“ (siehe Seite 61).
Erst allmählich hebt sich der Nebel, der
über den Hintergründen der damaligen
Geschehnisse liegt. Im Lichte jüngerer Erkenntnisse muss die Geschichte der Einigung zwar nicht neu geschrieben werden.
Aber manch eine Geschichte hinter der
Geschichte lässt sich erst jetzt erzählen.
Das Wirken der Geheimdiplomatie haben die US-Politologen Philip Zelikow und
Condoleezza Rice bereits weitgehend rekonstruiert. Zur Rolle der Geheimdienste
wiederum hat Stasi-Experte Walter Süß
unlängst neues Material präsentiert*.
* Philip Zelikow/Condoleezza Rice: „Sternstunde der
Diplomatie“. Propyläen Verlag, Berlin; 632 Seiten; 29,90
Mark. – Walter Süß: „Staatssicherheit am Ende“. Ch.
Links Verlag, Berlin; 816 Seiten; 58 Mark.
100 TAGE IM HERBST
DDR-Geheimplan für Hightech-„Mauer 2000“
A. SCHOELZEL
Mikrowellen statt Tretminen
staatlichen Bürokratie“
Wenngleich die Gesamtschau der 89er
Ereignisse noch immer nicht vorliegt –
manches Mysterium, das Millionen von
Menschen Rätsel aufgab, ist mittlerweile
aufklärbar. Schlüssig erklären lässt sich beispielsweise, warum die DDR-Ökonomie,
jahrelang als Dynamo des Ostens überschätzt, binnen kurzem implodierte; warum der hochgerüstete Staat, in dem eine
Million Mann unter Waffen standen, vor
der Revolution der Kerzenträger kapitulierte; warum am 9. November 1989 die
Mauer zerbrach, ohne dass der Westen irgendeine Gegenleistung erbringen musste.
Widerlegen lassen sich auf Grund der
mittlerweile aufgetauchten Dokumente
aber auch viele jener Mythen, die sich um
den Herbst der Helden und der Wunder
ranken – und die in den Jubiläumswochen
vermutlich aufs Neue belebt werden.
Die SPD, so steht zu befürchten, wird
einmal mehr das „Wunder von Schwante“
beschwören – die zehnte Wiederkehr jenes
Tages, an dem Untergrund-Sozis laut Parteilegende die Stasi pfiffig ausgetrickst und
die Ost-SPD gegründet haben.
Dass Mitgründer Ibrahim Böhme – an
dem die Partei lange nach seiner Enttarnung
als Stasi-Spitzel festhielt – von Anfang an im
Dienste der Geheimpolizei stand, passt nicht
so recht in den feierlichen Rahmen. Und
kein Sozialdemokrat lässt sich heute gern
daran erinnern, dass viele Spitzenleute noch
kurz vor dem Mauerfall auf Distanz zu den
Dissidenten bedacht waren.
Die CDU wiederum wird die Jahrestage
nutzen, um die Staatskunst ihres Einheitskanzlers Helmut Kohl zu preisen und
die Sozialdemokraten als Wiedervereinigungsskeptiker zu denunzieren. Das freilich ist nur die halbe Wahrheit.
In der politischen Klasse Ost- wie Westdeutschlands hat bis in den Spätherbst 1989
kaum jemand eine baldige Wiedervereinigung für möglich gehalten und gewollt.
Trotz aller Sonntagsreden – den Deutschen, resümiert der Publizist Peter Bender, war es „seit 1955 nicht mehr um die
Einheit, sondern nur noch um die Milderung der Teilung“ gegangen.
Das gilt auch für die Union, unter deren
Erzkanzler Konrad Adenauer sich die Bundesdeutschen bald nach dem Krieg im
westlichen Bündnis eingerichtet hatten.
Noch im Mai 1989, bei einem DeutschlandBesuch von George Bush, fragte dessen
Sicherheitsberater Brent Scowcroft den damaligen Verteidigungsminister Gerhard
Stoltenberg: „Soll sich der Präsident auch
zum Thema deutsche Wiedervereinigung
äußern?“ Stoltenberg, so erinnert sich
Scowcroft, zog eine Grimasse. Bush strich
den geplanten Redepassus.
Zur Jahreswende 1989/90 jedoch veränderte sich alles. Insgeheim steuerten die
Supermächte einen Deal von globalen Dimensionen an: den Freikauf der DDR.
Gorbatschow, der dringend Devisen
brauchte, betrachtete die DDR mehr und
mehr als Verhandlungsgegenstand, um mit
dem Westen ins Geschäft zu kommen.
George Bush war darauf bedacht, die Bundesrepublik, seinen wichtigsten Verbündeten in Europa, zu stärken und die NatoGrenze nach Osten zu verschieben.
Die politische Konstellation Ende 1989
hätte absurder nicht sein können: In Geheimgesprächen mussten Abgesandte der
Supermächte ihre deutschen Verbündeten
in Bonn und Ost-Berlin ermutigen, den Widerstand gegen eine aktive Wiedervereinigungspolitik aufzugeben.
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US-Präsident Bush warb im Frühjahr
1989 bereits öffentlich für seine Vision von
einem „ungeteilten und freien“ Europa.
Die Deutschen indes wollten „das Thema
zu diesem Zeitpunkt nicht weiter in den
Vordergrund rücken“, wie es in einem USRegierungspapier (NSR-5) heißt.
Entsprechend verblüfft war Kohl, als am
21. November der Gorbatschow-Abgesandte Nikolai Portugalow dem Kanzlerberater Horst Teltschik signalisierte, Moskau sei unter Umständen bereit, einer wie
auch immer gearteten Wiedervereinigung
zuzustimmen. „Wie elektrisiert“ erkannte
Teltschik, dass es nun „höchste Zeit“ war,
„in die Offensive“ zu gehen.
Völlig überrascht reagierte auch Egon
Krenz, als ihm drei Tage später Gorbatschow-Berater Walentin Falin „unter fast
konspirativen Bedingungen“ bedeutete,
wenn Bonn bereit sei, „Wiedergutmachung“ zu leisten, „könnte man über eine
,Neuvereinigung‘ nachdenken“. Krenz
schwante an diesem Tag: „Um die DDR
wird gefeilscht.“
Was aber hat im Herbst 1989 die unbändige politische Dynamik freigesetzt, die
den SED-Staat wenig später kollabieren
ließ? Im Sommer hatte sich in der DDR
ein massiver Stimmungswandel vollzogen.
Nach der Öffnung der ungarischen Grenze wuchs der Perma-Frust über Reiseverbote und Reformunfähigkeit, Versorgungsmängel und Wahlfälschungen. Die Borniertheit, mit der die regierenden Marxisten-Senilisten auf die Flucht- und Ausreisewelle reagierten, weckte Wut und Widerstandswillen.
Zugute kam der Unmut den schwachen
– maximal 3000 Mitglieder starken – Bürgerrechtsgruppen. Dass diese Minderheit,
schlecht organisiert und politisch zerstritten, nahezu unbeschadet den Schutzraum
Kirche verlassen und Millionen von Mitstreitern mobilisieren konnte, verdankt sie
dem strategischen Geschick ihrer Vor-
Die Geschichte der Einigung
muß nicht neu geschrieben
werden. Aber manch eine
Geschichte dahinter lässt sich
erst jetzt erzählen.
kämpfer: Die Initiatoren verzichteten auf
Forderungen nach Abschaffung des Sozialismus und ließen zunächst nur linke
Hymnen aus dem Liedschatz der DDRSingebewegung anstimmen wie etwa die
„Internationale“ („... erkämpft das Menschenrecht“). Dazu riefen sie anzügliche,
aber unangreifbare Parolen – Musterbeispiel: „Wir sind das Volk.“
Dieses Vorgehen ermöglichte es auch
SED-Genossen, die sich nach Perestroika
sehnten, Reformgruppierungen wie das
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100 TAGE IM HERBST
Staatsgast Krenz (l.) in Peking 1989*
„Kampfgemeinschaft“ mit der KP Chinas
Neue Forum zu unterstützen. Zugleich erschwerte die Taktik den Versuch, die Protestler pauschal als „Konterrevolutionäre“
oder „Kriminelle“ hinzustellen.
Militärischen Beistand aus Moskau gegen einen Volksaufstand konnten die DDRMachthaber kaum noch erwarten. Gorbatschow habe, schreibt der Historiker und
Osteuropa-Wissenschaftler
Ekkehard
Kuhn, die Herbstrevolte „bewusst nicht unterbunden“**: „Sie eröffnete Moskau über
den Zusammenbruch der DDR und über
die Wiederherstellung der deutschen Einheit den Weg nach Europa.“
Auch die DDR-eigenen Kräfte waren
nur noch begrenzt einsatzbereit. StasiDokumente belegen, dass Mitglieder von
Betriebskampfgruppen reihenweise den
Prügeldienst verweigerten. Selbst im StasiWachregiment „Feliks Dzierzyński“ kam
es zur Meuterei. Kampfwert der Truppe,
laut Geheimdienst-Urteil: „Null.“
Völlig unkalkulierbar war dennoch das
Risiko, das jene Leipziger eingingen, die
am 9. Oktober für den wichtigsten Wen-
Trotz aller Sonntagsreden – den
Deutschen war es nicht
mehr um die Einheit, sondern
nur noch um die Milderung
der Teilung gegangen.
depunkt innerhalb des Wendeherbstes
sorgten. An jenem Tag ereignete sich, so
Historiker Kuhn, „ein Politkrimi, wie ihn
Deutschland noch nie erlebte“.
Erich Honecker hatte befohlen, Aufmärsche „im Keim zu ersticken“, Krenz
demonstrativ die „Kampfgemeinschaft“
mit der KP Chinas gerühmt, die am 4. Juni
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F. ANDERSON / GAMMA / STUDIO X
JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
DDR-Führung die Befehlsgewalt überlassen hatte. Krenz, der sich immer wieder
brüstet, ein Blutbad verhindert zu haben,
war für die örtliche Einsatzleitung zur kritischen Zeit nicht erreichbar. Immerhin
aber hatte er – just im Begriff, auf Gegenkurs zu Honecker zu gehen – am Vortag
mäßigend auf die verantwortlichen Minister eingewirkt. Krenz wusste: „Auch nur
ein Tropfen Blut würde jeden Gedanken an
eine reformierte DDR begraben“ – und
den SED-Staat für jeden Nachfolger
Honeckers unregierbar machen.
Daher sollten die nach Leipzig beorderten 8000 Mann starken „Sicherheitsorgane“ nur eingreifen, wenn sie angegriffen
würden – eine denkbar schwache Sicherung: „In der aufgeheizten Atmosphäre
konnte diese einschränkende
Bedingung wenig Sicherheiten bieten“, urteilt HarvardHistoriker Charles S. Maier***.
Dass in Leipzig Angriffe
auf Vopo und Stasi – mit unkontrollierbaren Folgen – unterblieben, ist nicht dem Zauderer Krenz zu verdanken.
Den Ausschlag für den friedlichen Ausgang gaben die verzweifelten Deeskalationsbemühungen von Prominenten wie Kurt Masur, diversen
Studentenprotest in Peking 1989: 2600 Menschen starben Kirchenleuten und subalternen SED-Funktionären.
auf dem Platz des Himmlischen Friedens
Wenig später, nachdem er sich in Moseinen Studentenaufstand mit Panzern hat- kau rückversichert hatte, putschte Krenz
te niederwalzen lassen; 2600 Menschen gegen Honecker – zu spät, um die Erosion
starben, rund 7000 wurden verletzt.
der SED-Macht aufzuhalten: Mittlerweile
Am 6. Oktober drohten Betriebskampf- hatte der Marsch der 70 000 von Leipzig
gruppen öffentlich, sie würden gegen De- vielen Millionen Menschen im ganzen
monstranten „mit der Waffe in der Hand“ Land die Angst vor Vopo-Knüppeln und
vorgehen. Von den 70 000 Leipzigern, die Stasi-Knast genommen.
sich trotzdem auf die Straße wagten, fürchVergebens mühten sich der unpopuläre
teten viele um ihr Leben.
Krenz, SED-Spitzenmann für 47 Tage,
Dass es in der „Heldenstadt“ zum und später der Übergangspremier Hans
„Wunder von Leipzig“ (Dirigent Kurt Ma- Modrow, die Erwartungen des Volkes zu
sur) und nicht zum Blutvergießen kam, lag erfüllen. Die aber stiegen von Woche zu
vor allem an der großen Zahl der Demon- Woche, wie der Wandel der Demo-Parolen
stranten und an ihrer Disziplin. In einer belegt – von „Visafrei bis Hawaii“ über
Dienstbesprechung klagte Innenminister „SED ade“ bis hin zu „Deutschland einig
Friedrich Dickel wenig später:
Vaterland“.
War der Untergang der DDR unverWas sollen wir machen? Ich stelle mal diemeidlich? Nach Offenlegung vieler einst
se rhetorische Frage. Sollen wir dazwigeheimer Dokumente ist heute sicher: Der
schengehen bei 20 000, 30 000, 40 000 BürSED-Staat, der 20 Jahre lang über seine
gern? ... Natürlich ist das in dem AugenVerhältnisse gelebt hatte, stand im Herbst
blick ein Zurückweichen, aber ich sage
1989 unmittelbar vor der Zahlungsuneuch noch einmal, bei Größenordnungen
fähigkeit. Anfang November 1989 verfügte
von 20000, 30 000, 80000 oder gar 100000 ist
die DDR nur noch über eine einzige
gar nichts anderes möglich.
Trumpfkarte, mit der sich möglicherweise
In Leipzig oblag die Verantwortung am Bonner Kredite hätten erpressen lassen
Tag der Entscheidung lokalen Funk- können: die Berliner Mauer.
tionären, denen die gelähmte Ost-Berliner
Um auf den Schusswaffeneinsatz verzichten zu können und das Erscheinungsbild
der Grenze zu verbessern, hatte die DDR
* Mit Chinas KP-Chef Jiang Zemin (r.).
** Ekkehard Kuhn: „Wir sind das Volk“. Ullstein Verinsgeheim eine Art Hightech-„Mauer 2000“
lag, Berlin; 190 Seiten; 14,90 Mark.
planen lassen – mit „Infrarotlichtschran*** Charles S. Maier: „Das Verschwinden der DDR
ken“ und „Mikrowellenschranken“ statt
und der Untergang des Kommunismus“. S. Fischer
Stacheldraht und Tretminen. Ein zweiter
Verlag, Frankfurt am Main; 592 Seiten; 58 Mark.
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100 TAGE IM HERBST
Geheimplan sah im Herbst 1989 vor: Für
das Versprechen, die Grenze humaner zu
machen, sollten der Bonner Regierung Milliardenkredite abgepresst werden.
Doch am 9. November war Ost-Berlins
letztes Faustpfand plötzlich perdu – die
Mauer fiel durch „eine der phantastischsten administrativen Fehlleistungen
in der langen, wechselvollen Historie der
staatlichen Bürokratie“, wie das Politologen-Duo Zelikow/Rice urteilt. Die irrtümliche Mitteilung von SED-Sprecher Günter
Schabowski, Westreisen seien „unverzüg-
„Revolutionen haben dann
Erfolg, wenn zwei Bedingungen
erfüllt sind: Die unten
wollen nicht mehr, und die
oben können nicht mehr.“
lich“ möglich, führte dazu, dass zehntausende die Grenze stürmten und die Posten
überrannten.
Allein in der ersten Woche nach dem
„Wunder von Berlin“ (ZDF) nutzten neun
Millionen Menschen – weit mehr als die
Hälfte der DDR-Bevölkerung – die neue
Freiheit, um den lockenden Westen zu erkunden. Bald darauf übertönte den Ruf
„Wir sind ein Volk“ die Parole „Wir sind
das Volk“.
Schon immer war die D-Mark-Republik
für eine Mehrheit der Ostdeutschen das
Traumstaatsmodell gewesen. Nun wurde
der D-Mark-Kanzler Helmut Kohl für viele zum Traumstaatsmann. Einstige DDRMachthaber und einstige DDR-Oppositionelle stimmen heute in einem Punkt überein: Vor allem die Magnetkraft der Mark
hat den Einheitsdrang der Ostdeutschen
forciert. „Wenn wir als Nachbarland
Portugal gehabt hätten, hätten wir viel-
leicht die Schlacht gewonnen“, sinniert ExGeldbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski.
Allein im Laufe des Jahres 1989 emigrierten eine drittel Million DDR-Bürger in
die Bundesrepublik, zum Verdruss einer
wachsenden Zahl von Westdeutschen. Das
Grummeln draußen im Lande beflügelte
den um Wiederwahl bangenden Kohl, die
kurz zuvor noch ungewollte Einheit nun
mit aller Macht anzusteuern.
Den Todesstoß für den SED-Staat
sehen Wissenschaftler wie der Münchner
Politologe Karl-Rudolf Korte in einem
damals vollzogenen „konzeptionellen
Wandel“ der Bonner Politik: in der Entschlossenheit Kohls, den Kurs der Nichteinmischung in DDR-Angelegenheiten zu
verlassen. Ende 1989 machte die Bundesregierung jede weitere Finanzhilfe für
die Ost-Berliner Bankrotteure vom Fortschritt systemüberwindender Reformen
abhängig.
Wenn die DDR – so Kohls Kalkül laut
Zelikow und Rice – „den Sozialismus über
Bord warf, würde sie die Hauptrechtfertigung für ihre Existenz als eigenständiger
Staat verlieren“.
Getragen vom anschwellenden Einheitswillen in der DDR-Bevölkerung,
wagte Kohl 1989/90 eine der riskantesten
Pokerpartien in der Geschichte der Diplomatie. Das Ziel mutet auch im Nachhinein
noch tollkühn an.
Zunächst galt es, den westlichen Siegermächten von einst – vor allem den Einheitsgegnern in London und Paris – die
Zustimmung zur Wiedervereinigung abzuringen. Wie das glückte, liegt mittlerweile
offen zu Tage:
π durch Kohls Bereitschaft, die OderNeiße-Grenze zu Gunsten Polens festzuschreiben (was sämtliche Alliierten
zur Vorbedingung gemacht hatten),
π durch Kohls Versprechen, Deutschland
auf Euro- und EU-Kurs zu trimmen (wo-
durch vor allem französische Bedenken
ausgeräumt werden sollten), und
π durch Kohls Zusage, das neue Gesamtdeutschland komplett in die Nato einzubringen (wovon Bush seine Zustimmung
zur Einheit abhängig gemacht hatte).
Geklärt ist inzwischen auch, wie dem
Westen das wohl größte politische Kunststück jener Jahre gelang: zu erreichen, dass
Moskau nicht nur ein wiedervereinigtes,
kapitalistisches Deutschland akzeptierte,
sondern auch die Verschiebung der NatoGrenze gen Osten. Wiederum gab die harte Deutsche Mark den Ausschlag.
Gorbatschow stand Anfang 1990 innenpolitisch unter gewaltigem Druck. Er war
insgeheim bereit, auf nahezu jede Bedingung einzugehen, um an Devisen für sein
marodes rotes Reich zu kommen.
Nachdem Bush ihm ein Handelsabkommen sowie eine Nato-Reform in Aussicht
gestellt und Kohl drei Milliarden Mark an
zinslosen Krediten plus zwölf Milliarden
Mark Beihilfe für den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR zugesagt hatte, gab Gorbatschow den Weg frei. Dass der Kreml die
Kontrolle über die DDR der Bundesrepublik
überließ, führt auch US-Historiker Maier
auf Bonns „Schlüsselrolle bei der Vermittlung von westlicher Finanzhilfe“ zurück.
Uneins sind sich Wissenschaftler noch
immer über die passende Bezeichnung für
jenen Prozess, der am 3. Oktober 1990 zur
un(v)erhofften Einheit führte: Hat sich in
der DDR ein Volksaufstand vollzogen? Ein
Zusammenbruch? Eine Konterrevolution?
Eine Revolution?
Die schlichteste Antwort gab, mit einem
Lenin-Zitat, eine Leipziger Demonstrantin. „Ich habe mal gelernt“, sprach sie einem TV-Reporter ins Mikrofon, „Revolutionen haben immer dann Erfolg, wenn
zwei Bedingungen erfüllt sind: Die unten
wollen nicht mehr, und die oben können
nicht mehr.“
Genau so war’s im Herbst 1989.
P. LANGROCK / ZENIT
Einheitsfeier am Vorabend des 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagsgebäude
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (1)
Die Woche vom 25. 9. bis 1. 10. 1989
»Wir wollen raus«
ULLSTEIN BILDERDIENST
Im September 1989 – zwei Wochen vor
dem 40. Jahrestag der DDR – naht die jämmerlichste Stunde
des SED-Regimes: Im Lande formiert
sich Opposition, dem Staat läuft das Volk davon.
DDR-Bürger suchen Zuflucht in der Prager Botschaft der Bundesrepublik
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100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS«
CHRONIK
»Wir haben euch satt«
Seit zehn Jahren träumen der Kraftfahrer
Volkmar Stellmach und seine Frau Carola,
beide 31, vom goldenen Westen. Gurken
kaufen, ohne anzustehen, gute Medizin für
den lungenkranken Sohn besorgen und
auch mal an die Adria fahren – das ist ihre
Vision vom besseren Leben.
Das Glück scheint für das Ehepaar
aus Spremberg bei Cottbus und die Kinder Doreen, 9, und Oliver, 5, zum Greifen
nahe.
Schon 60 000 DDR-Bürger durften seit
Jahresbeginn – wenn auch häufig erst nach
üblen bürokratischen Schikanen – legal in
den Westen ausreisen. Am 19. August gelang 668 DDR-Urlaubern in Ungarn die
Massenflucht nach Österreich. Und vor
14 Tagen hat die liberale Budapester KPRegierung überraschend die Westgrenze
geöffnet. Seither drängen durch das Loch
im einstmals Eisernen Vorhang mehr und
mehr Ungarn-Urlauber aus der DDR, allein
in den letzten acht Wochen über 20 000.
„Honecker hat im ,Neuen Deutschland‘
eine Anzeige aufgegeben“, beginnt einer
der Flüsterwitze, die in den Kneipen und
Kantinen des Arbeiter-und-Bauern-Staates
kursieren: „Biete Staat, suche Arbeiter und
Bauern.“
Noch’n Witz: „Weißt du schon, dass
nächstes Jahr die Personalausweise abge-
schafft werden?“ – „Wieso?“ – „Na ja, die
paar Leutchen, die dann noch da sind,
kennt Honecker persönlich.“
Die Stellmachs wollen nicht zu den
Letzten zählen. Sie glauben nicht mehr
an die Reformfähigkeit der überalterten
Führungsspitze um den 77-jährigen SEDGeneralsekretär, der, gerade an der Gallenblase operiert, von Gerüchtemachern
totgesagt und von Spaßvögeln verspottet
wird: „Was ist der Unterschied zwischen
einer Kaffeemaschine und dem Politbüro?“
Antwort: „Eine Kaffeemaschine kann man
wenigstens entkalken.“
Die Stellmachs haben vor Wochen ein
Visum für eine Ungarn-Reise beantragt,
um in den Westen entwischen zu können.
Der cremefarbene Trabi ist frisch überholt,
die Koffer stehen gepackt im Schlafzimmer der engen Plattenbauwohnung, die im
Volksmund „Arbeiterschließfach“ heißt.
Was den Stellmachs noch fehlt, ist der
Bewilligungsbescheid der Volkspolizei.
Leipzig
Freigebig kredenzt der Zahnmedizinstudent Michael Arnold, 25, seinen Freunden in dieser fröhlichen Nacht ein ganz
besonderes Getränk: „Brotwein“, gebraut
aus Zucker, Wasser, Backwerk und vergorenen Früchten.
Denn es gibt Anlass zu feiern in Arnolds
Küche im Leipziger Osten: Mit dem ArmeLeute-Gesöff stößt die junge Runde auf
den Erfolg der bislang größten oppositio-
D. EISERMANN / DAS FOTOARCHIV
Montag, 25. September 1989
Spremberg
nellen Demonstration in der sächsischen
Metropole an.
Wie an jedem Montag seit der Messe am
Monatsbeginn sind am Nachmittag nach
dem traditionellen Friedensgebet in der
Nikolaikirche Christenmenschen zu unangemeldetem Protest zusammengekommen.
Doch diesmal waren es nicht 1000 Demonstranten (wie beim ersten Treffen am
4. September) und auch nicht 3000 (wie
vor einer Woche), sondern – ei guggemol
do! – an die 8000 Leipziger.
Sie lassen sich nicht einschüchtern von
den grün uniformierten „Schnittlauchen“
mit ihren wütend kläffenden Schäferhunden und auch nicht von den Greiftrupps,
die noch am Montag zuvor auf einen
Schlag 128 Demonstranten festgenommen
und auf Lastwagen abtransportiert haben
– wegen „Zusammenrottung“, wie Demonstrationen im DDR-Deutsch heißen.
Doch je härter die Staatssicherheit zupackt, desto beherzter singen die Protestler „We shall overcome“, die Hymne der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung,
desto häufiger strecken sie den Arm zum
„Victory“-Zeichen empor, desto lauter rufen sie ihre Parolen, die – Leipziger Allerlei – kein Komitee koordiniert.
Die Minderheit der „Ausreiser“, einige
mit Gorbatschow-Stickern, schmettert
auch an diesem Montag „Wir wollen raus“.
Die Mehrheit der „Bleiber“ dagegen –
„Wir bleiben hier“ – schreit nach besseren
Lebensbedingungen: „Reisefreiheit statt
Massenflucht“.
Die Bleiber scheuen den Sprung in den
glitzernden Westen. Doch sie wollen nicht
ewig „DDR“ sein, „Der Doofe Rest“.
Alle Demonstranten eint der kaum verhüllte Zorn auf die Ost-Berliner Führung.
Noch frisch ist der Ärger über die Kommunalwahl am 7. Mai, als die Regierenden
behaupteten, 98,85 Prozent der Stimmen
kassiert zu haben. Doch die Bürgerrechtler
haben erstmals mitgezählt – und vielfach
mehr als 20 Prozent Ablehnung registriert.
Ebenso wie über die dreiste Wahlfälschung empören sich die Leipziger über
den jüngsten Streich der Herrschenden:
Gerade erst, rechtzeitig zur vierten Montagsdemonstration, ist publik geworden,
dass die Regierung den Antrag abgelehnt
hat, erstmals eine landesweite, von Staat
Massenflucht aus Ungarn am 19. August 1989
„Biete Staat, suche Arbeiter und Bauern“
PUNCTUM / DER SPIEGEL / XXP
Leipziger Montagsdemonstration am 25. September: „Wir bleiben hier“
J. H. DARCHINGER
„Weitermachen
mit
und Kirche unabhängige
den MontagsdemonstraOppositionsbewegung zutionen“, „Unterschriften
zulassen.
sammeln für die Zulas„Neu-es Fo-rum, Neusung des Neuen Forums“:
es Fo-rum“, rufen die
Über die nächsten EtapLeipziger den Namen der
penziele sind sich die BürGruppe, die vor 14 Tagen
gerrechtler einig. Dabei
um die Malerin Bärbel
weiß auch von ihnen nieBohley entstanden ist
mand, wie die starrsinni(siehe Porträt Seite 78).
gen Greise im SED-Polit„Reisefreiheit ja, Wiederbüro reagieren werden,
vereinigung nein“, umwenn der Druck weiter
reißt die Initiatorin ihre Bürgerrechtler Arnold
wächst.
Vorstellungen – was die
Chinas KP-Führung hat erst am 4. Juni
Regierung nicht hindert, das Neue Forum (NF) als „staatsfeindliche Plattform“ auf dem Platz des Himmlischen Friedens in
zu kriminalisieren und jede Aktion zu Peking demonstrierende Studenten erihrer Unterstützung als „illegal“ zu be- schießen lassen. Jeder in Arnolds Leipziger
Küche weiß, dass die deutschen Kommuniswerten.
Geradezu verhöhnt fühlen sich die NF- ten der Bruderpartei gleich nach dem MasUnterstützer durch das „Neue Deutsch- saker ihre Solidarität bekundet haben.
Und ihnen allen ist bewusst, dass die
land (ND)“. Das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Popelinejackenträger von der Staatsdie plötzlich um ihre Monopolstellung sicherheit auch die Leipziger Opposition
bangt, hat soeben erklärt, das Neue Forum genau im Visier haben.
Vergangene Woche erst ist Arnold, eisei überflüssig. Begründung: In der DDR
gebe es bereits „mehr als 200 gesellschaft- ner der Sprecher des Neuen Forums, „den
liche Organisationen“ – und damit genü- Sicherheitskräften zugeführt“ worden. Die
Polizei beschuldigt den schlaksigen jungen
gend „Vielheit“.
Namentlich aufgeführt sind „Briefmar- Mann, „polizeiliche Maßnahmen“ fotokensammler, Hundehalter, Bücherfreunde, grafiert zu haben; dabei hatte er weder
eine Kamera noch Filme bei sich gehabt.
Rosenfreunde“.
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Gegenüber von Arnolds Wohnung, im
Stadtteil Anger-Crottendorf, hat die Stasi
vor einigen Monaten eigens ein Ladenlokal
angemietet, um ihn und seine Gäste rund
um die Uhr abhören und observieren zu
können. Um die Oppositionellen einzuschüchtern, ziehen die Dunkelmänner von
„Horch und Guck“ häufig demonstrativ
die Gardinen auseinander und postieren
sich sichtbar am Fenster.
Doch an diesem Abend scheint trotz alledem die Zuversicht stärker als die Angst.
Schließlich gilt es zu feiern – den größten
Leipziger Protestzug seit dem blutigen
17. Juni 1953.
Amen, Venceremos, Prost Brotwein.
Dienstag, 26. September 1989
Ost-Berlin
Im dem düster marmorierten ZK-Gebäude
am Werderschen Markt beginnt das Ritual
der Machtausübung wie an jedem Dienstag
um 10 Uhr,Woche für Woche, Jahr um Jahr.
Die 26 Mitglieder und Kandidaten des
SED-Politbüros betreten den 300 Quadratmeter großen Sitzungssaal im „Großen
Haus“ und machen es sich bequem auf
ihren roten Polsterstühlen. Schläfrig lassen
sie die obligatorischen Monologe über sich
ergehen – mal zum Stand der Weizen63
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100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS«
gruppen aus der gesamten DDR, von Demokratie Jetzt bis zum Demokratischen
Aufbruch, in einem Gemeindehaus in Leipzig darauf geeinigt, das Neue Forum als
„gemeinsame Plattform“ anzuerkennen.
Schlimmer noch: Der Gründungsaufruf
des NF, dessen Initiatorin Bohley den „Alleinvertretungsanspruch der führenden
SED brechen“ will, sei auch von SEDMitgliedern unterzeichnet worden.
Der Berliner Bezirkssekretär Günter
Schabowski, 60, berichtet von einer Diskussion im Deutschen Theater, bei der die
Künstler dem SED-Funktionär unisono bedeutet hatten: „Wir haben euch satt.“
Günter Mittag, 62, der DDR-Wirtschaftslenker, bringt die Provokationen in
der Leipziger Nikolaikirche zur Sprache:
Es hätte „erste Tote geben können“.
Der Runde ist klar, was eigentlich Not
täte. Bereits vor vier Tagen hat Honecker
ein chiffriertes Fernschreiben an die Ersten
Bezirkssekretäre der SED herausgejagt:
„Feindliche Aktionen“ müssten „im Keim
erstickt“, alle Rädelsführer „isoliert“ werden. Die Leipziger Kirchenleute, erklärt
Mielke nun im Politbüro, seien ein Fall für
die Staatsanwaltschaft.
Doch fürs Erste sieht sich der Führungszirkel am Durchgreifen und Draufhauen
gehindert.
Denn der 40. Jahrestag der DDR am
7. Oktober steht unmittelbar bevor. Und
vor ihrem Jubelfest, das wissen die Polit-
bürokraten, können sie sich die Kirchenmänner und die Konterrevolutionäre kaum
vorknöpfen, ohne weltweit unliebsame
Aufmerksamkeit zu erregen.
Auch der wendige Bezirkschef Schabowski, der „komplexe Antworten“ auf
die Fragen der unruhigen Massen fordert
und im Ruf steht, gelegentlich mit
Gorbatschow-Ideen zu liebäugeln, plädiert
für Aufschub: „Den 40. Jahrestag dürfen
wir uns nicht verhageln lassen.“
Ungelegen kommt das Jubiläum den
DDR-Herrschern auch deshalb, weil es harte Reaktionen auf die anhaltende Fluchtund Ausreisebewegung unmöglich macht.
Die SED-Führung sieht sich in der
Zwickmühle: Schon das bloße Gerücht, sie
plane ein Verbot von Ungarn-Reisen, würde die Fluchtwelle anschwellen lassen –
ausgerechnet zum Jahrestag.
Ohnmächtig bejammern PolitbüroMitglieder die ungarische Grenzöffnung,
von der Budapests Außenminister Gyula
Horn seinen DDR-Kollegen Oskar Fischer
am 31. August unterrichtet hat, als „Verrat
am sozialistischen Lager“. Alle Versuche,
„das Loch zuzumachen in Ungarn“ (Mittag), sind gescheitert: Gorbatschow weigert sich schlicht, Budapest zur Lagertreue
zurückzuzwingen.
Auch diverse Ost-Berliner Vorstöße an
der Donau sind folgenlos geblieben. „Die
sind gekauft“, sagt einer im Politbüro –
Helmut Kohl habe dem sozialistischen
ULLSTEIN BILDERDIENST
ernte, mal zu den Perspektiven der volkseigenen Kaliproduktion.
Gegen die Ängste und Hoffnungen des
gemeinen Volkes haben sich die hoch betagten Diktatoren des Proletariats, in dunkelblauen Volvo-Limousinen herangekarrt
aus dem Prominentenghetto Wandlitz,
sorgsam abgeschottet. 5 von ihnen sind
Greise (75 bis 81 Jahre alt), 6 Rentner
(65 bis 74 Jahre alt), 14 Frührentner (55 bis
64 Jahre alt). Der einzige Jüngere,
der berufsjugendliche Ex-FDJ-Chef Egon
Krenz, 52, hat sich gerade für eine Woche
verabschiedet, um mit den chinesischen
Blutsfreunden das 40-jährige Bestehen der
roten Volksrepublik zu feiern.
Seit Jahren sorgt der auf Linientreue getrimmte Partei- und Regierungsapparat
dafür, dass in den inneren Zirkel der Macht
nur frisierte Statistiken und geschönte Lageberichte gelangen. Denkbar ist daher,
dass der kränkelnde Honecker, bereits seit
1971 erster Mann der DDR, selbst glaubt,
was er mit gelegentlich umkippender Fistelstimme verkündet: „Ich habe nie geirrt“
oder, vor wenigen Wochen erst im Gespräch mit Erfurter Mikroelektronikern:
„Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“
An diesem Dienstag aber bricht die verdrängte Wirklichkeit geradezu sturzbachartig über die Seniorenriege herein. StasiChef Erich Mielke meldet, zwei Tage zuvor
hätten sich 80 Vertreter von Oppositions-
Genscher (l.) bei seiner Balkon-Rede am 30. September in Prag: Überglückliche Menschen rufen „Danke, danke, danke“
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100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS«
„Was passiert mit meinem Trabi, der jetzt
auf einem Prager Parkplatz steht?“
Vogel verspricht, dass die Autos später in
den Westen nachgeholt werden dürfen.
Außenminister Fischer (2. v. l.), Horn (3. v. r.) in Ost-Berlin: „Verrat am sozialistischen Lager“
Bruderland 500 Millionen Mark versprochen.
Nun wächst das Problem mit jeder Stunde. Zunehmende Telefonate und anschwellende Paketströme in den Westen,
warnt Mielke, ließen auf Fluchtvorbereitungen zehntausender weiterer Bürgerinnen und Bürger schließen. Zur Zeit urlauben 120 000 DDRler in Ungarn, daheim
beantragen pro Tag weitere 2000 Familien
eine Ungarn-Reise.
Mittag empfiehlt verstärkte „Konterpropaganda“ gegen den Drang in den
Westen. Doch damit lässt sich kaum noch
jemand von Flucht oder Ausreise abhalten – die gleichgeschaltete DDR-Presse
hat längst jegliche Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Nicht etwa verängstigt, sondern belustigt
haben Leser jüngst auf eine Gruselstory im
„Neuen Deutschland“ reagiert: Ein Reichsbahn-Koch namens Hartmut Ferworn behauptete auf Seite 1, er sei am 11. September während einer Dienstpause in Budapest
von einem Westdeutschen mit Hilfe einer
Mentholzigarette betäubt und nach Wien
verschleppt worden – klarer Beweis laut
„ND“ für verbrecherische Methoden „kaltblütiger berufsmäßiger Menschenhändler“,
für die Leser eine Lachnummer.
Den Politbüro-Mitgliedern bleibt an diesem Dienstag nur eines – die Hoffnung,
vor dem Parteifest wenigstens das allerpeinlichste unter den aktuellen Problemen rechtzeitig aus der Welt schaffen zu
können: In der Bonner Botschaft in der
∏SSR, die DDR-Bürger ohne Visum besuchen können, haben so viele Ausreisewillige Zuflucht gefunden, dass die Vertretung
wegen Überfüllung geschlossen werden
musste.
Dicht gedrängt, kampieren die Ausreisewilligen im Botschaftsgarten. Seit Wochen
bietet das Flüchtlingselend Kamerafutter
für Fernsehjournalisten aus aller Welt –
zum Schaden des, gerade jetzt, so sehr aufs
Renommee bedachten SED-Staates.
Nur einer, glaubt der greise Generalsekretär, kann die verfahrene Situation in
Prag noch retten: Wolfgang Vogel, 63,
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Rechtsanwalt und seit Jahren Erich
Honeckers Spezialist fürs Heikle.
Prag
Als Wolfgang Vogel samt Ehefrau Helga im
Prager Palais Lobkowitz eintrifft, wo
Bonns ∏SSR-Botschaft residiert, hat sich
die Lage weiter zugespitzt: Tausende Zeltbewohner hausen mittlerweile im Garten
der Vertretung, den der Regen der vergangenen Tage in eine Schlammwüste verwandelt hat.
Manche vegetieren schon seit Wochen
auf Gummimatten, Luftmatratzen und nassen Lattenrosten. Es stinkt nach Müll und
Urin, obschon Campingduschen und Chemietoiletten aufgestellt worden sind.
Stündlich hangeln sich dutzende von
Asylsuchenden über den Botschaftszaun
auf das exterritoriale Gelände. Kleinkinder
werden über das Eisengitter gehoben.
Immer wieder versucht Honeckers „persönlicher Beauftragter für humanitäre Fragen“, so Vogels offizieller Titel, im Konferenzsaal der Botschaft, den Flüchtlingen
eine Offerte aus Ost-Berlin schmackhaft
zu machen: Die Regierung garantiere jedem der Prager Botschaftsbesetzer, binnen maximal sechs Monaten legal in die
Bundesrepublik ausreisen zu dürfen, sofern er zuvor freiwillig in die DDR zurückkehre. Niemand müsse Angst vor Repressalien haben, versichert der Advokat.
Vier hochrangige Bonner Abgesandte
mühen sich, die ungebetenen Gäste zur
Annahme des Vogel-Vorschlags zu bewegen: die Spitzenbeamten Walter Priesnitz
(Innerdeutsches Ministerium), Dieter Castrup und Jürgen Sudhoff (Auswärtiges
Amt) sowie der Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin, Franz Bertele. Doch die große Mehrheit der Umworbenen weigert sich strikt.
Die Menschen geben nichts mehr auf
Versprechen – sie wollen, einmal der DDR
entkommen, auf dem kürzesten Weg in
den Westen.
Die wenigen, die eine vorläufige Rückkehr überhaupt nur erwägen, verlangen
Antworten auf praktische Fragen – etwa:
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DDR-Außenminister Oskar Fischer, 66, erlebt am Rande der Uno-Vollversammlung
unangenehme Begegnungen mit zwei Kollegen, auf die seine Regierung derzeit gar
nicht gut zu sprechen ist.
Zuerst bittet ihn Ungarns Außenminister Gyula Horn, 57, zu einem Gespräch,
in dem dieser sich – wie der Ostdeutsche
per Telex nach Hause berichtet – bitter
darüber beklagt, dass sein Land „sehr von
Kommentaren der DDR-Nachrichtenagentur mit völlig unbegründeten Anspielungen und beleidigender Wortwahl
betroffen“ sei. Verdattert behauptet Fischer, die Medien der DDR würden „ihre
Tätigkeit selbst verantworten“ – als gäbe es
in der DDR eine freie Presse.
Dann muss Fischer ein frostiges Gespräch mit seinem Bonner Kollegen HansDietrich Genscher hinter sich bringen, der
ihn bisher immer respektvoll behandelt
hat. Auf die prekäre Lage der Botschafts-
REUTERS
BUNDESARCHIV
Mittwoch, 27. September 1989
New York
Außenminister Horn, Genscher in New York
Präsent aus Samt und Stacheldraht
flüchtlinge angesprochen, verfällt der
schmächtige Einheitssozialist in inhaltsleere Floskeln über die angebliche innere
Stabilität der DDR.
Herzlichkeit hingegen prägt das Treffen
zweier ehemaliger Gegner. Horn überreicht Genscher in New York ein Stück Stacheldraht auf einem Band in den ungarischen Nationalfarben Rot-Weiß-Grün, drapiert auf rotem Samt.
Ein Messingtäfelchen erläutert die Bedeutung des Präsents: Der Stacheldraht war
noch vor kurzem an der österreichischungarischen Grenze Teil jenes Eisernen
Vorhangs, der nun gelüftet wird.
Donnerstag, 28. September 1989
Prag
Bonns Botschafter in Prag, Hermann Huber, übergibt dem Honecker-Beauftragten
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Vogel einen dicken Stapel Papier: „Personalbögen“, die der Diplomat an die
4000 Besetzer seiner Residenz verteilt
hatte.
Mittlerweile haben die Flüchtlinge die
Zettel ausgefüllt. Mit einem „roten V“, erläutert Huber, seien die Fragebögen derjenigen Ausreisewilligen markiert, die „bereit
wären, auf der Basis der von Ihnen in der
Botschaft gemachten Zusagen … die Botschaft zu verlassen“.
Mit den Namenslisten fährt Vogel in die
Prager DDR-Botschaft. Dort soll Gerhard
Niebling, Generalmajor der Stasi, den
Rücktransport organisieren.
Beim gemeinsamen Frühstück eröffnet
der Geheimdienstler dem Anwalt, er wolle Mielke anrufen und ihm vorschlagen,
die Abtrünnigen mit Sonderzügen heimzuholen. Doch der MfS-Mann täuscht
sich über die Zahl der Rückkehrwilligen.
„Gerhard“, gesteht Vogel seinem Gesprächspartner, „sag dem Minister, wir sind
am Ende.“
Nicht einmal 200 wollen auf Vogels Offerte eingehen – für die genügen ein paar
Busse. Niebling gibt die Personalien der
Rückkehrwilligen, von denen viele ohne
Ausweis in die ∏SSR aufgebrochen waren,
an die Grenzkontrollstellen weiter.
Abends bei einem Essen in der BonnBotschaft gesteht Vogel auch den westdeutschen Beamten ein: „Wir müssen erkennen, da läuft nichts mehr.“
Nach Prag werde er nicht mehr zurückkommen: „Das hat keinen Zweck.“
Wenig später fliegt Vogel nach Warschau,
um sich einem weiteren Problemfall zuzuwenden: Auch in der dortigen westdeutschen Botschaft und in Zelten, die von der
freien polnischen Gewerkschaft Solidarność am Stadtrand aufgeschlagen wurden,
haben hunderte von DDR-Bürgern Zuflucht gesucht.
Warschau
In der engen Ulica Dabrowiecka, vor der
Bonner Vertretung, drängen sich DDRFlüchtlinge, die westlichen Reportern von
ihrer Odyssee berichten.
Weil DDR-Bürger Polen seit Jahren nur
mit Pass und Visum besuchen dürfen, haben einige ihre Kinder und ihre Plastetüten
huckepack genommen und sind durch die
Neiße ins sozialistische Nachbarland geschwommen. Andere sind übers Riesengebirge nach Polen gekommen; von der
Grenze aus brauchten sie, zu Fuß und per
Anhalter, fünf Tage, um sich nach Warschau durchzuschlagen.
Vor diesen Menschen wiederholt Vogel
sein Angebot: Ausreiseerlaubnis binnen
sechs Monaten, zunächst jedoch Rückkehr
in die DDR.
Doch in Warschau kann Vogel noch weniger ausrichten als in Prag. Die neue Koalitionsregierung, von der prowestlichen
Solidarność-Bewegung angeführt, hegt –
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Kinder dabei?“, will Moskaus Außenminister wissen. Genscher antwortet: „Viele.“
Daraufhin verspricht Schewardnadse:
„Ich helfe Ihnen.“
G. CLAUSSEN
Freitag, 29. September 1989
Ost-Berlin
Vermittler Vogel, Ehefrau Helga in Warschau: „Sag dem Minister, wir sind am Ende“
von denen noch vor wenigen Tagen niemand zu träumen gewagt hätte.
New York
In einem Streifenwagen der New Yorker
Polizei, mit eingeschaltetem Blaulicht,
lässt sich Hans-Dietrich Genscher zur
sowjetischen Botschaft bringen. Während
der Uno-Vollversammlung haben den
Außenminister neue alarmierende Berichte über die Lage in der Prager Botschaft
erreicht: Nunmehr drohe nicht nur der
Ausbruch von Seuchen, es bestehe auch
Einsturz- und Feuergefahr.
In einem kurzfristig organisierten Gespräch bittet Genscher seinen Kollegen
Eduard Schewardnadse um Hilfe. „Sind
JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
anders als die Kommunisten, die in der
∏SSR am Ruder sind – keine brüderlichen
Gefühle für die roten Preußen.
Die rund 800 DDR-Bürger, die in der
westdeutschen Botschaft Schutz gesucht
haben, können ohne Furcht vor Abschiebung auf eine politische Lösung warten.
Der neue Premier Tadeusz Mazowiecki hat
bereits verkündet: „Keiner wird gegen seinen Willen in die DDR zurückgeschickt.“
Vogel, abermals gescheitert, verlässt die
Verhandlungsstätte. Vor der Tür verweigert er jeden Kommentar: „Ich möchte
nichts sagen.“
Er weiß: Die Situation ist jetzt, so kurz
vor dem 40. Jahrestag, nur noch zu retten,
wenn Honecker Zugeständnisse macht,
Gegen 17 Uhr endet die Festversammlung
„40 Jahre Volksrepublik China“ in der
Staatsoper zu Ost-Berlin. Nach dem Absingen der „Internationale“ eilen die 1400
Jubelgäste zu den Garderoben.
Die Politbüro-Mitglieder müssen noch
bleiben. Honecker hat die Genossen angewiesen, sich nach dem Festakt im Apollosaal, dem prachtvollen Kammermusik- und
Empfangsraum des Hauses, einzufinden –
zwecks „Information über einen Sachverhalt höchster Dringlichkeit“.
Bei Kronleuchterschein, an kahlen Tischen zwischen Stuckmarmorsäulen, beginnt die wohl ungewöhnlichste Sitzung
der Geschichte des DDR-Politbüros.
Mit starrer Miene teilt der Generalsekretär den Gralshütern des Arbeiter-undBauern-Staates Ungeheuerliches mit: Morgen Abend sollen vier Reichsbahn-Züge
die Botschaftsbesetzer vom Bahnhof PragLiben aus über Dresden ins bayerische Hof
bringen. Auch die in Warschau Wartenden,
so Honecker, „muss man in den Westen
entlassen“.
Wohl jedem der Anwesenden ist bewusst: An diesem Tag – 28 Jahre nach dem
Bau der Mauer, 8 Monate nach den letzten
Todesschüssen an der deutsch-deutschen
Grenze – geht eine Epoche zu Ende: Jahr-
DDR-Führung in der Ost-Berliner Staatsoper: Nach dem Festakt mit den chinesischen Blutsfreunden eine Krisensitzung unter Kronleuchtern
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AP
zehntelang hatte der SED-Staat Republikflüchtige einsperren oder auf dem Todes- Prag
streifen an der Grenze erschießen lassen. Wegen der Ost-Berliner Entscheidung, die
Nun plötzlich sieht sich die DDR genötigt, Züge durch die DDR zu leiten, haben GenAusreisewillige auf Regierungskosten, in scher und Seiters in Absprache mit Kanzvolkseigenen Zügen, vor aller Welt, zum ler Helmut Kohl beschlossen, umgehend
Klassenfeind zu transportieren – nur, nach Prag zu fliegen – sie wollen den Ausum die bombastische 40-Jahr-Feier der reisewilligen im Botschaftsgarten durch
„Tätärä“ zu retten, wie der renommier- ihre Anwesenheit das Misstrauen gegenüber den DDR-Behörden nehmen.
süchtige Staat verspottet wird.
Der Außenminister, der im Juli einen
Wohl um die Jämmerlichkeit der Aktion
zu bemänteln, betont Honecker, Prag habe Herzinfarkt erlitten hat, ist so aufgewühlt,
um die Räumung der Botschaft gebeten. dass er während des Flugs „sehr starke
Die Genossen fürchteten, die Unruhe kön- Herzrhythmusstörungen“ verspürt. Um
ne auf das ganze Land ausstrahlen und die 18.52 Uhr treten Genscher und Seiters auf
den Balkon der Botschaft.
tschechische Opposition ermutigen.
„Liebe Landsleute“, beginnt der AußenWeil es im Kreis der Politbüro-Mitglieder wie üblich weder Fragen noch Wider- minister sichtlich ergriffen, „wir sind geworte gibt, legt der Chef eilig das Pro- kommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heugramm für die nächsten 24 Stunden fest. te Ihre Ausreise …“ Der Rest geht in
Hermann Axen soll Horst Neubauer, den ohrenbetäubendem Jubel unter.
Leiter der Ständigen Vertretung in Bonn, unterrichten, dem es wiederum obliegt, „die Regierung der BRD über die
Entscheidung zu informieren“.
Bevor Honecker nach
20 Minuten seinen Stab
entlässt, wird Chefpropagandist Joachim Hermann beauftragt, einen
„Kommentar in der Presse, in Rundfunk und
Fernsehen zu veröffentlichen“ – Tenor: „humanitärer Akt“.
Im „Neuen Deutschland“ wird zwei Tage Prag-Besucher Genscher: „Starke Herzrhythmusstörungen“
später zu lesen sein, die
Botschaftsflüchtlinge seien in den Westen
Überglückliche Menschen stimmen „Eientlassen worden, weil in Prag der „Aus- nigkeit und Recht und Freiheit“ an, dann
bruch von Seuchen“ gedroht habe.
hallen Sprechchöre durch den Botschaftspark: „Danke, danke, danke.“
Als Genscher den Balkon verlässt, hat
Sonnabend, 30. September 1989 er den „bewegendsten Augenblick“ seiner
politischen Laufbahn erlebt.
Bonn
In der „Aktuellen Kamera“, der TagesHorst Neubauer, 53, Honeckers Mann in schau des DDR-Fernsehens, verliest eine
Bonn, trifft mit Kanzleramtsminister Ru- Nachrichtensprecherin kurz darauf die
dolf Seiters und Außenminister Genscher amtliche Ost-Berliner Erklärung:
zusammen. Der Diplomat hat um einen
In Übereinkunft mit der Regierung der ∏SSR
dringenden Gesprächstermin ersucht.
Neubauer überbringt den Bonnern die hat die Regierung der DDR entschieden, die
Entscheidung Honeckers: Den Botschafts- Personen, die sich widerrechtlich in der Botbesetzern wird die Ausreise in die Bun- schaft der BRD in Prag aufhalten, über das
desrepublik gestattet – allerdings nur Territorium der DDR in die BRD auszuweisen.
durch das Gebiet der DDR, wo ihnen of- Dabei ließ sie sich vor allem von der Lage
fiziell die Staatsbürgerschaft aberkannt der Kinder leiten, die von ihren Eltern in
eine Notsituation gebracht worden sind und
werden soll.
Genscher zeigt sich darüber erstaunt, die für deren gewissenloses Handeln nicht
dass die DDR-Führung darauf beharrt, ihre verantwortlich gemacht werden können.
republikmüden Bürger vor ihrem endgültigen Abschied symbolisch noch einmal Spremberg
heimzuholen. Es sei doch „voraussehbar, Carola Stellmach sitzt in der Badewanne,
dass die Züge bei der Fahrt durch die DDR als die sensationelle Nachricht von der Ausgroßes Aufsehen und große Emotionen er- reise der Botschaftsflüchtlinge über die
regen würden“.
Sender geht. Sofort beschließen sie und ihr
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P. PIEL / GAMMA / STUDIO X
100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS«
Flüchtlingszug an der DDR-Grenze
Endlich, gegen 4 Uhr,
fährt ein Zug im Bahnhof ein. Im engen Abteil
„Praha“ kommt in Sicht.
bekämpft Tochter Do„Wie der Teufel“ sind sie
reen ihre Aufregung mit
durch die nächtliche
einer Hühnerkeule, der
Tschechoslowakei geandere Broiler wird bei
knattert – mit SpitzenAbteilnachbarn gegen
tempo 105.
Obstkonserven eingeIn Prag lotst ein Stellmach, Tochter Doreen (1989)
tauscht.
freundlicher Taxifahrer
Bevor sich der Zug in Bewegung setzt,
(„Jedte za mnou“ = fahr mir hinterher)
die umherirrenden Fremden zum hell er- verriegeln Schaffner mit Vierkantschlüsleuchteten Gebäude der westdeutschen seln die Türen.
Im vogtländischen Reichenbach komBotschaft in der Vlasská. Dort werden sie
men beschlipste DDR-Bedienstete in den
unbürokratisch rasch registriert.
Die nahezu menschenleere Residenz Zug, nehmen – letzter, absurder Hoheitssieht so wüst aus wie ein verlassenes Heer- akt des Honecker-Staates – den Passagielager. Stundenlang, erfahren die Neu- ren die Ausweise ab und lassen die blauen
ankömmlinge, sind die Ausreisewilligen mit Heftchen in einem schwarzen Aktenkoffer
Bussen zum Bahnhof gekarrt worden. Den verschwinden. Keine Minute dauert die
letzten Transport haben die Stellmachs ver- Prozedur.
Kaum haben die Kontrolleure den Zug
passt.
Die Familie zwängt sich noch einmal in verlassen, da prasselt aus den Abteilfenihre „Pappe“, rast zum Bahnhof Liben, stern ein Alu-Münzregen auf sie hernieparkt das Auto in einer Nebenstraße und der: Pfennige, Groschen und Markstücke
und schlängelt sich durch eine Milizkette in klirren auf den Asphalt des Bahnsteigs,
die Vorhalle. Dort warten tausende auf die Papierflieger aus DDR-Geldscheinen, den
angekündigten Sonderzüge, beruhigen ihre sogenannten Kosakendollars, segeln hinkreischenden Kinder und tauschen Pro- terher.
Bevor sich der Zug in Richtung Westen
viant und Befürchtungen aus.
Viele haben wie die Stellmachs nach in Bewegung setzt, trennt sich auch Volkden Fernseh-Nachrichten daheim alles ste- mar Stellmach übermütig von den letzten
hen und liegen lassen – in Torschlusspanik: Münzen.
Dann schwirrt auch noch sein TrabiSie fürchten, die DDR könnte schon bald
nach dem „einmaligen humanitären Akt“ Schlüssel durch die Luft.
(so die Ost-Berliner Nachrichtenagentur
J OCH E N B ÖLSCH E , P ET RA B ORN HÖFT,
N ORBE RT F. P ÖTZL , I RI NA R E PKE ,
ADN) den Zugang zur Tschechoslowakei
C ORDT S CH N I BBE N
sperren.
Ehemann: „Wir müssen nach Prag, jetzt
oder nie, noch heute Nacht.“
Sie fürchten: Nun ist nicht mehr damit
zu rechnen, dass ihnen das beantragte
Ungarn-Visum genehmigt wird – ihnen
bleibt nur die Flucht über die ∏SSR.
Carola Stellmach springt aus der Wanne,
weckt die Kinder und rafft in aller Eile das
Nötigste zusammen: Wäsche, zwei Broiler,
zwei Flaschen Brause sowie eine Kanne
Kaffee.
Unter Tränen verabschieden sich die vier
von den engsten Nachbarn. Während sie in
ihrem Trabi über die bucklige F 96 in Richtung ∏SSR-Grenze holpern, schärfen die
Stellmachs ihren Kindern ein, sich an der
Grenze nicht zu verplappern: Sie besuchten die Tschechoslowakei nur übers Wochenende, wollen sie angeben.
Doch die DDR-Grenzer am Übergang
Seifhennersdorf sind misstrauisch. Sie lassen die Eltern und die müden, fröstelnden
Kinder aussteigen, filzen eine halbe
Stunde lang den Wagen, leuchten mit der
Taschenlampe unter die Sitze – und
überlassen die Reisenden schließlich den
Tschechen.
Die winken kurz nach Mitternacht die
Familie durch.
Sonntag, 1. Oktober 1989
Prag
Um 1.35 Uhr sehen die Stellmachs die Lichter des Hradschin, das erste Ortsschild von
HÖFL
Aus den Abteilfenstern segeln Papierflieger aus „Kosakendollars“
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100 TAGE IM HERBST: „WIR WOLLEN RAUS“
Allein gegen alle
Bärbel Bohley: Warum die Symbolfigur des
Herbstes 1989 nicht zur Volksheldin taugte
O
ruhig. Leichtigkeit liegt in ihren Gesichtszügen. Die Angst der Leute, das spürt sie,
ist weg. Und wenn die Angst erst mal verflogen ist, hat das System von Stasi und
SED schon seinen Schrecken verloren –
das weiß sie aus eigener Erfahrung.
Würden die kleine Frau und der schlanke, hoch gewachsene Mann am Podium
jetzt aufstehen und dazu aufrufen, ihnen
zu folgen, die meisten Besucher täten es sicher. Aber die Pose eines Lech Walesa, der
in Danzig die Arbeiter anführte, liegt den
Rebellen im Osten Deutschlands nicht. Fertige Antworten haben sie nicht, Führer wollen sie nicht sein.
„Ich will eine total veränderte DDR, in
der jeder Bürger sich endlich selbst in die
Mündigkeit entlässt“, ist Bärbel Bohleys
Credo. Ihre Antworten sind Aufforderungen zum Selberdenken.
Massenweise treffen in diesen Tagen
Briefe in dem maroden Haus in der Fehrbelliner Straße im Ost-Berliner Bezirk
Prenzlauer Berg ein, in dem sie wohnt.
„Bitte helfen Sie uns, Frau Bohley“, heißt
es in vielen Schreiben. „Von der Volkskammer bis zur Versorgung mit Apfelsinen“,
stöhnt die Empfängerin der Bittschriften,
„reicht unsere vermeintliche Anwaltschaft.“
Aufbauhelferin Bohley (in Bosnien 1997)
Eingeholt von der Erinnerung
Das Vertrauen des Volkes in die zierliche
Frau ist in diesen Wochen schier unbegrenzt. Bald gilt sie als „Mutter der Revolution“, als „Jeanne d’Arc vom Prenzlauer
Berg“. Doch zur Volksheldin taugt Bärbel
Bohley nicht. Nur ein paar Wochen lang
hat sie ein inniges Verhältnis zu diesem
DDR-Volk – bis zum Fall der Mauer.
Als die Leute plötzlich nach West-Berlin
strömen, sieht sie ihren Traum von den
selbstbewussten und mündigen Mitbürgern
in den Einkaufspassagen des Ku’damms
verenden. „Die Leute sind verrückt, und
die Regierung hat den Verstand verloren“,
kommentiert sie den Mauerfall. Von diesem Satz bis zur Niederlage der Oppositionsgruppen bei den Volkskammerwahlen im März 1990 ist es nur ein kurzer Weg.
Monate später ist die Heldin des Herbstes
1989 politisch wieder fast so isoliert wie in
den Jahren der Dissidenz. Doch auf einsamem Posten zu kämpfen stört sie nicht,
GAMMA / STUDIO X
ktober 1989, in einer Kirche in
Ost-Berlin: In dem protestantisch
schmucklosen Altarraum sitzen
Bärbel Bohley und Jens Reich an einem
kargen Holztisch. Bis auf den letzten Platz
sind die Kirchenbänke gefüllt, doch immer
mehr Menschen drängen in das dunkle,
kühle Gotteshaus.
Bisher haben sie die beiden Protagonisten des Neuen Forums nur im West-Radio
gehört, manche haben Flugblätter in die
Hand bekommen, aus denen sie nicht ganz
schlau wurden: Will das Neue Forum nun
den Sozialismus verbessern? Oder Marktwirtschaft und West-Geld einführen?
An den Mikrofonen in den evangelischen Gotteshäusern, ob in der Erlöserkirche in Ost-Berlin oder in der Leipziger Nikolaikirche, finden die Menschen ihre Sprache wieder. An den Mikrofonen erzählen
sie ganz alltägliche Geschichten: von fiesen
Handwerkern, dummen Staatsbürgerkundelehrern oder miesen Bonzen.
Auch in der Kirche, in der Bärbel Bohley
sitzt, melden sich die Menschen zu Wort.
Die Malerin genießt es. Wie lange hat sie
solche Augenblicke herbeigesehnt! Plötzlich ist die Frau, die in diesen Tagen noch
öfter als sonst zur Zigarette greift, ganz
T. SANDBERG / OSTKREUZ
PORTRÄT
Bürgerrechtlerin Bohley (in ihrem Ost-Berliner Atelier): „Mein Oppositionsgeist ist immer ganz persönlich“
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dort ist ihr Stammplatz. Bärbel Bohley,
Jahrgang 1945, ist das Gegenbild zum Erziehungsziel der DDR-Volksbildung. Dem
verordneten Kollektivgeist hat sie einen
Individualismus entgegengesetzt, dessen
Unberechenbarkeit die Herrschenden
nervte, dessen latenter Autismus es auch
Freunden nicht immer leicht machte.
„Mein Oppositionsgeist“, hat sie einmal
gesagt, „ist immer ganz persönlich.“
Anfang der Achtziger, als in Ost wie
West der Widerstand gegen die Hochrüstung wuchs, geriet die Malerin, die in der
DDR Grafik studieren durfte und es sogar
zum Mitglied der Sektionsleitung des Berliner Bezirksverbandes Bildender Künstler brachte, ins Visier der Staatsorgane.
Eine Eingabe gegen ein neues Wehrgesetz,
nach dem im Ernstfall auch Frauen hätten
eingezogen werden können, führte zum
Rausschmiss aus der Sektionsleitung. Weil
sie mit englischen Frauen über Krieg und
Frieden diskutierte, nahm sie der Staatssicherheitsdienst zum Jahreswechsel 1983/84
für sechs Wochen in Untersuchungshaft,
wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“. Damals gehörte sie
Als Gregor Gysi ihr
per Gericht verbieten ließ,
ihn einen „Stasi-Spitzel“
zu nennen, nannte sie ihn
eben „Stasi-Spritzel“.
schon zum Kern der DDR-Opposition, zur
Gruppe „Frauen für den Frieden“.
Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern gründete Bohley 1986 die „Initiative
für Frieden und Menschenrechte“ (IFM),
die anders sein wollte als die zahlreichen
kirchlichen Friedenskreise im Land – eine
Oppositionsgruppe nach dem Vorbild der
tschechischen Charta ’77.
Damals lernte sie die westdeutsche Grünen-Gründerin Petra Kelly kennen und
schätzen, die im Unterschied zu anderen
West-Politikern Kontakt nicht nur zu den
Mächtigen in der DDR suchte. Regelmäßig
traf sich die Bundestagsabgeordnete Kelly
mit DDR-Oppositionellen, die sie mit
Büchern und Druckmaterialien versorgte,
„kofferraumweise“, wie sich das einstige
IFM-Mitglied Ralf Hirsch erinnert. Als
Erich Honecker 1987 Bonn besuchte,
schenkte die Grünen-Politikerin dem SEDBoss einen Bildband der DDR-Malerin –
ein in den Jahren der Teilung einmaliger
Akt der Solidarität.
Die Chance, die Querulantin endlich loszuwerden, sah die DDR-Regierung 1988.
Oppositionelle und Ausreisewillige störten
einen SED-Gedenkmarsch für die ermordeten Arbeiterführer Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg mit eigenen Transparenten; Opfer der darauf folgenden
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Verhaftungswelle wurde auch Bärbel
Bohley.
Reihenweise wurden Dissidenten damals gen Westen abgeschoben. Doch wieder gelang ihr das eigentlich Unmögliche:
Mit ihrem damaligen Lebensgefährten
Werner Fischer erstritt sie sich im Gefängnis das Recht auf Rückkehr in die
DDR. So war sie, anders als andere, zur
Stelle, als der Traum vom Aufbruch wahr
wurde.
Am 9. September 1989 verfasste Bärbel
Bohley mit zwei Dutzend weiteren Oppositionellen den Gründungsaufruf für
das Neue Forum. Später trieb sie konsequent, mitunter gnadenlos, die Aufdeckung der Stasi-Machenschaften voran.
Sie machte Manfred Stolpe und Gregor
Gysi das Leben schwer, die sich der eigenen Vergangenheit nicht stellen wollten.
Und als Gysi ihr per Gericht verbieten
ließ, ihn einen „Stasi-Spitzel“ zu nennen,
nannte sie ihn, typisch Bohley, eben „Stasi-Spritzel“.
Ihr Versuch jedoch, die Bürgerbewegung
in die neue Zeit zu retten, scheiterte – nicht
zuletzt an der Mitgründerin selbst. Ihr Individualismus wurde der Organisation zum
Verhängnis. Ohne oder gegen sie, das ließ
sie die Mitstreiter oft genug spüren, sei das
Neue Forum undenkbar.
Im August 1995 brach sie noch einmal
spektakulär ein Tabu: In ihrer Wohnung
empfing sie Bundeskanzler Helmut Kohl,
der sich 1990 über die Bedenken und Ratschläge der einheitsskeptischen Bürgerbewegten hinweggesetzt hatte. Die Begegnung mit Kohl, die den Eintritt einiger Bürgerrechtler in die CDU einleitete, markierte zugleich den Endpunkt der DDRBürgerbewegung.
Doch bis heute zählt Bärbel Bohley mit
Jens Reich und Richard Schröder zu den
wenigen politischen Figuren des Herbstes
1989, die weder Amt noch Mandat brauchen, um Debatten zu entfachen – wenn es
sein muss, allein gegen alle.
Im Jahre 1996 besetzte sie wieder einen
vermeintlich aussichtslosen Posten: Sie
ging als Aufbauhelferin nach Bosnien – und
wurde von der DDR eingeholt. Die
„stumpfen, grauen, müden Gesichter, das
stumme Gehetze der Laufenden, die Lethargie der Wartenden“, schreibt sie, seien
ihr vertraut vorgekommen – „aus der DDR
der sechziger und siebziger Jahre“.
Bärbel Bohley auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit? Fotos aus Bosnien,
die sie vor halb zerschossenen Häusern
zeigen, erinnern verblüffend an alte Bilder mit ihr aus den Hinterhöfen am Prenzlauer Berg.
S T E FAN B E RG
Im nächsten Heft
„Gorbi, hilf uns“ – Prügelorgien zum Jubiläum
– Mielke: „Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus“ – „Maximilian“ verrät die SPD
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SPIEGEL-Essay
D ig i ta l e r K a p i ta l i s m u s
peter glotz
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rikanisierung der europäischen Gesellschaften, sei es eine Erneuerung neokooperatistischer Mechanismen (Bündnis für Arbeit)
– die Vollbeschäftigung wiederherstellen kann? Die Antwort ist
nein. Was entstehen dürfte, ist eine Zweidrittelgesellschaft mit Lagern, die sich bekämpfen werden.
Der Kampf zwischen dem Zweidrittelblock, der die Beschleunigung mitmacht, und dem „dritten Drittel“, das ausgegrenzt wird
oder die neue Lebensform zurückweist, wird sich im Kern nicht um
technokratische und ökonomische Einzelkonzepte, sondern um
die gefühlsbeladene Grundsatzfrage der Lebensführung drehen.
Die Ideologie der Mehrheitsgesellschaft hat sich nicht so
schrecklich verändert, seit Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert
sein berühmtes „Zeit
ist Geld“ in die Welt
setzte, das Max Weber dann Anfang des
20. Jahrhunderts zum
Ausgangspunkt seiner
Analyse des „Geistes
des Kapitalismus“
machte: Der Mensch
berechnet und antizipiert, was der andere,
der Konkurrent, der
Markt tut.
Dieser Philosophie
kann man „soziale Kälte“ vorwerfen.
Sie beruht auf Gewinnstreben, Egoismus und Konkurrenzdenken, belohnt die
Stärkeren und bestraft
die
Schwächeren,
schafft natürlich ganz
und gar ungleiche, unter vielen Aspekten
auch ungerechte Gesellschaften. Wer anpassungsfähig, beweglich und rastlos ist, wird
ein gutes Stück nach oben kommen. Das entscheidende Argument
aber ist: Man kann von einem schnell dahingleitenden Zug nur abspringen, wenn man bereit ist, das Leben zu riskieren.
Kapitalismus ohne Wachstum funktioniert nicht; und die politischen Steuerungsmöglichkeiten („Was soll wachsen?“) sind im
Zeichen der Medienwende am Ende des 20. Jahrhunderts geringer geworden. So hat die auf Marktwirtschaft erpichte Mehrheitsgesellschaft den „Realismus“ auf ihrer Seite. Wer den Übergang zum digitalen Kapitalismus mit seiner hohen Rate der Geschwindigkeitsänderung bewusst verzögern wollte, müsste
schmerzhafte Wohlstandsverluste in Kauf nehmen.
Die Minderheit ist gerade dabei, wieder einmal eine eigene
neue Welt von Werten und Normen zu entwickeln. Das ist ein legitimer Vorgang. Man muss sich wehren dürfen. Denn diesen Leuten wird ja entgegengehalten, sie seien faul und untüchtig und hätten die „Tugenden“ des Industrialismus verraten.
Dabei wird nicht gefragt, was man im digitalen Kapitalismus mit
den Tugenden des Industriekapitalismus eigentlich anfangen kann,
wenn man keinen der begehrten Arbeitsplätze der Informationsverarbeitung ergattern kann. Erklärlich, dass Leute, die lange genug sowohl nach einer ernährenden als auch befriedigenden Tätig-
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S. WARTER / AGENTUR FOCUS
D
er Streit in der europäischen Sozialdemokratie, zum Beispiel zwischen Tony Blair und Gerhard Schröder auf
der einen und Lionel Jospin auf der anderen Seite, in
Deutschland gespiegelt in der Auseinandersetzung zwischen Gerhard Schröder und Reinhard Klimmt, ist die Reaktion auf die neuen Kommunikationsverhältnisse der Informationsökonomie. Bisher
redete man verhüllend über Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, telematische Gesellschaft. Kürzlich hat die Deutsche
Bank den Befreiungsschlag versucht und (für eine große Tagung)
erneut den Kapitalismus-Begriff benutzt. In der Tat ist es verrückt
zu verstecken, dass der Kapitalismus gesiegt hat und dass Kapitalverhältnisse das Leben der Menschen entscheidend bestimmen.
Die Wahrheit ist:
Der Industriekapitalismus wandelt sich zum
digitalen Kapitalismus.
Das ändert die Lage.
Schon der Blick auf
die Entwicklung der
letzten Jahre zeigt
das Problem: „jobless
growth“. ABB hat
durch Umstrukturierung seit Anfang der
neunziger Jahre 34 600
Beschäftigte freigesetzt
und gleichzeitig den
Umsatz um 18 Prozent
gesteigert. Siemens
steigerte zwar seine
Mitarbeiter im Ausland
zwischen 1993 und
1997 von 153 000 auf
189000; in Deutschland
aber wurde der Personalstand in der gleichen Zeit von 238 000 Zentrale einer Telefongesellschaft
auf 197 000 verringert.
Der VATM, der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. in Deutschland, weist stolz
darauf hin, dass die neuen privaten Telefongesellschaften in
Deutschland schon 25 000 Arbeitsplätze geschaffen hätten. Weitere 25 000 seien darüber hinaus im Umfeld der Telekommunikation bei Online-Firmen, Software-Unternehmen und HardwareProduzenten entstanden.
Die Deutsche Telekom AG musste allerdings zwischen 1992
und 1998 44 781 Arbeitsplätze abbauen. Mit derartigen Daten
könnte man unendlich lang fortfahren.
Soweit die Entwicklung derzeit prognostizierbar ist, ist die Arbeitsplatzbilanz des digitalen Kapitalismus in den hoch entwickelten Gesellschaften negativ. Dabei muss man sich klarmachen, dass sich diese reifen Industriegesellschaften gerade erst im
Übergang zum digitalen Kapitalismus befinden. Die meisten neuen Entwicklungen – zum Beispiel Electronic Commerce, die Ausdünnung der Filialstruktur der Banken und der Wegfall des durchschnittlichen Sekretariats – haben uns noch gar nicht erreicht.
Aber schon für 1997 nahm der Sachverständigenrat für Deutschland de facto eine Arbeitslosenrate von 15,9 Prozent an.
Ist es angesichts dieser Zahlen wahrscheinlich, dass die Politik
mit ihren traditionellen Instrumenten – sei es eine weitere Ame-
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SPIEGEL-Essay
verteidigen, bis die Wirklichkeit sie endgültig ad absurdum geführt
hat. Eduard Bernstein sagte, was zu Marx und Engels zu sagen
war, 1899. Die SPD akzeptierte diese Erkenntnisse in ihrem Godesberger Programm, also 1959.
Warum sollte ein Politiker einräumen, dass Vollbeschäftigung
nicht erreichbar ist, wenn doch gerade alle Anhänger sie von ihm
ie Antwort auf die Beschleunigung, die der digitale Ka- verlangen?
Um den Gesundbetern nicht ins Messer zu laufen, fasse ich die
pitalismus hervorbringt, lautet „Entschleunigung“. Daraus entwickelt sich gerade eine regelrechte Philosophie. Perspektiven für mein Land noch einmal nüchtern ins Auge.
Diese derzeit – im Vergleich zu anderen – reiche Gesellschaft hat
Ihre Schlüsselworte heißen „Nachdenklichkeit“, „Sinn“, „Leben
jenseits der Ökonomie“, „Ökologie“, „Gemeinsinn“ und eben in der Spätzeit des Industrialismus ein paar schwierige Probleme.
Sie ist fabelhaft im Kraftfahrzeugbau, der Chemie, dem Maschi„Entschleunigung“.
Die neue Ideologie greift um sich wie ein Ölfleck. Wer in der nenbau und der Elektrotechnik, aber schwach bei den schnellen
Arbeitswelt zurückgestoßen wird, wird begründen, warum „Ar- Branchen der Zukunft, also der Mikroelektronik, bei Computern,
beit“ im überlieferten Sinne, Erwerbsarbeit, fragwürdig sei. Es Computerperipherie, Software, Medien. Dieser Rückstand ist in eiwerden Millionen darauf verfallen, dass Eltern sich viele Stun- nigen Bereichen vermutlich aufholbar, wie das Beispiel erfolgreiden täglich ihrem Säugling widmen müssen, dass Menschen me- cher Neugründungen – die Software-Firma SAP aus Walldorf zum
ditieren sollten, dass ein gesunder Körper viel Pflege braucht, dass Beispiel – zeigt. Ein Durchbruch auf breiter Front verlangt aber einur ein sparsamer Lebensstil ökologisch sei oder dass das Welt- nen Kulturwandel.
Die deutsche Tradition kollektiver Regulationsmechanismen
gericht so unmittelbar bevorstehe, dass es keinen Sinn mache,
neue Teilchenbeschleuniger zu bauen oder neuartige Zahn- wird dem Individualismus in der Computer-Galaxis nicht mehr gerecht. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die vor allem in jungen
zwischenraumbürsten zu vermarkten.
Eine neue Welle der antirationalistischen Kulturkritik wird auf- Unternehmen oder unabhängigen Product-Divisions aufgelockersteigen: pathosgeladene Proteste gegen die „Vergletscherung der ter Konzerne entstehen werden, sind von Arbeitgeberverbänden
nicht zu garantieren. Die Systemanalytiker sind an
Seele“, neue Familienwerte, eine Dosis neuer
Gewinnbeteiligungen sehr, an Betriebsräten dageReligiosität, aber auch politisch, mystisch oder
ARUM SOLL
gen nur mäßig interessiert. Die Gewinnmargen in
apokalyptisch auftretende, widerständige Zirkel.
den Betrieben der gleichen Branche entwickeln
Inzwischen dröhnt uns der Streit dieser WertMAN ÜBER
sich extrem unterschiedlich, was Flächentarifsysteme in den Ohren. Noch ist die Ideologie des
STRUKTURELLE verträge erschwert. Die Arbeitszeitinteressen
Zweidrittelblocks dominant, die des dritten Dritunterschiedlicher Arbeitnehmergruppen streben
tels unterlegen. Aber wie lange?
RBEITSLOSIG
auseinander.
Schon ziehen sich Manager in abgelegene KlösAll diese Entwicklungen erzwingen einen printer zurück, um sich von teuer bezahlten Gurus AuKEIT REDEN
zipiellen Einstellungswechsel.
gustinus, Konfuzius oder Teilhard de Chardin ausUND
UTLOSE
Der kann durchaus gelingen. Deutschland
legen zu lassen. In den Ecken vieler Parks vermehrt
hat einen unschätzbaren Vorteil: ein bis in die letzsich die Zahl ganz normal aussehender Leute – eiNOCH
ten Winkel reichendes, solides, in den Spitzen
gentlich denkt man, das sind „Arbeitnehmer“ –, die
MUTLOSER
allerdings dringend reformbedürftiges Bildungslangsam seltsame Verrenkungen machen und dabei
wesen. Mag also sein, dass hungrige, flexible, arirgendwelche Laute ausstoßen. Wenn man sich inMACHEN
beitswütige und gewinnsüchtige junge Leute mit
formiert, hört man, diese Übung heiße Tai Chi und
Computer- und Media-Literacy die starren, von
werde von Yin- und Yang-Formeln begleitet.
Die Sehnsucht nach dem interpretativen Mehrwert von Religion Seilschaften organisierten, kompliziert verästelten Superstruktuwächst; allerdings richtet sie sich immer weniger auf die Volks- ren einfach unterlaufen und jenen Kulturwandel erzwingen. Sie
kirchen. Die Tochter dreht dem Vater das Wasser ab, das er beim werden dazu das System in die Krise stürzen.
Rasieren laufen lässt, im Hinblick auf das Wasserproblem auf der
südlichen Halbkugel. Unter den Mischehen zwischen den beiden
ur bedeutet das durchaus erreichbare Wachstum von ProKlassen explodieren die Konflikte.
duktivität und Sozialprodukt nicht mehr, dass auch die
„Ich bin nicht dazu da, darauf aufzupassen, dass sich unser Kind
Zahl der angemessen bezahlten Arbeitsplätze wächst. In
beim Herumkrabbeln nicht den Kopf anstößt, das kann auch ein der Industrie wird der Prozess ähnlich verlaufen wie in der Landnettes, kinderliebes Mädchen mit qualifiziertem Hauptschulab- wirtschaft, nur langsamer und weniger radikal: Immer weniger
schluss“, brüllt der aufsteigende Enddreißiger, der in einer Bera- Leute werden immer mehr produzieren.
tungsfirma gerade „Partner“ geworden ist. „Ich habe dich nicht
Die Informationswirtschaft setzt von vornherein auf die
geheiratet, um ständig allein und in dieser Scheißvilla begraben schlanke Organisation, die kleine Form, die lockere Assozu sein“, antwortet ihm seine Frau. Es fliegen die Fetzen, und das, ziation. Fraglich ist also nicht die Entstehung oder Verfestigung
was wir heute erleben, ist nur der Anfang.
einer neuen „Underclass“; die politischen Klassen sind längst
Ich verstehe durchaus, dass diese Analyse des digitalen Kapi- nicht mehr mächtig genug, diese Entwicklung zu verhintalismus die Aktivisten verärgert; ich war schließlich lang genug dern. Fraglich ist, ob die jeweilige politische Führung noch verselber Aktivist.
sucht, das untere Drittel (oder Viertel) kommunikativ und sozial
Das Unternehmerlager muss „ins Gelingen verliebt sein“; Sug- in die Gesellschaft einzubinden oder ob es von vornherein ausgestion und Selbstsuggestion sind Vehikel des Erfolgs. Warum soll gegrenzt wird.
man über strukturelle Arbeitslosigkeit reden und die sowieso
Die Alternative heißt Einschluss oder Ausschluss. Alles andere
Mutlosen noch mutloser machen? Eine realistische Nebenbe- ist edle Illusion oder blanker Betrug, oft genug eine Mischung
merkung in der Aufsichtsratspause über die Bohnensuppe hinweg von beidem.
– in Ordnung. Aber keine öffentlichen Bekenntnisse. Und Politiker neigen, von wenigen Churchills abgesehen, habituell zu ab- Glotz, 60, war Bundesgeschäftsführer der SPD und amtiert
wiegelnder Allgemeinheit.
derzeit als Gründungsrektor der Universität Erfurt. Sein BeiDie liberal-konservative Seite denkt, sie müsse die Invisible trag ist seinem neuen Buch „Die beschleunigte Gesellschaft“
Hand verteidigen, und in der Sozialdemokratie gibt es eine alte entnommen, das Anfang Oktober im Kindler-Verlag erscheint
Tradition, Programmsätze und moralische Postulate so lange zu (288 Seiten; 44,90 Mark).
keit gesucht haben, schließlich und endlich auf Paul Lafargues
„Recht auf Faulheit“ zurückgreifen und sich gegen den seine Arbeitszeit genau einteilenden und voll ausbeutenden Manager als
lebenskluge, nachdenkliche, Ressourcen schonende und menschlich einfühlsame Ökologen profilieren.
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T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Demonstration in Stuttgart*: „Der Sozialdienst steht nicht außerhalb des Strafrechts“
STRAFJUSTIZ
Musste Jenny sterben?
Ein Kleinkind in Stuttgart wurde misshandelt, bis es starb.
Auch die Fahrlässigkeit eines Sozialarbeiters, so das
Landgericht Stuttgart, trug dazu bei. Von Gisela Friedrichsen
* Am Tag des Urteils vor dem Landgericht.
90
BILD ZEITUNG
A
ls Säugling erkrankte sie an Hirnhautentzündung. Seitdem ist sie
geistig zurückgeblieben. Auf jede
Kleinigkeit des Alltags, etwa dass sie baden
soll oder die Haare waschen, muss sie hingewiesen werden. Was jeder Erwachsene
von sich aus tut, bei Rita, heute 27, bedarf
es mühsamer Einübung. Dabei ist sie lernwillig. Doch immer wieder lässt der Eifer
nach, und sie vergisst das Geübte.
Die Behinderung sieht man ihr nicht
an. Sie kann lesen, schreiben und an einem normalen Gespräch teilnehmen.
Aber Wesentliches von Unwesentlichem
unterscheiden, Zusammenhänge erfassen,
Argumente abwägen, eine neue Situation
bewältigen, Schlussfolgerungen ziehen,
eine Entscheidung treffen – das kann sie
nicht.
Rita ist das jüngste von drei Geschwistern, aufgewachsen in der ehemaligen
DDR. Sie besuchte dort die Sonderschule
und arbeitete als Küchenhilfe. Ende 1992
wird sie schwanger. Von wem? Zwei Männer, die sie später als mögliche Väter nennt,
kommen dafür nicht in Frage.
Am 30. September 1993 wird das
Mädchen Jennifer in Lüneburg geboren,
wo Rita inzwischen lebt. Die junge Mutter
ist auf die Geburt nicht vorbereitet, obwohl sich schon während der Schwangerschaft das Diakonische Werk um sie kümmert. Sie weiß nicht, wie man ein Neugeborenes füttert, wie man es anfasst und
was man tut, wenn es schreit. Gefahren erkennt sie nicht.
nerinnen gilt Rita als zuverlässig und konstant.
Nach Weihnachten 1995 zieht sie aus
dem Heim aus und nimmt das Kind mit.
Die Rechtslage erlaubt ihr das: Sie hat das
Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht.
Rita will mit einem neuen Freund zusammenleben.Wer passt nun auf Jenny auf,
wenn sie ausgehen will? Wer sagt ihr, wie
sie Jenny versorgen soll? Sie stellt das Kind,
so muss man das nennen, bei einem ihr bekannten Babysitter-Paar ab. Selbst als Misshandlungsspuren unübersehbar sind, wenn
die Mutter das Kind abholt, wird Jenny diesen Leuten immer wieder überlassen.
Es kommt zu entsetzlichen Szenen: Rita,
völlig hilflos ohne Hilfe, wirft ihr Kind gegen die Wand und auf den Boden; sie tritt
es. Auch ihr neuer Freund schlägt zu. Und
das Babysitter-Paar – das will „erziehen“,
mit Gewalt, mit Schütteln. Am 15. März
1996 stirbt Jenny, zweieinhalb Jahre alt, zu
Tode geschüttelt, weil sie nicht einschlief.
Der Mann, der Jenny getötet hat, wird
1997 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, seine Gefährtin zu drei Jahren verurteilt. Jennys Mutter erhält zwei Jahre und
zwei Monate wegen Misshandlung, ihr neuer Freund wegen Körperverletzung sieben
Monate auf Bewährung.
Der Staatsanwaltschaft Stuttgart genügt das nicht. Sie ist der
Auffassung, Jennys Tod hätte
verhindert werden können. Sie
klagt einen Sozialarbeiter des
Jugendamts Lüneburg wegen
fahrlässiger Tötung und einen
Sozialpädagogen aus Stuttgart
wegen fahrlässiger Körperverletzung an. Der Lüneburger, so
die Staatsanwaltschaft, hätte anlässlich Ritas Umzug seine Kollegen in Stuttgart detailliert über
die Gefährdung des Kindes informieren und in die Wege leiten müssen, dass Rita wenigstens
das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jenny entzogen wird.
Der Stuttgarter Betreuer wiederum hätte nach Ritas Auszug
aus dem Weraheim den Fall nicht
als „Normalfall“ dem Jugendamt übergeben
dürfen. „Er hätte nämlich in Rechnung stellen müssen, dass die eingetretene Beruhigung in der Misshandlungsproblematik der
Mutter dem festen Rahmen des Weraheims
und nicht einer Läuterung der Mutter, zu
der diese bei ihren Geisteskräften nicht dauerhaft im Stande war, zuzuschreiben war
und dass deshalb alsbald nach dem Auszug
der Mutter erneut massive Misshandlungen
des Kindes drohten“, so die Argumentation
der Staatsanwaltschaft.
Ihr geht es um eine Präzedenzentscheidung für alle Jugendämter und Sozialarbeiter. Doch sie erleidet bei der zuständigen Strafkammer eine Niederlage. Diese
lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens
ab, unter anderem, weil es zweifelhaft er-
Opfer Jenny: Falscher Mut zum Wagnis
Die Klinik alarmiert: Intensivbetreuung
sei unumgänglich. Das Jugendamt beschafft
eine Kinderpflegerin, die jeden Handgriff
Ritas überwacht. Zweimal steht die Helferin nicht zur Verfügung, mit der Folge, dass
Jenny zweimal Blutergüsse am ganzen
Körper erleidet und auch Bisswunden.
Der Säugling kommt sofort in eine Pflegefamilie. Dann findet das Jugendamt einen Platz für Mutter und Kind im Stuttgarter Weraheim, einer kirchlichen Einrichtung, wo rund um die Uhr Versorgung,
Überwachung und Anleitung gewährleistet sind. Eine längere Trennung von Mutter und Kind möchte man vermeiden.
Zwei Jahre verbringt Rita mit Jenny im
Heim. Ihre Defizite fallen zwar auch dort
auf, doch im Vergleich zu den Mitbewohd e r
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Deutschland
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
scheine, ob der Lüneburger verpflichtet
Beide Angeklagte sagen vor Gericht, ein
war, Rita das Aufenthaltsbestimmungsrecht Versuch, Rita unter diesen Umständen das
für Jenny entziehen zu lassen: „Eine solche Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen
Trennungsmaßnahme ist der schwerste zu lassen, wäre in Lüneburg wie in Stuttstaatliche Eingriff in das Elternrecht, der gart von vornherein zum Scheitern verurgrundsätzlich nur dann zur Anwendung teilt gewesen. Dem stimmt der Vorsitzenkommen kann, wenn andere weniger ein- de in der Urteilsbegründung zu: „So masschneidende Hilfs- oder Schutzmaßnah- siv ins Elternrecht einzugreifen – diese
men versagen oder von vornherein aus- Pflicht bestand für Sie beide nicht.“
scheiden.“ Und das war ja nicht der Fall.
Gegen die Trennung von Mutter und
Die Staatsanwaltschaft hat mit ihrer so- Kind, die einschneidendste Maßnahme, dafortigen Beschwerde beim OLG Stuttgart gegen sind alle, auch die VormundschaftsErfolg. In der Entscheidung heißt es: „Der richter. Das Ziel ist ehrenwert, es hat einen
Senat verkennt nicht, dass durch die Zu- guten Sinn. Aber guter Sinn um jeden Preis
schreibung einer strafrechtlichen Verant- kann teuer werden, er kann das Leben eiwortlichkeit … Mitarbeiter von Jugend- nes Kindes kosten – dann nämlich, wenn
ämtern, Sozialdiensten und Trägern der man auf eine Lösung setzt, die sich als unfreien Jugendhilfe in erhöhtem Maße der erreichbar herausstellt. Dass Ritas BehinGefahr einer Bestrafung ausgesetzt wer- derung „nicht ursächlich behandelbar“ ist,
den. Dies stellt jedoch keine Schlechter- darauf kommt unmissverständlich ein Gutstellung gegenüber anderen,
achter erst nach Jennys Tod.
mit vergleichbaren Pflichten
Es gibt natürlich Beispiele
belasteten Berufsgruppen –
dafür, dass Geduld selbst in
beispielsweise Ärzten oder
heillos scheinenden Fällen
Polizeibeamten – dar, sonlohnt. Einer der Angeklagdern nur eine Gleichstellung
ten schilderte seine Erfahmit diesen. Auch der Sozialrung mit einer jungen Mutdienst steht nicht außerhalb
ter, die vom Rauschgift nur
des Strafrechts.“
loskam, weil man ihr das
Nach der Entscheidung
Kind nicht wegnahm. Doch
des OLG musste die
das Wagnis hätte auch enden
1. Große Strafkammer des
können wie bei Jenny.
Landgerichts Stuttgart mit
Die Jugendämter wollen
dem Vorsitzenden Klaus
nicht durch ein Übermaß an
Teichmann, 62, nun also Verurteilter Sozialarbeiter
Kontrolle und Misstrauen
doch gegen die beiden Soeine möglicherweise positizialarbeiter verhandeln. Ergebnis: eine ve Entwicklung stören. Sie wollen auch
Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 70 Mark über eine Frau, deren geistige Behinderung
für den Lüneburger Angeklagten wegen das Verhältnis zu ihrem Kind beschwert,
fahrlässiger Körperverletzung; Freispruch nicht einfach verfügen. Man hilft, man refür den Stuttgarter. Der Lüneburger, so das spektiert, man denkt positiv, wie es das
Gericht, hätte die Stuttgarter Kollegen über neue Betreuungsgesetz 1992 auf den Weg
die Brisanz der Situation, die Behinderung gebracht hat.
Ritas und die Gefahr für Jenny, informieWar Jennys Tod nicht zu verhindern,
ren müssen. Für den Stuttgarter Ange- weil sich die mit dem Fall befassten Persoklagten sei bei seinem Kenntnisstand die nen in einem Konflikt befanden, der das RiKatastrophe nicht vorhersehbar gewesen. siko einer Katastrophe nun einmal nicht
Wirklich nicht? Das Urteil macht das Di- ausschloss? Das Stuttgarter Gericht nannlemma der Sozialarbeiter sichtbar, in das te die Betreuung behinderter Frauen und
sie beim Umgang mit Müttern geraten, die ihrer Kinder ein „Vabanquespiel“.
Gegen den Mut zu einem Zuwarten, zu
eine Risikobeziehung zu ihrem Kind haben. In Lüneburg hatte der Amtsarzt vor einem Wagnis steht allerdings die jähe,
Ritas Umzug nach Stuttgart eine Stellung- blindwütige Gewalt, zu der Jugendämter
nahme abzugeben. Es ging wie immer vor sehr wohl in der Lage sind, wenn es nicht
allem um die Kosten. Er stellte zwar eine um Misshandlung, sondern um den Ver„Grenzdebilität“ fest, einen Intelligenz- dacht sexuellen Missbrauchs geht. Gewiss
quotienten von 55, aber auch „vergleichs- gibt es auch da Fälle, in denen eine soforweise günstige Förderaussichten“. Die Pro- tige Unterbringung des Kindes angezeigt
gnose sei dann günstig, sagte er, wenn die ist. Doch das Schicksal der Wormser KinFörderung in einer Mutter-Kind-Einrich- der und vieler anderer, die ihren nichts ahnenden Eltern buchstäblich aus dem Arm
tung stattfinde.
Die hatte man im Weraheim ja nun ge- gerissen – und selbst nach einem Freifunden. Rita ließ sich helfen, die Prognose spruch nicht zurückgegeben – wurden, ist
war gut. Der Sozialarbeiter in Lüneburg nicht vergessen.
legte die Akte beiseite. Hätte der StuttgarJennys Tod geht auch die Vormundter Angeklagte mit Ritas Hilflosigkeit schaftsrichter an. Wenn es als aussichtslos
außerhalb des Heims nicht ebenso rech- gilt, sie anzurufen wie in Lüneburg, wie in
nen müssen, wie der Lüneburger auf die Stuttgart, unterbleiben Maßnahmen, die
ärztliche Prognose vertrauen durfte?
das Leben Jennys wohl gerettet hätten. ™
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SENIOREN
Chip
am Kleid
Weil viele Altenheime zu wenig
Personal haben, werden
immer mehr geistig verwirrte
Bewohner mit elektronischen Fußfesseln überwacht.
M
anchmal übernimmt die Erinnerung die Herrschaft über die alte
Frau. Dann glaubt sie, dass sie
noch immer an die 20 Leute versorgen
muss. Also am besten erst zur Bank gehen
und anschließend einkaufen. „Komm,
Kleine“, sagt Rosalie Krause, 79, dann zu
Gertrud Liebisch, 82, „die Oma nimmt
dich mit.“
Die Hand von Frau Liebisch legt sich in
die von Frau Krause, und so ziehen sie los.
Doch der Weg zur Bank ist nicht weit, der
Weg zum Einkauf auch nicht, kein Weg
mehr: Alle enden an derselben Stelle, am
Ausgang des Alten- und Pflegeheims St.
Marien im hessischen Homberg (Efze). Ein
schrilles Piepen wie bei einem ertappten
Kaufhausdieb alarmiert die Betreuer im
Haus, sobald die beiden alten Damen
durch die Tür gehen.
Meist ist Schwester Helenata, die Leiterin des Heimes, dann als Erste bei ihnen
und versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Denn Rosalie Krause, die ehemalige
Wirtschafterin, und Gertrud Liebisch, die
als Fabrikantin Herrenhemden produzierte, leiden unter Altersdemenz: Sie leben in
ihrer eigenen Welt. Und damit die reale
Welt mit ihnen zurechtkommt, werden sie
elektronisch überwacht. Am linken Arm
trägt Rosalie Krause ein schmales Band,
das aussieht wie eine etwas zu groß geratene Armbanduhr und in dem ein Sender
versteckt ist. Im Rahmen der Ausgangstür
verbirgt sich der Empfänger, der den
Alarm auslöst. Gertrud Liebisch braucht
kein Bändchen mehr, seit sie als KindErsatz ohnehin nur noch mit Frau Krause
auf Tour ist.
Während Rechtsgelehrte über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit elektronischer Fußfesseln für Häftlinge diskutieren,
wird die technische Überwachung in immer mehr Altenheimen leise zum Standard. Armbänder, aber auch Chips in den
Schuhen oder in der Kleidung ersetzen den
Pförtner und fehlendes Pflegepersonal.
Allein die niedersächsische Firma Witec in
Buchholz in der Nordheide verkauft jährlich 20 bis 30 komplette Systeme. „Eine
humane Alternative zur Fixierung oder zur
geschlossenen Unterbringung“ der Alten,
meint Geschäftsführer Klaus Wiechers.
An die 20 weitere Anbieter tummeln sich
inzwischen auf dem Markt, denn die Nach-
B. BOSTELMANN / ARGUM
O. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL
Altengymnastik in Schönaich, elektronisch kontrollierte Seniorin Krause: Schrilles Piepen
frage steigt, weil die Heime
personell ausgepowert sind.
„Bis zum letzten Jahr saß
eine Schwester an unserer
Pforte“, sagt Heimleiterin
Helenata, „jetzt ist die alte
weg, und eine neue konnten
wir nicht einstellen.“
Das Haus St. Marien liegt
aber direkt an einer Hauptverkehrsstraße. Die 6000
Mark teure Anlage soll verhindern, dass die alten Frauen geistesabwesend unter
Autos geraten: „Wir sind
heilfroh über die Sender“, sagt Katholikin
Helenata, „sonst müssten wir Menschen
wie Frau Krause einsperren.“
Kritiker dagegen wie der Neurologe und
Geronto-Psychiater Jan Wojnar, der in
Hamburg den psychiatrischen Dienst des
Projekts „Pflegen und Wohnen“ leitet, halten die Sender für „nichts anderes als eine
verkappte geschlossene Unterbringung“.
Die sei sogar noch der geringere Eingriff,
„weil man feststellen kann, die Tür ist zu.
Hier denken die Alten, sie können raus,
und schon legt sich eine Hand in den
Nacken“.
Ähnlich argumentierte das Amtsgericht
Hannover, als Anfang der neunziger Jahre
derartige Systeme zum erstenmal in
Deutschland auftauchten. Die Undurchschaubarkeit könne bei den Bewohnern
psychische Krankheiten verstärken. Die
Juristen verboten die Anwendung. Zwar
hob die nächste Instanz den Beschluss auf,
weil ihr der Aufwand für einen Zaun oder
für mehr Personal „unverhältnismäßig
hoch“ erschien. Doch immerhin wägte das
Landgericht die Vor- und Nachteile eines
Senders noch seitenlang ab.
Derart bedacht wird in der Praxis freilich nur selten entschieden. Der Vormundschaftsrichter Erhard Spanknebel
in Homberg riet Schwester Helenata, das
System einfach zu installieren, eine Genehmigung sei nicht erforderlich. Der
Richter irrt. Immerhin handelt es sich bei
der Chip-Überwachung um eine soge-
Deutschland
nannte freiheitsentziehende Maßnahme.
Und die muss laut Verfassungsgericht wie
etwa Fixierungen oder die Unterbringung
in einer geschlossenen Abteilung auch
vom jeweiligen Vormundschaftsgericht genehmigt werden.
„Ich halte es nicht für genehmigungspflichtig, weil ich es gar nicht für eine unterbringungsähnliche Maßnahme halte“,
sagt Spanknebel. Natürlich stoße auch ihn
die Technisierung ab, doch sehe er keine
Alternative.
Damit trifft der Jurist die Stimmung in
den Heimen. „Von unseren 75 Bewohnern
stehen mehr als die Hälfte am Anfang einer Demenz, oder sie ist bereits fortgeschritten“, sagt Diakon Karl-Heinz Pastoors, Leiter des Hauses Laurentius im
schwäbischen Schönaich. Alte Menschen,
körperlich oft noch fit, bräuchten eigentlich
besondere Zuwendung, ihr Bewegungsdrang sei immens. Manche müssten bei
ihren Spaziergängen begleitet werden,
doch wer soll das bezahlen? Also tragen
Bewohner im Haus Laurentius bei Bedarf
einen Sender in der Kleidung. Zwar möchte Pastoors die Technik möglichst selten
einsetzen, sagt er, „doch unser Personalbudget reicht nicht aus, in allen Fällen eine
menschenwürdige Betreuung zu gewährleisten“.
Rolf Theurer, Direktor des Amtsgerichts
in Böblingen, hat die Überwachungsanlage genehmigt: „Sie können wählen zwischen Pest und Cholera. Fixierung, Unterbringung oder Überwachung. Natürlich
wäre mehr Personal am besten. Aber die
Wirklichkeit ist anders.“
Andere Vormundschaftsrichter sträuben
sich gegen die Elektronik. Die Bremer
Amtsrichterin Birgit Lange plädiert dafür,
alten Menschen mehr zuzutrauen: „Wer
stürzt, der stürzt auch im Heim“, sagt sie.
„Es ist beispielsweise gerade für Alzheimer-Patienten wichtig zu laufen. Irgendwie kommen alte Menschen immer zurück,
und sei es durch die Polizei.“
Als jüngst das Elisabethenstift in Darmstadt erweitert wurde, verzichtete die
Heimleitung bewusst auf den Einbau einer Anlage. „Natürlich läuft uns jetzt
manchmal jemand weg, auch auf die
Straße“, so Heide Bittner, Leiterin der Pflegeabteilung, „aber es passiert nichts.“
Meist seien Demente zwar örtlich orientierungslos, sagt Heinz Jürgen Kaiser vom
Institut für Psychogerontologie an der Universität Erlangen, könnten aber reale Gefahren noch gut erkennen.
Verwirrte Bewohnerinnen einfach losziehen zu lassen, erschien der Heimleitung
in Homberg aber zu riskant. Und so laufen Rosalie Krause und Gertrud Liebisch
jetzt nur noch den Flur entlang, hin und
her. „Ja, so ist das“, murmelt Frau Krause
zwischendurch. Am Ende des Gangs
bleibt sie vor den Pflanzenkübeln stehen. „Mehr kannste nicht erwarten“,
sagt sie.
Gunda Wöbken-Ekert
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Deutschland
AIDS
Nachhilfe für
den Doktor
nen müssten – „ansonsten gehören die Mediziner verknackt“. Selbst wenn der sich
bereits angesteckt habe, würde ihm der
Arzt sonst die Chance nehmen, sich frühzeitig therapieren zu lassen. Die Geheimhaltung könne 10 bis 20 Jahre Lebenszeit
kosten.
Stefan Etgeton, Geschäftsführer der
Deutschen Aids-Hilfe, dagegen hält es für
„bedenklich“, wenn Ärzte jetzt gezwungen
würden, sich in „Beziehungsprobleme einzumischen“, die offenkundig seien, wenn
ein Partner dem anderen eine HIV-Infektion verschweige. Auch gesundheitspolitisch
sei das Signal fatal: Wenn
erst einmal die Schweigepflicht aufgeweicht sei, stelle sich die Frage, ob nicht
bald auch anderen Personen oder Institutionen die
HIV-Infektionen mitgeteilt
werden müssten. Zudem
werde die Bereitschaft, sich
einem HIV-Test zu unterziehen, nachlassen, glaubt
Etgeton, wenn sich die Getesteten nicht darauf verlassen könnten, dass ihre
Ergebnisse geheim blieben.
„Katastrophale epidemiologische Folgen“, befürchtet Christoph Kremer
aus Frankfurt, der Anwalt
des beklagten Arztes. Die
Aufhebung der ärztlichen
Verschwiegenheit werde infektiöse Risikopatienten davon abhalten, sich behandeln zu lassen. Deshalb
habe sich sein Mandant
nicht über den Wunsch des
selbstmordgefährdeten Patienten hinwegsetzen dürfen, zumal der verschwiegene Grieche „kein Monster“ (Kremer) gewesen sei. Der Mann sei
vielmehr „gewissenhaft“ mit seiner Krankheit umgegangen, habe niemanden anstecken und Kondome benutzen wollen.
Der OLG-Senat sieht das anders: Das
Vertrauen in den Patienten und dessen Versprechen, beim Geschlechtsverkehr Kondome zu benutzen, entlaste den Arzt nicht.
Der Mediziner habe erkennen müssen,
dass für die Freundin „höchste Gefahr bestand“. Deshalb hätte der Arzt seine
Schweigepflicht brechen müssen.
Offiziell ergeht das Berufungsurteil erst
am 5. Oktober, doch seine Sicht der Dinge
hat das Gericht bereits jetzt in einer Fachpublikation veröffentlicht.
Schmerzensgeld darf die infizierte Frau
indes nicht erwarten. Die Richter halten
dem Arzt lediglich ein „mittelschweres
Fehlverhalten“ vor: In einem solchen Fall
müsse die Freundin schon nachweisen,
dass sie heute nicht HIV-positiv wäre, wenn
der Arzt sie sofort vor ihrem Freund gewarnt hätte.
Udo Ludwig
P. FRISCHMUTH / ARGUS
Eine Frau verklagt einen
Arzt, der ihr die Infektion ihres
Freundes verschwiegen hatte.
Richter wollen nun die ärztliche
Schweigepflicht einschränken.
schäftigung mit einem tragischen Fall. Anfang 1993 kam ein gebürtiger Grieche in die
Praxis eines Wiesbadener Mediziners und
berichtete diesem, er habe sich mit dem
Aidsvirus infiziert. Das sei ihm kurz zuvor
bei der Diagnose eines Lymphknotenkrebses mitgeteilt worden.
Der todkranke Mann verbot seinem
Hausarzt, irgendjemandem etwas über den
positiven HIV-Test zu sagen. Auch seine Lebensgefährtin, mit der er seit vielen Jahren
zusammenlebe und mit der er zwei Kinder
habe, dürfe nichts erfahren. Zwei Jahre lang
pflegte die ahnungslose Frau ihren krebs-
HIV-Beratungsstelle (in Hamburg): „Mittelschweres Fehlverhalten“
D
er Fall war für die Frankfurter Richter so ungewöhnlich, dass sie sich
selbst als Ermittler betätigten. Er
habe sich unter den Ärzten in seinem Bekanntenkreis umgehört, wie die es mit der
Schweigepflicht hielten, wenn aidskranke
Patienten zu ihnen kämen, berichtete der
stellvertretende Senatsvorsitzende Horst
Schneidmüller. Er habe dabei feststellen
müssen, dass sich die Mediziner zwar Gedanken darüber gemacht hätten, aber
„wohl die falschen“. Die Justiz müsse ihnen nun „eine gewisse Nachhilfe erteilen“.
Die Belehrung der Ärzteschaft durch das
Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am
Main fällt deutlich aus: Die Pflicht des Doktors zu schweigen, so die Juristen, gelte
nicht mehr, sobald Menschenleben akut gefährdet seien. Selbst wenn der Patient seine Aidserkrankung ausdrücklich geheim
halten wolle, müsse der Arzt dessen Lebensgefährtin über die Infektion aufklären.
Der 8. OLG-Zivilsenat formulierte seinen „Leitsatz“ zur Arzthaftung nach Be98
kranken Freund. Erst nach dessen Tod informierte der Arzt die 26-Jährige. Sie machte einen HIV-Test – und war positiv.
Daraufhin zeigte die Frau den Mediziner
an. Sie verlangt ein Schmerzensgeld von
mindestens 100 000 Mark. Weil sie nichts
von der HIV-Infektion ihres Partners gewusst habe, hätte sie bis zu seinem Tod
ohne Kondom mit ihm geschlafen.
Anfang des Jahres wies das Wiesbadener
Landgericht die Klage mit der Begründung
ab, der Arzt habe korrekt gehandelt. Aidsinfizierte müssten sich auf die Verschwiegenheit der Doktoren verlassen können.
Für die Ärzteschaft hat nun die ganz andere Einschätzung des OLG Frankfurt in
der nächsten Instanz weitreichende Folgen: Wann dürfen Mediziner noch schweigen, wann müssen sie in übergeordnetem
Gemeinwohl-Interesse über eine HIVInfektion informieren?
Brigitte Helm, Infektiologin von der
Universitätsklinik Frankfurt, fordert, dass
Ärzte zumindest den Sexualpartner ward e r
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Deutschland
der Agrarindustrie eine Gesundheitsgefahr für die Anwohner bedeuten könnten. „Die Behörden haben die vielen
ernsthaften Warnungen bisher einfach
ignoriert“, so lautet das Fazit der Autorin Jutta Altmann-Brewe, die unlängst
alle verfügbaren Studien zur Intensivtierhaltung in einem Buch zusammengefasst hat.
Doch trotz der Fülle an Material fehlt
nach wie vor der letzte Beweis dafür, dass
tausende auf engstem Raum gehaltene
Legehennen, Puten oder Schweine ihre
menschliche Nachbarschaft krank machen
können. „Eindeutige Zusammenhänge
wurden nie nachgewiesen“, wiegelt Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz
Funke (SPD) ab.
U M W E LT
Landluft macht krank
B. BEHNKE
Aus Geflügelfabriken entweichen giftige Keime. In der
Umgebung der Massentierställe leiden
deshalb ungewöhnlich viele Kinder an Allergien und Asthma.
Geflügelfarm in Ostfriesland: „Ställe mit zehntausenden Tieren sind kein Hühnerhof“
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FORUM
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Neurodermitis-Kranker Thorben, Mutter
„Von Schimmelpilzen bekommt er Schübe“
ACTION PRESS
ei Westwind wird es ungemütlich im friesischen
Nordseeheilbad Horumersiel. Zwei Hähnchenställe, in denen 80 000 Tiere ihr Dasein fristen, reichern die vom Meer her
kommende Brise mit einer staubgeladenen Giftwolke aus Bakterien, Pilzen, Viren und Kotpartikeln an.
Auf einem nur rund 300 Meter
von der Mastfarm entfernten
Bauernhof beginnt dann das
große Schniefen. Dem Landwirt
und seinen beiden Töchtern
treibt die reizende Fracht sofort
Schleim und Tränen in die Lunge und in die Augen. Der Jungbauer greift zu Inhalationsgeräten und Asthmasprays. Seinen
Namen will er auf keinen Fall
in der Zeitung lesen: „Sonst
schmeißt uns die Hühnermafia
die Scheiben ein.“
Immer mehr Asthmatiker und Putenmast*: Milliarden Mikroben pro Stunde erzeugt
Allergiker husten und schniefen,
weil sie Landluft einatmen müssen. „Stäl- „goldenen Gülledreieck“ zwischen Clople mit zehntausenden von Tieren sind kein penburg und Vechta, der Region mit
Hühnerhof mehr“, schimpft Karl-Heinrich der größten Viehdichte Deutschlands, erEngesser, Mikrobiologe an der Universität kranken Kinder etwa doppelt so häufig
an den Atemwegen wie in anderen Teilen
Stuttgart.
Engesser hat festgestellt, dass hühner- des Bezirks Weser-Ems. Auch die Stadtstalltypische Mikroben, wie Aspergillen kinder aus Hannover und Braunschweig
und Actinomyceten, auch bei Nichtallergi- leiden wesentlich seltener an Asthma und
kern die Produktion der Allergie-Antikör- Allergien als ihre Altersgenossen vom
per IgE auslösen. „Allein das hätte für die Lande.
In zahlreichen Studien warnen ForRegierung Anlass genug sein müssen, etwas
scher seither davor, dass die Tierfabriken
zu unternehmen.“
Vor allem Kinder leiden unter den
Emissionen der Massentierhaltung: Im * In Tweel bei Garrel (Oldenburg).
Unterstützte Funke noch im vergangenen Jahr die niedersächsischen Bürger, die
ihre Gesundheit durch den Bau von Riesenstallungen gefährdet sehen, so ruht er
sich heute auf den bestehenden Gesetzen
aus. „Mit unseren Hygieneverordnungen
liegen wir an vorderster Front, das ist doch
ein Fortschritt“, lobt sich Funke mittlerweile.
Doch Hygiene im Hühnerstall ist relativ: Denn sicher ist, dass 40 000 Hähnchen
die Luft jede Stunde mit 75 Milliarden Keimen belasten. Zwar sterben Bakterien
außerhalb der feuchtwarmen Stallluft
schnell ab. Ihre Toxine aber werden erst
beim Zerfall der Mikroben frei und werden
ebenso wie Viren, Pilze und deren Giftstoffe bis zu 50 Kilometer weit vom Wind
getragen. Der Durchmesser dieser Partikel
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Deutschland
und Schlegelfabriken im „Viehstall der Nation“ wehrt. Die Gemeinden hingegen berufen sich auf den Paragrafen 35 des Baugesetzbuchs, dem zufolge Bauvorhaben der
Landwirtschaft und der gewerblichen Tierhaltung privilegiert zu behandeln sind:
Wenn nicht „besondere Gründe“ gegen
das Vorhaben sprechen, müssen die Gemeinden zustimmen.
Dabei gelten Betriebe mit weniger als
40 000 Hähnchen immer noch als bäuerliches Anwesen, nur bei größeren Anlagen
gelten Vorschriften für den Immissionsschutz. Entsprechend häufig sind Anträge
für Ställe, die nur knapp unter dieser Zahl
liegen. Allein in den ersten drei Monaten
dieses Jahres gingen im Landkreis Cloppenburg 268 Anträge auf den Neubau oder
die Erweiterung von Geflügelmästereien ein.
Nicht einmal die Sicherheitsabstände zwischen Wohnhäusern und
Stallanlagen sind bisher hinlänglich
erforscht. In einer Pilotuntersuchung hatte Hygieniker Hartung
noch in einem Radius von 500 Metern um die Ställe mehrere Millionen Keime pro Kubikmeter Luft
gefunden. Um diese Zahlen genauer zu prüfen, stellte er seit 1993 immer wieder Forschungsanträge –
vergeblich. Ähnlich erging es dem
Epidemiologen Martin Schlaud von
der Medizinischen Hochschule in
Hannover, der die erhöhte Asthmahäufigkeit in Cloppenburg und
Vechta mitentdeckt hatte.
Jetzt endlich meldet das nieSchimmelpilze*: Vom Wind kilometerweit getragen
dersächsische Sozialministerium,
terialien, „werden sie erst recht zur gründlich untersuchen zu wollen, ob die
Abluft aus Massengeflügelställen die GeBakterienschleuder“.
Was ein Leben in Keim- und Giftschwa- sundheit von Menschen gefährdet. Forden bedeuten kann, zeigt sich an den ein- schungsprojekte für insgesamt 2,2 Millionen
gestallten Tieren selbst: 10 bis 15 Prozent Mark will das Land bewilligen – falls das
der Schweine aus Mastbetrieben verenden Kabinett in Hannover zustimmt. In den
an einer Lungenkrankheit. Bei fast jedem mehrjährigen Projekten sollen tausende
dritten Hähnchen sind die Atemwege von Schulanfängern auf Atemwegserkranschwer geschädigt. Auch Arbeiter in den kungen untersucht und die Resultate von
Stallanlagen leiden häufig unter chronischer Kindern aus wenig belasteten Regionen mit
Bronchitis und Asthma – Krankheiten, die solchen aus Gebieten mit Massentierhalals „Farmer-“ oder „Vogelzüchterlunge“ tung verglichen werden.
Die ungeklärte Sachlage kommt indeszum Begriff geworden sind.
Obwohl sich Bernhard Behrends, Leiter sen manchem Kommunalpolitiker gelegen.
des Gesundheitsamtes in Hannover, über Einer Bürgerinitiative, die den Bau von
die „Dauerexposition“ der Ostfriesen Sor- zehn Zuchtanlagen mit insgesamt 37 000
gen macht, wird weitergebaut: Hunderte Puten in der ostfriesischen Samtgemeinde
von Anträgen liegen den Gemeinderäten in Dornum verhindern möchte, eröffnete
Ostfriesland, dem Emsland und Südolden- kürzlich Kreisbaudezernent Johann Aeils:
burg vor. Beliebt ist bei den Agrarindustri- „Wir werden die Genehmigung auch ohne
ellen auch Mecklenburg-Vorpommern, das Gutachten erteilen.“
Auch Waltraut Aswegen-Gerdes kämpft
mit seinen ausgedienten LPG-Betrieben
den modernen Fleischvermehrungsanstal- gegen die Putenfabriken. Einer der zehn geplanten Ställe soll nur 300 Meter von ihrem
ten viel Platz bietet.
„Bei uns hier in Vechta wird einfach al- Haus entfernt errichtet werden. Sohn Thorles genehmigt“, klagt Marrie Powell, die ben, 8, leidet schon heute unter schwerer
sich als Mitglied einer Bürgerinitiative ge- Neurodermitis. „Bei Schimmelpilzen begen eine weitere Zunahme an Kotelett- kommt er Schübe à la carte“, sagt seine
Mutter. „Wenn der Stall gebaut wird, kön* Elektronenmikroskopische Aufnahme.
nen wir hier einpacken.“ Christina Berndt
SPL / AGENTUR FOCUS
ist so winzig, dass sie – ähnlich wie Asbestfasern – bis in die kleinsten Lungenzipfel vordringen können.
Aufgehalten werden sie selten. „Meist
sind die Ställe seitlich sogar offen“, klagt
Engesser. „Und die Abluftanlagen sind reine Notanlagen, die nur angeschaltet werden, wenn die Tiere im Sommer vor Überhitzung umzukippen drohen.“
Ohnehin lasse sich gegen den höchst vitalen Staub kaum etwas ausrichten, meint
der Tierhygieniker Jörg Hartung von der
Tierärztlichen Hochschule Hannover: „Filtermatten sind in solchen Ställen gar nicht
einsetzbar. Die sind nach zwei Tagen zugestaubt.“ Dann, so bestätigt Heinz-Werner Stockmann von der DMT, einer GmbH
zur Prüfung von Filteranlagen und -ma-
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S. DOERING / VISUM / PLUS 49
Je unpopulärer Kohl im
Osten wurde, umso mehr liebten die Sachsen ihren Ministerpräsidenten. Als Stimmenfänger
war Kohl in den Wahlkämpfen
der letzten Jahre im Freistaat
nicht mehr willkommen.
Seinen Nachfolger Schröder
mögen die Sachsen derzeit noch
weniger. Bei einer Wahlkundgebung in ihrer Metropole empfingen sie den eisernen Sparkanzler mit dem Schmähplakat
„Dresden grüßt Dr. Kohl“.
Hans-Reinhard Günther vom
Leipziger Institut für Marktforschung: „Sie haben in Schröder
eine Art Messias gesehen und
sind nun maßlos enttäuscht.“
Schröders Sparpolitik haftet
Sachsen-Chef Biedenkopf: „Er gibt den Menschen das Gefühl, ganz dicht an ihnen dran zu sein“
im Osten, wie schon die Wahlergebnisse in Brandenburg (15 Prozent VerWA H L E N
lust für die SPD) und Thüringen (minus 11
Prozent) gezeigt haben, der vernichtende
Ruch der Ungerechtigkeit an. Das zählt
umso mehr, als die Masse der östlichen
Bundesbürger seit DDR-Zeiten in Gleichheitsfragen sensibel reagiert.
Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat sich
Gleichheit stand zu Honecker-Zeiten
die PDS als führende Oppositionspartei vor die
dafür, dass wenigstens im Mangel Gerechtigkeit herrschen sollte. Sie steht noch jetzt
SPD geschoben. Jetzt liebäugeln ihre Vordenker mit der CDU.
für die Solidarität, die DDR-Bewohner im
chon nach der Landtagswahl in können, macht einstweilen mangels Masse Betrieb und in ihrer Nachbarschaft erlebt
Thüringen vor zwei Wochen hatten keinen Sinn mehr. „Uns fehlt im Osten“, haben, die sie heute womöglich über GePostkommunisten Anlass zum Jubeln. klagt Roland Claus, Geschäftsführer der bühr verklären, jedenfalls aber stark ver„Wie oft hat man uns totgesagt“, trium- PDS-Bundestagsfraktion, „zum Regieren missen.
Jetzt rangiert bei Umfragen in den Ostphierte PDS-Spitzenmann Bodo Ramelow, der Partner.“
Da sei Gerhard Schröder vor. Die säch- ländern Gleichheit an der Spitze der Ver43, „die These vom Auslaufmodell ist jetzt
sischen SPD-Strategen müssen sich über- fassungswerte, während im Westen Freiendgültig widerlegt.“
Zum ersten Mal hatte die SED-Nachfol- legen, wie sie den Kanzler-Malus loswer- heit dominiert. So wirkte das von der PDS
gepartei bei Landtagswahlen die SPD auf den. Wie das geht, hat der Christdemokrat verstärkte Greinen über soziale Kälte und
Platz drei verwiesen, um fast drei Prozent Kurt Biedenkopf erfolgreich vorgemacht. Ungerechtigkeit der Berliner Sparmaßüberflügelt. „Ein historischer Tag für die Der Widerpart des Einheitskanzlers Hel- nahmen vor allem in Thüringen und in
Partei“, schwärmte Gregor Gysi, Chef der mut Kohl, in Dresden einst als politisch ge- Sachsen als Quotenkiller zu Lasten der
scheiterter Wessi mit Argwohn beäugt, hat SPD. Und dass die Landesparteichefs RiPDS-Bundestagsfraktion.
Am vorvergangenen Sonntag gab es von seine Reputation geradezu auf Bundesfer- chard Dewes und Karl-Heinz Kunckel auch
in diesem Punkt wacker ihrem Kanzler zur
der Sorte gleich noch einen. Bei der Land- ne aufgebaut.
Seite standen, rundete das Bild:
tagswahl in Sachsen drängte die PDS mit
Westpolitiker, Westprojekt, West22,2 Prozent die SPD mit 10,7 Prozent an
paket – da lehnten viele dankend
den Rand der Bedeutungslosigkeit. Die Bonab und gaben ihre Stimme aus
sai-SPD im Freistaat – mit 5410 Mitgliedern
Protest der sozialistischen Konnicht größer als ein mittlerer westfälischer
kurrenz.
Ortsverband – hat nun im Parlament nicht
Dabei haben Honeckers Erben
einmal mehr genug Sitze, um einen Unternicht einmal das Vertrauen all ihsuchungsausschuss zu veranlassen oder das
rer Wähler. Bei KompetenzumfraLandesverfassungsgericht anzurufen.
gen, die das Leipziger Institut für
Auch Bundesgrüne und FDP wurden
Marktforschung zwei Wochen vor
brutal entsorgt – die Liberalen bekamen
der Dresden-Wahl herausgab, ranmit 1,1 Prozent gerade mal halb so viel
gierte die SPD im Urteil der Bürwie die Exzentriker-Partei „Pro DM“.
ger auf allen wichtigen Feldern –
Die siegreichen SED-Nachfolger macht
Arbeitsplätze, Soziales, Bildungsder Niedergang der Sozialdemokraten nur
politik, Wirtschaftsentwicklung –
bedingt froh: Die PDS steht zwar erfolgdeutlich vor der PDS.
reich, eben deshalb aber auch allein da.
Doch da im Osten die ParteiDie Idee, in Sachsen und Thüringen ähnlich
bindung noch kaum gefestigt ist,
wie in Sachsen-Anhalt oder MecklenburgVorpommern mit der SPD kooperieren zu
„Uns fehlt der Partner“
R. SEYBOLDT
S
PDS-Kundgebung*
* Am 28. August im sächsischen Hoyerswerda.
106
Gleichheit vor Freiheit
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DPA
Deutschland
gruppe in der Berliner PDSZentrale, „neue Optionen
prüfen.“ Die Partei müsse
„raus aus dem SPD-Ghetto“.
Ganz offen werben Parteichef Lothar Bisky und der
Fraktionschef im Bundestag
Gregor Gysi dafür, die Frontstellung zur CDU aufzugeben. Im Siegestaumel philosophierte Bisky gar schon
über inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der Christenunion:
„Vielleicht gibt es ja inzwischen in der CDU mehr sozialdemokratische TraditioPDS-Chef Bisky (l.)*: Historischer Tag für die Partei
nen als in der SPD.“ Nachflossen viele Stimmen, die der SPD noch dem sich die „Modernisierer“ um Schröder
bei der jüngsten Bundestagswahl in Sach- der SPD bemächtigt hätten, könne man
sen (29,1 Prozent) und Thüringen (34,5 Pro- möglicherweise „mit der CDU für eine sozent) zugekommen waren, nun schnell wie- zialere Politik eintreten“.
Eine PDS-CDU-Koalition in ferner Zuder ab – eindeutiges Misstrauensvotum an
kunft? „Mein Vorstellungsvermögen“,
die Berliner Adresse.
Besonders krass fiel die SPD in der Re- meint Bisky, „ist unbegrenzt.“
Der auf den ersten Blick vollkommen
sidenz Dresden, auf unter 9 Prozent; in
Leipzig, traditionell weltoffener, schmolz illusionär wirkende Vorstoß, für die eigene
Anhängerschaft ein Tabubruch, kommt
sie immerhin auch auf rund 15 ab.
Dabei hat die CDU zumindest in Sach- doch nicht von ungefähr. Zwar liegen „zwisen außer Biedenkopf selbst wenig zu bie- schen PDS- und CDU-Programm Welten“,
ten. Aus einer grauen Parteitruppe nebst wie PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar
glanzloser Landtagsfraktion hat sich kaum Bartsch rasch beteuert, dennoch sind es
ein Leistungsträger neben dem weißschöp- gleich eine Reihe von Erfahrungen, die gefigen Ministerpäsidenten profilieren kön- rade Funktionäre der Bundespartei dazu
nen. Demoskopen erfuhren, dass unter den bringen, in der CDU nicht mehr den KlasMöchtegern-Erben selbst Favoriten wie senfeind per se zu sehen.
Fast wortgleich warnten PDS und CDU
Kultusminister Matthias Rößler oder Landesparteichef Fritz Hähle lediglich bei fünf im Bundestag vor einem Bodenkrieg im
beziehungsweise zwei Prozent der Befrag- Kosovo. Eine wahre Kohl-Nostalgie brach
in den Kriegswochen unter PDS-Politikern
ten als geeignete Nachfolger gelten.
Als Ostfachmann genießt Biedenkopf aus. So glaubt Gysi bis heute, der Altauch beim politischen Gegner hohes An- kanzler hätte den Kriegseintritt der Deutsehen. Mit seiner sächsisch-bayerischen schen abwenden können – mit einem
Zukunftskommission ist er dem holpern- Großeinsatz an Deutscher Mark.
Viele PDS-Politiker haben zudem den
den Regierungsgeschäft weit voraus. Was
Biedenkopf über die Konstruktion eines nicht ganz falschen Eindruck, westdeutkünftigen Systems zur Altersversorgung sche Sozialdemokraten hätten für den
seit Jahren schreibt, hat jetzt erst die Ber- Osten wesentlich weniger Verständnis als
liner Koalition in Ansätzen aufgenommen. westdeutsche Christdemokraten. „Kohl
„Seine Schriften sind es wert, gelesen hatte ein väterliches Verhältnis zum
zu werden“, lobt sogar die sächsische PDS- Osten“, so Bartsch, „Schröder hat keins.“
Auch ist im Osten die Kooperation zwiBundestagsabgeordnete Christine Ostrowski, „in solchen Händen glauben viele ihr schen PDS und CDU in den Kommunen
Geschick gut aufgehoben.“ Die Ostfrau Normalität. Selbst im Regierungsbezirk
kennt die Sehnsucht ihrer Landsleute nach Berlin-Mitte regiert CDU-Bürgermeister
vertrauenswürdigem Führungspersonal. Joachim Zeller mit drei PDS-Stadträten –
Die bedient Biedenkopf souverän. Und ohne dass der Sozialismus ausgebrochen
„im Gegensatz zu den früheren Führungs- wäre. „Jeden Dienstag, wenn in Berlin die
kadern ist seine Sprache verständlich. Er Bezirksamtssitzungen stattfinden, können
gibt ihnen das Gefühl, ganz dicht an ihnen sich CDU- und PDS-Politiker verständidran zu sein“.
gen“, meint die Berliner PDS-LandescheMit dieser Wertschätzung eines Unions- fin Petra Pau, „warum nicht auch im Lanmannes steht Ostrowski in der PDS nicht desparlament?“
allein. Der Absturz Ost der SPD veranlasst
„Wenn SED und CDU tragende Kräfte
die Realos an der Parteispitze derzeit zu im Kalten Krieg waren“, orakelt Gysi,
den kühnsten Überlegungen. „Wir müs- „dann müssen PDS und CDU jetzt die treisen“, meint ein Mitarbeiter der Strategie- benden Kräfte bei seiner Überwindung
und der Vereinigung sein.“
* Mit dem sächsischen PDS-Spitzenkandidaten Peter
Porsch am Montag vergangener Woche.
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Stefan Berg, Christian Habbe,
Almut Hielscher, Andreas Wassermann
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Deutschland
buster“, Sprengkörper,
wie der jetzt im Hafen
entdeckte, fegten Dächer
von den Häusern, Brandbomben entfachten Feuer, die sich wie eine Flammenwalze durch die Stadt
zogen. Etwa 40000 Menschen kamen in den HamDer Fund einer Monsterbombe
burger Brandnächten um.
versetzte Hamburg in Schrecken.
Aus dieser Zeit,
54 Jahre nach Kriegsende
glaubt Hamburgs oberster Feuerwerker Schulauern in deutschen Städten noch
bert, liegen noch etwa
Gefahren durch Blindgänger.
1500 Blindgänger im Boden. Für Berlin, auf das
er Buddy-Holly-Darsteller Hans
im Zweiten Weltkrieg
Hisleiter schonte Gitarrensaiten
mehr Bomben fielen als
und Stimmbänder, sein Musicalauf jede andere deutAuftritt fiel aus. Hafenrundfahrt-Barkassche Stadt, rechnet die
sen dümpelten menschenleer am Kai, das
Senatsverwaltung mit
Revier war weiträumig gesperrt, auch die
noch 3000 zündfähigen
Herbertstraße, wo sich sonst nackte HuSprengkörpern.
ren im Fenster räkeln, wurde zur „verSchlummernde Bomkehrsberuhigten Zone“ („Bild“).
ben fanden sich in den
Zwischen 17 und 19 Uhr am Mittwoch
vergangenen Monaten in
vergangener Woche ging in Hamburg
Göttingen und Ludwigsnichts mehr. Dann hatten vier Experten
hafen, in Berlin und
des Kampfmittelräumdienstes mitten im
Mannheim. Auch nach
Hafengebiet eine Superbombe entschärft:
mehr als einem halben
gut 2 Meter lang, 1,8 Tonnen schwer, davon
Jahrhundert nach dem
1,3 Tonnen tückischer Sprengstoff.
„Großladungsbombe“ im Hamburger Hafen: Eisernes Erbe
Krieg gibt es keine deutBei dem Monstrum handelte es sich um eine brititen sich als Blindgänger oft sche Großstadt, in deren Boden Bagger unsche „Großladungsbombe“
viele Meter tief in den beschwert buddeln könnten.
Dabei nutzen alle Städte die Luftbilder
vom Typ HC 4000 – die größGrund: Entweder versagten
te, die nach Angaben der Inihre Zünder oder die Bom- alliierter Aufklärungsflugzeuge, um nach
nenbehörde je in der Hanseben schlugen so flach in den Blindgängern zu suchen. Die Aufklärer hatstadt entdeckt worden ist. Da
Grund, dass eine Detonation ten nach jeder Angriffswelle eine fotografische Schadensbestandsaufnahme der
hatte die Stadt einen weiteausblieb.
ren Superlativ, war doch, bei
Die stählerne Ummante- Bombenangriffe erstellt. Als besonders aufArbeiten in der Elbe unweit
lung der Teufelseier korro- schlussreich erwiesen sich Originalluftbilder Bombe, nur zwei Tage
diert im Boden sehr langsam. der britischer Aufklärer, die der Hamburzuvor ein Trumm von einem
Der Sprengstoff ruht also ger Senat 1985 beschaffte. Auf Bildern von
Granitbrocken, „der größte
auch nach Jahrzehnten noch teils exzellenter Qualität konnten neben
Findling Europas“, aufgewohlgeschützt in seiner Hül- Bombenkratern auch Einschlaglöcher von
spürt worden.
le; die Zünder, aus Messing Blindgängern bestimmt werden.
Die Möglichkeiten des Bildabgleichs sind
Den fieseren Fund hielt am
oder veredeltem Stahl, bleiweitgehend erschöpft. Feuerwerker SchuDienstag der Führer eines
ben ohnehin intakt.
Schwimmbaggers in den Hamburger „Michel“ (1943)
Blindgänger, so der Ham- bert, der die Luftbilder aus England beSchaufeln, der Schlick aus
burger
Bombenspezialist schafft hatte, weiß, dass es „immer schwedem Hafengrund räumte. Nachdem Ham- Peter Voß, werden mit den Jahren sogar rer wird, Blindgänger zu finden“.
Es sind mehr und mehr Zufallsfunde, die
burgs Chef-Feuerwerker Manfred Schubert gefährlicher. Das liege daran, dass
den gewaltigen Sprengzylinder begutachtet „der Sprengstoff Nitroglyzerin-Anteile Schubert und seinen Kollegen Voß behatte, riet er vom Transport der Bombe ab. ausschwitzt und dadurch zusätzlich schäftigen. Das dicke Ding vom Mittwoch
Eine Sprengung der monströsen Ladung berührungsempfindlich wird“. Gealtertes hätten er und seine drei Mitstreiter beim
war ebenfalls ausgeschlossen, hätte die Dynamit reagiert also bei einer Erschütte- Himmelfahrtskommando „mit List, Kraft,
Druckwelle doch große Teile des Hafens rung wie etwa durch die Greifarme eines Öl und viel Flucherei geschafft“. Die Größe
zerstört. So blieb nur die Entschärfung.
Baggers empfindlicher als frischer Bom- der Bombe habe keine Rolle gespielt,
„denn wenn’s schief geht, ist die KonseEvakuierung und weiträumige Absper- benstoff.
rung des Hamburger Hafens gemahnten
Auch würden Sicherungen, die Schlag- quenz für mich in allen Fällen gleich“.
Schubert hat das Schicksal eines seieinmal mehr an das eiserne Erbe, das alle bolzen von Zündern blockieren, über die
großen deutschen Städte in ihrem Boden Jahre instabil – eine Selbstzündung der ner Vorgänger, Wilhelm Westermann, vor
tragen: In den Bombennächten des Bombe mithin wahrscheinlicher. Durch- Augen. Westermann und drei Helfern
Zweiten Weltkriegs sind hunderttausen- schnittlich explodieren ein bis zwei Blind- misslang kurz nach Kriegsende die Entde von Spreng- und Brandbomben auf gänger pro Jahr ohne äußere Einwirkung. schärfung eines Blindgängers. Die vier
Deutschlands Ballungszentren niedergeEs waren vor allem die schweren An- Männer seien, wie es in einer Mitteilung
gangen.
griffswellen der „Operation Gomorrha“ im der Stadt heißt, „auf dem Ohlsdorfer FriedEtwa zwölf Prozent dieser immensen Juli und August 1943, die Hamburg in eine hof nur noch symbolisch beigesetzt“
Bombenfracht, so schätzen Experten, bohr- brennende Stadt verwandelten. „Block- worden.
Ulrich Jaeger
BLINDGÄNGER
Mit List
und Flüchen
BILD ZEITUNG
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Wirtschaft
Trends
MANNESMANN
Fusion mit Thyssen/Krupp?
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DPA
W. v. BRAUCHITSCH
ie Aufspaltung des Mannesmann-Konzerns in zwei Aktiengesellschaften könnte den Weg für einen weiteren gewaltigen Zusammenschluss zweier Konzerne an Rhein und Ruhr frei machen. Dies zumindest
ist eine der Überlegungen, die Mannesmann-Chef Klaus Esser vergangene Woche zu dem spektakulären Schritt bewog,
den Düsseldorfer Traditionskonzern mit seinen 116 000 Mitarbeitern in die beiden Bereiche Telekommunikation und
Autotechnik/Maschinenbau aufzuteilen. Während sich Esser
und seine Düsseldorfer Holding künftig um den Zukunftsbereich Telekommunikation mit den Töchtern Arcor, D2,
Omnitel und Infostrada kümmern wollen, könnte der
Autobereich mit Firmen wie VDO und Sachs nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft mit dem rheinischen
Nachbarn Thyssen/Krupp verschmolzen werden. Dessen
Chefs, Gerhard Cromme und Ekkehard Schulz, suchen bereits seit langem nach einer Verstärkung für ihre Automotiv-Sparte, um sie
in die Weltspitze zu katapultieren. Die auf Auto-Elektronik spezialisierten
Mannesmann-Töchter passen dabei ins Konzept. Allerdings kam ein Milliarden-schwerer Kauf für den seit einigen Monaten schwächelnden Stahlriesen bisher nicht in Frage. Mit der von Esser vorangetriebenen Umwandlung in eine Aktiengesellschaft hat sich dies geändert. Der Zusammenschluss könnte nun per Aktientausch finanziert werden. Konkrete
Gespräche, heißt es bei Thyssen/Krupp, habe es noch nicht gegeben. Das
Interesse an einem solchen Geschäft sei jedoch „sehr groß“.
Mannesmann-Zentrale, Thyssen/Krupp-Chef Cromme
S AT E L L I T E N - H A N DY
Kurze Liste
ie Geschäftszahlen des Telefonanbieters Iridium, der seit November
1998 Kunden für seine Satelliten-Handys sucht, sind dramatisch schlechter als
bislang bekannt. Während das Konsortium noch bis vor kurzem von einem
Milliarden-Geschäft schwärmte, war das
Geschäft in großen Teilen Europas und
Asiens, das von der Iridium Communications Germany (ICG) betreut wird,
fast zum Erliegen gekommen. So kassierte die ICG laut einer internen Handelsbilanz vom 20. September in den
ersten vier Monaten des Jahres
(„Ber.Zeitraum 01.1999–16.1999“) von
ihren Kunden nur 123 540,91 Mark an
Gebühren, dazu kamen noch zwei Mark
„Lieferantenskonti“. Die Kundenzahl
der mit 50 Millionen Mark verschuldeten ICG ist so überschaubar, dass die
Bilanz eine Liste aller Handy-Telefonierer enthält, die für Europa und Asien
gerade mal 226 Namen enthält; 69 davon wurden nur als „Testkunden oder
VIP“ geführt, darunter das Bundeskriminalamt, Manager von Daimler und
Aral sowie zahlreiche Telefonfirmen.
Sie durften das Satelliten-Handy kostenlos benutzen.
DPA
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Plakataktion der Deutschen Bank
DEUTSCHE BANK
Modellprojekt
„Potsdamer Platz“
B
ewegung in die Öffnungszeiten
kommt nun auch bei den Banken,
die ihre Schalterstunden bislang meistens nach Behördenart regelten. Als
erste Geschäftsbank plant jetzt die
Deutsche Bank 24, Filialen auch am
Samstag zu öffnen. Am 2. Oktober startet ein Pilotversuch in der neuen Niederlassung am Potsdamer Platz in Berlin. Proteste der Arbeitnehmer – für die
Samstagsarbeit sollen keine Zuschläge
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gezahlt werden – will die Frankfurter
Bank mit einem Trick umgehen. Laut
Tarifvertrag dürfen die Mitarbeiter der
Bank immer dann zur Samstagsarbeit
verpflichtet werden, wenn andere Institute ebenfalls geöffnet sind. „Die Postbank ist am Potsdamer Platz auch offen“, sagt Deutsche-Bank-Sprecher Walter Schumacher, der nicht ausschließen
will, dass demnächst weitere Filialen
samstags ebenfalls öffnen. Voraussetzung: In der Nähe befindet sich ein
Schalter der Postbank. Die Deutsche
Bank drängt schon seit längerem auf
eine Änderung des Manteltarifvertrags
und will so die zuschlagsfreie Samstagsarbeit für alle Filialen möglich machen.
115
Trends
RENTE
Riesters Schnellschuss
DPA
ie jüngsten Rentenpläne von Arbeitsminister Walter Riester stoßen
innerhalb der Bundesregierung auf Kritik. Riester will die private Eigenvorsorge künftig durch einen
jährlichen Zuschuss
von bis zu 250 Mark
fördern; Arbeitgeber,
Gewerkschaften und
selbst die Opposition
hatten dies als „Schritt
in die richtige Richtung“ bezeichnet.
Hochrangige RegieRiester
rungsmitglieder indes
bezeichnen Riesters Pläne intern als
„unausgegorenen Schnellschuss“. Sie
sind irritiert darüber, dass der Arbeitsminister schon jetzt „ein paar BröckE-plus-Zentrale
Zweite Säule
VEBA/VIAG
Was Riesters Sparzulage zur
Altersvorsorge bringt
Modellrechnung für einen Arbeitnehmer,
der 500 Mark jährlich in eine Lebensversicherung einzahlt; der Staat gibt
250 Mark dazu
Vertragsabschluß im
Alter von
Rentenbeginn im
Alter von
30 Jahren
60 Jahren
30 Jahren
65 Jahren
40 Jahren
60 Jahren
40 Jahren
65 Jahren
Monatliche
Rente in Mark
355
583
158
276
Quelle: Axa Colonia
chen hinwirft“, anstatt wie angekündigt
im Herbst ein Gesamtkonzept für eine
große Rentenreform vorzulegen. Riesters Vertraute erklären die Präsentation
erster Details mit dem Zeitdruck, den
Gewerkschaften und Arbeitgeber im
Bündnis für Arbeit ausüben. Für seine
Sparzulage will der Arbeitsminister das
Vermögensbildungsgesetz für verschiedenste Anlagen der Altersvorsorge öffnen und dabei all jene fördern, die bis
zu 60 000 Mark brutto verdienen (bisherige Grenze: rund 41 000 Mark). Durch
die neue Zulage, so bemängeln hochrangige Regierungsbeamte, werde die
Vermögensbildung aber kaum attraktiver; schließlich garantiere das komplizierte Gesetz schon jetzt jenen, die
alle Förderwege zu nutzen wissen,
einen staatlichen Zuschuss von bis zu
254 Mark in Westdeutschland und
von sogar 294 Mark in Ostdeutschland.
116
Neue Telefon-Holding
V
eba und Viag haben im Zuge ihrer Fusion eine Lösung für ihr Telekommunikationsgeschäft gefunden. Nach dem geplanten Verkauf der Veba-Anteile an
E-plus sollen die Viag-Telekommunikationsfirmen unter dem Dach einer gemeinsamen Holding zusammengefasst werden. In den Vorstand der Dachgesellschaft sollen die Viag-Manager Georg von Waldenfels und Maximilian Ardelt einziehen. Mit
der Berufung seines ehemaligen Finanzministers Waldenfels will Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber sicherstellen, dass die neue Führung sich an ihre
Zusagen zum Ausbau der wichtigen Sparte am Standort München hält. Um die
Hightech-Tochter für einen eventuellen Börsengang fit zu machen, soll der Vorstand
demnächst noch weiter verstärkt werden. Neben einem Vertreter des Viag-Partners
British Telecom könnte auch RWE-Vorstand Thomas Geitner in das Spitzengremium
einziehen. Geitner leitete bis vor kurzem die Veba/RWE-Tochter Otelo und wird
von Veba-Chef Ulrich Hartmann hoch geschätzt.
D E U T S C H E BA H N AG
Verärgerte Vorstände
E
igentlich wollte die Deutsche Bahn
mit attraktiven Verträgen hoch qualifizierte Topmanager anwerben. Jetzt
macht sie das Gegenteil. Nahezu alle
rund 20 bereits ernannten Vorstände in
den fünf Bereichs-Aktiengesellschaften
der Deutschen Bahn mögen die ihnen
vom bisherigen Chef Johannes Ludewig
überreichten Verträge nicht unterzeichnen. Der Grund: Laut Vertragsklausel
„vier“ kann die Bestellung aus wichtigem Grund widerrufen werden, die
Kündigungsfrist liegt nach dem Gesetz
zunächst bei vier Wochen. Die Bahn
habe das Recht, heißt es weiter, die Vorstände „bis zur endgültigen Beendigung
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H.-G. OED
H.-G. OED
D
ICE-Zug
des Vertragsverhältnisses und unter
Anrechnung des offenen Urlaubsanspruchs freizustellen“. Die Klausel ist
eine Novität auf deutschen Chefetagen.
Die Vorstände können danach ohne
Abfindungen entlassen werden. In einem Abschiedsbrief wünscht Ludewig
den Kollegen im Vorstand „Gottes Segen und allzeit Gute Fahrt“.
Geld
Weltbörsen im Jahresvergleich
140
140
Januar = 100
Dax
Nikkei
1998
130
130
130
Dow
Jones
1999
130
1999
120
120
120
1998
Dax
1999
110
110
100
90
110
Dow
Jones
100
FRANKF URT
Jan.
Quelle:
Datastream
120
FTSE
Sept.
90
Dez.
110
1998
NEW YORK
Jan.
Sept.
90
Dez.
W E LT B Ö R S E N
Zittern vor dem Crash
I
mmer wieder im Oktober zittern die Börsianer. Zu tief steckt
die Erinnerung an den großen Börsenkrach von 1929. Kurskorrekturen „bis zu 20 Prozent“ an den Weltbörsen seien auch
in diesem Jahr wohl denkbar, meint Chefvolkswirt Norbert
Walter von der Deutschen Bank, doch „einen Crash wird es
Nikkei
FTSE
100
1998
100
1999
LONDON
Jan.
TOKIO
90
Sept.
Dez.
Jan.
Sept.
Dez.
nicht geben“. Auch Gottfried Heller von der Münchner Vermögensverwaltung Fiduka erwartet zunächst noch „größere
Turbulenzen“ an den Aktienmärkten, aber er schließt ebenfalls
einen Börsenkrach aus. Die gestiegenen Zinsen hätten zunächst
zwar die Stimmung verhagelt, sagen beide Experten, doch für
die Anleger gebe es weiterhin keine sinnvolle Alternative –
weder bei Anleihen noch bei Immobilien. Denn die Weltkonjunktur laufe „überraschend günstig“, sagt der Ökonom Walter. „Schon im Jahr 2000“, so Heller, „werden wir wieder
freundliche Börsen haben – vielleicht schon im Januar.“
BAU S T O F FA K T I E N
Weltweit auf Tour
T. WEGNER
A
Bürostadt Frankfurt-Niederrad
IMMOBILIEN
Langsam aufwärts
D
er Preisverfall bei Immobilien ist offenbar zu Ende: Eigentumswohnungen,
die seit 1995 im Durchschnitt zwölf Prozent
an Wert verloren hatten, werden nicht mehr
billiger, die Preise für Einfamilienhäuser gehen in diesem Jahr um rund vier Prozent
nach oben, und auch die Leerstände bei
Bürogebäuden verringern sich. Die Büromieten, die seit 1993 von Jahr zu Jahr gesunken waren, ziehen in westdeutschen
Großstädten an, besonders kräftig in Frankfurt, wo derzeit für Spitzenlagen bis zu
20 Prozent mehr gezahlt wird als noch vor
zwölf Monaten. In Ostdeutschland allerdings drückt das Überangebot weiterhin die
Preise: In Leipzig etwa ist die Spitzenmiete
für Top-Lagen inzwischen auf 20 Mark pro
Quadratmeter gefallen.
n ihren Papieren hatten die Aktionäre der deutschen Baustoffkonzerne Heidelberger Zement und
Dyckerhoff lange Zeit keine rechte
Freude. Das ist jetzt anders. Von ihren
Tiefständen im Januar zogen die Kurse um rund 60 Prozent an. Der
Grund: Weil der Zementverbrauch in
Deutschland stagniert, gehen die Konzerne weltweit auf Einkaufstour. Die
Heidelberger kauften bereits für 4,6
Milliarden Mark die schwedische
Scancem-Gruppe auf, die indonesische Indocement soll folgen. Dyckerhoff steckt 2,2 Milliarden Mark in die
150
140
140
Heidelberger
Heidelberger Zement
Zement
130
Stammaktie
130
120
120
110
Dyckerhoff
Dyckerhoff
Stammaktie
110
100
Dax
Dax
90
100
Dax
Dax
90
80
70
Lone Star Industries, das ertragreichste Zementunternehmen in den USA.
Wie die Konkurrenz möchte Dyckerhoff aber baldmöglichst auch in die
asiatischen Märkte einsteigen. Die
Zukäufe wurden zwar teuer bezahlt,
doch sie machen die Deutschen unabhängiger von regionalen Konjunkturschwankungen, stärken Umsätze wie
Renditen. Analysten der BHF-Bank
sehen bei Dyckerhoff nun „bessere
Perspektiven“, ihre Kollegen von der
HypoVereinsbank erwarten für Heidelberger Zement sogar „überdurchschnittliche Kurschancen“.
Quelle: Datastream
Jan.
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März
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Mai
Juli
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Sept.
80
Jan.
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Wirtschaft
A F FÄ R E N
Die Steuertricks der WestLB
FOTOS: BUSINESS PICTURE / VISUM ( li.); S. SPIEGL ( re.)
Steuerkünstler in der Chefetage: Die öffentlich-rechtliche Westdeutsche Landesbank
(WestLB) organisiert im großen Stil seit Jahren das diskrete Steuersparen.
Milliarden wurden und werden noch immer am deutschen Fiskus vorbeigeschleust.
WestLB-Zentrale in Düsseldorf, Chef Neuber
Kein Kommentar
D
as Gemeinwohl liegt Friedel Neuber, SPD-Mitglied und Chef der
Westdeutschen Landesbank (West
LB) sehr am Herzen. Geht es um den Staat
und seine Steuern, dann müssen auch die
Lobbyinteressen des Geldgewerbes vornehm zurückstehen.
Selbst als die Großbanken einhellig einen Steuernachlass beim Verkauf ihrer milliardenschweren Industriebeteiligungen
forderten, hielt Neuber tapfer dagegen.
„Gewinne“, so der Genosse, der es vom
Buchhalter zum Bankchef gebracht hat,
„müssen nun mal versteuert werden. Eine
steuerrechtliche Sonderregel halte ich nicht
für sinnvoll.“
Im Geschäftsalltag gelten seine Worte
nicht viel. Neuber steht an der Spitze eines
Instituts, das den Staat und die Steuergesetze nicht sonderlich ernst nimmt. Bei der
Verschiebung von privaten Kundengeldern
nach Luxemburg war das Geldhaus kräftig
dabei. Erst in der vergangenen Woche sollen Ermittler unter anderem Neubers
Wohnhaus durchsucht haben.
Auch sonst interpretiert die WestLB die
Steuergesetze äußerst flexibel. Bisher unbekannt ist: Die WestLB organisierte für
viele Sparkassen im großen Stil das diskrete Steuersparen. In London hat sie mehrere Unternehmen installiert, allesamt mit
Phantasienamen ausgestattet, dank deren
Lockende Insel
Musterrechnung einer Geldanlage der
WestLB für Sparkassen im Jahr 1993
INVESTITION: 100 Millionen Mark
RENDITE: 7,50% jährlich
Geldanlage in
Deutschland
C. GRAY
Hilfe deutsche Milliarden am deutschen
Fiskus vorbeigeschleust werden.
Durch die gewählte Konstruktion lassen
sich die in Deutschland auf Zinsgewinne
fälligen Steuern – Körperschaftsteuer und
Gewerbesteuer beispielsweise – komplett
sparen. Nur die deutlich niedrigeren britischen Steuern fallen an – allerdings in
London.
Das lukrative Sparmodell zielt vor allem auf die öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Die griffen das Angebot zum Steuersparen gern auf. Sie transferierten seit
1993 viele Milliarden Mark in die von der
WestLB gemanagten Fonds.
Verwaltet wird das Geld in der sechsstöckigen WestLB-Filiale im Londoner Finanzdistrikt. In der Lobby sind zwei Dutzend Unternehmen mit seltsamen Namen
wie Abinger Ltd., Falco Ltd. oder Hastings
Trading Ltd. auf einer Tafel vermerkt, deren Gesellschaftsanteile vor allem die nordrhein-westfälischen Sparkassen halten. Die
WestLB hat das Modell konzipiert, sie vermarktet es und managt das Tagesgeschäft.
Die Firmenbezeichnungen sollen offenbar an eine Handels- oder Verkaufsaktivität erinnern, die es in Wahrheit nicht gibt.
Diese Firmen sind allesamt Fondsgesellschaften, die von wenigen Managern betreut werden. Viel zu tun haben die nicht,
denn das Geld wird konservativ in internationalen Rentenpapieren angelegt.
Die Vorteile dieser von der WestLB verwalteten Fonds sind klar: In Großbritannien werden die Firmen weniger hart besteuert. In ihren Broschüren weist die Neuber-Bank im Detail nach, was sich alles
sparen lässt. Unterm Strich könne jeder
Investor die Rendite kräftig steigern –
„nach Steuern um 83 %“.
Denn bei der Verwaltung ihrer Vermögen in London, so hieß es 1993 in Werbeunterlagen, falle nur die niedrige britische
Körperschaftsteuer in Höhe von 33 Pro-
WestLB-Filiale in London: In der Lobby zwei Dutzend Firmen mit seltsamen Namen
zent an. In Deutschland waren 1993 immerhin 46 Prozent der Standard, Gewerbesteuer und Gewerbeertragsteuer kamen
noch hinzu. Damals wurde auch noch eine
Vermögensteuer fällig.
So ergebe sich in London bei einer Investition von 100 Millionen Mark eine
Nachsteuerrendite von 4,69 Prozent, so die
WestLB-Berechnung. Die gleiche Investition bringe in Deutschland nur eine Rendite von 2,56 Prozent.
Das Steuersparmodell funktioniert wegen des Doppelbesteuerungsabkommens
zwischen Großbritannien und Deutschland, das eine zweifache Besteuerung verhindern soll. Dass auch öffentlich-rechtliche Institute davon profitieren, regelte der
NRW-Finanzminister Friedrich Halstenberg sehr zuvorkommend in einem Schriftstück vom 16. Dezember 1977 (Aktenzeichen S 1301). Darin heißt es: „Art. XVIII
Abs. 2 des Doppelbesteuerungsabkommen
Großbritannien (körperschaftsteuerliches
und vermögensteuerliches Schachtelprivileg) gilt auch für deutsche öffentlich-rechtliche Kreditinstitute.“
in Millionen
Zinseinnahmen
+7,5
Geldanlage in
Großbritannien
Gewerbekapitalsteuer
–0,8
+7,5
Gewerbeertragsteuer
–1,12
Einnahmen der
britischen Firma
Betriebskosten*
–0,5
Körperschaftsteuer (46 %) –2,57
Vermögensteuer
ERTRAG
nach Steuern
–0,45
+2,56
Quelle: Werbeprospekt der WestLB
Millionen
in Millionen
Britische Körperschaftsteuer (33 %)
ERTRAG
nach Steuern
–2,31
+4,69
Millionen
*geschätzt
d e r
Durch diesen Zusatz, der selbst Steuerexperten oft nicht geläufig ist, müssen
deutsche Investoren britische Zinserträge
nicht mehr in Deutschland versteuern. Die
WestLB ließ sich 1993 durch ein Gutachten
der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG
bestätigen, „dass die hier zu beurteilenden Erträge als Dividenden zu beurteilen
und beim Investor als steuerfrei zu behandeln sind. Eine entgegenstehende Auffassung ist im Übrigen von der Finanzverwaltung bisher nicht veröffentlicht“.
Von dem Steuersparkonzept der WestLB
angelockt, griffen die Sparkassen reihenweise die Offerte aus Düsseldorf auf. So haben die Sparkassen Detmold, Coesfeld und
die Kreissparkasse Herford insgesamt 150
Millionen britische Pfund in die Hedeco
Ltd. gesteckt.
Die Sparkasse Aachen ließ sich offensichtlich vom Förderer der Stadt, Karl dem
Großen, inspirieren und legte viele Millionen in einer Carolus Magnus Ltd. an. „Im
Rahmen der Globalisierung und Diversifizierung müssen auch wir unsere Anlagepolitik international ausrichten“, sagt ihr
Sprecher Walter Franzen. Dass auch steuerliche Gesichtspunkte eine
Rolle gespielt haben, bestreitet er nicht.
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Millionen
Vorzeigeobjekt der WestDeut
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b
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Mark
LB ist die Abinger Limited, in
gege
150
die zehn Sparkassen 1993
Wertentwicklung
eine Milliarde Mark transfe140
Rendite: 7,5% jährlich; Körperrierten. Die Sparkasse Bonn
schaftsteuer in Deutschland:
war mit 100 Millionen Mark
46%; keine Wiederanlage
130
der Ausschüttungen
dabei. Das ist viel Geld für
eine Sparkasse, die damals
120
GROSSnur einen Gewinn von 14,1
BRITANNIEN
110
Millionen Mark erzielte.
DEUTSCHLAND
„Großbritannien ist ein Land,
100
in dem Anlagen aus sparnach 10
nach 1
kassen- und steuerrechtliJahren
Jahr
cher Sicht völlig normal und
legitim sind“, sagt Michael
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119
Wirtschaft
120
STEUERN
„Alle müssen ran“
Die Erbschaftsteuer gerät ins Visier der Finanzpolitiker –
und zwar mit Recht. Noch nie wurden so gewaltige Vermögen
weitergereicht, der deutsche Staat profitiert bisher kaum.
W
ieder einmal machte sich der
Vorsitzende der größten Regierungsfraktion Gedanken über
den radikalen Umbau des Steuersystems.
„Wir sollten weniger die Arbeitsleistung
zur Grundlage von Steuern machen“, sagte der Fraktionschef. Stattdessen solle der
Staat mehr „im Bereich privater Vermögen bei Erbschaften und Schenkungen
steuerlich eingreifen“.
Mehr als vier Jahre sind die Thesen alt,
vertreten hat sie – die Regierung Kohl er* Vor der Frankfurter Börse.
lebte gerade ihr letztes Stimmungshoch –
Wolfgang Schäuble, damals wie heute
Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Als Oppositionsführer vertritt Schäuble
mittlerweile eine andere Meinung, dafür
findet eine höhere Erbschaftsteuer im gegenwärtigen Regierungslager immer neue
Anhänger. So könnte ein sozialpolitischer
Kontrapunkt zum Sparprogramm der Bundesregierung gesetzt werden, meinen die
Befürworter.
Mal ist es, wie vergangene Woche,
Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin
Unternehmerin Thurn und Taxis*: Not macht erfinderisch, macht Wohlstand träge?
DPA
Kranz, der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Bonn.
Doch das Steuersparmodell entfaltete
für ihn zunächst nicht die gewünschte Wirkung. Abinger erzielte im ersten Geschäftsjahr, das am 30. Juni 1994 endete, einen Verlust von gut 25 Millionen Mark,
weil die WestLB-Experten die Kapitalmärkte falsch eingeschätzt hatten.
Erst in den folgenden Jahren lief es besser. Abinger machte Vorsteuergewinne von
über 260 Millionen Mark und schüttete die
entsprechenden Überschüsse vertragsgemäß an die Sparkassen aus. Mit dem
Geld stärkten die öffentlich-rechtlichen
Kreditinstitute ihre Rücklagen. Der britische Fiskus kassierte Körperschaftsteuern
in Höhe von mehr als 75 Millionen Mark,
die deutschen Finanzbehörden gingen
komplett leer aus.
Andere Landesbanken haben sich das
Steuersparmodell der WestLB in London
angeschaut – und anders entschieden.
„Man muss immer damit rechnen, dass der
Fiskus irgendwann das Loch zumacht“,
sagt ein Landesbanker, der die Konstruktion für zumindest „sehr aggressiv“ hält.
Für die WestLB ist die Idee höchst lukrativ. Transaktions- und Umsatzgebühren
für jede Gesellschaft bringen der Zentrale
jedes Jahr etliche Millionen.
Einwände gegen das fragwürdige Modell mag das Institut nicht akzeptieren. Die
Kunden würden nun mal, heißt es in einer
Stellungnahme, „eine Steigerung der Rendite“ erwarten.
Das Risiko, dass der Fiskus das schöne
Steuersparmodell kippt, tragen allein die
Sparkassen. Ein Steuerexperte wundert
sich, „mit welcher verblüffenden Sicherheit gerade öffentlich-rechtliche Institute
davon ausgehen, dass sie bei der Politik
Rückendeckung haben“.
Doch die Rechtsprechung in Steuerfragen ist in Bewegung. Das mussten gerade
jene Industrieunternehmen und Privatbanken erfahren, die einen Teil ihrer Steuerzahlungen nach Irland verlagert hatten.
Wer in den Docks von Dublin siedelt und
von dort sein Kapital managt, muss nur
zehn Prozent Körperschaftsteuer abführen.
Dieser Niedrigsteuersatz lockte Anfang
der neunziger Jahre viele Konzerne, die
ihre liquiden Mittel plötzlich in Dublin
verwalteten. Nun gibt es erste Urteile, die
den Unternehmen Gestaltungsmissbrauch
vorwerfen. Einzelne Unternehmen mussten erhebliche Steuernachzahlungen leisten. Nur das Modell der WestLB blüht
weiter.
„Die Geschäftspolitik der Landesbanken und Sparkassen enthält eine Gemeinwohl-orientierte und strukturpolitische Dimension“, sagt Neuber gern bei seinen Vorträgen. Wie sich das mit dem Steuersparen
in London verträgt, wollte er persönlich
dem SPIEGEL nicht erklären. Sein Sprecher: „Herr Neuber ist derzeit nicht zu
sprechen.“
Christoph Pauly
* Bei der Hochzeit seiner Tochter Elisabeth in Salzburg
im Juni.
das der Erbe zur Erbschaft
beiträgt, ist, nicht enterbt zu
werden“, lautet der StandardSpott von Steuerprofessoren in
deutschen Hörsälen.
Die soziale Schieflage beim
Erben lässt sich auch statistisch nachweisen. Denn meist
erben Leute, die ohnehin
schon besitzen. 42 Prozent aller Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen
von 5000 Mark traten 1997 ein
Erbe an, hat die Gesellschaft
für Konsumforschung festgestellt. Haushalte mit Einkommen zwischen 2000 und 5000
Mark wurden dagegen nur zu
25 Prozent bedacht, solche mit
noch weniger Einkommen nur
zu 17 Prozent. Erben funktioniert also nach dem Motto:
Wer hat, dem wird gegeben.
Selbst nach Einschätzung
der Urväter der Marktwirtschaft dürfte es bei der Erbschaftsteuer ruhig ein bisschen
Industrieller Flick*: Wer hat, dem wird gegeben
mehr sein. Schon einer der
0,7 Prozent und in Frankreich immerhin Ahnherren der Zunft, der Brite John Stuart
1,8 Prozent.
Mill, plädierte in seinem 1848 erschienenen
Die Zurückhaltung der Politik gegenüber Hauptwerk „Grundsätze der politischen
dem Steuertatbestand Erben ist verwun- Ökonomie“ für eine rabiate Erbschaftsbederlich. Denn nichts erfüllt den Vorwurf so- steuerung.
zialer Ungerechtigkeit mehr als der unverDas Erbrecht sollte erheblich eingediente Zuwachs an Vermögen durch den schränkt werden, forderte Mill. Was denTod eines anderen. „Das einzige Verdienst, noch an die nachfolgende Generation weitergegeben werde, sei vor allem bei großen Erbschaften
Grobe Ungleichheit drastisch zu besteuern.
Besteuerung von Vermögen im Erbfall
Schon Mill argumentierte
in Deutschland; Angaben in Mark sozialpolitisch. Die Verteilung
von Vermögen in einer
BEISPIEL FIRMENANTEIL
Gesellschaft sei nur
Ein Vater erwirbt 26% am Nennkapital einer GmbH.
dann gerecht, wenn
ERDer steuerliche Wert dieses Anteils liegt bei 1,6 Millionen Mark
SPARNIS Chancengleichheit beVergleich:
Die Tochter erbt den Unternehstanden habe, wenn
mensanteil Geldvermögen 88 % also niemand einen
Startvorteil hatte, nur
VERMÖGENSWERT 1 600 000
1 600 000
weil seine Eltern ihm etwas
Freibetrag auf Betriebsvermögen – 500 000
mitgeben konnten. Die Konse1 100 000
quenz: Der Staat solle von der
Bewertungsabschlag von 40% bei
Hinterlassenschaft möglichst
nennenswerten Beteiligungen – 440 000
viel konfiszieren, auf dass jeder
– 400 000
abzüglich Freibetrag der Tochter – 400 000
von vorn anfangen müsse.
1 200 000
zu versteuerndes Erbe 260 000
Auch die frühen Vertreter
der
sozialen Marktwirtschaft
228 000
28 600
STEUERLAST
in Deutschland, Walter
BEISPIEL GRUNDSTÜCK
Eucken und Alexander Rüstow, forderten
Vergleich: ERDie Tochter erbt vom Vater ein GrundGeldvermögen SPARNIS hohe Erbschaftsteustück
ern. Ihr überraschenVERMÖGENSWERT 1 200 000
1 200 000 71%
des Plädoyer begründeten die beiden ökoBewertung nach Bodenrichtwert
nomisch: In einer Ge(im Schnitt 60%) 720 000
sellschaft mit großen Erb– 400 000
abzüglich Freibetrag der Tochter – 400 000
schaften erlahme die wirt800 000
zu versteuerndes Erbe 320 000
schaftliche Dynamik. Auf gut
Deutsch: Not macht erfinde120 000
35200
STEUERLAST
risch, unverdienter Wohlstand
M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE
Heide Simonis, mal Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde, die gern miterben
möchten. „Alle müssen ran. Alt und Jung,
die weniger Verdienenden und die gut Betuchten“, begründet Simonis ihren Wunsch
nach höheren Lasten für Wohlhabende.
Seit dem Wegfall der Vermögensteuer
vor zwei Jahren bleibt allein die Erbschaftsteuer, um ein Symbol für mehr Umverteilung von Vermögen zu setzen. Noch
versucht Bundeskanzler Gerhard Schröder die Debatte mit einem seiner Machtworte zu beenden: „Wir führen keine
Steuererhöhungsdiskussion.“
Doch trotz Kanzler-Veto ist die Erbschaftsteuer ins Visier der Finanzpolitiker
geraten. Das Objekt der Begierde erscheint
lohnend, denn seit einigen Jahren tritt die
Aufbaugeneration der Republik ab und
hinterlässt den Nachkommen Werte in bisher nicht gekanntem Ausmaß.
50 Jahre lang konnten die Deutschen,
durch Kriege, Weltwirtschaftskrisen und
Hyperinflationen ungehindert, Vermögen
anhäufen. Zum ersten Mal seit Generationen gibt es in Deutschland wahre Reichtümer zu vererben.
Der Besitzstand der Republik ist beachtlich. Nicht nur die Vermögen der Flicks
oder der Thurn und Taxis sind gewachsen:
Auf über 14 Billionen Mark, fast das Vierfache des Bruttoinlandsprodukts, summiert
sich der Wert an Häusern, Fabriken, Sparkonten oder Automobilen bei den privaten
Haushalten.
Ein großer Teil davon gehört Menschen,
die den Zenit ihres Lebens schon überschritten haben. Die über 55jährigen besitzen ein Vermögen von fast sechs Billionen Mark. Experten erwarten, dass allein
bis zum Jahr 2003 mehr als zwei Billionen
Mark vererbt werden.
Bislang hält sich der Staat, ganz gegen
seine sonstige Gewohnheit, bei der Besteuerung von Erbschaften auffallend
zurück. Mehr als 270 Milliarden Mark wurden im vergangenen Jahr vererbt, nur
knapp fünf Milliarden Mark an Erbschaftsteuer flossen in die öffentlichen Kassen. Der durchschnittliche Steuersatz betrug also nicht einmal zwei Prozent.
Tatsächlich gelten viel höhere Tarife, für
direkte Nachkommen liegt der Höchstsatz
zum Beispiel bei 30 Prozent. Doch ähnlich
wie bei der Einkommensteuer bewirken
zahlreiche Freibeträge und Sonderregelungen, dass die hohen Sätze de facto nie
erreicht werden.
Nicht nur in Deutschland hält sich Vater
Staat bei der Testamentseröffnung zurück.
Auch in anderen Industrieländern trägt
die Erbschaftsteuer nur in sehr geringem
Ausmaß zum Steueraufkommen bei. In
Deutschland stammte 1997 nur ein halbes
Prozent der Steuereinnahmen aus der Erbschaftsteuer, in Großbritannien waren es
d e r
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121
122
Fachleute in einem Zwischenbericht ein klares Urteil
zu der Bewertungsfrage gefällt und im Ministerium abgeliefert.
Unverhohlen plädieren die
Beamten aus Bund und Ländern darin für einen höheren
Wertansatz bei Immobilien.
„Die Teilnehmer vertreten
einstimmig die Auffassung,
dass für das Grundvermögen
zum gemeinen Wert als Richtschnur der Wertermittlung
zurückzukehren ist. Er entspricht dem Verkehrswert“,
heißt es in dem neunseitigen
Zwischenbericht.
Bislang werden Immobilien nach dem sogenannten
Ertragswert taxiert. Der liegt
meist deutlich unter dem von
den Steuerexperten favorisierten Verkehrswert, der dem
Familie Schumacher: Startvorteil durch reiche Eltern
Marktpreis entspricht.
Wie groß in Wirklichkeit die Unterpital zuführen. „Die Befreiung von der Erbschaftsteuer bei der Weiterleitung ererbten schiede sind, belegen die Ergebnisse der
Vermögens an eine Stiftung wird auf alle „Kaufpreisuntersuchung 1998“, die das
gemeinnützigen Zwecke ausgedehnt“, for- Bundesfinanzministerium ebenfalls unter
Verschluss hält. 7036 bebaute und unbedern die Grünen in einem Thesenpapier.
Noch leistet der Kanzler Widerstand ge- baute Grundstücke verschiedener Preisgen die Erhöhungsdebatte, auch Finanz- klassen ließ das Ministerium erfassen.
minister Eichel sperrt sich – zumindest ein Dann verglich es die tatsächlichen Kaufbisschen. Er müsste die Gesetzesänderung preise mit der steuerlichen Bewertung. Das
durch Bundestag und Bundesrat drücken, Ergebnis: Einfamilienhäuser, Zweifamilibekäme aber nichts für den eigenen Etat. enhäuser und Eigentumswohnungen werDer Grund: Die Erbschaftsteuer steht al- den im Schnitt nur mit gut der Hälfte ihres
lein den Ländern zu, die klamme Kasse tatsächlichen Wertes veranschlagt. Die Folge: Erbt eine Tochter von ihren verstordes Bundes sähe keinen Pfennig.
Deswegen spielt Eichel auf Zeit und hält benen Eltern Geldvermögen, bleiben ihr
die Drängler aus den eigenen Reihen erst 400000 Mark steuerfrei, erbt sie ein Grundeinmal hin. Bevor über die Erhöhung der stück, können es leicht 880 000 Mark sein
Erbschaftsteuer debattiert werden könne, (siehe Grafik Seite 121).
Diesen Zustand hält der rheinland-pfälmüsse zunächst das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Bund und zische Finanzminister Gernot Mittler für
verfassungswidrig. „Wer nicht will, dass
Ländern abgewartet werden, sagt er.
Die Experten sollen im Auftrag der rot- auch die Erbschaftsteuer vom Bundesvergrünen Koalition klären, wie Immobilien- fassungsgericht für nichtig erklärt wird,
besitz künftig steuerlich bewertet werden muss das Gleichheitsgebot für die versoll. Der wird, einem Urteil des Bundes- schiedenen Vermögensarten beachten.“
Schon basteln Eichels Finanzministeverfassungsgerichts zum Trotz, bei der Erbschaftsteuer noch immer besser gestellt als riale an einer verfassungskonformen LöGeldvermögen oder kleine Aktiendepots. sung. Zu 80 Prozent ihres tatsächlichen
Das Ergebnis kennt Eichel längst, auch Wertes sollen Grundstücke und Häuser
wenn die Arbeitsgruppe ihr Werk erst im künftig angesetzt werden, so der bisheriFrühjahr beendet. Ende August haben die ge Stand der Reformarbeit. Mit dem Abschlag soll auf etwaige Preisschwankungen Rücksicht genommen werden, heißt
Nachlass für den Staat
es im Ministerium. So brächte die NeubeAnteil der Erbschaft- und Schenkungsteuer
wertung nur 1,5 Milliarden Mark mehr in
am Gesamtsteueraufkommen 1997
die öffentlichen Kassen.
Deutschland
Hans Eichel weiß, dass er um eine hit0,5%
zig
geführte Debatte nicht herumkommt.
Großbritannien
0,7%
Zu niedrig ist die bisherige ErbschaftsteuUSA
1,0%
er, zu stark ist das Drängen von WirtNiederlande
1,1%
schafts- und Sozialpolitikern: „Wir werFrankreich
den da“, so der Finanzminister in kleiner
1,8%
Japan*
2,7% Runde, „ein Ventil öffnen müssen.“
ASA
träge. Die Erbengesellschaft, so die Befürchtung, verlege sich mehr und mehr auf
die Verteidigung des Besitzstandes. Alte
Strukturen würden zementiert, Wagemut
und unternehmerische Risikobereitschaft
lohnten sich immer weniger. Plastisch
drückte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter seine Besorgnis aus: Der
unternehmerische Antrieb werde gehemmt,
wenn die Hinterbliebenen „mit der Beute
nicht auch die Klauen geerbt haben“.
Doch wie stets in Sachen Besteuerung
bewegen sich die Finanzpolitiker auf
schmalem Grat. Einerseits leitet sie das
hehre Bestreben, einen sozialen Ausgleich
herzustellen, andererseits laufen sie Gefahr, wirtschaftlichen Leistungswillen zu
unterdrücken.
Denn auch eine allzu hohe Besteuerung
der Hinterlassenschaft kann sich fatal auswirken. Viele Menschen handeln nach der
Maxime, dass es ihren Kindern einmal besser gehen solle. Ihnen würde ein Leistungsanreiz genommen, wenn vom Erarbeiteten nichts mehr für die Nachkommenschaft übrig bliebe.
Den verteilungspolitischen Balanceakt
vollführen die USA mit einigem Erfolg.
Tatsächlich langt die amerikanische Steuerbehörde bei Erbschaften viel schärfer hin
als deutsche Finanzämter. Schon bei einem
vergleichsweise bescheidenen Reichtum
von drei Millionen Dollar greift der Spitzensatz von 55 Prozent. Einen Rabatt für
Kinder wie in Deutschland kennen die
Amerikaner nicht. Auch in den Bundesstaaten werden Erbschaftsteuern fällig. Die
Folge: In den USA trägt die Erbschaftsteuer doppelt so viel zum Steueraufkommen
bei wie in Deutschland.
Bemerkenswerter aber sind die segensreichen Wirkungen des harten Zugriffs.
Denn der amerikanische Fiskus gewährt
den Reichen des Landes ein attraktives
Schlupfloch. Erben und Vererbende können die Steuer sparen, wenn sie ihr Vermögen in eine Stiftung einbringen. Als
Konsequenz blühen in den USA das Stiftungswesen und das Mäzenatentum.
Jeder Wohlhabende, der auf sich hält,
krönt sein Lebenswerk schon zu Lebzeiten
mit einer gemeinnützigen Einrichtung.
Gleichgültig, ob die Stiftungen Stipendien
für Minderheiten ausschreiben, Geld für
Forschungsprojekte spenden oder sich der
Integration ehemaliger Strafgefangener
widmen, das Vermögen, das vor dem Fiskus
in Sicherheit gebracht werden sollte,
kommt dennoch der Allgemeinheit zugute.
So privatisiert der amerikanische Staat
Aufgaben, für die in Deutschland der Steuerzahler aufkommt.
Das Vorbild Amerika treibt auch die Finanzpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen
um. Damit die Deutschen endlich stiften
gehen, hat die Ökopartei gegen eine höhere Erbschaftsteuer nichts einzuwenden. Ihr
Kalkül: Der steuerliche Druck würde den
wohltätigen Einrichtungen ordentlich Ka-
*1996
Christian Reiermann
d e r
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
F. STOCKMEIER / ARGUM
Wirtschaft
DaimlerChrysler-Chefs Schrempp, Eaton: Schlechtes Zeugnis von der Börse
AU T O I N D U S T R I E
„Das gibt Ärger“
DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp hat den ersten
Machtkampf im fusionierten Konzern für sich entschieden. Der
widerspenstige US-Vorstand Tom Stallkamp wurde gefeuert.
G
eküsst haben sie sich nicht. Aber
ansonsten präsentierten sich Jürgen Schrempp und Bob Eaton, die
beiden Chefs des DaimlerChrysler-Konzerns, auf der Internationalen Automobilausstellung wie ein Paar, das sich besser gar
nicht verstehen könnte.
Nachdem Eaton das Unternehmen als
„innovativsten Autohersteller der Welt“
gelobt hatte, übergab er mit strahlendem
Lächeln das Wort an „my good friend Jürgen“. Und der gute Freund legte noch ein
paar Superlative nach, pries den Konzern
als einen der profitabelsten Hersteller, den
„Bob and I“ zu neuen Umsatz- und Gewinnrekorden führen wollen.
Gäbe es einen Oscar für die besten
Schauspieler unter den Unternehmenschefs, Schrempp und Eaton hätten ihn verdient. Ihr Auftritt ließ nicht einmal erahnen, dass im zweitgrößten Autokonzern
der Welt ein heftiger Machtkampf tobt.
Spätestens nach der Aufsichtsratssitzung
vom vergangenen Freitag ist er entschieden: Die Deutschen haben die Macht übernommen. Chrysler wird wohl bald wie die
amerikanische Tochter einer deutschen
Aktiengesellschaft geführt.
Bei der Verkleinerung des 17-köpfigen
Vorstands müssen zwar schön paritätisch
zwei deutsche und zwei amerikanische Manager ihre Posten verlassen. Der wahre
Aufreger: Mit Tom Stallkamp muss auch
der einflussreichste Amerikaner gehen, der
für die Chrysler-Führungsmannschaft als
letzter Garant dafür galt, nicht von den
Deutschen dominiert zu werden. Der Rausschmiss von Stallkamp kam für die meisten
Chrysler-Führungskräfte völlig überraschend.
Eaton gilt in den USA als Manager ohne
Macht, weil er bereits angekündigt hat, in
zwei Jahren oder noch früher Schrempp
die alleinige Führung des Konzerns zu
überlassen. Verunsicherte US-Manager
setzten deshalb auf Stallkamp, dem Eaton
DaimlerChrysler abgehängt
140
Aktienkurse
seit der Fusion*
130
120
110
100
90
* Erste Notierung:
17. Nov. 1998 = 100
auf Euro-Basis
80
1998
70 Nov.
126
Dez.
1999
Jan. Febr.
März
April
Mai
Juni
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Aug.
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Quelle: Datastream
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einst sogar bescheinigte, er sei „sicher hervorragend geeignet, eines Tages Jürgen zu
ersetzen“.
Stallkamps Abgang, kommentierte die
„Detroit News“, kann die Glaubwürdigkeit
des Konzerns bei seinen US-Investoren, den
Wall-Street-Analysten und den ChryslerBeschäftigten schwer schädigen. Schon das
Gerücht über das mögliche Ausscheiden des
Vorstands, der für die Integration des Automobilgeschäfts verantwortlich war, beschleunigte vergangene Woche den Absturz
der DaimlerChrysler-Aktie.
Die Börse, für Schrempp der einzig wahre Gradmesser für den Unternehmenserfolg, stellt DaimlerChrysler ein schlechtes
Zeugnis aus. Der Konzern wurde am Tag
der Fusion noch mit 140 Milliarden Mark
bewertet, am Freitag vergangener Woche
waren es nur noch 127 Milliarden.
Schrempp, der seinem Vorgänger Edzard
Reuter einst vorwarf, Milliarden an Unternehmenswert vernichtet zu haben, ist entsetzt über den Kurssturz. Der Shareholder-Value-Fan kann die Aktienentwicklung
nicht verstehen.
Der Umsatz steigt um zwölf Prozent,
der Gewinn mindestens um den gleichen
Satz, und die versprochenen Einsparungen
durch die Fusion von mindestens 1,4 Milliarden Dollar werden in diesem Jahr erreicht. Die Marke Mercedes-Benz hat wieder eindeutig die Führung in der Oberklasse übernommen und fährt Rekordgewinne ein. Der Gesamtkonzern ist einer
der profitabelsten Autohersteller der Welt.
Doch die Börse bewertet nicht so sehr
die Gegenwart, sondern vor allem die
künftigen Aussichten. Der Smart und die
Bahntochter Adtranz werden auf absehbare Zeit Verluste einfahren. Chryslers
hohe Gewinne stammen größtenteils aus
dem Geschäft mit Pick-ups, Minivans und
Geländewagen (Jeep), bei dem der Wettbewerb härter wird und der Konzern inzwischen hohe Rabatte gewähren muss.
Zudem verspricht der geplante Einstieg
von Chrysler in die Kompaktklasse ebenfalls keine großen Profite.
Stallkamp hat Verlustbringer wie den
Smart und die Adtranz stets heftig kritisiert
und war einer der wenigen, die Schrempp
widersprachen. Den Kollegen bei Mercedes-Benz hielt der Chrysler-Manager of-
Werbeseite
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Wirtschaft
fen vor, dass Chrysler mehr Autos verkauft
und höhere Profite erwirtschaftet: „Diesen Unterschied müssen wir überbrücken.“
Der grauhaarige Einkaufsexperte, der
wesentlich zur Verwandlung des fast konkursreifen Chrysler-Konzerns in einen
hoch profitablen Autohersteller beigetragen hatte, glaubte sich diese Haltung leisten zu können. Schrempp forderte den
Widerspruch zudem oft ein, weil man dadurch zu besseren Entscheidungen komme. Tatsächlich aber will der DaimlerChrysler-Chef seit längerem schon, so ein
enger Mitarbeiter, „kein kritisches Wort
mehr hören“.
Doch auch bei der geplanten Neuordnung des Vorstands widersprach Stallkamp seinem deutschen Boss. Langsam
und behutsam sollte man die beiden Unternehmen zusammenführen und nicht
mit einem Kraftakt, wie Schrempp es vorhatte. Das sei viel zu gefährlich, kritisierte Stallkamp, geradezu so, „als würden
zwei Kinder Säuren in ein Reagenzglas
schütten“.
Bei Schrempp wuchs der Widerwille gegen den selbstbewussten Stallkamp. Entlassen aber konnte er den Amerikaner
kaum, ohne ein größeres Beben in der
Chrysler-Zentrale auszulösen. Da passte
es wunderbar, dass Schrempps Partner
Eaton ebenfalls verärgert auf Stallkamp
reagierte, weil der sich bei Chrysler-Führungskräften despektierlich über Eatons
Rolle innerhalb des Führungsduos geäußert haben soll.
Eaton war es, der Stallkamp schließlich
feuerte, und zwar, wie Schrempp sagt, „auf
die amerikanische Art“. Eaton ging mit
Stallkamp essen und fragte seinen Kollegen, ob der sich auch vorstellen könnte,
mal etwas anderes zu machen. Zwei Sätze
später war Stallkamp klar, dass er entlassen wird.
Über die Folgen dieses Rausschmisses
in den USA macht sich Schrempp keine
Illusionen: „Das gibt Ärger“, prophezeite
er seinen Aufsichtsräten. Mit einer Abfindung von 5 487 445 Dollar und einem
Sonderstatus als Vice Chairman von DaimlerChrysler in den USA bis zu seinem Ausscheiden am 31. Dezember will der Konzern verhindern, dass Stallkamp öffentlich
mit Schrempp und Eaton abrechnet.
Der Frust unter den übrigen ChryslerManagern wird dadurch kaum geringer ausfallen. Dass bei der Fusion von
Chrysler und Daimler-Benz nicht wie
sonst üblich ein schwächelndes Unternehmen von einem starken übernommen
wurde, sondern zwei gleich starke zusammenfanden, erweist sich jetzt als Nachteil.
Beide Seiten treten entsprechend selbstbewusst auf, keine will sich der anderen
beugen. Lieber wechseln Chrysler-Manager, wie bereits kurz nach der Fusion, zur
Konkurrenz. Nach Stallkamps Abgang
wird sich die Absetzbewegung wohl noch
verstärken.
d e r
s p i e g e l
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AP
Für den Konzern kann dies schon bald
schlimme Folgen haben. Chryslers Aufstieg
ist nicht vorstellbar ohne die beispielhafte
Motivation seiner Mitarbeiter, den Konzern zu retten und es den beiden übermächtigen US-Rivalen General Motors und
Ford zu zeigen.
Aber auch unter den deutschen Führungskräften gibt es kaum noch einen, der
wie einst Schrempp die Fusion als „Hochzeit im Himmel“ bezeichnen würde. Viele
sind frustriert über ihre US-Kollegen, die
nach Abzug der Steuern oft das Vierfache
verdienen, sich dafür aber wesentlich kürzere Arbeitszeiten genehmigen.
An einem Montag werden kaum noch
gemeinsame Sitzungen mit den amerikanischen Managern in Stuttgart anberaumt,
weil sich die US-Kollegen weigern, bereits
am Sonntag anzureisen. Die Vorstandssitzungen finden fast ausschließlich in New York
statt, damit die Chrysler-Manager eine kürzere Anreise haben.
Deutsche Vorstände
fliegen morgens mit
der Concorde nach
New York und abends
Stallkamp
wieder zurück, um am
nächsten Morgen wieder an ihrem Stuttgarter Schreibtisch zu sitzen. „Das würde“, sagt ein deutscher Vorstand, „keiner
von denen auf sich nehmen.“
Knapp ein Jahr nach der Fusion zeigt
sich, dass auch die Vereinigung zweier Konzerne, die sich mit ihren Modellpaletten
und auf den meisten Märkten hervorragend ergänzen, auf gewaltige Probleme
stoßen kann: Über Erfolg oder Scheitern
des DaimlerChrysler-Konzerns entscheidet
auch der schwer kalkulierbare Faktor
Mensch.
Schrempp versprach seinen Aufsichtsräten zwar immer wieder, dass er die beiden Führungsmannschaften „mit hoher
Sensibilität“ zusammenführen wolle. Doch
stärker als seine Sensibilität ist sein
Machtinstinkt. Und den nutzt Schrempp,
um den Konzern nach seinem Gusto umzubauen.
Auf Eaton, offiziell noch immer gleichberechtigter Chef des Konzerns, nimmt
Schrempp dabei kaum noch Rücksicht. Auf
der Sitzung des Aufsichtsrats am vergangenen Freitag, an der Eaton nicht teilnahm,
rechnete Schrempp ganz kühl mit seinem
Partner ab.
Dass Eaton einen möglichen vorzeitigen
Rücktritt bereits ankündigte, war „der erste Fehler, den er seit dem Merger gemacht
hat“, so Schrempp zu seinen Kontrolleuren. Bei vielen Chrysler-Mitarbeitern gelte Eaton seitdem als „lame duck“, als lahme Ente, sagte Schrempp und blickte unschuldig lächelnd in die Runde.
Dietmar Hawranek
d e r
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Wirtschaft
SCHULDEN
Absolution
für Abzocker
Kommerzielle Berater erobern
das Geschäft mit den hoch
Verschuldeten – nicht immer
zu deren Vorteil.
130
In der Schuldenfalle
1455,0
Bankkredite* der
privaten Haushalte
in Milliarden Mark
1400
1200
1092,5
1000
892,4
800
1990
*inklusive Hypothekenkredite
92
94
96
Quelle:
Deutsche
Bundesbank
98
sich die Verbraucherzentralen deshalb zu
einem Arbeitskreis „Geschäfte mit der Armut“ zusammengeschlossen.
„Wir spiegeln nichts vor“, sagt dagegen
Axel Westphal, Geschäftsführer von Dr.
Meyer’s, „wir helfen.“ Seit Einführung des
Privatkonkurses habe er bei seinen Klienten eine Erfolgsquote von immerhin 15 bis
20 Prozent. Die Erfahrung zeige, dass ehemalige Kunden „den Verbraucherschützern
falsche Sachlagen schildern“. Überdies seien mit seiner Firma „Gewinne auch in absehbarer Zeit nicht zu erzielen“.
Dass die Aussichten auf einen erfolgreichen Verbraucherkonkurs gering seien,
sagt indes auch Rainer Eckert, Insolvenzanwalt in Hannover und Rechtsvertreter
von Dr. Meyer’s: „Das neue Insolvenzrecht
funktioniert nicht.“ Private wie öffentliche Berater hätten Probleme, mit den
Gläubigern eine Einigung zu erzielen. Für
Eckert stellt sich deshalb nur eine Frage:
„Ist die Höhe der Beratungsgebühren angemessen, oder ist sie verwerflich?“
In einem anderen Fall stufte das Oberlandesgericht München die erbrachte Be* Verbraucherzentrale Düsseldorf.
d e r
Seriöse Schuldnerberatung in NRW*
Viele hoffen auf eine zweite Chance
1279,3
763,3
U. BAATZ / LAIF
S
chuldenreduzierung bis zu 90 Prozent“ stellt die Dr. Meyer’s Schuldenverwaltungsgesellschaft Bürgern
in Finanznot in Aussicht. „Der Weg aus
dem Schuldensumpf“, heißt es auf der Internet-Seite der Firma, „ist leichter, als Sie
denken.“
Doch wer den Lockungen folgt, steckt
häufig zunächst viel tiefer im Schlamassel.
„Kompetent. hilfsbereit. professionell“ (Eigenwerbung) ist die Firma nämlich vor allem bei der Eintreibung ihrer Gebühren:
Gleich zu Beginn kassieren die Schuldensanierer oftmals mehrere tausend Mark
– und dann Monat für Monat bis zu zehn
Prozent der gezahlten Tilgungsraten.
Unternehmen wie Dr. Meyer’s haben
sich auf ein neues Geschäftsfeld spezialisiert – die kommerzielle Schuldnerberatung. Seit Jahresanfang können Verbraucher den Privatkonkurs beantragen und so
darauf setzen, binnen sieben Jahren von ihrer Schuldenlast befreit zu werden. 2,7 Millionen überschuldete Haushalte hoffen nun
auf eine zweite Chance.
Das Interesse ist groß, öffentliche
Schuldnerberatungen sind überlastet und
führen Wartelisten von vielen Monaten.
In Dortmund nehmen anerkannte Beratungsstellen kaum noch neue Fälle an.
In ihrer Verzweiflung wenden sich viele
Verbraucher an kommerzielle Schuldenberater, die ihnen schnelle Hilfe versprechen. Tatsächlich aber streichen die meisten privaten Finanzberater „in nahezu
allen Fällen immense Gebühren ein“, sagt
Schuldnerberater Christian Maltry vom
Landratsamt Main-Spessart. Die dafür erbrachten Leistungen müsse man hingegen
„mit der Lupe suchen“.
Der 30jährige Axel S. etwa beauftragte
Dr. Meyer’s in diesem Frühjahr, seine
Schulden von knapp 100 000 Mark zu verwalten. Doch statt weniger Miese hatte der
Arbeiter aus dem Ruhrgebiet erst mal
mehr: 3085,60 Mark berechnete ihm die
Firma aus Gehrden, unter anderem für
„Aktenanlage und Portokosten“.
Ein typischer Fall, sagt Pamela Wellmann von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Unter „Vorspiegelung einer angeblichen Hilfeleistung“ betrieben
solche Firmen „einträgliche Geschäfte“.
Um die Aktivitäten der gewerblichen
Schuldenberater zu untersuchen, haben
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ratung als „unbedeutend und ohne nennenswerten Geldwert“ ein. Der Rosenheimer Firma SDV Vermögensverwaltung
GmbH haben die Richter den „geschäftlichen Endverkehr“ mit verschuldeten Verbrauchern deshalb schon einmal verboten.
Begründung: Die Firma erbringe nichts,
was man einem Dritten gegen Bezahlung
übertragen muss, wenn man ohnehin verschuldet sei. Sie sei zu verurteilen, so die
Richter abschließend, „weil sie die Kunden schlichtweg ausbeutet“.
Und so geht es häufig in der ganzen
Branche zu. „Fast ausschließlich als rechtswidrig und kriminell“ bezeichnet HansHeiner Kühne, Strafrechtler der Universität Trier, in einem Gutachten die Tätigkeit
gewerblicher Schuldenberater. Doch den
Behörden gelingt es nur selten, konkrete
Rechtsverstöße nachzuweisen.
„Wir wehren uns dagegen“, sagt
Dr.- Meyer’s-Chef Westphal, „mit solchen
kriminellen Machenschaften in einen Topf
geworfen zu werden.“ Tatsächlich gehört
sein Unternehmen zu den ersten, die bereits als „staatlich anerkannte Schuldenberatungsstelle“ firmieren dürfen. Dr.
Meyer’s Schuldenverwaltung erhielt das
Gütesiegel in Nordrhein-Westfalen. Erst
1998 war gegen Westphal ein Bußgeldbescheid der Staatsanwaltschaft Hannover ergangen – wegen unerlaubter
Rechtsberatung in 114 Fällen. Ein Delikt
„vergleichbar mit falschem Parken“, sagt
Westphal.
„Absolution für Abzocker“ nennt Verbraucherschützerin Pamela Wellmann die
Politik mancher Bundesländer. Die staatliche Anerkennung ebne „vormals illegalen
Schuldenregulierern“, sagt Strafrechtler
Kühne, „den Weg zu einem zurzeit offensichtlich ebenso legalen wie lukrativen
Markt“.
Frank Hornig
Werbeseite
Werbeseite
Das Kartell lebt
Die Opec ist wieder da:
Mit erstaunlicher Disziplin hat sie
die Förderung gedrosselt
und so den Ölpreis verdoppelt.
L
ange hatte der saudi-arabische Thronfolger, Prinz Abdullah Ibn Abd alAsis, mit sich gerungen. Er sah, wie
sich Anfang des Jahres sein Königreich
maßlos verschuldete, die Öleinnahmen flossen nur noch spärlich. Sollte er jetzt die
Opec-Länder beschwören, gemeinsam mit
ihm die Förderung zu drosseln? Würden
dann die Preise endlich steigen?
Seine Berater warnten ihn. Einige Förderländer würden solche Vereinbarungen
immer wieder brechen, gaben sie zu Bedenken; sie drehten heimlich den Ölhahn
wieder auf, um schnelles Geld zu kassieren
– und dann stehe Saudi-Arabien noch
schlechter da als zuvor.
Der Prinz ging das Risiko ein. „Eine
eitrige Entzündung kann erst geheilt werden, wenn man sie mit starkem Feuer behandelt“, entschied Abdullah.
Das Feuer zeigte Wirkung. Der Preis für
Rohöl hat sich von rund 10 Dollar pro
Barrel (159 Liter) zu Jahresbeginn auf
inzwischen 24,41 Dollar mehr als verdoppelt, der Rohstoff ist so teuer wie seit
33 Monaten nicht mehr.
Sämtliche Opec-Länder haben strikt wie
selten zuvor die Förderquoten eingehalten, die die elf Ölminister im März in Wien
vereinbart hatten, und damit die Fachwelt
verblüfft – auch den ehemaligen saudi-arabischen Ölminister Ahmed Saki al-Jamani:
„Die Vereinbarung ist für die Katz, kein
Land wird sich daran halten“, polterte er
damals.
Jamani hatte den Leidensdruck der
klammen Förderstaaten unterschätzt. Die
Öleinnahmen der Golfanrainer waren 1998
um ein Drittel gesunken, die fetten Jahre
schienen ein für alle Mal vorbei. Saudi-Arabien sah sich sogar gezwungen, die Preise
24
22
20
Treibstoff
für die Preise
(RWI). So werden manche Auausgerechnet für Benzin zu ertofahrer am Neujahrsmorgen
höhen: von 0,16 Dollar auf 0,24
an der Tankstelle eine böse
Dollar pro Liter.
Überraschung erleben: Weil
Die Not hat das Kartell geam 1. Januar auf Kraftstoff
eint, das viele schon totgesagt
erneut sechs Pfennige Ökohatten. Seit die Petrodollars
steuer aufgeschlagen werden,
wieder fließen, sind die Golf„könnten wir die Zwei-Markkooperationsstaaten dabei, ihr
Prinz Abdullah
Grenze streifen“, vermutet
Haushaltsdefizit von 23 MilHillebrand.
liarden auf 12 Milliarden fast Verbraucherpreise
Der RWI-Forscher rechnet
zu halbieren. Den Förderlän- pro Liter in Mark
Sept.
damit,
dass Deutschland insdern kommt zugute, dass die
1999
gesamt in diesem Jahr gut
Nachfrage in Asien wieder
Sept.
0,61
zehn Milliarden Mark mehr
wächst: In Südkorea stieg der 1998
für Rohölimporte ausgeben
Ölverbrauch in den ersten vier
HEIZÖL
muss als im Vorjahr: „Das wird
Monaten um gut 20 Prozent.
0,43
einen inflationären Impuls zur
Grundlage für die unerwarFolge haben.“
tete Geschlossenheit ist der
Erinnerungen werden wach
neue Geist zwischen Saudi1,76
an die Ölkrisen der siebziger
Arabien und Iran, den HauptNORMALBENZIN
Jahre, als die Opec die Ölwafakteuren im Kartell. Die
fe entdeckte. Damals stieg der
Nachbarn sind wieder näher
1,54
Preis so drastisch, dass die Inzusammengerückt, seit der
dustriestaaten in die Rezession
vergleichsweise liberale Staats1,35
schlitterten.
präsident Mohammed ChaDIESELMit solch dramatischen Foltami Iran führt. Gemeinsam
KRAFTgen rechnet heute allerdings
wollen sie sich aus der „HegeSTOFF
1,14
kaum jemand. Das teure Öl
monie der USA auf dem Ölwird zwar den Preisauftrieb
sektor befreien“, heißt es in
Quelle: EID
etwas beschleunigen, Heizöl
einem internen Gesprächsund Kraftstoffe haben in eiprotokoll.
So versuchen sie, die Schrauben weiter nem Jahr immerhin um 14,3 Prozent zuanzuziehen. Vorige Woche bei der jüngsten gelegt. Doch gleichzeitig sind die TelefonKonferenz in Wien beschlossen die Öl- tarife um 12,6 Prozent gefallen, die Inflaminister, die niedrigen Förderquoten bis tionsrate verharrt weiter bei 0,7 Prozent.
März kommenden Jahres beizubehalten – „Und bald kommen die Preisvorteile aus
dem liberalisierten Strommarkt dazu“, erwenn nicht sogar noch länger.
Längst spüren die Verbraucher auch in wartet Wolfgang Nierhaus, KonjunkturforDeutschland die Folgen der Quoten- scher am Münchner Ifo-Institut.
Noch ist ohnehin nicht klar, ob die Opec
disziplin. Wer vor einem Jahr 3000 Liter
Heizöl einkellerte, zahlte etwa 1300 das Preisniveau auch nach dem Winter halMark. Heute kostet dieselbe Menge 1840 ten kann. Der Irak will nach dem GolfMark. Dass die Preise in den nächsten kriegsembargo wieder zur Nummer zwei
Monaten wieder fallen, ist unwahrschein- der Ölexporteure hinter Saudi-Arabien
lich – schließlich steht der Winter noch aufsteigen; schon jetzt bringt er seine Förderung auf Hochtouren.
bevor.
Zudem macht ein Preis jenseits der 20
Eher dürfte die kalte Saison den Preis
pro Barrel auf 25 bis 28 Dollar hoch- Dollar die Exploration auch in schwierigen
schrauben, erwartet Bernhard Hillebrand, Weltregionen wie der Nordsee wieder renEnergieexperte des Rheinisch-Westfäli- tabel – und schon schwimmt die Welt wieschen Instituts für Wirtschaftsforschung der in Öl.
Adel S. Elias, Alexander Jung
REUTERS
ERDÖL
Ölraffinerie in Saudi-Arabien: „Eitrige Entzündung mit starkem Feuer behandeln“
23. Sept. 24,41
Rohölpreis
in Dollar pro Barrel
18
16
14
10
Sept.
132
9,55
1998 1999
Sept.
Quelle: Datastream
GAMMA / STUDIO X
12
Werbeseite
Werbeseite
M. DARCHINGER
Spekulanten Zandmann, Behrens*, Steinich (in Berlin): „Was ist daran unseriös?“
tion drin, sondern 5 Sekunden. Das macht
er mehrere Male am Tag.
SPIEGEL: Herr Steinich, Sie sitzen seit März
in einem Berliner Tradingsaal. Wie ist Ihre
Bilanz?
Steinich: Positiv.
SPIEGEL: Was war Ihr schlechtester, was Ihr
Die Daytrader Wieland Steinich, 39, Eugen Zandmann, 30,
bester Tag?
und Frank Behrens, 23, über Börse und Gier
Steinich: Einmal 2500 Mark Verlust, einmal
7000 Mark Gewinn.
SPIEGEL: Herr Steinich, die Stimmung an Monaten nur guckt, wo der kurzfristige Behrens: Ich handele seit drei Monaten nur
den Weltbörsen ist gedrückt, der Dax sinkt Indikator hinzeigt. Der nimmt drei, vier, auf dem Papier. Ich gucke mir den Markt
fast täglich, und einige Experten warnen fünf Punkte mit …
an, um später wieder einzusteigen.
sogar vor einem Crash im Oktober – SPIEGEL: … 150 bis 250 Mark …
SPIEGEL: Sie üben jetzt, weil Sie beim Einschlechte Zeiten für gute Geschäfte. Wie Zandmann: … und geht gleich raus. Er ist stieg ins Daytrading eine Menge Geld verlief es gestern bei Ihnen?
noch nicht einmal 15 Sekunden in der Posi- loren haben. Wie viel?
Steinich: Gut. Das Schöne am Daytrading
Behrens: Nach zwei Monaist eben, dass man Kursbewegungen in alle
ten waren 25 000 Mark weg.
So funktioniert Daytrading
Richtungen nutzen kann. Ich habe gleich
SPIEGEL: Daytrader müssen
erkannt, dass der Dax-Future nach unten
50 000 Mark als Sicherheit
geht, und habe die Gewinne laufen lassen.
hinterlegen. Hat bei Ihnen
Bank
die Bank die Notbremse geSPIEGEL: Was haben Sie verdient?
Kauf oder Verkauf
zogen?
Steinich: Knapp 2000 Mark.
werden daraufhin im
Zandmann: Ich habe gestern wenig gehanBehrens: Die Bank und eigeWertpapierdepot des
delt. Zunächst habe ich darauf spekuliert,
ne Einsicht.
Daytraders verbucht.
SPIEGEL: Wie haben Sie readass der Dax hochgeht, aber das war nicht
giert, als die Verluste einder Fall. Das habe ich aber frühzeitig erÜber ein angemietetes BörsenEin Handelsprogramm
setzten?
kannt und bin mit 250 Mark Gewinn nach
informationssystem unterrichtet schickt die Order per Internet Behrens: Man wird panisch,
Hause gegangen.
sich der private Händler via Inter- direkt an die internationalen
hektisch, man handelt viel.
SPIEGEL: Werden Sie nervös, wenn Sie vor
net ohne Zeitverzögerung (realBörsen, wo sie sekundenIch war eine Zeit lang unter
dem Bildschirm sitzen und der Kurs sich time) über weltweite Marktdaten. schnell ausgeführt werden.
psychischem Druck, weil ich
anders entwickelt als erwartet?
überlegt habe, wie es weiSteinich: In dem Moment, wo ich im Markt
tergehen und ob ich aufbin, stehe ich unter Stress.
hören soll.
SPIEGEL: Wie schnell reagieren Sie?
Steinich: Ich habe schon in fünf bis zehn SeSPIEGEL: Warum hören Sie
kunden entschieden: Hey, jetzt liegst du
nicht auf? Warum glauben
völlig falsch.
Sie, dass Sie es beim nächsten Mal schaffen werden?
Zandmann: Wir haben in unserem DüsselBehrens: Ich mache jetzt seit
dorfer Trading-Center einen, der seit sechs
drei Monaten Probetraining,
* Name von der Redaktion geändert.
versuche den Markt kennen
S P E K U L AT I O N
„Wie Motorrad fahren“
134
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Werbeseite
Wirtschaft
P. FRISCHMUTH / ARGUS
deshalb verloren, Herr Behrens?
Behrens: Ja. Ich habe zum Beispiel zu lange gewartet, Verluste
zu lange gegen mich laufen lassen, Gewinne nie mitgenommen.
SPIEGEL: Herr Steinich, Sie waren zwölf Jahre lang Immobilienmakler und haben im März
den Beruf gewechselt. Verdienen Sie jetzt mehr?
Steinich: Ja, und ich muss nicht
mehr klagen, um an meine Provisionen zu kommen. In der Immobilienbranche läuft man bis
zu zwei Jahre seinem Geld
hinterher. Jetzt wird das Geld
gleich auf dem Konto gebucht.
SPIEGEL: Nach amerikanischen
Untersuchungen machen 70
Prozent der Daytrader Verluste.
Warum sollten ausgerechnet Sie
zu den Gewinnern zählen?
Steinich: Warum nicht? Ich analysiere vorher die Prognose, ich verhalte mich diszipliniert und sage: Mehr Geld wechselt an
dem Tag nicht zu mir. Weil beim Daytrading Emotionen eine Rolle spielen, muss
ich mir vorher ein klares Limit setzen: bis
dahin und nicht weiter.
SPIEGEL: Meinen Sie mit Emotionen Gier?
Steinich: Gier ist eine Form der Angst, zu
wenig zu bekommen. Angst ist ein schlechter Ratgeber an der Börse. Bevor ich überhaupt in die emotionale Phase komme,
muss ich Entscheidungen treffen: Wo gehe
ich in den Markt, wo gehe ich aus dem
Markt? Was kann ich an Verlusten akzeptieren, bei wie viel Prozent Gewinn steige
ich aus?
Zandmann: Wer schlecht mit Verlusten fertig werden kann, sollte die Finger vom
Daytrading lassen.
SPIEGEL: Sie arbeiten weiterhin nebenbei
noch in Ihrem alten Job als Vermögensverwalter bei einer kleineren Gesellschaft.
Ist Ihnen bei Ihrem Arbeitgeber der Aktienhandel nicht aufregend genug?
Zandmann: Das sind zwei verschiedene
Dinge wie Auto und Motorrad. Ich spekuliere mit Aktien, das ist wie Auto fahren;
Daytrading ist Motorrad fahren.
SPIEGEL: Motorradfahrer holen sich eher
eine blutige Nase.
Zandmann: Daytrading sollte man als einen Bereich der Anlagestrategie betrachten
und nur einen Teil des Depots hoch spekulativ anlegen.
SPIEGEL: Wie viel Prozent?
Zandmann: Nicht mehr als 20 bis 30 Prozent.
SPIEGEL: Woher nehmen Daytrader ihren
Optimismus, dass sie das System beherrschen?
Steinich: Ich halte mich für beherrschbar. Ich will nicht den Markt und auch
nicht das System beherrschen, ich will es
nutzen.
Interview: Hermann Bott,
Daytrader vor dem Bildschirm*: „Das ist harte Arbeit“
zu lernen und bereite mich auf die Börsenhändlerprüfung vor.
SPIEGEL: Sie waren Angestellter im Öffentlichen Dienst. War Ihnen der Job zu langweilig?
Behrens: Ja. Ich möchte auf jeden Fall in
der Börsenbranche bleiben.
SPIEGEL: Was sagen Sie, wenn Sie heute
jemand nach Ihrem Beruf fragt?
Behrens: Dass ich an der Börse handele.
SPIEGEL: Ein bisschen vage. Warum sagen
Daytrader nicht einfach, dass sie Berufsspieler sind?
Steinich: Das ist kein Spiel, das ist harte Arbeit, weil man sich mit Informationen auseinander setzen muss und da sehr vorsichtig, sehr achtsam und sehr genau arbeiten
muss. Daytrading ist Präzisionsarbeit, weil
man innerhalb von Sekunden die Kursbewegung ausnutzen kann. Da darf man sich
keine Fehler erlauben.
SPIEGEL: Sie handeln hier alle mit dem Dax
Future, das heißt, Sie schließen Wetten darüber ab, wie der Deutsche Aktienindex in
ein paar Wochen oder Monaten steht. Die
einen setzen darauf, dass der Dax steigt,
die anderen, dass er fällt.
Zandmann: Das ist keine Wette, das ist eine
Prognose. Man hat sich eine Meinung gebildet, die kann richtig oder falsch sein.
Diese Meinung ist Ergebnis einer sorgfältigen Analyse.
Steinich: Es gibt Indikatoren. Die sagen
mir, welche Erwartungen die anderen
Marktteilnehmer haben. Die Regeln funktionieren mit einer Wahrscheinlichkeit von
Risiko und Chance. Wenn mein RisikoChance-Verhältnis 10 zu 90 ist, heißt das,
dass 10 Prozent Risiko da sind. Aber die
Wahrscheinlichkeit, dass die 90 eintreten,
ist höher als die 10. Also werde ich mich
entsprechend positionieren und für den
Fall, dass die 10 Prozent eintreten, vorher
Maßnahmen treffen.
* Im Hamburger Actior Trading Center.
136
SPIEGEL: Stört es Sie, wenn man Ihre Tätigkeit als Zocken bezeichnet?
Steinich: Ja.
Zandmann: Ich bin kein Zocker. Ein Zocker
ist derjenige, der glaubt, leicht und schnell
Geld verdienen zu können.
SPIEGEL: Beim Daytrading ist relativ leicht
und schnell Geld zu verdienen.
Steinich: Eben nicht. Es ist zwar schnell,
aber nicht leicht.
SPIEGEL: In der Öffentlichkeit gilt Daytrading als unseriös.
Steinich: Wer beeinflusst die Öffentlichkeit? Die Medien.
SPIEGEL: Das Image ergibt sich durch die
Tätigkeit. Da sitzen Menschen vor dem
Bildschirm, drücken ein paar Tasten und
haben in wenigen Sekunden 2000 Mark
gewonnen oder verloren.
Zandmann: Was ist daran unseriös? Fragen
Sie mal die Deutsche Bank, ob die etwas
anderes macht.
Steinich: Die Banken machen im Eigengeschäft dasselbe wie wir.
SPIEGEL: Der Papst beklagte kürzlich, dass
Reichtum heute ohne Bezug zu einer
konkreten Arbeit angehäuft wird.
Steinich: Da frage ich die Kirche: Können
wir uns mal die Anlagestrategien für euer
Vermögen anschauen? Spekulation ist
der Motor der Wirtschaft, das ist eine
Grundregel.
SPIEGEL: War jemand von Ihnen schon mal
im Spielcasino?
Zandmann: Ich.
SPIEGEL: Wo sehen Sie den Unterschied?
Zandmann: Daytrading ist eine Form der
Börsenspekulation. An der Börse zu spekulieren heißt generell, viele Informationen beherrschen und verarbeiten zu
können. Zum Daytrading gehört auch viel
Disziplin. Das ist ein Unterschied zum
Casino, der Kugel können Sie keinen
Stopp setzen.
SPIEGEL: Also sind Gewinn und Verlust
nur eine Frage der Disziplin? Haben Sie
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Frank Hornig
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SIPA
ZDF / AUSLANDSJOURNAL
Vermittler Holzer, Villa „Soussou“ in Golfe-Juan: Vergangenheit beim Geheimdienst?
„Auf höchster Ebene“
Neue Erkenntnisse in der Leuna-Affäre: Der Geschäftsmann und
Ex-Strauß-Freund Dieter Holzer soll vom französischen
Ölmulti Elf 50 Millionen Mark kassiert haben. Aber wofür?
D
er Brief, der am 11. November 1993
aus dem Faxgerät im Vorzimmer
des Kanzlers kam, trug die Aufschrift „Persönlich – Vertraulich“. Absender war ein Dieter Holzer aus Monaco.
„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Helmut Kohl“, schrieb der in CDUKreisen bekannte Geschäftsmann, „Sie haben mich gebeten, Ihnen kurz darzustellen,
warum meiner Meinung nach Elf Aquitaine die Raffinerie in Leuna nicht bauen
wird.“
Der neue Chef des französischen Ölkonzerns, Philippe Jaffré, sei beauftragt,
den Ölmulti zu privatisieren, und wolle
deshalb die riskante Investition in Ostdeutschland unterlassen. Um das deutschfranzösische Prestigeprojekt zu retten,
„würde ich eine Intervention auf höchster
Ebene in Paris für geboten erachten, andernfalls ist die Katastrophe perfekt“.
Der Kanzler nahm die Angelegenheit
ernst. Er wollte im deutschen Osten
schließlich ein Milliarden-Investitionsprojekt verwirklicht
sehen. In schwungvoller Handschrift vermerkte er auf dem
Brief: „Ludewig prüfen u. R.“
Das sollte wohl heißen,
sein damaliger Wirtschaftsabteilungsleiter Johannes Ludewig,
ein Kohl-Vertrauter, möge sich
der Sache annehmen und dann,
„R.“ steht für Rücksprache, den
Kanzler unterrichten.
Erstmals belegt damit ein Dokument, dass Holzer selbst zum
Kanzler Kontakt hatte. Der Geschäftsmann gilt seit längerem
schon als Schlüsselfigur in der
138
Leuna-Affäre. Der französische Mineralölkonzern Elf Aquitaine hat im Zusammenhang mit der Privatisierung der ostdeutschen Raffinerie Leuna viele Millionen dubioser Provisionen gezahlt. Der Verdacht:
Ehemalige Elf-Manager, Berater und französische Politiker hätten kassiert. Aber
auch nach Deutschland könnte Geld geflossen sein – womöglich an Politiker
(SPIEGEL 44/1998).
1992 hatte sich ein Konsortium unter
Führung von Elf Aquitaine verpflichtet,
eine neue Raffinerie in Leuna zu bauen. Im
Gegenzug erhielten die Franzosen das damals begehrte Ost-Tankstellennetz Minol.
Fest steht mittlerweile: Das Projekt wurde auf Seiten der Franzosen von ehemaligen Managern und zwielichtigen Vermittlern betreut, die über hunderte von Millionen offenbar frei verfügen konnten. Bei
Ermittlungen gegen ehemalige Elf-Manager
stieß die Pariser Richterin Eva Joly bereits
1997 auf Zahlungen von mindestens 100
Millionen Mark im Zusammenhang mit
dem Leuna-Projekt.
Das Geld floß über Mittelsmänner und
Briefkastenfirmen nach Liechtenstein und
in die Schweiz. Dort verlor sich die Spur
des Geldes. Gerüchte traten an die Stelle
von Fakten: Nach Deutschland, so wusste
die französische Presse ohne Quellenangabe zu berichten, seien Gelder gelangt –
bis in die Kassen der CDU. Und Holzer
mit seinen Unionskontakten soll einer der
Hauptakteure in dem undurchsichtigen
System von Briefkastenfirmen gewesen
sein. Frühzeitig dementierte die Union die
Gerüchte als „üble Erfindung“.
Doch neue Ermittlungsergebnisse aus
der Schweiz förderten vergangene Woche
weitere Spuren zu Tage. Nach den Erkenntnissen der Genfer Ermittler soll Holzer, laut „Le Monde“, vom Elf-Konzern
rund 50 Millionen Mark erhalten haben. Er
habe nur Provision für sich bekommen,
sagte er gegenüber der Schweizer Justiz.
Aber wie glaubhaft ist Holzers Aussage,
der sich öffentlich nicht zu den Vorwürfen
äußert?
Klar ist: Der Multimillionär Holzer ist
ein Mann mit besten Beziehungen in die
Politik, vor allem zu Politikern von CDU
und CSU. Er gehörte zum Freundeskreis
von Franz Josef Strauß. Der Saarländer,
mit Wohnsitz in Monaco, besitzt Wohnungen in aller Welt. Gerade erst musste Bayerns CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber eingestehen, in Holzers
„Villa Soussou“ im südfranzösischen Golfe-Juan während der
achtziger Jahre mehrfach seinen
Urlaub verbracht zu haben.
In der Leuna-Affäre spielte
Holzer von Anfang an eine tragende Rolle. In den vergangenen Monaten förderte ein Genfer Untersuchungsrichter, der im
Auftrag der französischen Justiz
aktiv wurde, neue Details zu
Tage. Richter Paul Perraudin beschäftigt sich damit, die illegalen
DPA
E L F AQ U I TA I N E
Raffinerie in Leuna
„Hier gibt es Probleme“
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Wirtschaft
AP
Geldströme des französischen Ölkonzerns
Doch wofür bekam Holzer das fürstliche
in die Schweiz zu rekonstruieren. An wen Honorar? War wirklich alles für ihn befloss wie viel? Und warum?
stimmt? Oder funktionierte er auch als
Im Fall Leuna vereinbarten die Franzo- Durchlaufstation für das Geld?
sen über einen angeblichen BeratungsverNoch drängender stellen sich die Fragen
trag mit der Liechtensteiner Briefkasten- im Fall Lethier: Sein Wirken ist mehr als
firma Nobleplac die Zahlung von 256 Mil- rätselhaft. Der ehemalige Geheimdienstlionen Francs. Tatsächlich wurde am mann ist so diskret vorgegangen, wenn er
24. Dezember 1992 das Geld in zwei Tran- überhaupt tätig wurde, dass sein Name bis
chen aufgeteilt: 220 Millionen Francs gin- heute in keinem Dokument rund um die
gen an eine Stand-By Establishment und 36 Verhandlungen des Leuna-Projektes aufMillionen Francs an eine Showfast Limited. taucht. Auch den offiziellen Akteuren von
Nach Perraudins Erkenntnissen wurden damals ist der Name nicht geläufig.
über 150 Millionen Francs von der StandFür Holzer gilt das nicht. Zwar findet
By auf ein Konto in Luxemburg überwie- sich sein Name bisher nur in einem Versen. Als Nutznießer machte er den Ge- handlungsprotokoll vom 15. Juli 1992. Doch
schäftsmann Holzer aus.
der Saarländer war zwischen 1992 und 1994
Weitere 60 Millionen Francs
für den Ölkonzern in Bonn
der Stand-By landeten, daimmer dann zur Stelle, wenn
von ist Perraudin überzeugt,
die Verhandlungen nicht reinach komplizierten Transakbungslos liefen.
tionen schließlich auf einem
Der Brief an Kohl belegt,
Konto der Stiftung „Internadass Holzer Zugang bis in
tional Finanzanstalt“ in Vahöchste Regierungskreise beduz. Auch die 36 Millionen
saß. Als „Betreff“ notierte er:
Francs der Showfast sollen auf
„Gespräch am Rande des
verschlungenen Pfaden dort
CDU-Landesparteitages in
angekommen sein. Hinter der
Saarlouis-Roden/Meine AkStiftung, so die Ermittlungsertennotiz an Sie übergeben
gebnisse, stehe Pierre Lethier,
durch Herrn BM Prof. Dr.
ein französischer Geschäfts- Ex-Minister Krause
Klaus Töpfer“. Immer wieder
mann mit Wohnsitz Genf.
intervenierte er zu Gunsten
Holzer und Lethier kennen sich seit Jah- der Franzosen. Mal meldete er sich briefren. Bis Ende der achtziger Jahre leitete lich, so im Juni 1992 beim damaligen BonLethier das Direktorenbüro des französi- ner Finanzstaatssekretär Manfred Carstens
schen Geheimdienstes DSGE. Als die Justiz („Hier gibt es Probleme“), den er seit Jahihn im Frühjahr vernahm, erklärte Lethier ren gut kennt. Ein anderes Mal arrangierlaut „Le Monde“, Holzer sei für ihn „über te er in seinem Anwesen in Golfe-Juan ein
viele Jahre einer der Kontakte in Deutsch- Treffen zwischen dem Elf-Verhandlungsland gewesen“. Er habe den Deutschen führer und dem ehemaligen Verkehrsspäter als Vermittler für Elf geworben.
minister Günther Krause, wie am 30. Mai
Auch Holzer soll eine Vergangenheit als 1992. Damals wurde in dessen Ministerium
Geheimdienst-Mann haben. Unter dem an der „Lex Minol“ gearbeitet, einer karDecknamen „Baumholder“, schreibt Wil- tellrechtlichen Ausnahmeregelung für die
helm Dietl in seinem Buch „Staatsaffäre“, Minol-Tankstellen im Osten.
sei der Geschäftsmann „dem BND verDer Kontakt zu Holzer galt im Kanzlerpflichtet“ gewesen.
amt als sensibel. Ein Brief des Vermittlers
Ehemalige Geheimdienstler sind in der erhielt im November 1993 gar die AufLeuna-Affäre allgegenwärtig: Lethier er- schrift „Quellenschutz für Herrn Holzer –
klärte in der Vernehmung, dass er von nicht zu den Akten“.
Der jetzt aufgetauchte Holzer-Brief erAlfred Sirven beauftragt wurde. Der ElfManager, bis 1993 die gefürchtete graue härtet den Verdacht, dass dem parlamentaEminenz des Konzerns, wird heute von In- rischen Untersuchungsausschuss „DDRterpol gesucht, er verfügt ebenfalls über Vermögen“ in der vergangenen Legislaturperiode wichtige Unterlagen vorenthalten
eine Geheimdienst-Vergangenheit.
Holzer und Lethier behaupteten ge- wurden.
Der Ausschuss beschäftigte sich damals
genüber dem Ermittler fast gleich lautend,
dass sie keine Schmiergelder gezahlt hät- auch mit den Vorgängen um den Leunaten. Vor dem Untersuchungsrichter sagte Deal. Die Parlamentarier forderten schließHolzer, wie zuvor schon der Franzose, von lich die Akten des Bundeskanzleramts an.
dem Geld – rund 50 Millionen Mark Pro- In den VS-gestempelten Dokumenten, die
vision für den Deutschen und 30 Millionen das Kanzleramt dem Ausschuss übergab,
Mark Provision für den Franzosen – sei fehlte das Holzer-Schreiben.
keine Mark weitergereicht worden.
Zumindest ist dem SPD-Abgeordneten
Es habe sich um Provisionen für die Ver- Friedhelm Julius Beucher, damals Obmann
mittlertätigkeit gehandelt. „Ohne provo- im Ausschuss, das Dokument nicht aufzieren zu wollen“, so Holzer laut „Le gefallen. Beucher kategorisch: „Einen Brief
Monde“, „darf ich Ihnen sagen, es war eine von Holzer an Kohl hätte ich niemals
schlechte Entlohnung.“
übersehen.“
Markus Dettmer
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F. BOXLER / TANDEM
Forscher Brandenburg mit MP3-Player, Internet-Seite der Musikgruppe „Vengaboys“: „Reich geworden sind wir nicht“
INTERNET
Armer
Erfinder
Ein Forscher aus Erlangen hat
das revolutionäre OnlineVerfahren MP3 entwickelt – das
große Geschäft machen andere.
M
anchmal beschleichen den Wissenschaftler leise Zweifel, ob er
nicht doch die Chance seines Lebens verpasst hat. Dann fragt sich Karlheinz Brandenburg, 45: „Was wäre gewesen, wenn … ?“
Wenn er seinen Job am FraunhoferInstitut in Erlangen einfach an den Nagel
gehängt hätte. Wenn er das Verfahren MP3,
mit dem Musikdaten so zu komprimieren
sind, dass jeder sie aus dem Internet laden
kann, nicht nur erfunden, sondern auch
vermarktet hätte. Wenn er also etwas riskiert hätte. Dann wäre Brandenburg heute vermutlich reich und berühmt und würde gefeiert als der deutsche Bill Gates.
So aber steht noch immer „Abteilungsleiter“ auf seiner Visitenkarte, so tüftelt er
weiter an Algorithmen in seinem schmucklosen Büro im Institutsparterre. Bezahlt
wird er nach dem Bundesangestelltentarif.
„Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit“,
versichert er trotz allem. Nette Kollegen
seien ihm wichtiger als dicke Kontoauszüge: „Mich interessiert es nicht besonders,
wie viele Nullen vor dem Komma stehen“,
beruhigt er sich.
Andere machen mit seiner Erfindung
jetzt Milliarden-Geschäfte. Leute wie der
Amerikaner Michael Robertson zum Beispiel, der mit „MP3.com“ eine Plattform
für Online-Musik ins Netz gestellt hat –
der Börsenwert seiner Firma beträgt rund
zwei Milliarden Dollar, er selbst besitzt davon Anteile im Wert von gut 900 Millionen.
Oder das US-Unternehmen Diamond Multimedia Systems, das schon mehr als eine
142
Million Stück seines Abspielgeräts „Rio
Player“ verkauft hat.
Solche Gründerfirmen schwimmen ganz
oben auf der Welle, die MP3 ausgelöst hat.
Es ist derzeit das heißeste Kürzel im Internet, das von Surfern sogar öfter gesucht
wird als „Sex“. Rund 17 Millionen InternetNutzer laden sich bereits Musik auf ihre
Rechner oder Abspielgeräte – fast immer
vorbei an der Musikindustrie. Mit Hilfe
von MP3 werden Werke etablierter Künstler illegal verbreitet, eine ganze Branche
hat der Tüftler Brandenburg erschüttert.
Die Basisidee ist schon gut zwei Jahrzehnte alt. 1977 kam dem Erlanger Professor Dieter Seitzer der Einfall, Musik über
das Telefonkabel zu übertragen. „Das kann
nicht gehen“, bekam er jahrelang vom
Patentamt zu hören.
Seitzer blieb beharrlich und schaute sich
nach jungen Wissenschaftlern um, die ihm
helfen könnten. Jemand musste den Leuten
vom Patentamt doch zeigen, dass es funktioniert, „und dieser jemand war ich“, sagt
Brandenburg nicht ohne Stolz.
Vor zehn Jahren veröffentlichte der
Wissenschaftler, der Mathematik und Elektrotechnik studiert hat, seine Dissertation,
die er bescheiden einen „Beitrag zu den
Verfahren und der Qualitätsbeurteilung
für hochwertige Musikkodierung“ überschrieb. Ihm war allerdings sehr früh klar:
Entweder die Doktorarbeit verstaubt im
Regal wie so viele andere – oder sie wird
den Standard setzen.
Bis es so weit war, vergingen noch Jahre. Brandenburg und sein Team feilten beharrlich an der Technik der Datenkompression. Immer wieder spielten sie sich
den Song „Tom’s Diner“ von Suzanne Vega
vor; der A-cappella-Gesang verrät am besten den feinen Unterschied zwischen Wiedergabe von rauschender und berauschender Qualität.
1995 verglichen sie ihr Verfahren mit denen anderer Labors: „Wir waren verblüfft“,
erinnert sich Brandenburg, „niemand war
weiter als wir.“ Von nun an ging es rasant
voran. Die Erlanger stellten das Programm
als „Shareware“ ins Internet: Jeder, der
sich registrieren ließ, konnte die Software
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von der Fraunhofer-Seite kostenlos herunterladen. In Windeseile sprach sich bis nach
Amerika herum, welch wissenswerte Erfindung aus Erlangen kommt. Das Internet, damals gerade an der Schwelle zum
Massenmedium, lieferte die ideale Infrastruktur, damit sich die neue Technik ausbreiten konnte. „Da konnten wir so richtig schön die Exponentialkurve beobachten“, schwärmt Brandenburg.
Damals wurde er gefragt, ob ihm bewusst sei, dass er gerade die Musikindustrie
vernichte. „Wir zerstören sie nicht“, verteidigte Brandenburg seine Erfindung, „wir
verändern sie.“ Die Branche müsse nur die
Chancen im digitalen Vertrieb erkennen.
Nach Faxgerät, Videorecorder und Autofokuskamera kommt mit MP3 nun wieder eine Entwicklung aus Deutschland, die
ihren kommerziellen Siegeszug im Ausland
beginnt, vor allem in den USA. Das Unternehmertum sei dort eben „in der Seele
fest verankert“, sagt Brandenburg. Außerdem seien die Colleges schon lange bis in
die Wohnheime am Netz; kein Wunder,
dass von dort die ersten Gründer mit MP3
durchgestartet sind.
An den Erlangern aber fließen die Geldströme vorbei. Zwar bekommt das Institut
von den gewerblichen Nutzern Lizenzgebühren aus den Patenten. Doch das reicht
gerade dazu, die Budgets der Audiolabore
inzwischen auszugleichen. „Reich geworden sind wir nicht“, räumt Brandenburg
ein. Er selbst besitzt nicht mal eine Aktie
einer MP3-Firma.
Bestätigung erfährt der Wissenschaftler
woanders. Zum Beispiel wenn er von der
Audio Engineering Society ausgezeichnet
wird für eine Pionierleistung wie die von
Thomas Edison. Oder wenn sich auf MP3Konferenzen in Los Angeles oder Florenz
die Menschen um ihn scharen wie um einen Propheten, was ihm eher peinlich ist.
Oder wenn ihn, wie jetzt geschehen, die
Technische Universität Ilmenau als C4-Professor verpflichten will.
Eigentlich aber genügt es ihm, morgens
den Rechner anzustellen und jeden Tag
neue MP3-Web-Seiten zu entdecken: „Das
ist ein gutes Gefühl.“
Alexander Jung
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Trends
Medien
seine Leute hat, mit denen man auch
mal reden kann.
SPIEGEL: Sie wollen einen eigenen
Musikverlag?
Bohlen: Dafür bräuchte ich kein
fremdes Geld. Für eine Entertainment AG mit zusätzlicher TVProduktion, Casting-Agentur und
Verwertungsgesellschaft schon. Das
Musikproduzent Dieter Bohlen, 45,
wäre alles bei einem Börsengang
über seinen Traum vom eigenen
dabei.
Entertainment-Konzern
SPIEGEL: Ab wann kann man die
Bohlen-Aktie kaufen?
SPIEGEL: Ihre Freundinnen lächeln
fast täglich aus der „Bild“-Zeitung,
Bohlen: Wenn, dann ungefähr in eiIhre Songs stehen in den Hitparaden
nem Jahr. Ich habe mich neulich
meist ganz oben. Warum ist das Einmit Managern von RTL 2 und Pro
mann-Medienunternehmen Bohlen
Sieben getroffen. Die haben alle einicht längst an der Börse?
nen unheimlichen Glauben in meine
Kreativität. So etwas Ähnliches wie
Bohlen: Wenn man der erfolgreichste
Schreinemakers fehlt zum Beispiel
Komponist ist, fragen die Banken öfheute im Fernsehen. Dass also eine
ter mal an. Aber bisher hatte ich einglaubhafte Moderatorin die fünf
fach keine Zeit, mich darum zu kümgroßen „Bild“-Geschichten der Womern. Wenn man tagsüber einen Hit
che gut durchschüttelt und dann
nach dem anderen produziert, will Bohlen mit Freundin ab del Farrag
schön verkauft.
man abends nur noch seine Ruhe.
SPIEGEL: Dabei soll es angeblich bleiben.
SPIEGEL: Und später gründen Sie noch eine eigene Zeitung und
einen neuen „Stern“, wie Sie der „Zeit“ anvertrauten?
Bohlen: Komponieren und Texten ist ein verdammt einsamer
Bohlen: Das sind natürlich nur Träumereien.
Job. Inzwischen sehne ich mich nach einem Laden, in dem man
MUSIKINDUSTRIE
ZEITUNG
Lesefreudige Huren
D
M. HORACEK / BILDERBERG
eutschlands einzige mehrsprachige
Prostituiertenzeitung „La Muchacha“ erscheint seit vergangener Woche
in Frankfurt. Das Blatt ist so international wie die Zielgruppe: Artikel erscheinen auf Deutsch, Spanisch, Englisch
und Thailändisch. Leserinnen sind die
etwa 1000 Huren, die in den 26 Frankfurter Bordellen arbeiten. Für eine
Mark erhalten die Prostituierten nutz-
Prostituierte (in einem Frankfurter Bordell)
wertige Informationen über wichtige
Termine: Informationstage von SAP,
Buchmesse und der Deutsche Marketing-Tag etwa lassen offensichtlich besonders viel Verkehr erwarten. Sorgen
über womöglich illegale Geschäfte mit
den Einnahmen aus der Prostitution
zerstreut das Interview mit dem Bordellbetreiber „G. S.“, der sich gegen
den Verdacht wehrt, Prostitutionsgelder
würden in Drogen oder Waffen investiert: „Ja also Drogen...“, wird G. S.
zitiert, „wenn Kaffee eine Droge ist,
dann ist das richtig.“ Neben Alltagsthemen wie Verhütung („Was
bedeutet das Kondom für
Dich?“) oder Polizeirazzien („Wie die Wilden“)
setzt „La Muchacha“ aber
auch Seiten lang auf eher
schwere Kost: Tagungsberichte (über die „Gesundheit von Migrantinnen“)
und abgehobene Debatten
(„politisch motivierte Ausgrenzung in der Hurenbewegung“) lassen erahnen,
dass dem Trägerverein der
Zeitschrift vor allem nur
Vertreter fachfremder Berufsgruppen angehören:
Soziologen, Germanisten
und ein promovierter Philosoph.
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REUTERS
ULLSTEIN BILDERDIENST
„Verdammt
einsam“
Nato-Pressesprecher Shea (r.)
P R O PA G A N DA
Lehren aus dem Krieg
E
ine Nato-Studie zu Lehren aus dem
Kosovo-Krieg fordert Verbesserungen bei der Medienarbeit. Auf „Propaganda“ des Serben-Führers Slobodan
Milo∆eviƒ hätte die Allianz „besser reagieren können“, so die Selbstkritik,
wenn Medienbetreuer der Brüsseler
Zentrale wie Nato-Sprecher Jamie Shea
„mehr Informationen der Nachrichtendienste“ besessen hätten. Pannen, wie
der verwirrende Auftritt eines nur mit
holprigem Englisch gewappneten italienischen Generals nach der versehentlichen Bombardierung eines Fahrzeugkonvois, müssten künftig vermieden
werden. Das Nato-Hauptquartier im
belgischen Mons möge zudem „erwägen“, so ein interner Vorschlag, für Krisenfälle fortan einen ranghohen und
„speziell ausgebildeten Sprecher bereitzuhalten“.
145
Medien
Laue Eminenzen vorn
fui-TV, der Kanzler tobt, Naddel
am Pranger von „Bild“ – die Aufregung um die RTL-2-Show „Peep!“
und deren puppenlüsterne Angriffe
auf den Unterleib von Gerhard
Schröder ist schnell verraucht. Die
Principeepa Nadja ab del Farrag
ackert wieder harmlos und rührend unbeholfen im Schrebergarten
des Schmuddelfernsehens zwischen
strammen norddeutschen Amateurstripperinnen und neckisch knapp
behosten Dienern. Den Gummizahn
der Satire haben ihr die Aufpasser
erfolgreich gezogen, das Abendland
ist gerettet.
Der Lärm um Naddel übertönte
für einen Moment die neuen, leiseren
Töne des Fernsehens. Die Zeiten, da
sich das Medium selbstsicher und
siegesbewusst selbst überbot, sind
vorbei.
Das Genre Talk ist ausgereizt,
Neulinge wie Ricky auf Sat 1 reißen
quotenmäßig nichts mehr gegenüber
den lauen Eminenzen des Gewerbes,
Bärbel und Meiser. Die Comedysierung des Programms rund um die
Uhr stößt mit der „MorningShow“
an Grenzen.
Optische Orgien mit Spielfilmanspruch, wie sie Pro Sieben liebt,
ändern nichts daran, dass geschicktes
Traditionsrecycling à la „Stahlnetz“ an der Quotenkasse siegen. Das Soap-Boot – gutes Zeichen? Schlechtes
Zeichen? – ist voll: Für
„Mallorca“ und „CityExpress“ bleibt kein
Platz.
Ein noch so aufgepopptes Magazin wie
Springers „Newsmaker“ kommt gegen die
bewährte Ulrich-Meyer-Sendung „Akte 99“
nicht an. Fußball bleibt,
trotz inflationärer Ausweitung, oben in den Charts. Neue
Shows wie „Die Stunde der
Wahrheit“ mit Ex-„Herzblatt“ Christian Clerici überzeugen durch
Schlichtheit – der martialische Gladiatoren-Aufwand einer „100 000Mark-Show“ ist Weh von gestern.
Und Satire kann so schnell keine
neuen Pferde, Verzeihung, naddeln:
Da reitet seit eh und je dirty Harald
Schmidt.
146
SAT 1
P
TV-Richterin Salesch
GERICHTSFERNSEHEN
Echt und billig
D
as gab’s noch nie“, müsste eigentlich im Vorspann zur neuen Sat-1Serie „Richterin Barbara Salesch“ stehen. Aber auch so lassen die Einblendungen keine Zweifel über das aufkommen, was die Fernseh-Öffentlichkeit
von dieser Woche an von Montag bis
Freitag zur besten Werbezeit um 18 Uhr
erwartet: „Die Personen sind keine
Schauspieler“, „Die Fälle sind echt“
und „Ihr Urteil ist rechtskräftig“. Dank
eines Kniffs gelingt Sat 1 erstmals, was
eigentlich verboten ist: Dass das Fernsehen die Verhandlungen eines deutschen
Gerichts überträgt.
Sat 1 präsentiert zwar nicht die erste
Gerichtsshow, aber die erste mit Echtheitszertifikat. Seit das ZDF für seinen
Daily Court „Streit um Drei“ reale Fälle
fernsehgerecht umschreiben und von
Darstellern nachspielen lässt und damit
zweistellige Quoten einfährt, gilt JustizTV als Fortsetzung des Nachmittagstalks
QUOTEN
Müde Scherzkekse
C
omedy am Morgen bringt Spaß, aber
kaum Quote: Die tägliche Ladung Humor auf Pro Sieben, die „MorningShow“
mit Wiegald Boning, pendelt sich bei mageren sieben Prozent Marktanteil ein. Nur
durchschnittlich 130 000 Menschen sind in
der Frühe vor dem Bildschirm zum Scherzen aufgelegt. Kritiker bemängeln, dass
sich die Show zwar bemühe, trendy zu
sein, sich aber leider (so die „SZ“) „im
Niemandsland zwischen Nonchalance und
Nonsens“ verhaspele.
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mit besseren Mitteln. Erfolglos blieb
allerdings „Klarer Fall?! – Entscheidung
bei Radka“, mit ähnlichen Erwartungen
im August gestartet: Nach nur 15 Folgen
fällte Vox eine klare Entscheidung und
erklärte den Versuch, eine Talkshow mit
einer Laien-Jury zu überhöhen, für beendet.
Statt „Court TV“ à la O. J. Simpson ist
aber auch bei Sat 1 nur ein „TV Court“
zu sehen: Denn Salesch, 49, eigentlich
Vorsitzende Richterin am Landgericht
Hamburg, hat sich für zwei Jahre beurlauben lassen und für Sat 1 ein Schiedsgericht gegründet. Ein privates Schiedsgericht darf anstelle der staatlichen Gerichte Recht sprechen, wenn sich die
Streitparteien darauf einigen, ihren
Streit dort auszutragen. Das Schöne
daran: Für ein Schiedsgericht gilt das
gesetzliche Fernseh-Verbot nicht.
Bewerber für das Fernsehgericht gibt es
offenbar genug, ob es um Streit unter
Nachbarn, Zank unter Freunden oder
Rechthaberei in der Familie geht. Denn
bei Richterin Salesch ist das Recht billig: Kläger und Beklagte erhalten eine
rechtskräftige Entscheidung, die Kosten
der Verhandlung trägt Sat 1 und kommt
dabei noch günstig weg. Ein bisschen
Etikettenschwindel ist dafür erlaubt,
denn eigentlich fällt Richterin Salesch
kein „Urteil“, sondern nur einen
„Schiedsspruch“ – aber wer wird schon
so pingelig sein.
Bereits im ersten Fall von Richterin Salesch kommt das Fernsehgericht auf den
Hund: Eine Mutter verklagt ihren Sohn,
weil sie ihm angeblich für 700 Mark einen Golden Retriever verkauft hat, der
Sohn aber behauptet, sie habe ihm den
Hund geschenkt. Dass das unterlegene
Familienmitglied am Ende lauthals gegen den Spruch protestiert, fällt dabei
leider dem Schnitt zum Opfer. Richterin
Salesch jedenfalls verspricht: „Ich mache keine inhaltlich anderen Sachen,
nur weil es Fernsehen ist.“
Marktanteil der „MorningShow“
auf Pro Sieben
montags bis freitags, jeweils 6.30 Uhr, in Prozent
12
11
10
9
8
7
6
5
4
6. Sept.
13. Sept.
20. Sept.
Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Amerika
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
Ein schwungvolles Roadmovie, das den
Zuschauer nicht nach Übersee entführt, sondern in ein 80-Seelen-Nest
zwischen Chemnitz und Leipzig. Dieses sächsische „Amerika“ soll für einen
Gewerbepark platt gemacht werden.
Viele haben schon an den fetten
Grundstücksspekulanten verkauft, nur
der „Alte Krug“, mehr Bruchbude als
Kneipe, ist noch nicht in den Fängen
des Nabobs. Da schlägt das Märchen
zu: Den vergammelten Laden, in dem
verstockte Einheimische mit der nämlichen Pomadigkeit herumhängen wie
die allgegenwärtigen Stubenfliegen, hat
die junge Gastwirtstochter Lillian (Sophie von Kessel) geerbt, und die Schöne mit dem Schmollmund und der
zornumwölkten Stirn bringt das Lotterlokal samt Crew (Hagen MuellerStahl, Gudrun Okras, Weijian Liu) auf
Vorderfrau. Das Regiedebüt des österreichischen Werbefilmers Ronald Eichhorn versucht keine Sekunde, realistisch zu sein, sondern schwelgt in der
Bildsprache der Reklame-Western, in
denen flotte Jungs und scharfe Mädchen für Whiskey und Jeans durch die
Hölle der Saloons gehen.
Vater-Aspirant rechnet nicht mit den
Hindernissen, die eine gute Komödie
(Buch: Ulrich Limmer, Regie: Uwe Janson) ihren Helden in den Weg stellt:
eine Schwiegermutter (Monica Bleibtreu) und die wirkliche Liebe (Ina
Weisse).
Tatort: Das Glockenbachgeheimnis
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Unter dem Pflaster liegt nicht der
Strand der großen weiten Ferne, sondern Bäche fließen dort, die in die
Heimat führen, zu deren Verheißungen
und schrecklichen Geheimnissen. Dem
Bayerischen Rundfunk ist mit diesem
Stück (Drehbuch: Friedrich Ani, Regie:
Martin Enlen) ein vorbildlicher „Tatort“ gelungen, der alle Anforderun-
gen an den ARD-Klassiker erfüllt:
die Verbindung von Milieugenauigkeit,
Thrill, Humor und melancholischer
Poesie. Die Hauptkommissare Batic
(Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo
Wachtveitl) suchen im Münchner
Glockenbach-Viertel, einem proletarischen Quartier, das von zubetonierten Bächen unterminiert ist, den Mörder eines Hausbesitzers. Überall
stoßen sie auf Schweigen, zunächst
auch bei den Betreiberinnen eines
Cafés (Iris Berben, Barbara-Magdalena Ahren) und deren schrulligem
Freund (beeindruckend: Michael Tregor). Dass das Trio im wahrsten Sinne
des Wortes seit der Jugendzeit eine
gemeinsame Leiche im Keller hat,
zeigt sich später.
Single sucht Nachwuchs
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Umkehrung des feministischen Traums
von der vaterlosen Mutterschaft: Der
Single, Herzensbrecher und Unternehmensberater Breuer (Heino Ferch)
möchte was Kleines ohne Eheweib. Der
Traum bleibt Schaum, denn der kesse
„Tatort“-Darsteller Berben, Nemec
Ausschalten
Schlafes Bruder
Donnerstag, 23.05 Uhr, Südwest III
„Koemm, o Kitsch“ – solche und ähnlich ironisch gemeinte Niederstoßgebete standen über den Rezensionen zu
dieser Literaturverfilmung von Joseph
Vilsmaier. Der hatte 1995 Robert
Schneiders elegant-verschnörkelten
Roman über einen musikalischen Wunderknaben (André Eisermann), der im
frühen 19. Jahrhundert in einem abgelegenen Bergdorf zu genialischer
Größe aufläuft, mit einer Orgie kinematografischen Aufwands förmlich erschlagen. Der Film wirkt wie das
Neuschwanstein des Heimatfilms.
Racheengel –
Stimme aus dem Dunkeln
Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben
Der Kalte Krieg ist längst vorbei, aber
seine Wiedergänger wandeln noch immer durch das Fernsehprogramm. In
Thorsten Näters Psycho-Thriller, einer
Eigenproduktion von Pro Sieben, geht
es um hypnotisch programmierte Mörder, die ohne Bewusstsein für ihre
schrecklichen Befehle ihre grausamen
Aufträge erledigen – der HollywoodAgentenschocker „Telefon“ (1977) mit
Charles Bronson, in dem unerkannte
Maulwürfe nach einem Codewort vom
KGB zu Killern erwachen, funktionierd e r
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te nach der gleichen Idee. Die Bibelsprüche, die über den Leichen mit Blut
an der Wand stehen, hat der „Racheengel“ auch dem Kino entlehnt. Die
Wirklichkeit musste sich bei so viel
Filmimport fügen: Das Treiben in der
Psychiatrie, wo die Verwirrten mit den
Augen rollen und sich gespenstische
Verliese auftun, wirkt komplett irreal
und überzogen, der Psychiater (Götz
George) wie aus dem Horrorkabinett.
Wenigstens Tim Bergmann als sensibler
BKA-Mann und seine Freundin (Chiara
Schoras) können etwas Glaubwürdigkeit in dieser Geisterbahn des Grusels
bewahren.
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Schönheitswettbewerb im brasilianischen Fernsehen, Strandleben in Rio de Janeiro: Unter dem Druck der Einschaltquoten sind in dem streng
FERNSEHEN
Der Kult um den Bumbum
Morgens, mittags, abends: In Brasilien boomt das Sex-TV. Kinder treten zum Flaschentanz an,
Dominas züchtigen Quizgäste, die Fernsehserien kommen nicht ohne Beischlafszenen
aus. Die Erfahrungen der Networks sind eindeutig: Sinkt die Schamgrenze, steigt die Quote.
W
ie heißt die Hauptstadt von Australien? „Sydney“, antwortet der
Kandidat und grinst. „Falsch“,
triumphiert die maskierte Domina und
berührt ihr Opfer mit der Peitsche.
Behaglich drückt sich der nur mit einer
Unterhose bekleidete Mann tief in den
blauen Plastiksessel. Der Gedanke an die
bevorstehende Strafe bereitet ihm ganz offensichtlich Freude.
„Enthaar ihn, enthaar ihn!“, grölt das
Publikum. Die Domina klebt ein handgroßes Heftpflaster auf den Oberschenkel
ihres Opfers und reißt es mit einem Ruck
wieder ab. Der junge Mann stöhnt vor
Wonne und Schmerz.
Jetzt kennt die Begeisterung im Studio
kein Halten mehr. Männer schleudern ihre
T-Shirts auf die Bühne, Teenager kreischen
148
und grapschen nach den Strapsen der
„Tiazinha“.
Das stets leicht bekleidete „Tantchen“
ist der derzeit erfolgreichste Fernsehstar
in Brasilien. Ein TV-Moderator hatte Susana Alves, so ihr richtiger Name, auf dem
Flur des Fernsehsenders Bandeirantes in
São Paulo entdeckt und als Assistentin angeheuert.
In einem Quiz für Jugendliche „bestrafte“ sie die Verlierer. Rasch wurde die Leder-Barbarella zur Hauptattraktion. Nun
bekommt sie im Oktober sogar eine eigene Fernsehserie.
In den USA oder Europa würden derartige Sado-Maso-Spielchen vermutlich ins
Nachtprogramm verbannt. In Brasilien
geht das Sex-TV dagegen am Nachmittag
auf Sendung. Ein regelrechter Kult um die
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diversen Erotikshows ist in dem ansonsten
streng katholischen Land entstanden.
Unter dem Druck der Einschaltquoten
sind in Brasilien fast alle Tabus gefallen.
Die großen Fernsehsender setzen allesamt
auf nackte Haut und erotische Spielchen,
die Schamgrenze sinkt, die Quoten steigen.
Die beliebtesten Sex-Stars bringen es
auf bis zu 30 Prozent Marktanteil, durchschnittlich schauen rund zehn Millionen
Brasilianer hin, wenn die Leder-Domina
zulangt. Auch die Sex-Einlagen bei den
großen Liveshows der Konkurrenzsender
Globo und SBT locken regelmäßig Millionen Brasilianer vor die Mattscheibe.
Alle großen Networks in Brasilien melden Rekorde bei den Zuschauerzahlen und
verbuchen einen neuen Spitzenwert von
insgesamt vier Milliarden Dollar bei den
FOTOS: A. ASSUDA (li.); ZEFA (re.)
Medien
J. ANTUNES
katholischen Land fast alle Tabus gefallen
Fernseh-Domina „Tiazinha“
„Enthaar ihn, enthaar ihn!“
Werbeerlösen. Brasilianische FernsehseZehntausende Teenager bewarben sich
rien sind in ganz Lateinamerika wegen für die Fernseh-Nachfolge des Sexsymbols
ihrer Freizügigkeit beliebt. In den Seifen- Carla Perez. Bei dem Wettbewerb, der live
opern vergeht kaum eine Folge ohne übertragen wurde, zählte vor allem die
Beischlafszene. Auch die Familienshows Kunst des erotischen Hüftschwungs, „ream Wochenende kommen nicht ohne bolado“ genannt.
Sex aus.
Niemand lässt das Becken so gekonnt
Der Entertainer Faustão würzt sein kreisen wie Carla Perez. Auch seriöse ZeiSonntagnachmittags-Programm mit einem tungen vermerken hinter ihrem Namen re„Erotik-Sushi“, bei dem nackte
spektvoll den Umfang ihres
Frauen als lebendes Tablett die„Bumbums“, wie das Hinterteil
nen. Keine Geschmacklosigkeit Das Motto der liebevoll genannt wird (103 cm).
ist den TV-Machern geschmack- neuen TV-Stars Das Fernsehen machte die Tochlautet:
los genug: Moderator „Ratinho“
ter eines Straßenhändlers inpräsentierte sogar eine Frau, die Schnell Kasse nerhalb von Monaten zur Milmit der Vagina Zigaretten raucht. machen, bevor lionärin.
Ungehemmt geht es auch in
Als die kunstblonde Tänzerin
der Boom
den Werbepausen zu: Selbst für
ihren Bumbum auf dem Festival
Zahnbürsten wird mit kopulie- wieder abflaut von Montreux rotieren ließ, gerenden Paaren Reklame gerieten selbst die bedächtigen
macht. Ein US-Fernsehsender bat jüngst Schweizer in Wallung. Nur Brasiliens koneine der renommiertesten Werbeagentu- servative Elite erregte sich über die Köniren in São Paulo um Dokumentationsma- gin des Rebolado: Ihre Auftritte schädigten
terial für erotische Werbung, „weil es bei das Brasilien-Bild im Ausland, klagte die
uns so was nicht gibt“.
Kulturministerin von Rio de Janeiro.
Für Fernsehauftritte werden schon VierSeit den fünfziger Jahren regen „chacrejährige von ihren Eltern mit Lippenstift tes“, knapp bekleidete Tänzerinnen mit
und Mini-Röcken herausgeputzt. Entertai- Künstlernamen wie Virginia Lane, Gretchen
ner Gugu Liberato ließ sechsjährige und Rita Cadillac, die Phantasie der brasiMädchen zum „Flaschentanz“ antreten. lianischen Männer an. Nur die Macht der
Die Kleinen mussten den Unterleib in ein- Fernsehsender ist heute größer als damals.
deutigen Bewegungen über einer BierflaDie Karriere der TV-Damen beginnt
sche kreisen lassen.
meist in der Provinz. Hat das Fernsehen sie
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O. CABRAL / ABRIL IMAGENS
Medien
TV-Star Perez: Überzählige Fingerbreiten sind in die einzig richtige Position gewachsen
erst einmal entdeckt, gilt es, schnell Kasse ersten Ausgabe zierte ein Riesenhintern
zu machen, ehe der Boom wieder abflaut. mit Tiazinha-Maske.
Carla Perez und Tiazinha vermarkten
Der Kult um den Po wurzelt in der Kosich, wo es nur geht. Ihr Name ziert lonialgeschichte. Der Soziologe Gilberto
Dessous ebenso wie Kaugummis, Schuhe Freyre, Autor des Klassikers „Herrenhaus
und Tütensuppen. In den vergangenen und Sklavenhütte“, macht die Portugiesen
Jahren ist so eine ganze Klasse neureicher für die Sexualisierung der brasilianischen
TV-Stars entstanden.
Kultur verantwortlich. Ihr „überreiztes seTiazinha verdient heute alxuelles Verlangen“, so Freyre,
lein mit ihren Fernsehauftritten
mischte sich mit dem Körperkult
100 000 Mark im Monat. Ihre Ein besonders der Afrikaner. Die meisten Kogelungenes
Sado-Maso-Masche ist so erfolglonialherren heirateten zwar
Exemplar
reich, dass Stundenhotels in Rio
eine Weiße, aber als Geliebte
eigene „Tiazinha-Suites“ mit
hielten sie sich schwarze Sklawird in
Käfig, Ketten und Peitschen einvinnen.
lyrischen
gerichtet haben.
wurde der Kult um
Lobgesängen denBanalisiert
Die Karriere der TV-SchönPo erst durch die Massengefeiert
medien. Rund um den Bumbum
heiten gipfelt gewöhnlich in eihat sich eine florierende Inner mehrseitigen Farbstrecke im
brasilianischen „Playboy“. Als Tiazinha dustrie entwickelt. Für Mädchen, die von
sich für die Zeitschrift auszog, schnellte einer Karriere als Tänzerin und Fernsehstar
die Auflage auf 1,5 Millionen hoch; inner- träumen, sei ein schöner Hintern „Mittel
halb weniger Tage war die Ausgabe ver- zum sozialen Aufstieg“, so der Gesellschaftskritiker Arnaldo Jabor.
griffen.
Auch die knappen brasilianischen BikiEines verbindet alle brasilianischen Sexsymbole: der Kult um den Bumbum. Auch nis, „Zahnseide“ genannt, sind so geseriöse Zeitschriften versteigen sich zu schnitten, dass sie vor allem den Unterleib
lyrischen Lobgesängen, wenn sie Form und betonen. Fotomodelle und SchauspielerinGröße eines besonders gelungenen Exem- nen lassen sich bevorzugt von schräg hinten aufnehmen. Von dem Sex-Symbol Rita
plars begutachten.
„Ein üppiger, gewagter Hintern, dessen Cadillac ist überliefert, sie wolle nach
überzählige Fingerbreiten in die einzig ihrem Tode auf dem Bauch liegend aufgerichtige Position gewachsen sind: nach bahrt werden, „sonst erkennen mich die
hinten und nach oben“, schwelgte das an- Leute ja nicht“.
Selbst TV-Domina Tiazinha wäre ohne
gesehene brasilianische Nachrichtenmagazin „Veja“ über den Hintern von TV- ihr wohlgeformtes Hinterteil wahrscheinlich nie berühmt geworden. So wichtig ist
Star Perez.
In keinem anderen Land wird der Po so ihr das gute Stück, dass sie es jüngst für
verehrt. Der in Südamerika bekannte zwei Millionen Mark versichern ließ. Eine
Dichter Carlos Drummond de Andrade be- Prämie braucht sie nicht zu zahlen. Die
sang ihn in seinen Gedichten. „Bundas“, Versicherungsgesellschaft darf dafür mit
auf Deutsch etwa „Ärsche“, heißt eine an- ihrem Bumbum Werbung machen.
gesehene Satirezeitschrift. Das Cover der
Jens Glüsing
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Medien
Viva-Star Mola, Ko-Moderatorin Judith: Kreativflieger in Großraumaquarien
MUSIK-TV
Clip, Clip, Hurra
Viva-Chef Gorny auf dem Vormarsch: Ermuntert
durch seinen Quotenerfolg, plant er den
Börsengang. Ärger macht ihm nur die Gewerkschaft.
W
H. GALUSCHKA / ACTION PRESS
ie groß sein „Laden“ geworden Programm und war ohne Dekoder nur
ist, merkt Dieter Gorny, 46, für noch im Kabel zu sehen. Statt sich ein teugewöhnlich im Fahrstuhl. „Da res Zusatzgerät anzuschaffen, verzichteten
steht immer öfter jemand vor mir, den viele Kids lieber auf MTV und zappten zu
ich fragen muss: Sag mal, wer bist du ei- Gornys Viva.
Doch seit Anfang des Jahres ist auch
gentlich?“
Gorny ist für jeden im Sender „der MTV unverschlüsselt über Satellit zu empDieter“. Klare Sache, auch wenn seine ein- fangen, die Zuschauerzahlen wachsen, und
stige Musikkanal-Klitsche dank Stars wie beide Sender beanspruchen nun lautstark
Moderator Mola wächst und wächst. für sich die Marktführerschaft – gestützt
Angefangen hat es vor sechs Jahren mit auf unterschiedliche Umfrageergebnisse,
„20 Irren, die Fernsehen machen wollten“. auch wenn die offiziellen Zahlen nach wie
Heute hat er etliche Irre mehr: Rund vor Viva vorne sehen.
„Die Zeiten von 30 Prozent Wachstum
400 Leute arbeiten nun für den Kölner
Sender. Da verliert Gorny – zu seiner pro Jahr sind auch bei uns erst einmal vorgroßen Freude – schon mal den Überblick. bei“, kommentiert Gorny die veränderte
Lage und drängt jetzt darauf,
Innerhalb kürzester Zeit
seinem Sender mit viel Geld
hatte der studierte Kontra„aggressiv und unternehmebassist seinen Kanal zum
risch“ neue Märkte zu erMarktführer unter Deutschschließen.
lands Musiksendern gemacht
Der Sender, an dem die
– unfreiwillig unterstützt
Plattenkonzerne Sony, Wardurch die Konkurrenz von
ner, Polygram und EMI zuMTV.
sammen 95 Prozent der AnDer deutsche Ableger des
teile halten, will in den nächamerikanischen Clip-Kanals
sten zwei Jahren über 100
beschleunigte den Aufstieg
Millionen Mark investieren
des umtriebigen Gorny durch
und die „führende europäieinen schweren strategischen
sche Jugendmarke“ (Gorny)
Fehler: Zwei Jahre nach Vivas
werden. Spätestens im NoStart verschlüsselte MTV sein Viva-Gründer Gorny
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Medien
vember soll eine entsprechende Entscheidung fallen.
Viva wird zunächst in die Schweiz, nach
Polen und Ungarn expandieren. Mittelfristig sollen auch Italien, Spanien, Frankreich und England Rendite steigernd mit
dem Kanal beglückt werden. Auch die Internet-Aktivitäten sollen mit zweistelligen
Millionen-Beträgen ausgebaut werden.
Unklar ist bisher, woher das Geld kommen wird. Gorny selbst – so heißt es –
drängt auf einen Börsengang, der ihm als
Vorstandsvorsitzenden mehr Gestaltungsspielraum verschaffen würde und einen
angenehmen Nebeneffekt hätte: Entsprechende Beteiligungsmodelle würden seinen und den Wohlstand der Mitarbeiter
vermutlich mehren.
Doch Gornys Gesellschafter haben zunächst andere Sorgen. Partner Sony kündigte vor wenigen Wochen intern an, aus
der illustren Runde aussteigen zu wollen.
Der japanische Konzern will seine internationalen Fernsehaktivitäten strategisch
neu ausrichten und hat seine Viva-Anteile den Mitgesellschaftern zum Kauf
angeboten.
Die müssen jetzt zunächst darüber entscheiden, ob sie das Geschäft mit einem
neuen Partner teilen, und dann, ob sie
tatsächlich ihr geplantes Investitionsprogramm mit einem Börsengang finanzieren
wollen.
Gorny tut schon jetzt alles, um potenziellen Investoren zu imponieren. Glücklose Sendungen wie „deep“, „virus“ oder
„move“ wurden aus dem Programm des
Schwesterkanals Viva 2 gekippt, die Werbeindustrie soll noch enger umgarnt
werden.
Ständig wird Nachwuchs rekrutiert für
die schon jetzt berstende Zentrale im Kölner Mediapark, wo die hippen Kreativflieger in Großraumaquarien sitzen, zwischen
Türmen von Videokassetten, CDs und Tonnen von Zeitgeist-Accessoires.
In jeder anderen Firma würde der Betriebsrat kreischen, bei so viel Chaos auf so
engem Raum. Nicht hier. Cool bleiben!
Bei Viva wird Enge nicht mit „Unfall- und
Gesundheitsgefahren“ übersetzt, wie in
Paragraf 89 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes. Bei Viva heißt das Chaos
„Spirit“. Und Spirit verträgt sich schwer
mit Gerichtsverfahren.
Den größten Ärger hat Gorny mit dem
ehemaligen Viva-Mitarbeiter Volker Michels. Das aktive Mitglied der Gewerkschaft IG Medien hatte im März 1996 den
Betriebsrat mitgegründet. Im vergangenen
Jahr wurde sein Vertrag als Cutter nicht
verlängert. „Weil ich mich für die Einführung des Manteltarifvertrags zu weit
aus dem Fenster gehängt habe“, mutmaßt
der 33-Jährige.
Er zog vors Arbeitsgericht und bekam
im April Recht: Viva muss Michels wieder
einstellen, der sich sicher ist, dass Gorny
die nächste Instanz bereits anvisiert hat:
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U. BAATZ / LAIF
Gorny-Gegner Michels
„Die haben alle Schiss vor Dieter“
„Doch da werden die auch wieder eins auf
den Sack kriegen.“
Die Gewerkschaft habe ihn gut beraten.
Wenn er in den Schoß der Viva-Family
zurückkehrt, „wird es zwar mit Sicherheit
Mobbing ohne Ende geben“. Doch Michels
will es darauf ankommen lassen. Es gebe
viel zu tun, denn der jetzige Betriebsrat
zeichne sich lediglich durch kumpelhafte
Ahnungslosigkeit aus: „Die haben alle
Schiss vor Dieter.“
Der renitente Cutter will da weitermachen, wo er vor dem Rausschmiss aufgehört hat: „Der Manteltarifvertrag muss eingeführt werden. Seit ich weg bin, liegt dieses Projekt auf Eis.“
Nur mit Hilfe des Manteltarifs könnten
in dem Trendkanal die Grundpfeiler des
Arbeitsrechts eingezogen werden: vernünftige Arbeitszeiten und angemessener
Lohn. Jungredakteure verdienten, so Michels, zu wenig und „arbeiten sich dafür
den Arsch ab“. Den Leuten reiche es, sagen zu können: „Hey, ich arbeite bei Viva.“
Viel Rückhalt hat der Ex-Cutter im Sender nicht. Den Betriebsratsvorsitzenden
Axel Braukmann weiß der Viva-Boss fest
an seiner Seite.
Braukmann hat zum Betriebsverfassungsgesetz das gleiche Verhältnis wie ein
überzeugter Atheist zur Bibel: „Klar guckt
man da ab und zu mal rein. Aber es gibt
wirklich spannendere Bücher. Paragrafenreiterei ist eben nicht mein Ding.“
Gorny lächelt väterlich. Ähnlich wie sein
Kanzler Gerhard Schröder ist er längst in
der neuen Mitte angekommen. „Wir versuchen das hier alles intern mit Gesprächen
zu regeln“, sagt der Chef und streicht sich
über die neue Kurzhaarfrisur. Prozesse
seien wirklich die letzte aller Lösungen:
„Arbeitsgerichte sind uncool.“
So uncool, dass Gorny das wachsende
Branchenproblem der Scheinselbständigkeit von vornherein vermeidet. Interne
Probleme regelt er mit Braukmann gern
„beim gemeinsamen Bier“, wo die beiden
sich einig sind: „Wenn man das Betriebsverfassungsgesetz ausleben würde, gäb’s
Viva gar nicht mehr.“
Konstantin von Hammerstein,
Oliver Link, Thomas Tuma
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WERBUNG
Dolmetscher der Träume
E
igentlich ist es ganz einfach. Der Ossi
ist durchschnittlich einen Zentimeter kleiner, dicker und stirbt zwei
Jahre früher als der herkömmliche Wessi.
Er spricht langsamer, rückt dafür aber gern
seinem Nächsten auf den Pelz: Im Schnitt
halten die Angehörigen der östlichen Spezies in der Warteschlange 30 Zentimeter
weniger Abstand als Wessis. Ossis gehen
eine Stunde eher ins Bett, stehen eine Stunde früher auf, aber was das Wichtigste ist:
Sie haben mehr Spaß am Sex.
Die Botschaft solcher Erhebungen ist
eindeutig: Der Glaube, zehn Jahre nach
dem Mauerfall gebe es nur noch gesamtdeutschen Durchschnitt, trügt. Als Erste
hatten das die Soziologen begriffen, jetzt
sind auch die Manager deutscher Konzer-
Weil die Westmanager also immer noch
verzweifelt auf der Suche nach einer Gebrauchsanleitung für den Osten sind, haben
Fritzsch, 29, und sein Partner Alexander
Mackat, 29, derzeit Konjunktur. Ihre Werbeagentur „Fritzsch & Mackat“ hat sich
auf Kampagnen in den neuen Bundesländern spezialisiert. Die beiden Jungunternehmer brüten in einer alten Fabriketage
am Prenzlauer Berg über Bildern und Slogans, die das ostdeutsche Lebensgefühl in
westdeutsche Werbung verpacken.
Das Dilemma der westdeutschen Marketing-Experten beschreibt die in der Zeitschrift „media & marketing“ veröffentlichte Verbraucheranalyse. Danach liegen
Westmarken auf dem ostdeutschen Markt
nach wie vor weit hinter ihren Möglich-
Fritzsch & Mackat-Werbung: Ostdeutsches Lebensgefühl in Westreklame verpackt
ne und ihre Werbetexter überzeugt: „Der
Osten tickt anders.“
Vor allem beim Konsum, auf den die kapitalistischen Strategen angesichts des ausgehungerten Ostmarkts gesetzt hatten, verweigern sich die neuen Deutschländer den
westlichen Verlockungen. „Die großen
Werbeagenturen hatten geglaubt, mit
ihrem Hamburger Charme, mit ihrem
Hamburger Lebenskonzept holen sie den
Ossi hinterm Ofen vor“, sagt Conrad
Fritzsch, „aber so läuft das eben nicht.“
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keiten zurück. Ostprodukte dagegen erhalten einen großen Vertrauensbonus. Das
Institut für Marktforschung Leipzig ermittelte gar: „Westprodukte gelten als verfälscht und künstlich. Sie symbolisieren einen aufgebauschten, hohlen Lebensstil,
dem jede Tiefe, Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit abgeht.“ Dementsprechend wird
gekauft.
Nach der ersten blinden Kaufrausch-Euphorie im Jahr 1990 trauen die Ostdeutschen inzwischen längst wieder der Reinid e r
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W. BAUER
Eine Ost-Berliner Werbeagentur hat sich
darauf spezialisiert, westdeutschen
Unternehmern zu erklären, „wie der Osten tickt“.
Werber Fritzsch, Mackat
Den Heimvorteil genutzt
gungskraft ihres alten „Spee“-Waschmittels, statt zu „Persil“ zu greifen, feiern mit
„Rotkäppchen“- statt mit „Mumm“-Sekt,
spülen mit „fit“ statt „Pril“ und rauchen
„f6“ und nicht „Marlboro“. Für die Verkaufschefs westdeutscher Produkte bedeutet dies eine Verschwendung ihrer Werbeetats: Dabei ist das Käuferpotenzial des ostdeutschen Markts so groß wie das der Länder Schweiz und Österreich zusammen.
Fritzsch und Mackat helfen den westdeutschen Marketing-Experten, eine Sprache zu finden, die im Osten ankommt. Die
Ostdeutschen nutzen dabei den Heimvorteil: Sie wissen, wie Club-Cola schmeckt,
wie ein Trabi stinkt, sie wissen, wie es war,
sich nicht zu engagieren, sondern sich zu
arrangieren.
Sie bewegen sich unter den Wendeverlierern in den Plattenbauten genauso
selbstsicher wie unter den Managern in
den Chefetagen der Konzerne. Sie haben
von der untergegangenen DDR so viel erlebt, dass sie sich daran bewusst erinnern,
und waren zugleich beim Fall der Mauer so
jung, dass sie den Sprung schaffen konnten.
Er sei, sagt Fritzsch, „ein Glücks-Ossi“.
Zunächst hatte er die Freiheit erst einmal verschlafen. Am 9. November 1989
abends war er früh ins Bett gegangen, am
nächsten Morgen ging der Ost-Berliner Volontär beim Staatsfernsehen der DDR wie
gewöhnlich in seine Redaktion. Aber da
war keiner. Fritzsch, der glaubte, er habe
wohl „irgendeine Party verpasst, von der
sich alle anderen noch erholen müssen“,
wurde vom Hausmeister zum Grenzübergang Checkpoint Charlie geschickt, über
den sich schon seit der Nacht hunderttausende drängelten.
Mackat stand am 9. November 1989 hinter der Kamera, als Bass Gunther Emmerlich in der Dresdner Semperoper die Vorstellung unterbrach und die historische
Nachricht vom Fall der Mauer verlas. Die
ersten drei Reihen, erinnert sich Mackat,
blieben wie versteinert sitzen, der Rest des
Saals verwandelte sich schlagartig in ein
Tollhaus. „Vorn saßen die Funktionäre und
Bonzen – die hatten keinen Grund zur
Freude. Die anderen stürzten raus.“
Inzwischen sind die beiden Werber wie
gute Diplomaten zweisprachige Grenzgänger geworden, die zwischen den deut-
lysieren deshalb zuerst die Ideale und Werte der potenziellen Kunden.
Das Ergebnis lassen sie dann in ihre
Kampagnen einfließen: Nach wie vor
schätzen die Ostdeutschen altruistische
Verhaltensweisen, ignorieren westliche Statussymbole und goutieren es, wenn in den
Spots lebensnahe, realistische Ziele dargestellt werden. „Wenn ich die Hausfrauen in
der westdeutschen Werbung mit ihren
lackierten Fingernägeln sehe, kriege ich so
einen Hals“, empört sich Fritzsch, „dieses
Rollenbild funktioniert bei den Ossis überhaupt nicht.“
Also verzichten er und Mackat in ihren
Kampagnen vollständig auf alle westtypischen Lifestyle-Überhöhungen („Für das
Beste im Mann“). Stattdessen gibt es rationale Kaufargumente. Schließlich belegen Untersuchungen, dass der Ossi Qualität genau prüft, Preise vergleicht und eine
größere Bereitschaft zum Markenwechsel
mitbringt als der Wessi.
Immerhin ließen sich namhafte Westfirmen wie Henkel (Persil), Reemtsma (Cabinet), Spreequell Mineralbrunnen oder
auch 1994 die brandenburgische SPD im
Landtagswahlkampf so auf Ostkurs bringen. Allein in diesem Jahr gewann die
Agentur mit inzwischen 18 Mitarbeitern
schon drei Wettbewerbe, der Umsatz erreichte den „siebenstelligen Bereich“
(Mackat).
Wenn die beiden in dem Bemühen,
„etwas Neues zu schaffen, bei dem die
ostdeutsche Befindlichkeit auch vorkommt“, durch die westdeutschen Unternehmen tingeln, machen sie überall ihren
„Ossi-Test“. Dann holen sie ihre Charts
raus und referieren die Erkenntnisse zum
Profil der Ostdeutschen (kleiner, dicker,
distanzloser, mit mehr Spaß am Sex). Meistens nicken dann ein paar vereinzelte
Zuhörer ganz kräftig – „und outen sich
als Ossis“.
Carolin Emcke
J. RÖTZSCH / OSTKREUZ
schen Welten zu pendeln verstehen, die
bodenständige Träume der einen in die glamouröse Illusionsmaschine der anderen zu
übersetzen wissen – ohne mit verlockenden Argumenten zu arbeiten, denen niemand traut.
Die beiden Berliner gewannen ihr lukratives Image praktisch aus dem Stand
heraus: Sie drehten 1992 einen Werbefilm
für die Ostmarke „Club-Cola“, der den
Nerv der angeschlagenen wie der optimistischen Ostseele bis ins Mark traf. Dafür
unterlegten sie Szenen aus alten Propagandafilmen – Politbüro-Sitzungen, Siegfahrten des Rad-Idols Täve Schur und andere DDR-Klassiker – mit Zarah Leanders
„Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“.
Der Weg zum Erfolg ist auch eine Geschichte des Lernprozesses im wiedervereinigten Deutschland. „Die Westdeutschen
haben immer propagiert, es gebe keine Unterschiede zwischen West und Ost“, beschreibt Mackat die großen dogmatischen
Hindernisse, doch die Wahrheit sei gewesen: „Mit ,Wir sind ein Volk!‘ meinten die
immer: ,Wir sind alle Wessis.‘“ Das Umdenken sei dann praktisch erzwungen worden: „Wer fühlt sich schon freiwillig wohl,
wenn er Kolonialist ist?“
Seither erklären Fritzsch und Mackat
den verdutzten Marketingkollegen im Westen, wieso der Osten sich bei den herkömmlichen Anzeigen nicht angesprochen,
sondern ausgegrenzt fühlt, wieso „Aus Erfahrung gut“ bei Leuten ohne Erfahrung
als Slogan nicht ankommen kann und wieso eine ostdeutsche Hausfrau findet, dass
bei Babys das ohnehin bald wieder verdreckte Lätzchen „nicht porentief rein“ zu
sein braucht.
„Die DDR hatte ein eigenes Wertesystem“, sagt Mackat, „das hat Leitbilder
und Normen bis heute geprägt – die muss
man ansprechen.“ Die Ost-Experten ana-
Werbeplakat in Ostdeutschland: „Die DDR hatte ein eigenes Wertesystem“
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Schöner als
Roger
Eine Frau aus dem Osten macht
Sabine Christiansen
Konkurrenz: Maybrit Illner wird
den neuen ZDF-PolitTalk „Berlin Mitte“ moderieren.
V
kann, ist das Publikum im Studio zum
Schweigen verdammt. Ruhig und seriös
will man, in bester humanistisch-aufklärerischer Absicht, „komplizierte Vorgänge
transparent machen“.
Das jedenfalls sagt Maybrit Illner, 34,
Moderatorin von „Berlin Mitte“, die diese
notorische Herausforderung zuvor sechs
Jahre lang als Moderatorin des ZDF-„Morgenmagazins“ (neben Cherno Jobatey) und
beim kurzfristigen Einspringen für Ulrich
Kienzle in „Frontal“ zu bestehen hatte.
Inmitten der „kommerziellen Verdummungsmaschine Fernsehen“ (Illner) – und
in sportlicher Konkurrenz zu Sabine Christiansens sonntäglichem Polit-Konklave –
will sie „mit Leichtigkeit und Ironie“, dabei hart in der Sache, jenem Verdruss an
Politik entgegenwirken, der auch von
Unkenntnis und buchstäblich mangelnder
Einsicht herrührt.
Ihre eigene Einsicht in das aufregende
Wesen von Freiheit und Demokratie be-
Sie selbst ist ein wahres Glückskind
der „Wende“, ein Paradefall des deutschdeutschen Journalismus. Als habe sie sich
bis auf den i-Punkt vorbereitet, schnurrt
sie beim Kräuteromelett den ökonomischen Dreisprung von Steuerreform, Lohnnebenkosten und Wirtschaftswachstum
herunter und kritisiert das Chaos der rotgrünen Reformpolitik. Da hätte sie auch
an Hans Eichel die eine oder andere Frage zu Gegenfinanzierung, Rentenreform
und Haushaltskonsolidierung. Überhaupt:
Fragen. Es werde viel zu wenig gefragt
und viel zu viel herumbramarbasiert,
meint Maybrit Illner. Besserwisser überall: Statement-Demokratie statt Debattenkultur.
Der letzte Versuch des ZDF unter dem
Titel „Tacheles“ war vor allem an der Allwissenheit des Moderators Johannes Gross
gescheitert.
Maybrit Illner glaubt im Übrigen fest
daran, dass Frauen mehr und bessere Fra-
erehrter Nikolai Sergejewitsch“, so
hob in grauer Fernseh-Vorzeit TVUrgestein Werner Höfer sonntags
gern im „Internationalen Frühschoppen“
an, wandte sich an den russischen Kollegen
und drehte dabei sein gut gefülltes Rieslingglas mindestens um 90 Grad, „wäre die Sowjetunion denn bereit, ihre SS-20Atomraketen zurückzuziehen,
wenn der Westen bestimmte Zugeständnisse machen
würde?“
Journalismus im Angesicht
des Weltuntergangs – jeden
Sonntag war High Noon. Helmut Schmidt war Bundeskanzler und Erich Honecker Staatsratsvorsitzender der DDR, es
herrschte Kalter Krieg, und
Maybrit Illner ging noch brav
zur Schule im Ost-Berliner
Stadtteil Friedrichshain.
Wenige Jahre später revolutionierte das private Fernsehen
die Sehgewohnheiten der Menschen in Ost und West mit „Tutti Frutti“, „Glücksrad“ und „Jodeln in der Lederhose“. Kurz
darauf fiel die Berliner Mauer,
und das Fernsehen wurde zum
großen Kommunikator des historischen Ereignisses – doch
nicht lange, denn dann kam die
Talkshow-Revolution über die
Deutschen. Plötzlich konnten
sie gar nicht genug kriegen von TV-Moderatorin Illner: Ankunft im Westen als Glückskind der Wende
brennenden Themen des Alltags
wie „Meine Schwester, die Schlampe“, gann vor zehn Jahren, als der DDR-Sozia- gen stellen als Männer. Freilich liegen ihr
„Schafft die Männer ab – die nerven doch lismus kollabierte. Von 1984 bis 1988 war durchaus auch Antworten, die sie, jedennur!“ und „Jetzt reicht’s, du Ferkel!“.
sie im „Roten Kloster“ zu Leipzig einge- falls gegenüber der neugierigen Presse,
Nun steht eine neue Revolution vor der schrieben, der einzigen Journalistenschule gern schon mal mehrfach verwendet, etwa
Studiotür: Am 14. Oktober wird „Berlin Mit- der DDR, von 1986 bis 1989 – unter dem jenes Aperçu, dass man Frauen auf dem
te“ starten, die neue politische Talk- Eindruck von Gorbatschows „Perestroika“ Bildschirm einfach nicht älter werden lasse – „dabei sehen die meisten mit 50 besshow des ZDF – jeden Donnerstagabend – Mitglied der SED.
live aus dem „Haus Sommer“ direkt neben
Eben noch für den Sport im DDR-Fern- ser aus als Roger Willemsen mit 12.“
Illner sieht nicht nur im Vergleich mit Rodem Brandenburger Tor. In der Tradition sehen aktiv, kam sie rasch im Westen an.
der einst renommierten ZDF-Polit-Talkrun- Manchem Beobachter schien der Wechsel ger Willemsen gut aus. Doch ihr Erfolg, der
de aus der Frankfurter Alten Oper soll sie allzu atemraubend – oder allzu konse- Erfolg ihrer Talkshow „Berlin Mitte“ wird
ohne Krawall auskommen, ohne neckische quent, je nachdem. Bis heute vermag sie davon abhängen, ob ihrer Gesprächsrunde
Einspielungen, halb nackte Sektglasträger, keinen dramatischen Bruch zwischen Ost ein Schuss jener altertümlichen KonzentraVideo-Gimmicks und anderen Tele-Nippes. und West zu erkennen, allenfalls eine tion und Ernsthaftigkeit anhaftet, die WerWährend jeweils vier Gäste über ein ak- merkwürdige Gemeinsamkeit: Ost- wie ner Höfer selig am Ende fröhlich auf die
tuelles Thema reden, das noch am Don- Westdeutsche hielten sich jeweils für die Rettung der Welt anstoßen ließen – bis zur
nerstagmorgen auf den Tisch kommen besseren Exemplare der Gattung Mensch. nächsten Sendung.
Reinhard Mohr
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Gesellschaft
Szene
MODE
Militär und
Mystik
Model in Daryl-K-Kleid
Military-Mode von Maharishi
worben, in dem Mütter
von frisch eingeschulten
Zöglingen eine Weile leben
und ihren Kindern beistehen können. Als MütterHaus dient ein restauriertes
chreckliches Heimweh
ehemaliges Lustschloss aus
haben Enid Blytons Teedem 16. Jahrhundert. Die
nie-Heldinnen Hanni und
luxuriösen Suiten sind beNanni in den
rühmten Frauersten Wochen
en gewidmet:
im Internat –
„Kleopatra“
die Eltern sind
zieren ägyptiso weit weg.
sche WandmaUm solche Einlereien, Resamkeitsattanaissance-Decken zu milkor schmückt
dern, hat das
„Lucrezia
renommierte
Borgia“.
St. Gallener InBleibt nur
stitut auf dem
eine Frage ofRosenberg „als
fen: Weshalb
weltweit erstes
gibt es für
Internat“ (so
Väter nicht
behauptet die
einmal eine
Schulleitung)
BesenkamZöglingsmutter-Salon
ein Haus ermer?
WWD
rmee-Kleidung fasziniert Modemacher seit je: Das, was einst strikt
strategischen Zwecken diente, gilt es nun
formal zu verändern und Individualisten
auf den Leib zu schneidern. Besonders
beliebt ist neuerdings die Kombination
von Military-Style und Philosophie. In
seiner Marke „Maharishi“ verquickt der
Londoner Hardy Blechman, 30, ArmeeDesign mit fernöstlicher Mystik und
glaubt selbst daran. Es gehe ihm darum,
negative Symbole positiv zu besetzen, so
Blechman – und „Tarnung ist Natur“. Da
kann man ihm nicht widersprechen:
Solange man sich nicht gleich auf Befehl
in nasskalten Schlamm werfen muss, behalten Tarnmuster ihren ornamentalen
Reiz. Nur ein Manko besitzt das exklusive Label: In Maharishi-Klamotten wird
jeder Mensch zum Kampfsportler, schlanke Taillen bleiben bestens verborgen.
New Yorker Designer wie die junge Daryl K riefen jetzt einen Gegen-Trend aus:
Militante Liebhaberinnen des Militärischen dürfen sich auch in diesem Herbst
olivgrün tarnen – aber bitte in eng anliegenden Kleidern.
N. DAVENPORT
A
ERZIEHUNG
DESIGN
Lustschloss für
Mütter
Kampf gegen Hässlichkeit
S
d e r
R
aymond Loewy, der unter anderem
die berühmte Lucky-StrikePackung entwarf, wusste es bereits
1951: „Hässlichkeit verkauft sich
schlecht.“ Wie sich die Designer dieses Jahrhunderts abgeplagt haben,
um alles, vom Auto bis zum
Zahnbecher, weniger hässlich zu machen, erzählt
jetzt mit angenehmer angelsächsischer Sachlichkeit
die Gestaltungsfachfrau Penny
Sparke. In ihrem Band „Design
im 20. Jahrhundert – Die Eroberung des Alltags durch die
Kunst“ (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 98 Mark) stellt
Sessel von Javier Mariscal
sie in großzügig illustrierten
Porträts wichtige Entwerfer
oder Werkstätten vor, fasst Entwicklungen zusammen und gibt
praktische Hinweise auf Museen, Sammlungen und Bezugsquellen. Ihr Werk liefert keine tiefschürfende Theorie, sondern
eine tragbare Volkshochschule: Bauhaus & Co. für jedes Haus.
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Gesellschaft
PA R T N E R S C H A F T
Liebe in vollen Zügen
Die Fernbeziehung gilt als Lebensform der Zukunft. Immer mehr Leute wechseln aus beruflichen
Gründen den Ort und lassen ihre Partner zu Hause. Pendler klagen über hohe Kosten
und Fremdheitsgefühle, Psychologen sehen gerade in der Distanz Chancen für die Partnerschaft.
E
s war der Mond, den Goethe ansprach, wann immer ihn die Sehnsucht packte: „Doch du fühlst, wie
ich betrübt bin, blickt dein Rand herauf
als Stern! Zeugest mir, dass ich geliebt bin,
sei das Liebchen noch so fern.“
Dem unsicheren Liebesboten am Himmel braucht niemand mehr zu vertrauen –
der Telekom sei Dank. Nacht für Nacht
klingelt und säuselt es, von Stadt zu Stadt,
von Land zu Land. Dass das Liebchen in
der Ferne weilt – zu Zeiten des alten Dichterfürsten eher die Ausnahme –, ist heute
eine Erfahrung, die immer mehr Leute
kennen. Schon 13 Prozent aller Paare in
Deutschland leben eine sogenannte Fernbeziehung, und das Heer der unfreiwillig
von Tisch und Bett Getrennten wächst und
wächst, seit Deutschland von Berlin aus
regiert wird.Wie einst die Nomaden ziehen
Männer und Frauen zwischen Spree und
Rhein hin und her.
Für rund die Hälfte der Bonner Beamten, die mit der Regierung nach Berlin gekommen sind, ist die Hauptstadt nur Zweitwohnsitz, der Partner blieb zurück. So stehen jedes Wochenende für 2500 Heimwehkranke Sonderzüge und Flugzeuge be-
reit, die zusammenführen, was sich zusammenwünscht.
Silke Neuhaus, 30, wissenschaftliche
Mitarbeiterin beim Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz, ist regelmäßig dabei.
Sie wurde vor anderthalb Jahren in Bonn
nur unter der Bedingung eingestellt, dass
sie später mit nach Berlin gehe: „Natürlich
habe ich da zugestimmt, heute muss man
Bereitschaft zur Flexibilität zeigen, sonst
bekommt man keine Jobs.“
Der Preis war klar: Ihren Freund Thomas
Regh, der als Anwalt beruflich an Bonn gebunden ist, wird sie nun nur am Wochenende sehen – noch geben sich beide tapfer:
„Wir schaffen das schon, in unserem Bekanntenkreis pendeln ohnehin die meisten,
wir haben genug Vorbilder.“
Eine ganze Generation scheint die Liebe zur Arbeit der Nähe zum Partner vorzuziehen, und viele Zeitgeist-Skeptiker
wittern wieder einmal ein Indiz für Karrierismus, Egozentrik und Bindungsunlust
postmodern verwirrter junger Leute.
Doch denen geht es meist gar nicht
um die Verwirklichung hochtrabender
Wünsche, sondern schlicht um einen Job,
der annähernd der Ausbildung entspricht.
Ein Blick in die Stellenanzeigen verrät es:
Ob Volkswirt oder Ingenieur – Mobilität ist
fast schon eine obligatorische Anforderung.
Birgit Hasler, Personalbeauftragte bei IBM
Deutschland in Stuttgart: „Weltweite Einsetzbarkeit ist bei Einstellungen immer ein
Thema.“ Und: „Wer sich in neuer Umgebung beweist, hat gute Aufstiegschancen.“
Doch: Anders als einige amerikanische
Unternehmer fühlen sich deutsche Arbeitgeber nicht veranlasst, auch dem Partner
eines neuen Mitarbeiters einen Job zu vermitteln. Und da die Töchter der Frauenbewegung nicht mehr so selbstverständlich
ihrem Partner von Ort zu Ort folgen, wie
es einstmals die Oma tat, sondern selbst die
Koffer packen, wenn ein guter Job lockt,
wird die Zahl der halb freiwillig Getrennten immer größer.
Der Münchner Kunsthistoriker Jan Wittmann, 30, ist zwar oftmals betrübt, dass
seine Freundin Henrike Hahn, 29, sich jedes Jahr viele Monate im Ausland aufhält;
aber, so sagt er, daran lasse sich nun mal
nichts ändern: Sie forscht als Politologin
über transatlantische Beziehungen – also
ist sie gezwungen, zuweilen selbst eine zu
führen. „Meine Freundin hat so viel Lust
AP
Marine-Kadett beim Abschied
von der Freundin (in Hamburg)
Knappe Zeit für Zärtlichkeit
S. BRAUER
SVEN SIMON
Prominente Fernbeziehungen
Matthäus, Müller-Wohlfahrt
Ruge, Reitzle
S. BRAUER
an der Arbeit, ich will ihr da nicht im Weg
stehen. Die Zeiten des Heimchens am Herd
sind endgültig vorbei“, formuliert Wittmann so selbstlos wie möglich.
Für die beiden Jungwissenschaftler läuft
es wohl auf eine Lebensform hinaus, die
Soziologen und Psychologen Dual Career
Couple (DCC) nennen – eine Beziehung,
zwei Karrieren. Und die finden immer häufiger an verschiedenen Orten, nicht selten
sogar in verschiedenen Ländern statt.
Prominente Beispiele: ZDF-Klatschmoderatorin Nina Ruge (München) und FordManager Wolfgang Reitzle (London). Auch
Lothar Matthäus, Fußballstar unter weißblauer Flagge, hat eine Bayern-BritannienConnection aufgebaut. Seine neue Freundin Maren Müller-Wohlfahrt studiert in
London. Eine privilegierte Fernliebe allerdings: Zittert sie vor Prüfungen, kann er es
sich leisten, sich zum Händchenhalten einfliegen zu lassen.
Doch die meisten Paare auf Distanz sind
alles andere als die Helden der Globalisierung. Sie erweisen sich, folgt man den Experten, als bedauernswerte Kreaturen, die
ihren Arbeitgebern Nerven und auch Geld
rauben können.
So beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Ariane Ladwig in ihrer Dissertation
zum Beispiel den unwillkürlichen Motivationsabfall vieler DCCs. Peter Rogahn, 35,
aus Hamburg, der wie alle Unternehmensberater unterschiedliche Firmen betreut
und daher regelmäßig seine Einsatzorte
wechselt, sagt: „Ganz klar: Der Hauptgrund, warum Kollegen irgendwann ihre
meist glänzend bezahlten Jobs bei Unternehmensberatungen kündigen, ist die Dauerbelastung der Beziehungen durch die
Distanz.“
Die Liste der Peinigungen ist lang. Da
sind die enormen Zusatzkosten: „Würden
Craig, Makatsch
wir an einem Ort wohnen“, ärgert sich ein
Paar, das zwischen Hamburg und Frankfurt
pendelt, „könnten wir ein ganzes Haus
mieten.“ Nun aber lebt jeder in einer Zweizimmerwohnung, jeder bezahlt rund 1000
Mark Miete und monatlich 200 Mark fürs
Liebesgeflüster am Telefon. Knapp 600
Mark geben sie insgesamt fürs Hin- und
Herreisen aus.
Zu den Un-Kosten kommen psychologische Abgründe. Viele Paare berichten
von totaler Erschöpfung durch die Reise
und von der Neigung, sich der Müdigkeit
nicht hinzugeben, um keine wertvolle gemeinsame Zeit zu vergeuden. Mögliche
Folge: Die Partner verausgaben sich und
trauen sich die Reiserei irgendwann gar
nicht mehr zu.
Etliche stöhnen, dass sie an zwei Orten
wohnen, sich aber an keinem wirklich
zu Hause fühlen: Am Heimatort vernachlässigen sie alte Freundschaften, um Zeit
für den Partner zu haben, am Arbeitsort
knüpfen sie keine neuen Kontakte, weil
sie diese am Wochenende nicht pflegen
können.
Oder aber: Flüchtige verwurzeln sich
schnell am neuen Ort, das bisherige Leben
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verliert an Reiz, denn neue Eindrücke sind immer stärker als Vertrautes. Irgendwann wird die alte
Amour „wie ein Zeitungsabo, das
man vergessen hat zu kündigen“ –
so zynisch sinniert ein Betroffener
über seine Fern-Ehe, die viele Jahre, bevor
sie geschieden wurde, am Ende war.
Aber nicht nur das soziale System
der Gebeutelten wankt – auch ihr Hormonhaushalt gerät zuweilen durcheinander: In einsamen Stunden suchen die
Liebes-Leidenden Trost, beginnen Affären, die die eigentliche Beziehung ruinieren können. Paarforscher Hans Wilhelm
Jürgens, Leiter des Anthropologischen
Instituts der Kieler Universität, analysiert mitleidsvoll: „Diese Affären sind
selten leichtfertige Abenteuer, sondern
haben mit der Suche nach Geborgenheit
zu tun.“
Doch für solch verständnisvolle Motivforschung haben Pendler-Partner keine
Nerven.Viele berichten von diffuser Dauereifersucht. Der eine kennt das Umfeld des
anderen nicht, weiß etwa nicht, ob die Kollegin, von der der Partner „verdächtig oft“
spricht, es auf ihn abgesehen hat und wahrscheinlich am Ende der Grund ist, warum er
die letzten Abende telefonisch nicht erreichbar war.
Von wüsten Betrugsszenen, in einsamen
Nächten imaginiert, erzählen viele, wollen
aber öffentlich nicht dazu stehen, weil sie
175
Gesellschaft
selbst dem Partner gegenüber die Eifersucht nicht zugeben würden.
Denn wo für Romantik wenig Zeit
bleibt, soll kein Zwist die kostbaren Stunden stören. Probleme zu bereden, sich gar
zu streiten – damit tun sich Zwangsdistanzierte schwer. Zoffereien am Telefon oder
zwischen Tür und Angel frustrieren, fehlen
doch Muße und Nähe zur leidenschaftlichen Versöhnung. So werden Konflikte verschoben, Ärger staut sich auf, und irgendwann kann es so gewaltig krachen, dass
die Beziehung auseinander fliegt.
Ist die Teilzeitliebelei also eine Sackgasse, der Anfang vom Ende?
Friedhelm Julius Beucher, 53, der wie
alle Bundestagsabgeordneten zwischen
Wahlkreis und Regierungssitz hin- und herreisen muss, sieht ziemlich schwarz, wenn
er sich die Pendelprofis seines Berufsstandes anschaut: „Ehen von Abgeordneten
sind alle latent gefährdet und enden oft im
Desaster.“
gute berufliche Basis aufzubauen sei eben
auch ein wichtiger Teil der persönlichen
Entwicklung.
Der Wunschberuf als Liebestöter – mit
dieser unglückseligen Tendenz beschäftigt
sich auch Michel Domsch, Soziologieprofessor an der Bundeswehr-Universität Hamburg: Er beobachtet, dass heutzutage der
Freund oder die Freundin ganz pragmatisch
mit den Städten gewechselt wird, in die es
die kosmopolitischen Arbeitnehmer verschlägt. Habe das 18. Jahrhundert die Liebesehe statt der schnöden Zweckehe propagiert, praktiziere das späte 20. Jahrhundert das berufskompatible Bündnis auf Zeit.
Schumann-Freund Sigl in Berlin
R. RIEDLER / ANZENBERGER
H. SCHERHAUFER
„Man wird sich rasch fremd“
Pendlerin Schumann in Wien: „Auf Dauer kann man nicht getrennt sein“
Auch der Berliner Guido Sigl, 40, der
als Ausbilder von Animateuren in Ferienclubs Fernbeziehungsopfer geradezu züchtet, glaubt nicht an die erfüllte Liebe auf
Distanz. „In der Regel“, weiß er, „scheitern
die Beziehungen der Animateure zu ihren
Partnern daheim. Das Leben im sonnigen
Club unterscheidet sich so sehr vom grauen Alltagstrott des anderen, dass man sich
rasch fremd wird.“ Sigl kategorisch: „Wer
die Liebe des Lebens gefunden hat, geht
gar nicht erst weg.“
Und weil er selbst in die Ferne liebt – seine Freundin Claudia Schumann lässt sich in
Wien zur Fachärztin ausbilden –, überlegt
er, ihr bald hinterherzuziehen. Die Freundin ist vorsichtiger: „Auf Dauer kann man
zwar nicht getrennt sein“, aber sich eine
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Paarforscher Jürgens findet aber auch
ermutigende Worte: „Pendelbeziehungen
können funktionieren.“ Die Partner müssten so nervenschonend wie möglich miteinander umgehen. Hilfreich sei es, Rituale zu schaffen, sich an Verabredungen zu
halten. Ein wenig Kontinuität für die sporadische Zweisamkeit.
Ein Ratgeberbuch („Ich in Bremen,
du in Zürich“, Herder-Verlag) legt nahe,
„Perspektiven zu schaffen“, also das Getrenntsein als Übergangsphase zu begreifen, wohl wissend, dass man sich in nicht
allzu ferner Zukunft auf einen Ort einigen wird.
Schauspielerin Heike Makatsch,
28, hatte jedenfalls schnell die ständigen Trennungen satt. Sie zog
nach wenigen Monaten zu ihrem
Freund, dem Schauspieler Daniel
Craig, nach London.
Paare, die nicht so bald zusammenkommen können, müssen sich
anders trösten: „Jedes Treffen ein
Fest“, heißt es im Ratgeber. Wenn
sich die Schmachtenden schon den
Unbilden von Autobahn, Zug und
Flugzeug ausliefern, warum sollen
sie dann das Rendezvous nicht exzessiv zelebrieren?
Von diesem Vorsatz hält auch Unternehmensberater Rogahn viel. Gerade weil
auf ihn am Wochenende nicht nur die
Ehefrau, sondern auch die beiden Kinder
warten. Den Kleinen zuliebe versuche er,
die Zeit so nett wie möglich zu gestalten:
„Mal fahren wir an die See oder gehen
gut essen. Andere Familien investieren ihr
Geld in den Hausbau, wir in schöne Momente.“
Allgemein gilt: Pendler gehen gestaltungswütiger an Beziehungen heran als
sesshafte Langzeitpaare, und sie sind
tendenziell harmoniesüchtiger – keine
schlechten Voraussetzungen für das Funktionieren einer Verbindung.
Ein weiterer Pluspunkt: Jeder ist durch
die getrennte Haushaltsführung sein eigener oberster Dienstleister, leidige Abwaschund Müllentsorgungsdebatten erübrigen
sich meist.
Und zuletzt: Das gewisse Fremdeln, das
viele Partner empfinden, wenn sie nach
längerer Auszeit aufeinander treffen, hat
nicht nur Nachteile: Gerade Fremdheit
trägt zur Spannung der ersten Verliebtheit
bei – umso besser, wenn Paare dieses Gefühl immer wieder erneuern können.
So ist nicht alle Hoffnung verloren,
wenn sich die Fernbeziehung tatsächlich
zur Lebensform der Zukunft entwickeln
sollte.
Denn in der absurden Logik der Liebe
stimmen auch jene Worte, die Goethe im
„Faust“ seinen Oberon sagen lässt: „Gatten, die sich vertragen wollen, lernens
von uns beiden! Wenn sich zweie lieben sollen, braucht man sie nur zu scheiden.“
Susanne Beyer, Ulrike Knöfel
Viele Paare, glaubt Domsch, leben dabei
ein zermürbendes „Eigentlich-Leben“: Sie
sehnen sich eigentlich nach einer stabilen
Beziehung, sie wollen eigentlich keine Geburtstagsfeier ihrer Kinder verpassen. Ansprüche, denen Pendelpartner und -eltern
selten gerecht werden.
Tatsächlich zerbrechen 57 Prozent der
Long-Distance-Beziehungen – so will das
Magazin „Elle“ herausgefunden haben.
Die Frauenzeitschrift beziffert auch die
Gründe für das Scheitern: 93 Prozent aller
befragten Pendelkundigen (2096 Männer,
2123 Frauen) beklagen den Mangel an Zärtlichkeit, 91 Prozent ist der doppelte Lebensunterhalt zu teuer, 69 Prozent leiden
an dem Gefühl, sich zunehmend auseinander zu leben.
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Gesellschaft
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Mario ist ein Freund“
GILL
Spiele-Designer Shigeru Miyamoto über Phantasie und Technik im Videospiel
Spiele-Erfinder Miyamoto
Miyamoto, 46, ist der Star der VideospielSchöpfer. Für den japanischen Elektronikkonzern Nintendo erfand er Klassiker
wie den Klempner „Mario“, den heldenhaften Affen „Donkey Kong“
oder die Spieleserie „Zelda“, die
Fans aller Altersgruppen häufig monatelang an den Bildschirm fesseln.
SPIEGEL: Wissen Sie, wie viele Ehen
Sie durch Ihre Sucht erzeugenden
Spiele gefährdet haben?
Miyamoto: Ich kenne da nur ein Beispiel,
denn ich selbst arbeite daran oft bis spät
in die Nacht, und meine Frau beschwert
sich dauernd darüber. Wenn das den Spielern auch so geht, tut mir das sehr leid.
SPIEGEL: Sie haben praktisch ein ganzes
Spielegenre aus der Taufe gehoben. Wie
sind Sie Videospiel-Designer geworden?
Miyamoto: Ich habe immer davon geträumt, etwas sehr Merkwürdiges und
Bizarres zu erschaffen. Die Vorstellung, es
könnte mir gelingen, die Welt zu verblüffen, hat mich sehr glücklich gemacht. Als
ich bei Nintendo anfing, sollte ich eigentlich ein ganz anderes Projekt leiten. Aber
ein Jahr später wurden die ersten Videospiele, etwa „Space Invaders“, enorm po-
178
„Ich kann fühlen wie ein Spieler“
Miyamoto-Schöpfung „Mario“
„Primitive Technik“
pulär. Es entstand ein Bedarf für mehr
Spiele, für neue Spiele. Ich spürte, dass ich
auf diesem Feld meinen Traum verwirklichen könnte. Ich hatte ganz neue Freiheiten. Vorher musste ich, um ein neues Produkt zu kreieren, mit Produktionsleitern
von Fabriken verhandeln, musste über
Herstellungskosten feilschen. Als es Vid e r
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deospiel-Systeme gab, konnte ich plötzlich
tun, was ich wollte; denn wenn die Chips
erst einmal zusammengelötet sind, bestimmt nur noch die Vorstellungskraft, was
die Software mit diesen Chips tun soll.
SPIEGEL: Sie haben als Erster Spielfiguren
mit eigenem Charakter auf den Bildschirm
gebracht. Was hat Sie dazu inspiriert?
Miyamoto: Die Phantasie war schon immer mein liebstes Spielzeug. Als ich ein
Kind war, fegte ein Taifun über unsere Gegend hinweg. Ich stellte in meinem Zimmer
den Schreibtisch mit den Füßen nach oben
auf, setzte mich hinein und stellte mir vor,
mit einem Boot durch den Sturm zu fahren. So ähnlich fühle ich mich auch heute
noch, wenn ich über ein neues Videospiel
nachdenke.
SPIEGEL: Was unterscheidet Sie da von anderen?
Miyamoto: Als ich anfing,Videospiele zu erfinden, gab es in der Industrie kaum Leute, die etwas von Grafik, von Kunst oder
von Musik verstanden. Spiele wie Space Invaders, bei denen Raumschiffe als Lichtpunkte über den Bildschirm sausen, die
andere Raumschiffe abschießen, wurden
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Gesellschaft
nicht nur visuell eine Welt für die
Spieler schaffen, auch das Design
und Gefühl der „Controller“
gehört für mich zum Spiel. Ich
kann mich in den Spieler hineinversetzen, ich kann fühlen, was er
fühlen wird. Ich glaube, das ist das
Geheimnis, warum meine Figuren
die Spieler ansprechen. Es ist nicht
das Aussehen der Figuren, sondern die Beziehung, die man
durch die Interaktion mit ihnen
im Spiel entwickelt. Mario ist ein
Freund, ein Mitspieler. Deshalb
kann er in immer neuen Spielen
auftauchen, ohne jemals langweilig zu werden.
SPIEGEL: Wodurch lassen Sie sich
inspirieren, um ein Wesen wie Mario zu schaffen?
Miyamoto: Es gibt viele gute Designer, die hervorragende Figuren
erschaffen. Einen Wettbewerb um
die originellste Figur würde ich sicher nicht gewinnen. Meine Gabe
liegt eher darin, mit einem Videospiel eine interaktive Welt zu erschaffen. Ich will Spannung und
Miyamoto-Spiel „Donkey Kong“
Begeisterung im Spieler wecken.
„Die Hälfte der Arbeit ist schöpferische Tätigkeit“
Das ist der allererste Schritt. Dann
von Programmierern geschrieben, die sich erst suche ich nach einer Spielfigur, die
gut mit den Chips auskannten, sich aber dieses Abenteuer am besten verkörpern
sonst kaum Gedanken machten. Die Welt kann. Ich frage mich: Welche Figur fügt
war begeistert, dass sich überhaupt was sich für den Spieler natürlich in die Welt
bewegt, und niemandem schien aufzufal- ein, die ich erschaffen will? Wie passt sie
len, wie primitiv und kindisch die Spiele zur Atmosphäre des Spiels? Als ich zum
waren. Ich hatte schon in meiner Jugend Beispiel Mario erfand, war die Technik
Cartoons gezeichnet und wollte, dass auf noch recht beschränkt und primitiv. Wir
dem Monitor richtige Bilder zu sehen sind hatten nur begrenzten Spielraum, was eine
und nicht nur Pixel.
Figur auf dem Bildschirm tun und wie sie
SPIEGEL: Hätten Sie sich je träumen las- sich bewegen kann. Der lustige Charakter
sen, welche rasante Entwicklung diese Marios war eine Folge solcher ganz nüchTechnik später nehmen würde?
ternen technischen Erwägungen.
Miyamoto: Als Nintendo sein erstes Video- SPIEGEL: Gilt das auch noch für moderne
spiel-System auf den Markt brachte, habe Spiele wie Zelda? Dort, so scheint es, könich vorhergesagt, dass wir solche Geräte nen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf lassen.
auch noch in 10 oder 20 Jahren verkaufen Miyamoto: Ich wende meine Methode bei
könnten. Das habe ich immer wieder allen allen Spielen an. Ich wollte zum Beispiel,
Skeptikern gesagt, die schwer zu überzeu- dass sich der Held bei Zelda in bestimmten
gen waren, Spiele für dieses Gerät zu ent- Situationen schnell von einem Ort zum anwickeln. Es sieht so aus, als hätte ich rich- deren bewegen kann, also gab ich dem Juntig gelegen. Aber ehrlich gesagt, ich hätte gen „Link“ im Spiel „Ocarina of Time“ die
nie geglaubt, dass wir heute Spiele produ- Möglichkeit, ein Pferd zu reiten.
zieren können, deren Bilder fast Filmqua- SPIEGEL: Heißt das, die Technik treibt die
lität haben. Das hat, glaube ich, niemand Kreativität, und nicht umgekehrt?
vorhergesehen. Früher wurden Spielekon- Miyamoto: Ja, das kann man so sagen.
solen mit billiger Technik gebaut, die schon Natürlich wollen Designer immer alles tun
einige Jahre alt war. Heute steckt in den können, aber gerade die technische BeKonsolen bei ihrer Markteinführung die schränkung der Möglichkeiten kann ihnen
allerneueste Technologie, die sich erst viel helfen, sich auf bestimmte Fähigkeiten zu
später bei PC oder anderen Elektronik- konzentrieren und Dinge zu kreieren, die
geräten durchsetzt.
sie von anderen unterscheiden.
SPIEGEL: Was, glauben Sie, macht den Er- SPIEGEL: Zelda enthält jede Menge mythifolg Ihrer Spiele aus?
sche Geschichten und Rätsel, die an alte
Miyamoto: Mich interessierte von Anfang Volkssagen erinnern. Hatten Sie Vorbilder
an das Erlebnis des Spielers. Ich entwerfe für diese Geschichten?
nicht nur die Figuren, ich habe mich auch Miyamoto: Ein Spiel zu entwickeln ist ein
sehr mit der Konstruktion der Bedienele- einzigartiger Prozess. Ein Spiel ist kein
mente der Konsolen beschäftigt. Ich will Film. Wer versucht, zuerst eine Art Drehd e r
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buch für das Spiel zu schreiben
und es dann Szene für Szene zu
bebildern, muss scheitern. Bei
Ocarina of Time zum Beispiel habe
ich mit meinem Team von Programmierern und Designern zuerst
lange diskutiert, auf welche
Schwierigkeiten der Held in den
einzelnen Tempeln stoßen soll,
welche Rätsel er lösen muss. Dann
haben wir den Jungen Link und
die anderen Spielfiguren entwickelt und uns ausgedacht, welche Waffen er haben sollte und wie
der Spieler diese Waffen handha- Miyamoto, SPIEGEL-Redakteure*
ben kann. Diese Spielelemente ha- „Zwei Stunden pro Tag sind das Maximum“
ben wir in zahllosen Variationen
ausprobiert – wie kann Link eine Schatz- mit Videospielen aufgewachsen sind, und
kiste öffnen, wie bewegt er sich unter Was- ich möchte gern Spiele schaffen, die Eltern
ser? Erst als wir alle diese Puzzlestücke und Kinder gemeinsam mit Freude spieentwickelt hatten, haben wir uns die Ge- len können.
schichte ausgedacht, die alle Elemente SPIEGEL: Sie haben selber Kinder. Sind die
schlüssig miteinander verbindet. Es ist mit Ihren Spielen groß geworden?
praktisch genau umgekehrt wie beim Film, Miyamoto: Mein Sohn ist 13, meine Tochwo die Story am Anfang steht. Mir ist die ter 11. In letzter Zeit klappt es nicht mehr
Geschichte, anders als viele Leute glau- so richtig, aber ich bin immer sehr streng
ben, gar nicht so wichtig. Meine Fähigkeit gewesen im Umgang mit Videospielen. Es
besteht darin, die Einzelteile zu einem har- liegt in der Verantwortung der Eltern zu
monischen Ganzen zusammenzufügen.
entscheiden, wie viel gut für ihre Kinder
SPIEGEL: Wie viel von der Arbeit, ein neu- ist, und wann man nein sagen muss. In Jaes Spiel zu erfinden, ist Kreativität, wie pan denkt man darüber leider viel zu wenig nach, aber wie ich höre, gibt es diese
viel ist Technik?
Diskussion in Deutschland, und das finMiyamoto: Nach meiner Erfahrung sind
de ich gut.
die Anteile etwa gleich groß. Die
Hälfte der Arbeit steckt
SPIEGEL: Von vielen wird die
in der schöpferischen
Angst der Eltern vor überTätigkeit. Das ist so ähnmäßigem Fernseh- oder
lich wie bei den SpezialVideospiel-Konsum allereffekten in Hollywooddings oft als rückständig
filmen. Wenn es da eine
belächelt. Das Aufwachneue Technik gibt, wollen Resen mit dem Computer
gisseure sie auch einsetzen, und
gilt als fortschrittlich. Semanche Filme werden regelrecht um
hen Sie das etwa anders?
bestimmte Effekte herumgebaut. Beim
Miyamoto: Wenn ich mir
Videospiel will das Publikum mit immeine Kinder so ansehe, dann
mer neuen optischen Reizen gelockt
sind die so beschäftigt mit der
werden. Wenn ich diesen Anspruch
Schule, dass ich mir wünsche,
nicht erfülle, kann die Geschichte
dass sie ihre echte Freizeit annoch so gut sein, sie wird niemanden
ders verbringen, als vor einem
interessieren.
Miyamoto- Bildschirm zu hocken. Zwei
SPIEGEL: Videospiele gehören inzwiFigur „Link“ Stunden pro Tag sind das absolute Maximum, das ich ihnen
schen zum Kulturgut. Figuren wie
Mario sind regelrechte Ikonen einer Ge- erlaube. Vor den Prüfungen sehen sie das
neration geworden. Erfüllt Sie das mit eigentlich auch von selbst ein, aber manchmal gibt es auch Streit. Ich möchte, dass
Stolz?
Miyamoto: Ja, natürlich bin ich glücklich meine Kinder ein abwechslungsreiches Leüber den Erfolg, aber ich fühle mich auch ben haben und sich nicht mit einem „Game
verantwortlich. Wir haben wirklich lange Boy“ in die Ecke setzen.
diskutiert, ob wir Figuren wie Mario in den SPIEGEL: Wir haben noch eine wichtige FraKampfszenen des Spiels „Smash Brothers“ ge zum Schluss, die uns schon seit Monaauftreten lassen sollten. In „Donkey Kong ten quält: Selbst zu Pferd ist Link in Oca64“ sollte der Affe eine Pistole bekommen, rina of Time nie schneller als der Maraaber wir haben uns dagegen entschieden thonläufer? Wie kann man dieses Rennen
und ihm eine Waffe gegeben, die Kokos- gewinnen?
nüsse verschießt. Wir leben heute in einer Miyamoto: Ich hoffe, das frustriert Sie nicht
Zeit, in der die Eltern von Kindern selbst zu sehr, aber niemand kann den Marathonmann schlagen.
SPIEGEL: Herr Miyamoto, wir danken Ihnen
* Jürgen Scriba und Johann Grolle, mit „Game Boy“Spielen auf der Spielemesse „ECTS“ in London.
für dieses Gespräch.
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Gesellschaft
Werbeseite
Werbeseite
A. KAISER / G.A.F.F.
Vergewaltigte Musliminnen im bosnischen Tuzla (1992): Gefühlsabwehr als Schutzreaktion
PSYCHOLOGIE
Die Frau ohne Körper
Im Bosnien-Krieg wurden zehntausende von Frauen
vergewaltigt. Die kroatische Autorin und Journalistin Slavenka
Drakuliƒ beschreibt nun die Leiden der Opfer.
184
rungen so wenig, dass sie von sich nur in
der dritten Person sprechen konnten.
Bei den ersten Interviews war Drakuliƒ
schockiert, bei den nächsten bewegt und
schließlich abgehärtet. Sie stellte fest, dass
die Berichte „emotionslos, trocken und
monoton wirkten und keinen Einblick in
den Schrecken gaben“ und nicht geeignet
seien, Leser zu finden und aufzurütteln. In
der psychologischen Fachliteratur las sie,
dass diese Gefühlsabwehr eine typische
Schutzreaktion von Verbrechensopfern ist.
Sie gab das Buchprojekt auf.
Sieben Jahre später hat Drakuliƒ, 50,
doch noch eine Möglichkeit gefunden, über
Vergewaltigung im Krieg zu schreiben: in
einem Roman. „Als gäbe es mich nicht“ ist
gerade erschienen und schildert das Leiden
im Frauenraum. „Es ist mein achtes Buch
und mein vierter Roman“, sagt Drakuliƒ,
* Slavenka Drakuliƒ: „Als gäbe es mich nicht“. Aus dem
Kroatischen von Astrid Philippsen. Aufbau-Verlag, Berlin; 208 Seiten, 36 Mark.
G. TROTTER / ISF
F
rauenraum – das Wort klingt so unscheinbar und sachlich: nach einem
Ort etwa, an den sich Frauen zurückziehen, um sich nachzuschminken oder mit
den Freundinnen die draußen wartenden
Männer durchzudiskutieren.
In Kroatien, Bosnien und im Kosovo gab
es viele Frauenräume. In Bosnien allein
waren es mindestens 19. Mädchen und
Frauen wurden dort wochen- und monatelang gefangen gehalten und Nacht für
Nacht von serbischen Soldaten vergewaltigt. Frauenräume waren während des Jugoslawien-Krieges sexuelle Vorratslager,
aus denen sich Offiziere und verdiente
Kämpfer bedienen konnten.
Anfangs gab es nur Gerüchte über diese Vergewaltigungscamps; Gerüchte, die zu
spektakulär in ihrem Grauen waren, als
dass sie glaubwürdig erschienen wären.
Dann erzählten die ersten Opfer davon in
den Flüchtlingslagern, danach berichteten
die Zeitungen; im Dezember 1992 verurteilte die Uno-Menschenrechtskommission
„die systematische Praxis“ von Vergewaltigungen.
Zu dieser Zeit dachte die kroatische
Journalistin und Schriftstellerin Slavenka
Drakuliƒ darüber nach, solche Berichte zu
sammeln und in einem Dokumentationsband zu veröffentlichen. In Zagreb traf sie
im Flüchtlingslager 20 Frauen, die ihre
schrecklichen Erlebnisse schilderten: Dauervergewaltigungen vor den Augen der
Mütter, der Kinder, Verstümmelungen, Erschießungen. Manche ertrugen die Erinne-
„und es war das Schwerste von allen.“ Ziel
des Buches ist es: das, was vergewaltigte
Frauen das Unbeschreibliche nennen, zu
beschreiben*.
Hauptfigur des Romans ist eine 29-jährige Grundschullehrerin, die zu Kriegsbeginn aus Sarajevo in ein bosnisches Bergdorf geflohen ist. „S.“ nennt Drakuliƒ sie,
weil jede diese Frau sein könnte, also auch
sie selbst, Slavenka. Sie schildert das Geschehen aus deren Perspektive, dringt dabei in die Psyche von S. ein und analysiert,
kommentiert deren Gedanken, Gefühle
und Ängste unter dem Aspekt: Wie erlebt
ein Mensch seine allmähliche körperliche
und seelische Zerstörung?
Der Körper ist auch in ihren früheren
Romanen Thema: In „Das Prinzip Sehnsucht“, 1989 auf Deutsch erschienen, schilderte die Schriftstellerin ihr Warten auf die
Nierentransplantation; „Das Liebesopfer“
(1997) zeigt Kannibalismus als ultimative
Konsequenz psychopathisch-possessiver
Leidenschaft. „Marmorhaut“ (1998) handelt davon, wie ein pubertierendes Mädchen seine Sexualität entdeckt und mit der
Mutter um den Liebhaber konkurriert. Mit
„Als gäbe es mich nicht“ behandle sie einen weiteren Aspekt der Körper-Thematik,
sagt Drakuliƒ: die Psyche einer vergewaltigten Frau, die den Kontakt zu ihrem Körper abbricht.
Frühmorgens im Mai 1992 sind die serbischen Soldaten plötzlich da. Im Halbschlaf hört S. Stimmen, auch die ihrer
Nachbarin, die bettelnd „Tu’s nicht“ sagt.
S. fühlt sich sicher, denn sie glaubt, die Serben wollten nur ihren Goldschmuck. Wenn
überhaupt. Doch als sie gerade einen Kaffee kocht, tritt ein junger Soldat die Wohnungstür auf. „Erst in diesem Moment fällt
ihr ein, dass sie hätte fortlaufen können.“
Die Angst hat sie schon gelähmt, bevor der
Schrecken wirklich begonnen hat. „Mehr
als alles entsetzt S. ihre Unterwürfigkeit,
ihre Bereitschaft, den Befehlen bedingungslos zu gehorchen.“
Die Serben treiben die Dorfbewohner
in der Turnhalle zusammen. Ein Vater wird
Vergewaltigungs-Graffiti in Bosnien: Nichts hören, nichts glauben
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Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
„Zerstörung des Urvertrauens“
Die Psychologin Edita Ostojiƒ, 46, die im bosnischen Zenica
vergewaltigte Frauen betreut, über die Folgen der Traumatisierung
SPIEGEL: In den Balkan-Kriegen haben
F. HORVAT / SABA
Serben, Kroaten, Bosnier und KosovoAlbaner die Frauen anderer Volksgruppen vergewaltigt. Warum fällt es
Frauen so schwer, darüber zu sprechen,
obwohl sie doch offensichtlich kein Einzelschicksal erlitten haben?
Ostojiƒ: Weil viele Frauen sich selbst
die Schuld geben und sich deshalb schämen. Sie fürchten eine ablehnende Reaktion ihrer Umgebung, in der Vergewaltigung unter dem Aspekt Sexualität
und nicht als Gewaltdelikt betrachtet wird.
SPIEGEL: Welche psychischen Folgen hat
die Vergewaltigung für
die Frau?
Ostojiƒ: Das hängt entscheidend vom Zeitpunkt ab, wann die
Frau erstmals über ihr
Trauma spricht. Wenn
zu viel Zeit vergangen
ist, haben die Frauen
oft allein einen Weg
Ostojiƒ
gefunden, seelisch zu
überleben. Meistens sind das aber
Fehlanpassungen, die später kaum zu
korrigieren sind.
SPIEGEL: Wie sehen die aus?
Ostojiƒ: Die Frauen sind sehr verschlossen und verdrängen mit großer
psychischer Kraft die Erinnerung und
die daran geknüpften Emotionen. Im
Alltag funktionieren sie meist, aber sie
leiden unter Alpträumen und Angstattacken. Manchmal ist die Abspaltung
des Traumas so radikal, dass sie diese
Ängste gar nicht mit der Vergewaltigung in Verbindung bringen und glauben, verrückt zu werden.
SPIEGEL: Gibt es auch körperliche Reaktionen?
Ostojiƒ: Ja. Was nicht in Worten formuliert wird, drückt der Körper aus mit
Symptomen wie Lähmungen, Asthma,
Neurodermitis.
SPIEGEL: Ist ihnen noch eine normale
Sexualität möglich?
Ostojiƒ: Den meisten zunächst nicht,
weil sie den Kern der Verletzung ausmacht. Entweder vermeiden die Frauen Sex oder, im Gegenteil, sie schlafen
wahllos mit Männern. Diese extreme
sexuelle Aktivität ist der hilflose Versuch, Kontrolle über das zu gewinnen,
was sie so erschreckt.
186
SPIEGEL: Hängt die Tiefe der Verletzung
davon ab, wie oft, über welchen Zeitraum und wie brutal eine Frau vergewaltigt wurde?
Ostojiƒ: Entscheidend sind äußere Faktoren wie Dauer, Ausmaß und Frequenz der traumatischen Erlebnisse
und innere wie die psychische Konstitution. In der Therapie versuchen wir,
mit Hilfe von Freunden und Verwandten innere Ressourcen zu aktivieren.
SPIEGEL: Welche Erfolge haben Sie?
Ostojiƒ: Therapieerfolge lassen sich
nicht einfach messen. Das Urvertrauen
ist zerstört, und die Tatsache, dass eine
Frau sich mit ihrem Trauma auseinander setzt und Vertrauen in andere Menschen hat, ist ein Schritt nach vorn.
SPIEGEL: Welche psychischen Langzeitfolgen haben Sie beobachtet?
Ostojiƒ: Einige Frauen führen ein sehr
beschränktes Leben: Die Sozialkontakte sind gestört, weil sie misstrauisch
gegenüber anderen sind. Manche glauben, dass jeder von ihrer Vergewaltigung wisse, und fühlen sich deshalb
allen ausgeliefert. Andere können sich
nicht konzentrieren. Oder sie fühlen
sich so wertlos, dass sie am Wert ihrer
Leistung grundsätzlich zweifeln. Deshalb bieten wir in unserem Projekt Kurse an, in denen sie ein Handwerk lernen
und ihr Selbstwertgefühl stärken können. Das braucht oft sehr viel Zeit.
SPIEGEL: Was taten die Frauen, die
durch die Vergewaltigung schwanger
wurden?
Ostojiƒ: Die meisten haben sich für einen Abbruch entschieden. Das war die
erträglichste Lösung für sie.
SPIEGEL: Und wenn es dafür zu spät
war?
Ostojiƒ: Haben sie das Baby zur Adoption freigegeben oder behalten. Aber es
ist schwierig, das Kind wirklich zu akzeptieren. Die nächste Frage ist: Was
soll die Mutter dem Kind über den Vater erzählen? Die Frau muss entscheiden, was sie emotional ertragen kann.
SPIEGEL: Kennen Sie Fälle, in denen
Frauen ihr Kind getötet haben?
Ostojiƒ: Ja. Wir haben eine Frau stationär betreut, die sich eines Nachts
mit dem Kind im Arm aus dem Haus
stahl und das Baby erstickt hat. Sie war
mitten in einem psychotischen Schub
und erzählte, das Kind habe tote Augen
gehabt.
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Serbische Soldaten in Bosnien (1995): Schrecken
mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen.
20 Männer werden abgeführt und erschossen. Später lassen sich die Frauen widerstandslos in einen Bus verladen. „S. weiß,
mit diesem Autobus übersiedelt sie von
einer Wirklichkeit in eine andere.“ Als der
Bus nachts hält und die Frauen zum Pinkeln in den Wald geschickt werden, flieht
keine einzige.
In der großen Lagerhalle einer Fabrik
werden die Frauen untergebracht. Sie
schlafen auf dem Betonboden, sie verrichten ihre Notdurft gruppenweise auf einem
Feld, sie streiten sich um den einzigen Wasserhahn, sie essen trockenes Brot und Salami. Sie erzählen sich Gerüchte über das
Männerlager: Gefangene würden dort lebendig zerstückelt. S. hält Distanz. Sie will
nichts hören, nichts glauben. Sie will ihre
Integrität und Würde nicht verlieren, weil
diese die letzte Erinnerung an ihre frühere, menschlichere Welt sind.
Dass die Soldaten ab und zu Mädchen
aus der Halle holen und diese nicht mehr
auftauchen, erfährt S. nach einigen Tagen.
Sie stellt sich vor, wie sie selbst sich wehren würde, wenn ein Wachtposten käme,
um sie in den Frauenraum zu bringen.
Doch als tatsächlich einer auf sie zeigt,
steht sie auf und geht ihm hinterher. Die
Passivität ist eine Mauer, hinter der sich die
Person S. versteckt.
Als sie von drei Männern auf dem
Schreibtisch vergewaltigt wird, beobachtet S. eine Fliege, die an der Wand hochund runterläuft. „In dem Moment sieht sie
ihre in die Luft gehobenen Beine und dazwischen einen Männerkopf.“ S. will überleben, auch psychisch, und das ist nur möglich, wenn sie sich abspaltet von dem, was
ihr geschieht. Die Soldaten schlagen sie,
zwingen sie, ihren Urin zu trinken. S. wird
bewusstlos.
Als sie nach Tagen aus dem Fieberschlaf
aufwacht, liegt sie im Frauenraum – ein
kahles Zimmer mit vernagelten Fenstern,
auf dem Boden Matratzen, dahinter ein
Waschraum mit Dusche. Gefaltete Wäsche
M. WELLERSHOFF / DER SPIEGEL
SYGMA
behalten soll oder nicht, ist die zentrale
Frage des Romans, denn sie bedeutet:
Kann ein Mensch eine so entsetzliche Erfahrung in sein Leben integrieren?
Die Wirklichkeit beantwortet die Frage
mit Nein. Über die Zahl der Schwangerschaften nach Vergewaltigungen in Bosnien schwanken die Schätzungen zwischen
119 und 30 000; in Albanien gaben UnoMitarbeiter an Kosovo-Flüchtlinge die Pille danach aus, Protesten des Vatikans zum
Trotz. Wer nicht mehr abtreiben konnte,
gab das Kind zur Adoption frei. Nur in Einzelfällen entschieden sich vergewaltigte
Frauen dafür, ihr Kind großzuziehen.
Die Fakten ihres Romans, sagt Drakuliƒ,
stimmten, auch wenn sie die Beschreibung
des Lagers und des Frauenraums aus verschiedenen Zeugenaussagen zusammengesetzt hat. Produkt der Phantasie sei allein
und Verdrängung
das innere Erleben ihrer Hauptfigur. Und
und Tischdecken sind Überreste eines ver- doch gelingt es der Autorin, überzeugend
gangenen Alltags. Neun Frauen werden im vorzudringen in die Zerrissenheit zwischen
Frauenraum gefangen gehalten. Jede Nacht Schrecken und Verdrängung, zwischen
kommen neue Soldaten, um sie sich zu ho- Angst, Hass und Abspaltung aller Gefühle.
Gelegentlich geraten ihr dabei die Belen, zeigen wahllos auf eine. Die Betrunkenen sind die Schlimmsten. Nicht alle schreibungen und die Interpretationen der
psychischen Abwehrmechanismen überFrauen kehren zurück.
Ihr Körper gehört nicht mehr S., er ist ein deutlich, manchmal rutscht Drakuliƒ ins
fremder Gegenstand. „Sie glaubt, ihre Pathetische. Ihr Ziel, das Unbeschreibliche
Haut rieche nach Sperma und Speichel. der Vergewaltigung beschreibbar zu maStändig wäscht sie sich mit Seife und war- chen, das Entsetzen, die innere Erstarrung
mem Wasser.“ Der Gestank bleibt. Eines und die Entfremdung vom Körper fühlbar
Tages aber beginnt S. sich zu schminken, werden zu lassen, erreicht sie dennoch.
Ein psychologisches Buch habe sie
um sich eine neue, falsche Identität als Verführerin zu geben – wer verführt, wird schreiben wollen, kein politisches – und
nicht vergewaltigt, lautet die Logik dieses hat trotzdem einen Anti-Kriegsroman verfasst. Ihre Ansichten zum Krieg, erklärt
Selbstbetrugs.
Doch seltsamerweise funktioniert die Drakuliƒ, könne sie direkter als Journalistin
Strategie. Vielleicht liegt es auch daran, äußern. Sie arbeitet für die „Frankfurter
Allgemeine“, „The New Repudass S. die einzige Universitätsblic“ in den USA, „La Stampa“
absolventin im Frauenraum ist:
in Italien und „Aftonbladet“ in
Der Lagerkommandant nimmt
Schweden.
sie sich als Geliebte. Sie reden,
Bis 1991 arbeitete sie im Kulsie essen, sie schauen Fernseturressort des eher regierungshen, er schläft mit ihr, sie überkritischen Zagreber Nachrichnachtet in seinem Bett, sie täutenmagazins „Danas“. Dann
schen gemeinsam Normalität
wurde das Blatt privatisiert, der
vor. Sie weiß, dass er ein Killer
neue Besitzer schwenkte auf
ist. Sie könnte ihn nachts, wenn
die nationalistische Linie des
er eingeschlafen ist, erschießen.
Staatschefs Franjo Tudjman um
Aber sie tut es nicht, weil das
und feuerte die gesamte Reihren eigenen Tod bedeuten Autorin Drakuliƒ
daktion.
würde und weil sie sich durch
Für Drakuliƒ war das der Beginn ihrer indie gemeinsame Lüge, ein Liebespaar zu
ternationalen Karriere, denn ihr blieb nichts
sein, verbündet haben.
Im November 1992 wird S. gemeinsam anderes übrig, als für ausländische Zeitunmit den anderen Frauen freigelassen. Es ist gen zu arbeiten. Da hatte sie dann ausein Gefangenenaustausch. Im Zagreber führlich Gelegenheit, Tudjmans Politik zu
Flüchtlingscamp erfährt sie, dass sie im attackieren. Seitdem, sagt sie, „bin ich für
fünften Monat schwanger ist. „Im Bauch die offiziellen Blätter eine Dissidentin“.
Wie die kroatische Kritik reagieren
spürt sie zum ersten Mal die Last. Sie ist
da, tief innen, wie ein Stückchen Blei. Ein wird, wenn sie den demnächst in KleinTumor, der wächst, sich ausbreitet und im- auflage erscheinenden Roman überhaupt
rezensiert, hat Drakuliƒ sich schon ausgemer sichtbarer wird.“
Wie ein Kind, das nach einer Vergewal- malt. „Sie werden sagen: Warum ist S.
tigung geboren wurde, ermordet wurde, Muslimin? Wir haben doch genug kroatihat S. schon beobachtet, entsetzt und sche Frauen, die im Krieg vergewaltigt
gleichzeitig verstehend. Ob sie ihr Kind wurden.“
Marianne Wellershoff
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ARGUS
Münchner Oktoberfest: Geschenk der Wittelsbacher an die Untertanen
Der Makel des
Prinzen
Vergeblich kämpft ein bayerischer
Königsspross seit Jahren um
eine Bierlizenz für das Oktoberfest. Jetzt soll ihm das
Volk zu seinem Recht verhelfen.
I
n dem idyllischen Ort Lionshead am
Fuße des Vail Mountain im US-Staat
Colorado weiß man die Braukünste des
Prinzen Luitpold von Bayern zu würdigen.
Im folkloristisch-kitschigen Ambiente des
„Kaltenberg Castle“ werden jährlich an
die 10 000 Hektoliter Kaltenberger Bier
ausgeschenkt; bei örtlichen Volksfesten ist
das süffige „König Ludwig Dunkel“ ein
Schlager. Auch in Südafrika, Polen, Kroatien, Großbritannien, Italien und Schweden berauscht man sich gern an dem königlichen Gebräu.
Auf heimatlichem Boden dagegen fühlt
sich Prinz Luitpold stiefmütterlich behandelt. Seit fast 20 Jahren kämpft er hartnäckig dafür, dass sein Bier auch auf dem
Oktoberfest in München ausgeschenkt
werden darf. Ebenso lange erteilt ihm die
Stadt schon eine Abfuhr.
Der Makel des Prinzen: Seine Schlossbrauerei steht nicht auf Münchner Stadtgebiet, sondern etwa 40 Kilometer westlich
in dem Ort Kaltenberg. Laut Paragraf 50
der Betriebsvorschrift für das Oktoberfest darf an Wies’n-Besucher aber „nur
Münchner Bier der leistungsfähigen und
bewährten Münchner Traditionsbrauereien
ausgeschenkt werden“.
Die Stadt hält eisern an dieser Vorschrift
fest: „Wir wollen den Brauch wahren und
die Münchner Brauereien als Imageträger
unterstützen“, sagt Oberbürgermeister
Christian Ude. Ebenso wie die Münchner
Festwirte befürchtet Ude, dass eine Lockerung des Monopols großen Brauereien aus
dem In- und Ausland die Tür öffnen wür188
die Festwiese. Das brachte
de. „Dann gäbe es bald
ihm Strafanzeigen wegen
Warsteiner und Bitburger
Nötigung, Beleidigung und
auf der Wies’n“, propheWiderstands gegen die
zeit der Sprecher des
Staatsgewalt ein.
Bayerischen BrauerbunNun will der Wittelsbades, Lothar Ebbertz – eine
cher das herrschertreue
Horrorvision für Einheibayerische Fußvolk anrumische.
fen: Zusammen mit zehn
Prinz Luitpold pocht
anderen Brauereien aus
dagegen auf eine andere
dem Umland, die es ebenTradition: Der Spross der
falls auf das größte VolksWittelsbacher beruft sich
fest der Welt zieht, plant
darauf, dass die Welt den
Luitpold ein Bürgerbegehalljährlichen bayerischen
ren „WWW – Wider den
Nationalrausch seinen AhWucher auf der Wies’n“.
nen zu verdanken hat. Die
Nach einer im Auftrag des
haben das Oktoberfest im
Prinzen erhobenen UmJahre 1810 anlässlich der Luitpold von Bayern
frage des Münchner PeiVermählung seines Urururgroßvaters, des späteren Königs Ludwig nelt-Instituts wünschen sich 61 Prozent der
I., mit Therese von Sachsen-Hildburghau- befragten Münchner, dass Bier aus den
sen gegründet. Außerdem hat Luitpolds Umland-Brauereien auf der Wies’n ausgeVorfahr Herzog Wilhelm IV. anno 1516 das schenkt werden soll.
Die Rebellen wollen mit dem VerspreReinheitsgebot für Bier erlassen.
Die Verdienste der Familie seien unbe- chen auf Stimmenfang gehen, die Maß
stritten, kontert Gerhard Omeis, Ge- Bier für rund zehn Mark anzubieten – bis
schäftsführer der Münchner Augustiner- zu zwei Mark billiger als heuer die
Brauerei, aber: „Kaltenberg war ur- Wies’n-Wirte. Die sehen der Attacke gesprünglich eine rein bürgerliche Brauerei lassen entgegen. „Das ist ein Kampfpreis,
und wurde erst 1954 von der Wittelsbacher den niemand halten kann“, rechtfertigt
Wirte-Sprecher Willy Heide das OktoberFamilie aufgekauft.“
In Wahrheit geht es weniger um Brauch- fest-Niveau.
Die Erfolgschancen des Begehrens stetum und Tradition als ums Geschäft.
Während der zweieinhalb Wochen hen ohnehin schlecht: Zwar zweifelt kaum
Oktoberfest flossen im vergangenen Jahr jemand daran, dass der Prinz die 30 000
knapp 5,5 Millionen Liter Bier, für die benötigten Unterschriften zusammenbesechs auf der Wies’n vertretenen Brauhäu- kommt. „Ich kann mir aber nicht vorstelser macht das einen Umsatz von mehr als len, dass das Bürgerbegehren durch den
60 Millionen Mark. Um sich daran einen Stadtrat geht“, sagt OB Ude. Er hält LuitAnteil zu sichern, schreckt Prinz Luitpold polds Aktion ohnehin lediglich für eine
auch vor Krawall und Finessen nicht „geniale Marketing-Idee“, um den eigenen
Umsatz zu fördern, wo auch immer.
zurück.
Der Hochadlige exportiert schon jetzt
1983 gründete er eigens eine Filiale in
München, um als Ortsansässiger zu gelten. große Mengen seines Gebräus ins Ausland,
Die Stadt stellte sich jedoch stur. Auch den derzeit etwa 500 000 Hektoliter jährlich.
Antrag auf eine mobile Brauerei, mittels Etwa dieselbe Menge Kaltenbergischen
welcher der Prinz seinen Gerstensaft direkt Biers wird in auswärtigen Lizenzbetrieben
vor Ort brauen wollte, beschied sie ab- hergestellt.
Fernab der Heimat fühlt sich der
schlägig.
1987 stürmte er mit geschwenktem Maß- Bayern-Prinz deshalb auch als König der
krug und einem Tross von Getreuen nebst Biere: „Die meisten wissen eben doch,
Pferdewagen mit Kaltenberger Bierfässern was gut ist.“
Nicole Adolph
W. M. WEBER
UNTERNEHMER
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Panorama
VIETNAM
Aufschwung mit
Schattenseiten
D
er viel versprechende Liberalisierungskurs („Doi Moi“) des einst strikt kommunistischen Landes stößt erstmals an Grenzen, die vietnamesische Erfolgsstory stockt.
Von 1990 bis 1997 lag die jährliche Wachstumsrate bei fast neun Prozent. Vietnam, zuvor auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln angewiesen, entwickelte sich zum zweitgrößten
Reisexporteur der Welt. Außerdem stieg das
Pro-Kopf-Einkommen um 250 Prozent auf
247 Dollar. Städter konnten ihre durchschnittlichen Jahreseinkünfte in den letzten Ho-Tschi-minh-Stadt
fünf Jahren sogar um 370
Prozent auf 650 Dollar steigern. Galten bis 1986 zwei
Drittel der Vietnamesen als
arm, so sind es heute nach
Schätzungen der Weltbank
noch 37 Prozent. Allerdings
flacht die Erfolgskurve inzwischen merklich ab, es
zeigen sich erste Schattenseiten. Die Arbeitslosigkeit
liegt jetzt bei 8, die Inflationsrate bei 9,2 Prozent.
AFP / DPA
v. d. HILST / GAMMA / STUDIO X
Reisbäuerinnen
KENIA
POLEN
Verkommene Gestalten
Prost oder Prellung?
charfe Maßnahmen gegen die zunehmende Zahl von Vergewaltigungen
fordert der Juristinnenverband. Immer
häufiger missbrauchen Männer, oft in
verantwortlicher Position als Lehrer
oder Politiker, junge Mädchen. Jüngster
Fall: Julius ole Sunkuli, Minister im Amt
des Präsidenten, wird beschuldigt, zwei
Mädchen zum Sex genötigt zu haben.
Ein Verfahren aber wird es voraussichtlich nicht geben. Nach üblichem Muster
hat sich der reiche Politiker mit den armen Familien außergerichtlich geeinigt.
Sunkuli profitiert auch von der Rechtslage, nach der sexuelle Mündigkeit bei
Mädchen schon mit 14 Jahren einsetzt.
Außerdem gilt der erzwungene Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen nicht als Vergewaltigung, sondern
als Entjungferung wider Willen. Unterstützt werden die Juristinnen von
Kenias Menschenrechtskommission: Es
gebe noch „viele verkommene Gestalten auf Regierungsebene, die ihre Stellung missbrauchen“.
P
der den Genüssen des Lebens zugeneigt
ist. Schon bei seinem Uno-Auftritt 1996
soll er betrunken gewesen sein, schrieb
damals die amerikanische Presse. Beim
Besuch in Belorussland im gleichen Jahr
habe er den Kofferraum mit der Tür seines Autos verwechselt, berichteten
räsident Aleksander Kwaśniewski
steht unter Beschuss der rechtsnationalen Medien des Landes. Der
Staatschef soll bei einer Zeremonie zu Ehren der 1940 vom
sowjetischen Geheimdienst ermordeten polnischen Offiziere
in Charkow „unter Alkoholeinfluss“ gestanden haben. Fest
steht: Er taumelte, stützte sich
immer wieder bei den Nachbarn ab, sein Schritt war
schwankend. „Er hatte zu viel
getrunken“, sagt Katarzyna
Piskorska von der Vereinigung
der Katyn-Familien, die an dem
Festakt teilgenommen hat.
„Unsinn“, widerspricht das
Präsident Kwaśniewski
Präsidialamt, der Präsident sei
Augenzeugen. Die Nationalkonservatiunpässlich gewesen, weil er an einer
ven versuchen nun, aus der Affäre poliPrellung des rechten Beins laborierte.
tisches Kapital zu schlagen. Denn
Während die privaten TV-Stationen die
Kwaśniewski ist der beliebteste PolitiAufnahmen vom wankenden Präsidenker – rund 60 Prozent der Polen würden
ten ausstrahlten, schwieg das staatliche
ihn heute wieder wählen.
Fernsehen. Kwaśniewski gilt als einer,
W. SKOTNICKI / FORUM
S
Experten glauben, dass sich das Wachstum
künftig auf 3 Prozent im Jahr einpendeln
wird, und nennen dafür drei Gründe: Die
asiatischen Nachbarstaaten als wichtigste
Handelspartner stecken noch in der
Krise, Korruption und eine schwerfällige
Bürokratie verschrecken ausländische Investoren, Machtkämpfe innerhalb der
vietnamesischen KP behindern den weiteren Siegeszug der Marktwirtschaft.
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Panorama
IRAK
Disney in der
Wüste
Attentatsopfer in Jerusalem
J O R DA N I E N
Kampf der Schlange
D
er junge König Abdullah geht hart
gegen die extremistische HamasBewegung vor. Nach ihrer Ankunft auf
dem Flughafen von Amman wurden vorigen Mittwoch sechs einflussreiche
Führer der Bewegung, darunter der
Chef des Politbüros, Chalid Mischal, sowie Hamas-Sprecher Ibrahim Ghausche, vorübergehend verhaftet. Ein weiterer Funktionär wurde nach Dubai
ausgewiesen. Die Festnahmen demonstrieren die Entschlossenheit der jordanischen Behörden, gegen die Islamisten
vorzugehen. Bereits in den letzten Wochen waren 15 Aktivisten festgesetzt
und 5 Hamas-Büros in Amman geschlossen und versiegelt worden. Begründung: „Gefahr für die öffentliche
Ordnung des Landes.“ Die Regierung
beruft sich darauf, dass die Hamas-Führer ausdrücklich vor der Einreise gewarnt worden seien und nun die „Autorität des Landes und seiner Gesetze
verletzt“ hätten. Zugleich wurde
„rassistische Hetze“ gegen Juden und
der Aufruf zur Liquidierung von „Gottesfeinden“ unter Strafe gestellt. Hamas
dagegen vermutet Israel und die USA
als Drahtzieher hinter der Aktion und
fordert die „unverzügliche Freilassung“
ihrer Führer. Auch der Generalsekretär
des jordanischen Anwältevereins, Salih
al-Armuti, sieht in der Festnahme „eine
rein politische Entscheidung“. Tatsächlich steht die extremistische Organisation den Friedensbemühungen von Israel, Jordanien und den Palästinensern
sowie neuerdings auch Syrien im Weg.
„Ich habe die Hamas in meinem Gebiet
fast vernichtet“, hatte PalästinenserPräsident Jassir Arafat den jungen König Abdullah immer wieder beschworen: „Aber wenn der Kopf der Schlange
in Jordanien nicht getötet wird, bleibt
sie gefährlich.“
192
addam Hussein hat sich und seine Günstlinge zu seinem 62. Geburtstag reich beschenkt. Für mehrere hundert Millionen Dollar setzte
der Despot an einem künstlichen See
eine luxuriöse Ferienanlage in die
Wüste, deren 625 Häuser ihm und
seinen Gefolgsleuten vorbehalten
sind. Das Luxusareal („Saddamijat
al-Tharthar“) rund 137 Kilometer
westlich von Bagdad ist nach Erkenntnissen des US-Außenministeriums eine Art privates Disneyland –
mit Sportstadien, Freizeitpark, Krankenhäusern und Grünanlagen. „Es
US-Luftbild der Erholungsanlage für die irakische
gibt keinen besseren Beweis für SadElite, Diktator Saddam Hussein
dams mangelndes Interesse an der
Not seines Volkes“, heißt es im State Department. Seit dem Golfkrieg habe Saddam
mehr als zwei Milliarden Dollar ausgegeben, um seine Paläste mit vergoldeten Badezimmerarmaturen oder künstlichen Seen und Wasserfällen zu verschönern. Die benötigten
Pumpen wären für die zivile und medizinische Wasserversorgung der notleidenden Iraker bitter nötig gewesen.
TERRORISMUS
RUSSLAND
Schwarzer
Schwan
Narkotisierte Armee
I
n Sarajevo tobt eine
Debatte um die Frage, wie einer der
führenden arabischen
Extremisten die bosniAuduni
sche Staatsangehörigkeit erhalten konnte. Mihris Auduni,
Vertrauter des weltweit gesuchten islamistischen Terroristen Ussama Ibn Ladin, besitzt seit einem Jahr einen bosnischen Pass. Der Truppe um den religiösen Eiferer Ibn Ladin, auf dessen Kopf
die USA fünf Millionen Dollar ausgesetzt haben, werden unter anderem die
Anschläge auf die US-Botschaften in
Kenia und Tansania im August 1998 angelastet. Auduni kämpfte von 1993 bis
1995 in der bosnischen Eliteeinheit
„Schwarze Schwäne“. Drei Jahre später
beantragte der Tunesier den bosnischen
Pass. Bereits einen Monat nach Aushändigung standen sein Name und die neue
Ausweisnummer auf der Fahndungsliste
von Interpol. Mitte des Monats ging Auduni der Polizei ins Netz – bei der Einreise nach Istanbul, wo er nun einsitzt.
NEXUS / AKSAN
REUTERS
S
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achsende Probleme mit drogensüchtigen Soldaten bereiten der Armeeführung zunehmend Kopfzerbrechen. Nach
einer Untersuchung der russischen Militärstaatsanwaltschaft hat sich allein der aufgedeckte Drogenhandel in den Streitkräften
zwischen 1996 und 1998 mehr als verdoppelt: Die Zahl nachgewiesener Fälle stieg
Russische Soldaten
Ausland
IRAN
„Helmut Hofer
ist ein Opfer“
Rechtsanwalt Malek Huschang Ghahari
über den Prozess gegen seinen Hamburger Mandanten Helmut Hofer, 58, der
am Mittwoch in Teheran vor Gericht
steht, weil er eine sexuelle Beziehung zu
einer Muslimin gehabt haben soll
V. VELENGURIN / RPG
von 256 auf 605. Eine vergleichbare Entwicklung registrierten die Militärs auch bei
drogenbedingten Delikten innerhalb der
Truppe; darunter sind immer mehr Gewalttaten. Im Tscheljabinsker Gebiet am Ural
stellten die Militärärzte im vergangenen
Jahr bei Rekruten viermal häufiger als noch
1996 Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit fest. Besonders beunruhigend: Auch bei
den Raketentruppen, welche die Atomwaffen unter Verschluss haben, nahmen die
Drogenstraftaten um das Zweieinhalbfache
zu, zudem mit steigender Beteiligung
auch höherer Dienstgrade. Ursachen der
zunehmenden „Narkotisierung der Armee“, so ein Staatsanwalt, seien ausbleibende Soldzahlungen
sowie eine verschlechterte Ausbildung. Das Rauschgift,
insbesondere Heroin,
wird meist aus Mittelasien eingeschleust, nicht selten
von Soldaten, die in
Tadschikistan an der
afghanischen Grenze
Dienst tun.
gen Kaution abgesehen, sitzt Ihr Mandant
seit gut zwei Jahren im berüchtigten EvinGefängnis. Wie geht es Helmut Hofer?
Ghahari: Ich war erst vor vier Tagen bei
ihm. Ich kann nicht sagen, dass es ihm
körperlich oder seelisch wirklich
schlecht geht. Aber wie jeder andere,
der sich unter diesen Umständen so lange im Gefängnis befindet, ist er natürlich gezeichnet und sehr nervös.
SPIEGEL: Beklagt sich Hofer über seine
Haftbedingungen?
Ghahari: Beim letzten Mal hatte er einige Wünsche: Er wollte Hofgang haben
und Tischtennis spielen. Das ist ihm
auch erlaubt worden. Er bekommt alle
nur möglichen Vergünstigungen, weil
AFP / DPA
FOTOS: U.S. STATE DEPARTMENT (gr.); AP ( kl.)
SPIEGEL: Von einer kurzen Freilassung ge-
gebung des Evin-Gefängnisses fotografiert, obwohl das verboten ist. Und er
hat darauf bestanden, einen früheren
Mithäftling zu treffen.Aber mein Mandant ist vor allem ein Opfer.
SPIEGEL: Meinen Sie ein Opfer des
Machtkampfes in Iran, der zwischen
Konservativen und Reformern um die
Zukunft des Gottesstaates ausgetragen
wird, oder kritisieren Sie die Behandlung des Falls auf deutscher Seite?
Ghahari: Wir Anwälte, mein Kollege
Nasser Taheri und ich, hatten vereinbart, dass Hofer gegen Kaution freikommt, ohne Bedingungen. Er sollte
nur zum nächsten Gerichtstermin erscheinen und hätte theoretisch sogar bis
dahin nach Deutschland fliegen können.
Aber dann kam Herr Hombach, und die
Deutschen wollten wohl zeigen, dass sie
politisch Gewichtiges unternehmen.
Hofer durfte dann das Land nicht verlassen, erhielt Bewachung; die Kaution belief sich auf etwa 300 000 Mark.
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass
der Auftritt des damaligen Kanzleramtsministers Bodo Hombach in Teheran
Ihrem Mandanten geschadet hat?
Ghahari: Ich sage lediglich, dass am Tag,
an dem Hombach kam, Hofer nur zu
Bedingungen freigelassen wurde, von
Verteidiger Ghahari, Angeklagter Hofer
die Verantwortlichen davon ausgehen,
dass er ein Muslim ist. Sie sprechen ihn
als „Hadschi“ an, der Ehrenbezeichnung für Mekka-Pilger, und nennen ihn
„Bruder“. Aber das Evin-Gefängnis ist
nun mal kein Fünf-Sterne-Hotel.
SPIEGEL: Was hat zu Hofers erneuter
Verhaftung geführt?
Ghahari: Die Akte enthält keine neuen
Beschuldigungen. Aber es hatte sich einiges angesammelt: Hofer war wütend
darüber, dass er unter iranischer Bewachung stand. Er sollte gegen mögliche
Angriffe geschützt werden. Hofer aber
wollte allein auf die Straße gehen, deshalb hat er sich mit seinen Leibwächtern angelegt. Außerdem hat er die Umd e r
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denen nichts in unseren Vereinbarungen
stand. Ich glaube nicht, dass die Aktion
von Herrn Hombach hilfreich war.
SPIEGEL: Was erwarten Sie von der Verhandlung am Mittwoch?
Ghahari: Hofer ist unschuldig, und das
werden wir erneut vortragen. Wir erwarten einen Freispruch. Ob der schon
am Mittwoch ergeht, ist schwer zu sagen. Ich habe Hofer erklärt, dass er
nicht damit rechnen solle. So wie die
Fragen jetzt gestellt werden, glaube ich
eher, dass es noch einige Sitzungen dauern wird. Andererseits ist der neue Chef
der Justiz, Mahmud Haschemi Schahrudi, ein sehr mächtiger Mann, der vielleicht einfach sagt: Lasst ihn gehen.
193
Ausland
CHINA
Traum von der
Supermacht
Die Kommunisten feiern: 50 Jahre lang haben sie China regiert
und in die Moderne gestoßen – zum Preis von Millionen
Menschenopfern. Jetzt greifen sie nach der Weltmacht. Passt dafür
noch die Diktatur einer Partei mit veralteter Ideologie?
A
50 Jahre Volksrepublik China
194
Präsident Jiang (mit Generälen), Modenschau in
munisten kämpfen mit enormen Widrigkeiten – die sogar das Überleben der Partei gefährden könnten. Die Wirtschaftsreformen der letzten 20 Jahre, so der chinesischstämmige Wissenschaftler Minxin Pei
in den USA, haben die „breite soziale Basis der Partei zerfressen“. Die Zahl der Arbeitslosen wächst derzeit jeden Monat um
rund eine Million – und damit auch die
Möglichkeit eines Aufruhrs.
Wie ein riesiger Lindwurm windet sich
ein Heer von 200 Millionen Bauern als
Wanderarbeiter durch das Land. Sie schuften für Hungerlöhne, von den Behörden
gegängelt, von den etablierten Arbeitern
als Lumpenproletariat verachtet. In den
Städten wächst derweil eine neue Mittelklasse, die dank Auslandsstudium und Internet über das Weltgeschehen informiert
ist und westliche Freiheiten und politische
Mitsprache fordern wird.
Die Bauern werden 1958 in Volkskommunen zusammengefasst.
Zur schnellen Industrialisierung
werden Millionen Chinesen von
den Feldern zur Arbeit an primitiven Schmelzöfen abkommandiert
– das Korn verrottet auf den Feldern. Mindestens 30 Millionen
Chinesen verhungern.
Von Mao zum Markt
Die Kommunisten entscheiden 1949 den Bürgerkrieg für sich. Nationalistenführer Tschiang Kaischek flieht nach Taiwan.
Auf dem Tiananmen in
Peking ruft Mao Tse-tung
am 1. Oktober die Volksrepublik China aus.
Deng Xiaoping, besuchte den verwundeten Zhong und stellte ihm sogar seine
Frau vor.
Als Mao auf dem Tiananmen am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik proklamierte,
der Ruf „China hat sich erhoben“ über die
Menge hallte und ein Feuerwerk die kühle Herbstnacht durchzuckte, war Zhong
glücklich: „Endlich hatten wir das Ziel erreicht – ein neues China.“
Nun, da sich der historische Tag zum 50.
Mal jährt und mit großem Pomp in Peking
bejubelt wird, ist Zhong 80 Jahre alt, und
die Skepsis nagt an ihm. Zu weit haben
sich manche Machthaber, wie er sagt, vom
Volk entfernt. Geldgierige Funktionäre setzen jene hehren Ziele aufs Spiel, denen er
sein ganzes Leben gewidmet hat.
Zhong ist kein Dissident. So wie er denken und fühlen in diesen Tagen viele alte
Kader, hin- und hergerissen zwischen der
Genugtuung darüber, dass ihre Partei das
chinesische Volk von feudaler Ausbeutung
und japanischer Besatzungsmacht befreite, und dem Schmerz über das, was aus ihrer Revolution geworden ist.
Genossen wie Zhong wissen: Es gibt weniger Grund zum Feiern, als die Führung
den Chinesen während des Jubiläums weismachen will. Denn die regierenden Kom-
Staatswappen
der VR China
Nach der Okkupation 1950/51
durch China kommt es 1959 zum
Aufstand gegen die Besatzungsmacht. Die Revolte scheitert, der
Dalai Lama flieht nach Indien.
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China zündet am 16. Oktober 1964, zwei Tage nach
dem Sturz Chruschtschows
in Moskau, seine erste
Atombombe.
S OV F OTO
Mao
Mao Tse-tung
Tse-tung 1947
1947
im
im Bürgerkrieg
Bürgerkrieg
G A M M A /S T U D I O X
uf seinem Unterarm trägt er als
Erkennungsmarke die tätowierten
Schriftzeichen seines Namens.
„Wenn ich gefallen wäre, hätten sie mich
gleich identifizieren können“, erklärt er.
Aber er hatte Glück. Eine feindliche Kugel
durchschlug seinen Hals: „Nur ein paar
Millimeter weiter vorn, und ich wäre verblutet.“ Das war 1935, auf Maos legendärem „Langen Marsch“. Zhong Renhui
war als Soldat dabei, gerade 16 Jahre alt.
In seiner geräumigen Wohnung im Südwesten Pekings ist die Vergangenheit lebendig. Im Flur hängt ein Kalender mit
dem Abbild Mao Tse-tungs, im Wohnzimmer ein Schwarzweißfoto von Funktionären in Mao-Kluft von 1964: In der
Mitte steht Ministerpräsident Tschou Enlai, neben ihm, mit Ballonmütze, Zhong
Renhui, damals 45.
Er kannte sie alle, und alle kannten ihn:
Mao und Tschou, die Marschälle und
Heerführer. Der Leiter des ZK-Sekretariats und später mächtigste Mann Chinas,
Rotgardistinnen mit Mao-Bibel
Jugendliche Kulturrevolutionäre terrorisieren 1966 ihre
Lehrer. Mao unterstützt den
Kampf gegen die „alten
Autoritäten“ und entledigt
sich so der innerparteilichen
Opposition. Millionen Funktionäre müssen zur Zwangsarbeit in „Kaderschulen“.
FOTOS: AP
einem Pekinger Einkaufszentrum: „Immer mehr Mut, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“
nen städtische Arbeiter ihren Job, nur zwei
Millionen fanden eine neue Stelle.
Wenn die Partei das Land weiter in Richtung Kapitalismus schiebt, entgleitet ihr
bald ihre Daseinsberechtigung als marxistisch-leninistische Organisation. „Die volle
Privatisierung würde uns das Genick brechen“, bangt ein Pekinger Funktionär.
Chinas KP steht am Scheideweg: Erweist
sie sich, nachdem sie ein halbes Jahrhundert
lang über das größte Volk der Erde verfügt
hat, als ein Auslaufmodell, das auf den
Müllhaufen der Geschichte kommt? Oder
findet sie doch noch die Kraft, das Reich der
Mitte vom Entwicklungsland zur wirtschaftlichen Supermacht voranzutreiben?
Taugen die 61 Millionen Parteimitglieder
überhaupt noch dazu, den gut 1,2 Milliarden Bürgern als Vormund zu dienen? Ihr
Chef Jiang Zemin, 73, stellte jüngst seinen
Genossen ein miserables Zeugnis aus: „Ei-
Studenten in Peking fordern
1989 mehr Demokratie. Über eine Million Einwohner schließen
sich an. Die Armee geht mit Waffengewalt gegen die Protestbewegung vor, 2600 Demonstranten werden getötet.
K E YS TO N E
Am 9. September 1976 stirbt der
„Große Steuermann“. Der Kampf um
seine Nachfolge setzt ein, die linksradikale „Viererbande“ um die MaoWitwe Jiang Qing wird verhaftet.
Mao-Witwe Jiang Qing
vor Gericht
Vizepremier Deng Xiaoping setzt
sich 1978 mit seinem gemäßigten
Wirtschaftskurs durch. Beginn des
Reformzeitalters und Öffnung Chinas: Mehr Selbständigkeit der Industrie und Betonung des Leistungsprinzips sollen zu einer
marktorientierten sozialistischen
Wirtschaftsform führen.
nige Mitglieder haben den Glauben an den
Sozialismus verloren, sie haben keinen revolutionären Geist mehr, sie verbringen
ihre Tage mit Trinken und Essen, sie hängen dem Aberglauben an. Sie jagen dem
Geld mit Hilfe der Korruption nach.“
KP-Konservative urteilen noch schärfer:
Die Partei sei „auf dem Wege der Zerstörung“, warnt der Propagandaveteran
Deng Liqun, sie degeneriere und stehe
schon „am Rande des Zusammenbruchs“.
Verbote, Umerziehung, Kampagnen, die
gewohnten Methoden der KP, versagen gegen die Verlockungen der Gewinnsucht. In
den letzten zwölf Monaten lenkten Funktionäre 117,4 Milliarden Yuan (rund 27 Milliarden Mark) in die eigenen Taschen oder
zweigten sie für fremde Zwecke ab. Anstatt nach der verheerenden Flutkatastro-
A F P/ D PA
Die Volkswirtschaft wird von rund
300 000 Staatsbetrieben erdrückt, Kolossen
mit teilweise 50 Jahre alten Maschinen. Sie
liefern 30 Prozent aller Waren, beschäftigen aber über zwei Drittel der städtischen
Arbeiter und verschlingen auch zwei Drittel aller Investitionen. Viele wären ohne
Subventionen bankrott.
Die Partei müsste die Monster radikal
zerschlagen und privatisieren, um sie rentabler zu machen. Ein höchst riskantes Unterfangen: Damit würde die Arbeitsplatzgarantie samt Rundumversorgung, die „Eiserne Reisschüssel“, die ohnehin schon
breite Sprünge hat, endgültig zerbrechen –
und jeder dritte dieser Arbeiter auf der
Straße landen. Schon jetzt sind über 20 Millionen Menschen „xiagang“ – freigesetzt
mit 170 Yuan (knapp 40 Mark) Unterstützung im Monat. Allein in der ersten Hälfte
dieses Jahres verloren über sieben Millio-
Studentenprotest auf dem Tiananmen-Platz 1989
Am 1. Juli 1997 übernimmt die
Volksrepublik die Souveränität
über die britische Kronkolonie
Hongkong und macht sie zu einer
weitgehend autonomen Sonderverwaltungsregion.
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Im März 1999 werden Privatgewerbe als
„wichtige Bestandteile der sozialistischen Marktwirtschaft“ verfassungsrechtlich anerkannt.
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Werbeseite
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Ausland
Reihe von Desastern die ersten 30 Jahre
der Volksrepublik. Sie warfen nicht nur
die Wirtschaft des Reiches zurück, sondern
kosteten auch Abermillionen das Leben.
Gleich nach der Revolution wurden laut
Mao 800 000 „konterrevolutionäre Elemente“ liquidiert. Später kamen die Intellektuellen an die Reihe, dann die so genannten Rechtsabweichler – eine Aktion,
die Deng Xiaoping ab 1957 organisierte.
Maos radikale Bodenreform teilte im
Süden des Landes den Bauern zu wenig
Ackerfläche zu, um überleben zu können.
Arbeitsgruppen in blauer Baumwollkluft
zogen in die Dörfer ein. Sie zitierten
Sprüche des Großen Vorsitzenden und
verurteilten reiche Bauern, kleine, mittlere und große Grundbesitzer in so genannten Bitterkeitsversammlungen als „Verräter“. Mao befahl: „Tötet nicht einen oder
zwei, tötet viele.“ Bis 1953 kamen zwischen zwei und fünf Millionen Menschen
ums Leben.
Im „Großen Sprung nach
vorn“ mussten die Bauern
1958 Privatbesitz aufgeben,
lebten fortan in Baracken,
aßen in Kantinen, die etwa
„Glücklicher Garten“ hießen,
und arbeiteten in militärischen Formationen. „Ihr gemeinsamer Besitz war die Armut“, urteilt der Autor Harrison E. Salisbury. Der Offizier Zhong, der für den Sieg
des Kommunismus „in 500
Gefechten“, wie er sagt, sein
Leben eingesetzt hatte, empfand damals schon Skrupel:
„Die Kollektivierung kam
zu früh. Die Bauern waren
nicht so weit. Der Ansporn
fehlte.“
Sie mussten auch noch in kleinen
Schmelzöfen Stahl produzieren. China
stürzte in eine Hungersnot, in der nach
jüngsten Schätzungen zwischen 30 und 43
Millionen starben. Erst 1983 erreichte die
Landwirtschaft wieder den Stand von 1952.
Während des Volkskommunen-Experiments erlitt die Karriere des Soldaten
Zhong einen heftigen Knick. Inzwischen
in der Süd-Provinz Yunnan Kommandeur
eines Militärbezirks, legte er sich mit dem
Parteisekretär an, der – wie viele seiner
Genossen – falsche Erntezahlen nach Peking meldete. „Ich wehrte mich“, erinnert
sich Zhong. „Die Leute hatten überhaupt
nichts mehr zu essen.“
Zhong, zum Oberst aufgestiegen und
kurz vor der Beförderung zum General,
musste die Uniform ausziehen und wurde
als Vizedirektor in eine Rüstungsfabrik abgeschoben. „Ich habe aber meine Integrität
bewahrt.“ Noch heute bricht der Trotz bei
dem Veteranen durch: „Wir hatten damals
Recht mit unserer Kritik.“
Bald darauf fiel er noch tiefer. Mao setzte 1966 seine Kulturrevolution in Gang, um
AP
phe von 1998 (über 4000 Tote) 100 Kontrollboote zu kaufen, bauten sich Kader
mit den bereitgestellten Mitteln luxuriöse
Büros und spekulierten an der Börse.
Hilfsmittel für Arme wurden in reichere Provinzen umgeleitet, Teile des Pensionsfonds für Postler und Eisenbahner lösten sich in Luft auf. Vizepremier Li Lanqing: „Die Menge des veruntreuten Geldes
schockiert.“
Der stellvertretende Bürgermeister von
Shenyang soll mehr als sieben Millionen
Mark in den Kasinos von Macau verspielt
haben, während er offiziell in der Zentralen Parteischule paukte. Der Chef der AntiSchmuggel-Sondereinheit, Li Jizhou, den
Freunde „Sherlock Holmes“ nennen, hat
angeblich Lizenzen für 70 000 geschmuggelte Autos ausgestellt. Die Konterbande
gelangte auch auf Schiffen der Volksmarine ins Land.
Mit Korruption und Vetternwirtschaft,
den traditionellen „guanxi“ (Beziehun-
Armut auf dem Dorf: Der Hunger ist besiegt
gen), untergraben die Kommunisten die
hohe Verantwortung, die sie 1949 übernommen hatten. Nie zuvor in der Weltgeschichte hat eine einzige Gruppe versucht,
so viele Bürger in einem Einheitsstaat zu
regieren – das größte Volk der Erde. Die
KP muss rund fünfmal so viele Menschen
ernähren wie die USA, auf nur sieben Prozent der Weltanbaufläche. Jedes Jahr kommen zehn Millionen Menschen dazu.
Die Erfolge sind unstrittig: Der Hunger
ist weithin besiegt, aus sandigen Böden
wurden Reisfelder, aus Reisfeldern Städte.
China ist Atommacht und schickt sich an,
einen Menschen ins All zu schießen. Binnen 20 Jahren sank die Zahl der Armen um
fast 200 Millionen, immer mehr Menschen
können lesen und schreiben, Epidemien
raffen nicht mehr hunderttausende dahin.
Der Preis aber war schrecklich. Selbst
der Georgier Stalin hat nicht so viele Untertanen für eine vermeintlich bessere Sache geopfert wie seine chinesischen Genossen. Weil Mao Tse-tung und seine
Freunde ungehindert ihren Sozialutopien
nachhängen konnten, prägte eine lange
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Y. ABRAMOCHKINE / FDB / STUDIO X
Modernes Schanghai: Vom alten Denken Lichtjahre entfernt
Widersacher in der Partei auszuschalten.
Rotgardisten wüteten im ganzen Land, sie
bekämpften vermeintliche Verräter und die
„Vier Alten“: altes Denken, alte Kultur,
alte Sitten und alte Gebräuche.
Das kollektive Toben richtete sich gegen Minister wie Pförtner, Generäle wie
Rekruten, Professoren wie Schüler, Direktoren und Arbeiter, Junge und Alte und
vor allem gegen Parteifunktionäre, die den
Träumereien Maos nicht mehr folgen
mochten. Sie wurden von Mao-Bibeln
schwingenden Kindern denunziert, gedemütigt, geprügelt, verhaftet, gefoltert
und oftmals erschlagen.
Das Riesenreich versank in Anarchie, bis
schließlich das Militär eingriff und Millionen Rotgardisten aufs Land verbannte.
Eine ganze Generation versäumte zwischen 1966 und 1976 eine vernünftige
Schulbildung und verlor das Gefühl dafür,
wie ein zivilisiertes Gemeinwesen funktionieren sollte.
Zhong, inzwischen wieder Parteisekretär einer Waffenschmiede, musste für
neun Monate als „Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht“, an die Drehbank,
aber immerhin: „Ich wurde nicht geschlagen, meine Wohnung nicht durchsucht, ich
musste den Schandhut nicht aufsetzen.“
Zweifel an der irrwitzigen Aktion kamen ihm nicht, und auch heute sucht er wie
viele seiner Landsleute die Fehler nicht
beim Großen Steuermann: „Mao hatte
gute Absichten, die anderen, seine Frau
Jiang Qing zum Beispiel, haben die Lage
für ihre Machtgelüste ausgenutzt.“
Trotz der blutigen Bilanz gilt Mao vielen
Chinesen als Symbol besserer Zeiten. Sein
Bild baumelt am Rückspiegel von Taxis.
Die Betreiber eines Restaurants am Pekinger Westbahnhof, das Maos Lieblingsspeisen serviert, haben im Eingang einen Altar
mit einer goldfarbenen Büste des Vorsitzenden errichtet – der Staatsgründer als
Gott, dem Fisch und Fleisch geopfert werden, von Weihrauch umwabert.
Noch hängt Maos Bild am TiananmenTor im politischen Herzen Chinas, laut
Deng Xiaoping wird es dort „ewig“ bleiben. „Wenn man seine Fehler mit seinen
Verdiensten abwägt“, so Deng 1980, „dann
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denken wir, dass seine Fehler zweitrangig
sind. Was Mao für das chinesische Volk getan hat, kann niemals ausgelöscht werden.“
Deng aber war es, der ab 1978 mit seiner
Parole „Reich werden ist ruhmvoll“ China
in einen modernen Staat verwandelte. Er
befreite die Bauern von den Fesseln der
Kollektivwirtschaft, erlaubte Handel und
Gewerbe durch Privatleute und ließ westliches Kapital ins Land. Sonderwirtschaftszonen locken seither mit Steuernachlässen ausländische Firmen an.
Eine neue Klassengesellschaft – Todsünde wider den Sozialismus – ist die Folge.
Neureiche geben an einem Abend für Essen, Trinken und Frauen mehr Geld aus als
ein Tagelöhner, der in den Vorstädten Pekings den Müll nach Verwertbarem durchklaubt, in zehn Jahren zum Leben findet.
10 Prozent der Bevölkerung besitzen 66
Prozent der Spareinlagen.
Der Aufschwung hat ein bröckeliges Fundament. Chinas Banken, von der Regierung abhängig, haben mehr Außenstände
als die maroden Geldhäuser Thailands und
Südkoreas zusammen. „Eine beträchtliche
Zahl von Krediten verschwindet wie Steine, die ins Meer geworfen werden“, sorgt
sich die Finanzzeitung der Zentralbank
„Jinrong Shibao“. Die Auslandsschulden
sind etwa so hoch wie die Devisenreserven:
rund 150 Milliarden Dollar. Über ein Drittel des Haushalts geht für Zinszahlungen
drauf. China, glaubt gar der US-Ökonom
Nicholas Lardy, „ist faktisch pleite“.
Weil sie wissen, dass sie bei ihrer Gratwanderung mit Marxismus-Leninismus keinen mehr überzeugen können, arbeiten die
Funktionäre an einer anderen Vision: dem
Traum von nationaler Größe.
Das Beschwören der Stärke Chinas soll
von den sozialen Verwerfungen ablenken,
die Liebe zum Vaterland als neues Bindemittel zwischen Partei und Volk wirken.
Nur die KP, beteuern die Kader, könne
China wieder einen angemessenen Platz
in der Welt verschaffen – den Status einer
Großmacht. Die Zeiten seien vorbei, als
„westliche Mächte in die Verbotene Stadt
einzogen, den alten Sommerpalast zerstörten und Hongkong und Macau übernahmen“, empörte sich die Pekinger
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DPA
Private Unternehmer fahren VW Jetta
„Volkszeitung“ nach dem Nato-Bombardement der chinesischen Botschaft in oder Cherokee-Jeep – 1985 gab es in der
Hauptstadt nur 60 Privatautos. Neureiche
Belgrad.
Über eine Million Menschen kauften das kreuzen auf Harley-Davidson-MotorräBuch „China kann nein sagen“, in dem dern durch Peking, einen Wehrmachtsfünf junge Autoren einen radikalen Pa- Stahlhelm aufgestülpt. Sie bauen sich vor
triotismus verkünden: „Es vergeht keine den Toren Pekings schicke Villen, feiern
Minute, keine Sekunde, in der sich der Grill-Partys und kaufen ihren Frauen Gucci-Taschen und Schoßhündchen, vorzugsWesten nicht gegen uns verschwört.“
Zuweilen klingen die Nationalparolen weise natürlich Pekinesen.
All das, was Mao als dekadent ausrotder Partei indes wie ein verzweifelter Bittruf an das Volk – so wie die Transparente ten wollte, ist wieder aufgetaucht. Längst
in Schanghais Finanzzentrum Pudong: „An blüht wieder die Prostitution, in verden Grundlinien der Partei festhalten und schwiegenen Clubs wiegen sich Nackttänzerinnen, in Karaokebars lassen sich so ge100 Jahre lang nicht daran rütteln.“
Die KP präsentiert sich am Geburtstag nannte Begleiterinnen befummeln. Jugendder Volksrepublik im gewohnten Stil: mit liche tauchen in eine Welt von Drogen und
Militärparade und Massenaufmärschen, Rock’n’Roll ein. Und sie tun es nicht mehr
Propaganda und Parolen. Weil
die bunten Reklametafeln an der
Straße des Ewigen Friedens das
Bild eines feiernden sozialistischen Staates stören, mussten
Arbeiter sie für das Ereignis abmontieren.
Neben diesem China der 50
Jahre alten Riten und Floskeln
ist in den letzten Jahren allerdings ein ganz anderes Land entstanden, Lichtjahre vom alten
Denken entfernt. Aus den MaoAnzügen sind die jungen Leute
in modernes Outfit geschlüpft,
die Frauen tragen freche Mi- Vorbereitungen zum 50. Jahrestag: Im alten Stil
niröcke, im letzten Sommer waren Hotpants und klobige Plateausohlen heimlich: Stellvertretend für eine neue Generation hat die Schanghaier Schriftstelleder letzte Schrei.
In der „Banana“-Disco zuckt die Jugend rin Mian Mian, 29, ihre Erfahrungen nozu lauter Techno-Musik, die Kellnerinnen tiert. Auch sie verkörpert das neue China:
tragen elegante weiße Kleider und blonde chaotisch, klug und weit weg von Partei
Perücken. Sie servieren mexikanisches und Prüderie der vergangenen Jahre.
Mian Mian sitzt im eleganten SchangCorona-Bier, die Flasche zu fünf Mark. In
Nischen kann sich die Jeunesse dorée Pe- haier Art-déco-Restaurant Park 97. Die
kings ungestört intimeren Dingen zuwen- Frau mit dem Pony-Schnitt trägt eine tief
den. Der letzte Trend in der dunklen Dis- ausgeschnittene rote Bluse und einen kurco: Ältere Frauen suchen sich jüngere zen Spitzenrock. Sie berichtet mit rauer
Stimme, dass gerade Teile ihrer Villa ausLiebhaber, „Entchen“ genannt.
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Landungsmanöver chinesischer Truppen: „Es vergeht keine Sekunde, in der sich der Westen nicht gegen uns verschwört“
gebrannt seien. „Sie sieht aus wie eine Disco“, kichert sie, „alles ist schwarz.“
Das Haus hat sie vom Papa bekommen,
ihr Geld verdient sie mit Kurzgeschichten
und Romanen wie „Acid Lover“ oder
„Neun Objekte der Begierde“, die sie
nachts in den Computer hackt. Die Erzählungen handeln von Liebe, Drogen, Nutten
und Disco-Girls, von der Suche der Frauen nach dem kleinen Glück – vor allem
aber von ihr selbst. „In der Liebe verliere
ich immer, Männer behandeln mich wie
ein Stück Dreck“, klagt sie.
Stolz präsentiert sie das Büchlein „La,
La, La“, das nicht größer als eine Handfläche ist und neben Kurzgeschichten viele Fotos der Autorin enthält. Eines zeigt
sie vor einem Sexshop, an dessen Schaufensterscheibe die Zeichen „Willkommen“
prangen. Wegen dieses vermeintlich anrüchigen Fotos, vermutet Mian Mian, haben die Behörden „La, La, La“ vorzeitig
aus dem Verkehr gezogen.
Dass Zensoren ihre Gedanken umformulieren, kann sie rasend machen. In einem Manuskript beschrieb sie, wie sie mit
einem Schlagzeuger „Liebe machen“ wollte. Der Lektor redigierte: „Ich hatte traurige Gedanken.“
Vor wenigen Jahren indes wären die
Behörden ganz anders mit ihr verfahren.
Inzwischen genießen die Chinesen so viele Freiheiten wie in den letzten 50 Jahren
nicht. Mehr Zeitungen konnten sie nie lesen, mehr TV-Programme ohnehin nicht
einschalten, längst vergessen sind die trüben Zeiten, als die Theater nur acht Musteropern spielten. Die Bürger dürfen ohne
Erlaubnis ihrer Arbeitseinheit im Lande
umherreisen, und wer ausreichend Geld
hat, bekommt einen Pass und kann in die
Welt hinaus: Thailand ist derzeit beliebtes
Urlaubsziel.
Das Studium im Ausland ist nicht mehr
nur politisch Privilegierten vorbehalten.Wer
finanziell dazu in der Lage ist, dem steht das
Tor zu einer Uni in den USA oder Kanada
Werbeseite
Werbeseite
offen. Daheim bekommen Studenten ihren Arbeitsplatz nicht
mehr zugeteilt, sondern dürfen
ihn selbst aussuchen. „Die Chinesen haben immer mehr den Mut,
das eigene Schicksal in die Hand
zu nehmen. Man ist nicht mehr
von der Regierung oder der Arbeitseinheit abhängig. Man erwartet keine Eiserne Reisschüssel
mehr“, schreibt die Pekinger „Jugendzeitung“.
Die Partei hat ihren Griff
gelockert, jeder kann seinen privaten Interessen nachgehen, ohne
dass ein Blockwart mit roter
Armbinde zu „mehr gesellschaftlichen Aktivitäten“ mahnt
oder, schlimmer, der Bannfluch
des Rechtsabweichlers droht. Sogar der Zwang zur Ein-Kind-Ehe
für Städter gilt nicht mehr.
Doch die Öffnung vollzieht
sich unter einer Bedingung: Niemand darf das Machtmonopol
der Staatspartei in Frage stellen.
Mit bewährter Härte zerschlagen
Polizei und Staatssicherheit alles,
was nach ihrer Ansicht die „Stabilität des Landes“ bedrohen
könnte, und dazu zählen sie vor
allem jene, die es wagen, Widerworte zu geben, Parteien oder
Gewerkschaften zu gründen.
Die Führer der „Demokrati- Mao-Kult am Tiananmen-Tor: „Gute Absichten“
schen Partei Chinas“ beispielsweise verschwanden rasch für viele Jahre nete bestimmt werden sollten, ergänzten
im Gefängnis. Das ganze Land ist nach wie die Anwohner die offizielle Kandidatenvor von einem dichten Netz von Arbeits- liste durch seinen Namen.
lagern überzogen, tibetische Buddhisten
Fortan machte sich Zhong bei den Büround auch Christen werden verfolgt. Ge- kraten unbeliebt. Er wehrte sich dagegen,
richte verurteilen Übeltäter in Massen zum dass der Strom abgeschaltet wurde, wenn
Tode durch Genickschuss, Verteidiger ha- die Mieter die Rechnung nicht bezahlen
ben kaum eine Chance auf Einspruch, denn konnten. Die städtische Gasgesellschaft
in der Justiz hat wie in alten Zeiten allemal wollte ein neues Gebäude nicht an die Leinicht der Angeklagte, sondern die Partei tung anschließen, weil einer ihrer AngeRecht.
stellten keine Wohnung darin bekommen
Nach einem halben Jahrhundert gibt es hatte – Zhong schuf Abhilfe. Und als sich
kaum Anzeichen, dass die KP mehr De- die Stadt weigerte, eine Fabrik für den Bau
mokratie einräumen könnte. Selbst wenn einer Straße durch ihr Gelände zu entsie Dorfbewohnern erlaubt, ihren Schul- schädigen, legte er sich mit dem Bürgerzen direkt zu wählen, hat dies mit demo- meister an – und siegte: Das Werk erhielt
kratischer Reform wenig gemein: Die Kan- 2,6 Millionen Yuan.
didaten werden in aller Regel von oben
„Man muss das Rechtssystem vervollausgesucht.
kommnen“, folgert Zhong und meint daDie Bürger nehmen sich freilich immer mit, gegen die Willkür von Behörden zu
öfter die Rechte selbst heraus, überall bro- kämpfen. Vor allem aber müsse die Pardelt es: Kaum eine Woche, in der nicht ir- tei mehr auf die Sorgen und Nöte der
gendwo im Lande erzürnte Menschen auf Menschen hören. Er selbst, sagt er stolz,
der Straße protestieren – gegen korrupte habe sich nie dem Sturm gebeugt und
Funktionäre, gegen zu hohe Steuern, gegen den Mächtigen angebiedert. Armeekarrieausbleibende Löhne und Entlassungen. Im re und höherer Sold, Dienstwagen und
vorigen Jahr nahmen nach einer internen ärztliche Vorzugsbehandlung gingen so
Statistik des Polizeiministeriums rund verloren.
3,5 Millionen Menschen an über 215 000
Ist der Weise nach den bewegten 50 JahStreiks und Demonstrationen teil; 459 Kon- ren Volksrepublik China immer noch ein
flikte mit der Polizei endeten blutig.
guter Kommunist? Da lächelt der alte GeDer alte Zhong weiß, was an der Basis nosse verschmitzt: „Ich bin wohl mehr ein
los ist. Als 1990 in Peking Bezirksverord- Realist.“
Andreas Lorenz
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Ausland
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
beschädigten Hauptstadt Taipeh legte das
Beben ein großes Wohn- und GeschäftsTA I WA N
haus flach.
Doch wie in Taichung bleiben die Opfer
stumm, resigniert ertragen sie ihr Leid, nur
wenige schimpfen auf Baulöwen oder
Behörden. „Die Wut kocht später hoch“,
der Arzt Wong, „noch lähmt der
Der Wirtschaftswunderstaat hielt sich für gerüstet – mit strengen sagt
Schock die Menschen.“ Für die regierenBauvorschriften und geübtem Katastrophenschutz.
de Kuomintang-Partei steht die Macht
auf dem Spiel, die sie seit 50 Jahren ausDoch das große Beben deckte gefährliche Schlamperei auf.
übt – im März sind Präsidentschaftswahlen.
In nur fünf Sekunden hatte die
Katastrophe die Taiwanesen in
der Nacht zum Dienstag vergangener Woche aus dem Schlaf gerissen. Zwar war das 22-Millionen-Land vorgewarnt: Unter der
gebirgigen Insel verursachen zwei
aufeinander stoßende Erdplatten
fast alle 30 Jahre große Beben.
Doch mit knapp 2000 Toten, über
8000 Verletzten und rund 300 Vermissten wurden diesmal frühere
Schrecken weit übertroffen.
In den Krisengebieten verloren mehr als hunderttausend
Menschen ihre Wohnungen.
Zahlreiche Nachbeben, meterbreite Risse im Asphalt und weggerutschte Berghänge erschwerten den Hilfsmannschaften den
Zugang in entlegene Orte. Dort
lagerten die Retter Tote häufig
im Freien. Die Lebensmittel wurden knapp.
Dabei hat Taiwans Regierung
Eingestürzte Gebäude in Taichung: Plastikflaschen und Blechkanister statt Beton in den Stützmauern
im Vergleich zu anderen, von
ie ein abgesägter Baumstamm te Plastikflaschen und Speiseöl-Blech- Erdbeben heimgesuchten Ländern wie der
liegt der 15-stöckige Wohnblock kanister eingelassen. Mit dem illegalen Türkei und Japan (dort hatte es 1995 die
da, er ist einfach schräg zur Sei- Füllmaterial sparte die Baufirma am Be- Stadt Kobe getroffen, 6430 Tote) relativ
te gekippt. Die unteren drei Stockwerke ton. Und Taiwans Behörden war es offen- zügig und umsichtig reagiert: Sofort mowurden wie Pappe zusammengedrückt. bar egal, ob die strengen Bauvorschriften bilisierte Präsident Lee Teng-hui das MiMit Presslufthämmern reißen Retter die eingehalten wurden, eine Kontrolle fand litär, das – durch ständige Wachsamkeit
gegenüber dem verfeindeten Festlandfreskenverzierten Grundmauern der einst nicht statt.
Wohl deshalb sind die Gebäude in fast China geübt – blitzschnell ausrückte. Doch
schmucken Anlage ein. Sie wollen zu Bewohnern vordringen, die noch einge- allen betroffenen Gebieten ganz ähnlich die Katastrophe überfordert auch die Solumgefallen: Grotesk, wie Schuhkartons, daten, zu viele Opfer warten noch auf
schlossen sind.
Neun Menschen hält der Klotz an der liegen sie flach auf der Seite oder sind in Hilfe.
Cheung Wen-bin, 41, zeltet mit seiner
Yuinn-Straße am Stadtrand von Taichung der Mitte eingeknickt. Nicht nur in Nantou,
in Zentral-Taiwan gefangen. Sechs Tote ha- der am schwersten verwüsteten Region in Frau, zwei Kindern und seinen greisen Elben die Suchtrupps bereits geborgen. Wong Zentral-Taiwan, zeigt sich das typische tern am Rand einer Trabantensiedlung von
Hsiang-jenn, der übermüdete Leiter des Bild. Selbst am Rand der sonst nur wenig Taichung. Von dort aus kann der Chemiker
seine vor drei Jahren errichtete EigenMilitärärzteteams, lässt schon vorsorgtumswohnung sehen. Das Apartment selbst
lich die nächste Bahre heranbringen. Ein
ist zwar unversehrt geblieben, wurde aber
weißes Laken, das Leichen bedecken soll,
ähnlich schlampig gebaut wie zerstörte Teiliegt säuberlich gefaltet obenauf.
le der Wohnanlage. Nun ist der riesige
Hinter einer Absperrung der Polizei
Komplex gesperrt, wie eine Geisterkulisse
schauen bisherige Bewohner des erst vier
liegt er in der Finsternis.
Jahre alten Apartmentgebäudes den RetEingestürzte Brücken und umgefallene
tungsversuchen verzweifelt zu. Statt ÜberHochhäuser zeigen geradezu bildlich, auf
lebende zu befreien, legen die Pressluftwelch wackeligen Fundamenten Taiwan
hämmer den Blick auf die Folgen von
sein Wirtschaftswunder errichtete. Im Gekriminellem Pfusch und amtlicher Korgensatz zu anderen Tigerstaaten meisterte
ruption offen:
es die Asienkrise zwar elegant mit WachsAlle sehen jetzt, dass die Stützmauern
tumsraten um jährlich fünf Prozent. Doch
ihre wichtige Funktion gar nicht ausüben Obdachlose Erdbebenopfer
über der hastigen und einseitigen Fördekonnten – in die Wände waren gebrauch- „Der Schock lähmt die Menschen“
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„Die Wut kocht später hoch“
REUTERS
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rung von Hightech-Industrien vernachlässigte das Aufsteiger-Land den Bau einer
soliden Infrastruktur.
In ganz Taiwan blieb vergangene Woche
fast die Hälfte aller Häuser zeitweise ohne
Strom. In der Hightech-Region Hsinchu
mussten Elektronikfirmen ihre Produktion
stoppen. Nun drohen Taiwans „Silicon Valley“, das die Welt mit rund 45 Prozent aller Notebook-Computer und 13 Prozent
der Mikrochips beliefert, Geschäftsausfäl-
DPA
Versorgung von Verletzten
Von der Katastrophe überfordert
le in Milliardenhöhe. Um eine mögliche
Panik unter Aktionären zu verhindern,
stellte Taipehs Börse ihren Handel für den
Rest der Woche ein.
Positive Kunde erreichte die gebeutelte
Insel aus Peking: Dort sprach Staatschef
Jiang Zemin den Landsleuten jenseits der
Taiwan-Straße sein Beileid aus. Die Menschen auf beiden Seiten der Meeresenge
seien „wie Fleisch und Blut“, sagte Jiang
pathetisch und versprach Hilfeleistungen
im Wert von rund 290 000 Mark.
Die versöhnliche Geste ließ aufhorchen:
Seit Taiwans Präsident Lee im Juli die von
Peking geforderte Wiedervereinigung in
Frage stellte und Beziehungen wie zwischen souveränen Staaten verlangte, hat
das Reich der Mitte den abspenstigen Lee
immer wieder wüst beschimpft, der Insel
gar mit Krieg gedroht.
Doch an ein rasches politisches Tauwetter, ausgelöst durch Mitgefühl, glaubt
auf Taiwan kaum jemand. Solange Peking
nicht von seiner Drohung abrückt, die „abtrünnige Provinz“ notfalls mit militärischer
Gewalt heim ins Reich zu zwingen, bleiben die Inselchinesen argwöhnisch. Daher
lehnte die Regierung Jiangs Geste letztlich
ab.
Wieland Wagner
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I TA L I E N
Aus dem Sack geschlüpft
REUTERS
Giulio Andreotti, Italiens mächtigster Nachkriegspolitiker,
Günstling der Päpste, Freund Helmut Kohls, wurde
vom Mordvorwurf freigesprochen – die Beweise reichen nicht.
Angeklagter Andreotti in Perugia: 231 Zeugen und 20 Anwälte
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ier Mafia-Kugeln, Kaliber 7,65,
streckten Carmine („Mino“) Pecorelli in der Via Orazio mitten in
Rom nieder. Der Journalist, Herausgeber
eines kleinen, erfolglosen Enthüllungsblättchens, der schon mal für Geschichten
kassierte, damit sie nicht erschienen, wurde von zwei Killern hingerichtet.
Es war am Abend des 20. März 1979. Einer von hunderten, vielleicht tausenden
von Mafia-Morden im Italien der siebziger
und achtziger Jahre, längst vergessen,
wären da nicht Jahre später Cosa-Nostra-
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Bosse und ihre Gehilfen geschnappt worden, die, um ihre Haut zu retten, über
Kumpels plauderten, Sponsoren und Auftraggeber verrieten.
Und als einige von ihnen über den Fall
Pecorelli erzählten, blieb den Fahndern die
Luft weg: Giulio Andreotti, Italiens mächtigster Nachkriegspolitiker, 21mal Minister,
7mal Regierungschef, ewiger Strippenzieher der Democrazia Cristiana (DC), der
Katholiken-Partei mit traditionellem Führungsanspruch in Rom, habe die Mafia gebeten, ihm den lästigen Journalisten vom
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Hals zu schaffen. Denn der habe ihn
erpresst.
Dreieinhalb Jahre lang suchte das
Schwurgericht in Perugia nach der Wahrheit. Zwei Richter und sechs Geschworene
verbrachten vorige Woche vier Tage in
Klausur, eingesperrt in einem verbunkerten Betongebäude, ohne Kontakt nach
draußen, von Scharfschützen bewacht, ehe
sie sich am Freitagabend auf das Urteil
einigten:
Freispruch für den 80-jährigen Andreotti und seinen Gefolgsmann, den ehemaligen christdemokratischen Senator und ExMinister Claudio Vitalone, der laut Anklage den Mordauftrag weitergeleitet haben
sollte. Freispruch auch für die Mafia-Bosse Pippo Calò und Gaetano Badalamenti,
die angeblich das Verbrechen geplant hatten, und ebenso für die als mutmaßliche
Killer angeklagten Michelangelo La Barbera und Massimo Carminati. Eine Begründung gab es zunächst nicht.
„Es ist noch niemandem gelungen, mich
in den Sack zu stecken“, hatte der kleine,
bucklige Mann mit den großen Ohren gelegentlich gespottet, wenn politische Gegner oder eifrige Staatsanwälte ihm zusetzten. Nun hat er es erneut demonstriert.
Wieder einmal reichten die Beweise nicht.
Bei der Urteilsverkündung hielt Andreotti es nicht für nötig, im Gerichtssaal anwesend zu sein.
Dabei hatte sich der Skandaljournalist
Pecorelli, das stand schnell fest, seinerzeit
tatsächlich an den Allermächtigsten herangewagt. Erst war er auf dubiose Wahlkampfspenden für die DC aus der Industrie
gestoßen, dann offenbar auf noch weit brisanteres Material: Aufzeichnungen vom damaligen christdemokratischen Parteipräsidenten und Andreottis größtem Gegenspieler, Aldo Moro.
Moro war im Frühjahr 1978 von den
„Roten Brigaden“ entführt worden. Nach
55 Tagen wurde er in Rom ermordet aufgefunden. Kurz vor seinem Tod hatte er
anklagende Texte verfasst, vor allem – so
wird vermutet – über Andreotti. Bis heute
blieb ein großer Teil von Moros Hinterlassenschaft unauffindbar. Diesen Blättern
war Pecorelli auf der Spur.
Etwa 65 000 Mark hatte Andreottis
„rechte Hand“, der christdemokratische
Abgeordnete Franco Evangelisti, dem Rechercheur schon für sein Schweigen geboten. Auch Andreotti selbst gab ein Zeichen,
er übersandte dem Journalisten ein Kopfschmerzmittel. „Aus Solidarität unter Migränekranken“, erklärte er später in Perugia vor Gericht.
Der ewig klamme Pecorelli wollte mehr
Geld und bekam – wenig später – vier
Kugeln.
Der Mordauftrag, so will es der Kronzeuge der Anklage, Ex-Mafioso Tommaso
Buscetta, direkt vom Cosa-Nostra-Boss
Gaetano Badalamenti erfahren haben, sei
von „zio Giulio“ gekommen, dem „Onkel
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FOTOS: ANSA ( li.); GAMMA / STUDIO X ( re.)
Ermordeter Journalist Pecorelli, Mafia-Boss Riina: Auftrag unter Ehrenmännern?
A. SCATTOLON / CONTRASTO
Giulio“. Nur, die Aussage Buscettas wurde
von Badalamenti vehement bestritten: Mit
einem kleinen Licht wie Buscetta hätte er,
der große Boss, über derartige Geschichten
gewiss nicht gesprochen.
Und selbst die Ankläger mochten am
Ende ihrer jahrelangen Bemühungen nicht
ganz ausschließen, dass die Mafia-Killer
zwar im objektiven Interesse Andreottis
tätig wurden, aber ohne dessen Auftrag,
womöglich gar ohne Kenntnis. Unwahrscheinlich ist das nicht: Für eine kleine Gefälligkeit unter Ehrenmännern braucht es
keinen Auftrag.
Das Urteil hat das Ansehen der italienischen Justiz im Lande weiter erschüttert.
Mehr als drei Prozessjahre mit 231 Zeugen
und 20 Anwälten haben zwar 650 000
Aktenblätter, aber wenig Klarheit gebracht. Schriftsätze und Protokolle türmten sich nach Berechnung der Zeitung „La
Repubblica“ zu einem Hochhaus mit 25
Stockwerken. Ein vollständiges Exemplar
der Dokumente verschlänge 60 000 Mark
an Kopierkosten. 33 Stunden dauerte allein
die Verlesung der Anklage. Und am Ende
weiß man kaum mehr als zuvor.
Als Ergebnis des bürokratischen Monsterverfahrens bleibt vor allem ein finsteres
Bild italienischer Politik in den siebziger
und achtziger Jahren: Sie stellt sich dar als
ein verworrenes Geflecht zwischen der
verbotenen Geheimloge P2, die einen
Staatsstreich vorbereitete, der sizilianischen Cosa Nostra und der politischen
Klasse in Rom, insbesondere der christdemokratischen Regierungspartei
DC. Man kannte sich, man half
sich. Ob P2-Gründer Licio Gelli
oder der Mafia-Geldwäscher Michele Sindona – Andreotti konnte mit allen gut.
Seit langem gerichtsbekannt
sind auch Mafia-Kontakte enger
christdemokratischer Parteifreunde Andreottis, etwa des Ex-Bürgermeisters von Palermo, Vito
Ciancimino, oder des sizilianiKatholik Andreotti, Papst
„Quelle des Guten“
208
schen Euro-Parlamentariers Salvo Lima.
Der eine ist längst wegen Korruption verurteilt, der andere von der Cosa Nostra
beseitigt. Nur Andreotti überstand mehr
als 20 Versuche von Parlament und Justiz,
ihm etwas nachzuweisen.
Als Opfer von Lügen und Intrigen gibt
sich der Freigesprochene aus: „Ich soll als
Sündenbock der Democrazia Cristiana für
Jahrzehnte politischer Herrschaft bezahlen.“ Noch darf er sich nicht ganz sicher
fühlen, denn in Palermo harrt Andreotti
auf das Urteil in einem zweiten Verfahren.
Dort plädiert der Staatsanwalt auf 15 Jahre
Haft.
Andreottis Seilschaft in der DC – in Sizilien war die Partei traditionell besonders
stark – sei „eine Struktur zur Unterstützung der Mafia gewesen“, behauptete jedenfalls der Ankläger. Sie habe der Cosa
Nostra ermöglicht, Ziele anzusteuern, „die
sie mit ihrer eigenen militärischen Organisation nicht hätte verfolgen können“. Im
Gegenzug habe die Mafia für zufrieden
stellende Wahlergebnisse gesorgt, also
Stimmen für die DC eingefahren.
Der einstige „Boss der Bosse“, Salvatore („Totò“) Riina, soll Italiens Ex-Premier
bei einem vertraulichen Treffen im Herbst
1987 sogar auf beide Wangen geküsst haben – ein Ritual der Mafia innerhalb der
„Familie“.
Andreottis Reputation hat das nie geschadet. Noch Anfang des Jahres tröstete
Papst Johannes Paul II. den unter Mordverdacht stehenden treuen Katholiken mit
einem Glückwunschtelegramm zum 80.
Geburtstag, auf „dass der Schmerz und das
Leid, das über Sie gekommen ist, sich als
Quelle von etwas Gutem für Sie und für die
ganze italienische Gesellschaft erweisen
mögen“.
Während der Feierlichkeiten zur Seligsprechung des Kapuzinerpaters Pio, am 2.
Mai, pickte der römische Pontifex den
frommen Andreotti aus der Schar der VIPGäste heraus und segnete ihn demonstrativ
vor Millionen TV-Zuschauern in aller Welt
– zwei Tage nachdem der Staatsanwalt in
Perugia „lebenslänglich“ gefordert hatte.
Und als Helmut Kohl, die Vaterfigur der
europäischen Christdemokraten, im Mai
in Rom über die Zukunft Europas referierte, hob auch er aus der versammelten
konservativen Elite des Gastlandes nur einen heraus, den „lieben Giulio“, seinen
„Freund“.
Nun dürfen auch andere hoffen, dass die
oft spektakulär gestarteten Prozesse gegen
die politische Kaste am Ende kläglich
scheitern. Die Verfahren gegen den Medienzaren, einstigen Regierungs- und jetzigen Oppositionschef Silvio Berlusconi
zum Beispiel verlaufen langsam im Sande.
Die anfängliche Begeisterung im Volk
für die Richter und Staatsanwälte – allen
voran die Mailänder Anti-KorruptionsGruppe mit dem Ehrentitel „Mani pulite“
(Saubere Hände) – ist der nüchternen Frage gewichen: Was hat es gebracht?
Gewiss, die Fahnder orteten in einem
Sumpf von Korruption und Bestechung bedeutende politische Köpfe. Der ehemalige
Sozialistenchef Bettino Craxi floh nach Tunesien, die christdemokratische Staatspartei zerplatzte wie ein angestochener Luftballon. Ein Ex-Kommunist regiert heute
mit einer buntgescheckten Koalition in
Rom. Aber die Unantastbaren von damals
konnten sich meistens der persönlichen
Verantwortung entziehen.
„Politik ist ein schmutziges Geschäft“,
resümierte einst Vincenza Enea, die vergangene Woche mit 82 Jahren starb.
Sie sollte es wissen: Mehr als 30 Jahre
lang war sie Giulio Andreottis Privatsekretärin.
Hans-Jürgen Schlamp
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Ausland
OSTTIMOR
Eine Allianz des Satans
FOTOS: REUTERS
Trotz Uno-Präsenz terrorisieren paramilitärische Milizen
die Bevölkerung weiter. Die abziehenden
indonesischen Besatzungstruppen hinterlassen verbrannte Erde.
Die gut 3000 Interfet-Soldaten, die als
Vorhut einer von Australien geführten 8000
Mann starken internationalen Friedenstruppe letzte Woche in Dili eintrafen, haben einstweilen nur den Flughafen, den
Hafen und Teile der Stadt Baucau unter
Kontrolle. Außerdem haben sie an den strategisch wichtigen Punkten von Dili Barrikaden aus Sandsäcken errichtet.
Zwischen diesen wenigen Brückenköpfen ist niemand vor den indonesischen
Mordbrennern sicher, die mit
flächendeckendem Terror das Resultat des Unabhängigkeitsreferendums vom 30. August rückgängig machen wollten.
Der holländische Journalist Sander Thoenes, 30, von der „Financial Times“ geriet am Dienstag im
Vorort Becora in einen Hinterhalt.
Er wurde erschossen. Seine grausam entstellte Leiche fand man einen Tag später. Ein Augenzeuge
berichtete, die Mörder seien uniformiert gewesen.
Jon Swain, Korrespondent der
Londoner „Sunday Times“, der
französische Fotoreporter Chip
Hires und ein Dolmetscher entgingen dem sicheren Tod nur, weil
General Peter Cosgrove, der australische Kommandeur der internationalen Truppen, eine ganze
Hundertschaft Soldaten und eine
Rotte Kampfhubschrauber mobilisierte, um sie rauszuhauen. Sie waren ebenfalls in Becora von einer
Milizen-Gang überfallen worden,
im Kugelhagel in einen Wald geflüchtet und hatten sich dort versteckt.
Nachts riefen sie dann über ihr Satellitentelefon die Redaktion in London an. Von
dort ging ein Notruf ans Hauptquartier der
Australier in Dili.
Der Hass auf die Ausländer, vor allem
auf die ausländischen Journalisten, ist beinahe grenzenlos. „Wir haben die Besetzung unserer Heimat durch fremde Truppen den ausländischen Medien und ihrer
überzogenen Berichterstattung zu verdanken“, schimpft einer der noch in Dili verbliebenen indonesischen Offiziere. „Dafür
müssen sie büßen.“
Erst im Licht der ersten Sonnenstrahlen
schleichen sich Gruppen geflohener Einwohner in die Hauptstadt zurück, um nach
Habseligkeiten zu suchen. Meist ohne Erfolg. Denn die Vandalen haben fast alles
zerstört. „Wir hatten natürlich erwartet,
dass es nach dem Referendum zu Racheakten des Militärs kommen würde“, sagte
Fernando Soares, 45, der früher bei der indonesischen Verwaltung beschäftigt war,
„dass sie sich allerdings wie die Wahnsinnigen aufführen würden, das haben wir
nicht gedacht.“
Mit perfider Systematik haben die Milizen die ärmliche Stadt, in der früher
einmal 120 000 Menschen lebten, inner-
Festnahme eines Indonesiers durch australische Soldaten: „Das schreit nach Rache“
D
ie Nacht gehört der Angst in Dili. Metallrohre und zerbrochene PressspanHinter den Stacheldrahtrollen, die platten. Mario da Silvas Haus wurde, wie
australische Soldaten ausgerollt ha- auch große Teile der Innenstadt von Dili,
ben, ducken sich verschreckte Menschen in bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
ausgebrannten Lagerhallen. Ihre Gesich- Er sagt: „Wir danken Gott, dass die Frieter sind im schwachen Mondschein nur denstruppen jetzt wenigstens die Schlächterei beenden.“
schemenhaft zu erkennen.
Doch der Einfluss der Schutzmacht
Gut 300 traumatisierte Familien haben
sich hierher unter den Schutz der interna- reicht nicht weit. Am Rande der osttionalen Truppen für Osttimor (Interfet) timoresischen Hauptstadt lodern nachts
geflüchtet. Solange die Einheiten der in- immer wieder Flammen auf. Manchmal
donesischen Streitkräfte nicht vollstän- sind auch Salven von Schnellfeuergewehdig aus der östlichen Inselhälfte abgezo- ren zu hören. Der Friede hat sich noch langen sind, trauen sich nach Einbruch der ge nicht eingestellt.
Dunkelheit nur wenige Zivilisten
heraus.
„Die Aitarak-Milizionäre werden nicht so schnell aufgeben“,
flüstert Mario da Silva, 30, ein
Mittelschullehrer im blauen, zerrissenen T-Shirt. „Sie wollen unser Land mit einem Guerrillakrieg überziehen.“
Auf einem kleinen Leiterwagen hat da Silva die letzten Habseligkeiten seiner Familie hierher gebracht. Viel ist ihm nicht
geblieben: ein paar abgeschabte
Reissäcke mit Küchenutensilien,
ein angekokelter Plastikstuhl, Osttimoresische Miliz: Hass auf die Ausländer
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Ausland
ge davon in Plastiksäcke verpackt und mit
der Aufschrift: „Frischfleisch für die Anhänger der Unabhängigkeit.“
Der Politiker Leandro Isaac, 44, hat sich
in das Dörfchen Dare, das südlich von Dili
in den Bergen liegt, geflüchtet. „Da unten
hat eine Allianz des Satans gewütet“, sagt
das Mitglied des „Nationalen Rats des
timoresischen Widerstands“, der die Regierung in Osttimor übernehmen soll. Mehrere tausend Menschen seien in den letzten
Wochen von Milizen und ihren Helfern
vom indonesischen Militär auf oft bestialische Weise umgebracht worden. Die Zahl
der Flüchtlinge übersteigt nach Isaacs Meinung 300 000. Das ist knapp ein Drittel der
Gesamtbevölkerung. „Wer diese Verbrechen zugelassen hat, muss sich vor einem
Tribunal verantworten. Ebenso wie die
Kriegsverbrecher aus Bosnien.“
Solange die Friedenstruppe nicht die
ganze Insel kontrolliert, will Isaac sein Versteck nicht verlassen. Er fürchtet, dass
Terrorkommandos weiter Jagd auf Politiker
der zukünftigen Regierung machen. Seit
Hilfsorganisationen erste Nahrungsmittel
über dem Bergkamm abgeworfen haben, ist zudem die Gefahr
einer Hungersnot vorläufig in
Dare gebannt.
Im Hafen von Dili tritt Ende
der Woche der Abzug der indonesischen Besatzungsmacht in
die Schlussphase. In den Kasernen werden die letzten geheimen Unterlagen verbrannt, die
Aufklärung über die Menschenrechtsverletzungen der Jahre unter Jakartas Herrschaft geben
könnten.
Über der Stadt stehen Rauchsäulen. Die abziehenden TrupFlüchtlinge in Dili: Rückkehr in rauchende Trümmer
pen sind offenbar entschlossen,
einst stolze Armee ist zu einem Haufen überall nur verbrannte Erde zu hinterlassen. „Wir werden diesen Idioten nichts
von Strauchdieben verkommen.
Nur eine Straßenecke von der Klinik hinterlassen, was sie gebrauchen können“,
entfernt wohnt Rosa Garcia, Redakteurin beschreibt Generalmajor S. Ahmad, Komder Zeitung „Suara Timor Timur“. Der si- mandeur einer der Einheiten, die als letzcheren Ermordung hat sie sich in den Ta- te die Insel verlassen sollen, die Haltung
gen des Sturms auf Dili durch die Flucht der Armee. In den nächsten Tagen werde
nach Jakarta entzogen. Da ihr älterer Bru- hier „die Hölle losbrechen“.
Olivgrüne Laster der Indonesier rollen
der einst bei der Armee diente, wurde ihr
Elternhaus von den Brandstiftern ver- unter den wachsamen Augen der Friedensschont. Doch Milizen haben ihren Fernse- truppen auf die Mole. Auf den Decks der
her gestohlen, und in Rosas Auto kutschiert Schiffe, die sie nach Java und Westtimor
jetzt die Ehefrau von Aitarak-Chef Eurico bringen sollen, stehen junge Soldaten und
Guteres durch die Stadt Kupang in West- starren auf die zerstörte Stadt. Einige tratimor. Von dort will der Anführer der pro- gen Stirnbänder in den indonesischen Farindonesischen Todesschwadron den Ter- ben. Ihre Gesichter lassen den Zorn darüber erkennen, dass sie den verhassten
rorkrieg gegen Osttimor weiterführen.
Als einziges Familienmitglied hat Cou- Australiern weichen müssen.
Der Gefreite Surosos, der einer Elitesin Ano Garcia, 16, in Dili ausgehalten.
„Viele meiner Freunde sind in den letzten einheit der Marine angehört, kann nur
Wochen verschwunden“, sagt Ano. „Die schwer seine ohnmächtige Wut über
Mörder zogen von Haus zu Haus und ver- die Schmach verbergen: „Ich fühle mich,
schleppten junge Männer, die sich für die als würde mir das Herz aus dem Leib
Unabhängigkeit eingesetzt hatten.“ Nach gerissen. Unser Land ist von der Uno
ein paar Tagen seien ihre entstellten Lei- betrogen worden. Das schreit nach
chen dann in der Stadt aufgetaucht – eini- Rache.“
Jürgen Kremb
DPA
halb weniger Tage in einen rauchenden
Trümmerhaufen verwandelt. „Merdeka di
hutan“, Freiheit in den Wäldern, haben sie
mit fetter grüner Ölfarbe auf die verkohlte Wand des Buchladens Gramedia geschmiert. Das soll heißen: Wenn ihr es
wagt, eure Freiheit einzufordern, jagen wir
euch in den Dschungel zurück.
Dili ist ein Mahnmal der gescheiterten
Besatzungspolitik Jakartas. In den Basarläden neben dem Hauptquartier des Militärs sind die Fenster eingeschlagen. Die
Plünderer haben sogar die Kekse und Bonbons aus den Blechkisten geklaut, die verstreut auf dem Lehmfußboden liegen.
Selbst unter den Augen der Friedenstruppen gehen die Raubzüge weiter.
Vor der Kartika Poliklinik hält ein Armeelastwagen. Zwei Soldaten springen ab
und laufen ins Gebäude. Einer von ihnen
kommt einige Minuten später mit ein paar
verschmierten Bettlaken und einem Kopfkissen zurück. Als er sieht, dass er beobachtet wird, greift er mechanisch zu seinem
Sturmgewehr. Aber er schießt nicht, er
trollt sich mit gesenktem Kopf. Indonesiens
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„Die Armee zähmen“
Dewi Fortuna Anwar, Staatssekretärin und Beraterin von
Präsident B. J. Habibie, über den Einfluss der
Militärs und die Schuldigen an der Tragödie in Osttimor
die Situation unter Kontrolle zu bringen.
zeigt, dass Präsident Habibie die Armee Die internationale Gemeinschaft hat dem
nicht kontrollieren kann. Steht Indonesien indonesischen Militär allerdings nicht gevor einer Militärherrschaft?
traut. Darum hat Habibie schließlich die
Dewi: Nein, der Demokratisierungsprozess Uno geholt.
ist unumkehrbar. Osttimor ist ein Sonder- SPIEGEL: War es im Nachhinein gesehen
fall: Die Armee besaß dort lange das ein Fehler, die Osttimoresen so schnell abMachtmonopol. Es ist kein Geheimnis, dass stimmen zu lassen?
sie gegen das Ergebnis des Unabhängig- Dewi: Auch eine längere Übergangsfrist
keitsreferendums ist.
hätte keinen Frieden garantiert. Habibie
wollte Indonesien unbelasSPIEGEL: Wie konnte ein
tet in das 21. Jahrhundert
Teil des Landes in völlige
führen.
Anarchie stürzen?
Dewi: Jedenfalls nicht nur
SPIEGEL: Der britische Auwegen der starren Halßenminister Robin Cook
tung der Armee. Auch die
hat ein Osttimor-Tribunal
Osttimoresen waren begefordert. Was halten Sie
reit, für ihre Ziele zu tödavon?
ten. Hinzu kommt die
Dewi: Die Vorgänge sollten
Unfähigkeit der indonesigründlich untersucht und
schen Sicherheitskräfte,
die Schuldigen zur Verantbesonders der Polizei.
wortung gezogen werden.
Außerdem gab es ProbleWir haben eine unabhänme, bestimmte Einheiten
gige nationale Menschenzu kontrollieren. Zwei Barechtskommission. Der Prätaillone sind aus Osttimo- Staatssekretärin Dewi
sident hat außerdem der
resen zusammengesetzt.
Gründung einer UntersuDiese Soldaten sind emotional stark en- chungsgruppe zugestimmt. Die internatiogagiert.
nale Gemeinschaft sollte den Terror in OstSPIEGEL: Akzeptieren Sie das Argument timor allerdings nicht als staatlich sanktioder Armee, sie habe aus psychologischen nierte Gewalt wie im Kosovo ansehen,
Gründen nicht gegen die Milizen eingrei- sondern als lokalen Konflikt, der außer
fen können?
Kontrolle geriet. Vergessen Sie nicht, dass
Dewi: Die Sicherheitskräfte konnten, wie die indonesische Regierung das Referensie sagen, nicht auf ihre alten Freunde dum initiiert hat.
schießen. Das ist nicht entschuldbar, aber SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass
wohl die Realität.
Osttimor gespalten wird, so wie es die
SPIEGEL: Realität ist auch, dass Indonesien Milizen offenbar anstreben?
seinen ersten Demokratie-Test nicht be- Dewi: Das ist nun Angelegenheit der Uno.
standen hat.
Wenn der mutmaßliche Präsident OstDewi: Die Welt sollte unser Dilemma er- timors, José Alexandre Gusmão, eine stakennen. Wir wollen nicht Osttimor retten bile Regierung haben will, muss er mit den
und ganz Indonesien verlieren. Nach- pro-indonesischen Kräften reden. Sonst
dem die Armee 30 Jahre lang eine be- führen die Milizen womöglich einen Guerherrschende Rolle in Politik und Wirtschaft rillakrieg.
gespielt hat, muss sie sich daran gewöh- SPIEGEL: Dabei könnten sie die Flüchtlinge
nen, ihre zentrale Machtposition aufzu- in Westtimor als Geiseln missbrauchen.
geben. Wir müssen das Militär kontrol- Dewi: Westtimor darf nicht Ausgangspunkt
lieren und somit in gewissem Maße zäh- von Operationen der Milizen werden. Wir
men, gleichzeitig sind wir aber auf seine hoffen, dass die Flüchtlinge nach Osttimor
Unterstützung angewiesen. Die Gefahr zurückkehren.
einer Konfrontation zwischen dem Militär SPIEGEL: Ist die Unabhängigkeit von Ostund einer zivilen Regierung ist nicht timor nun endgültig?
vorbei.
Dewi: Es gibt kein Zurück. Die Beratende
SPIEGEL: Warum war der Präsident nicht Volksversammlung wird die Beziehung
Osttimors zu Indonesien formal beenden.
in der Lage, die Tragödie zu stoppen?
Dewi: Er hat getan, was er konnte. Die Ver- Dann ist die rechtliche Bindung gekappt.
hängung des Kriegsrechts war der Versuch,
Interview: Andreas Lorenz
AFP / DPA
SPIEGEL: Das Blutbad in Osttimor hat ge-
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Ausland
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„Russland ist unberechenbar“
Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow über die Gefahr eines neuen Kaukasus-Krieges
ben sind auf Grosny gefallen. Sie haben
die allgemeine Mobilmachung der Tschetschenen verfügt. Wird Moskau erneut in
Ihre Republik einmarschieren?
Maschadow: Russland kennt leider nur eine
Methode, den Knüppel. Statt einer vernünftigen Politik im Kaukasus fällt Moskau
nichts anderes ein als rohe Gewalt.
SPIEGEL: Hat Russland aus dem blutigen
Tschetschenien-Feldzug, den es nicht gewinnen konnte, nichts gelernt?
Maschadow: Es scheint so. Obwohl dieser
Feldzug eine Schande für die russische Armee war, ist die Kriegsgefahr heute genauso groß wie im Herbst 1994. Nehmen
Sie nur die Erklärung des russischen Premiers Putin, unsere Waffenstillstandsvereinbarung von 1996 müsse einer Neubewertung unterzogen werden …
SPIEGEL: … worauf Bomben- und Raketenangriffe folgten.
Maschadow: Die Öffentlichkeit wird betrogen, wenn es heißt, dort sollten Terroristenstützpunkte getroffen werden. Nicht ein
einziger Kämpfer ist bislang dabei getötet
worden, wohl aber kamen über 200 Zi-
Präsident Maschadow
„Eine Schande für die russische Armee“
vilisten bei den barbarischen ArtillerieÜberfällen ums Leben. Gerade heute starben im Dorf Meskety vier Menschen – drei
Frauen und ein kleines Kind.
SPIEGEL: Viele russische Generäle behaupten, sie hätten den letzten TschetschenienKrieg leicht gewinnen können, wenn Politiker sie nicht daran gehindert hätten.
Maschadow: Nichts als Selbstbetrug. Ich
habe damals die Operation zur Befreiung
von Grosny geleitet und kann mich noch
gut an ein Treffen mit dem russischen General Pulikowski erinnern. Der Mann war
hysterisch, aufgelöst, vernichtet, völlig am
Ende. Manche Politiker in Moskau hätten
schon gern noch weiterkämpfen lassen.
Aber ihre Militärs hatten begriffen, dass
sie keine Chance mehr hatten.
SPIEGEL: Hätten sie heute größere?
Maschadow: Nur in ihrer Einbildung. Wir
sind weitaus stärker als 1994 und besser
gerüstet für einen Überfall.
SPIEGEL: Premier Putin will von Armee und
Polizei einen Cordon sanitaire um Ihre Republik ziehen lassen.
Maschadow: Wir leben unter solchen Quarantäne-Bedingungen schon seit 1997. Alle
Verpflichtungen, die Russland nach dem
Krieg übernommen hat, blieben Papier: Es
gab keine Wiedergutmachung der angerichteten Schäden, keinen reibungslosen
Transport unseres Öls, keinen Ausbau unseres Flughafens für den internationalen
Luftverkehr.
SPIEGEL: Sind Ihre Bürger auf eine totale
Blockade vorbereitet?
Maschadow: Ich habe ihnen immer gesagt:
Russland ist unberechenbar, es wird zu allen denkbaren Druckmitteln greifen – richtet euch darauf ein.
SPIEGEL: Sie können nicht bestreiten, dass
Ihre Republik zu einem Hort radikal-islamischer Terroristen zu werden droht. Gei-
REUTERS
Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Jörg R. Mettke.
P. KASSIN
SPIEGEL: Aslan Alijewitsch, die ersten Bom-
Russische Artillerie in Dagestan: „Jelzin wird von seinen Beratern hinters Licht geführt“
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Ausland
selnahmen und Lösegeld-Erpressungen
nehmen in beängstigendem Maße zu.
Maschadow: Ich sehe diese Gefahr.Wir werden bereits seit Beginn der neunziger Jahre als Brückenkopf des Terrorismus, Extremismus, Fundamentalismus angeprangert.
Russland hat versucht, alle Tschetschenen
in der Meinung der Welt als Banditen abzustempeln. So etwas bleibt nicht folgenlos.
Dabei ist unseren Traditionen, unserem Verständnis des Islam jeder Radikalismus im
Denken wie im Handeln fremd.
SPIEGEL: Die Entführungsfälle der letzten
Jahre sind doch nicht von Moskau inspiriert und eingefädelt.
sehen verloren. Unser Volk ist kriegsmüde
und verurteilt solche Provokationen.
SPIEGEL: Warum gelingt es Ihnen dann
nicht, Bandenführer wie Bassajew, Radujew oder Chattab zu verhaften, ihnen wenigstens die Operationsbasis in den tschetschenischen Bergen zu entziehen?
Maschadow: Was diese angeblichen Ausbildungslager für Terroristen angeht, so
wird ebenfalls viel übertrieben. Wir haben
internationale Beobachter eingeladen, um
zu überprüfen, was daran wahr und was
russische Propaganda ist. Und dann kann
ich Bassajew auch nicht einfach als Banditen festnehmen lassen, die Menschen hier
dass sie das Werk von Tschetschenen sind.
Selbst im Krieg, als die Russen auf die barbarischste Weise gegen uns vorgegangen
sind, haben wir niemals zu solchen verachtungswürdigen Methoden gegriffen.
Das entspricht nicht unserem Nationalcharakter. Wir kämpfen nicht gegen Wehrlose und Unschuldige. Kein russischer General, keine Mutter eines gefallenen russischen Soldaten wird uns etwas anderes
nachsagen können.
SPIEGEL: Auch Bassajew, der Geiselnehmer von Budjonnowsk 1995, wo es 150 Tote gab, ist Tschetschene. Von wem werden
Maschadow: Gewiss, aber wir wissen auch,
wer während des Krieges damit angefangen hat. Damals begannen russische Offiziere, die Leichen der Häftlinge, die in Internierungslagern gestorben waren, an deren Angehörige zu verkaufen, später auch
Gefangene gegen Lösegeld freizulassen.
Erst dadurch haben solche Verbrechen einen quasi-legalen Anstrich erhalten.
SPIEGEL: Haben Sie nicht etwas zu viel Verständnis für Ihren Landsmann und früheren Premier Schamil Bassajew, der in Dagestan einen kleinen Krieg anzettelt?
Maschadow: Bassajew hat bei uns durch
diese Freischärler-Aktionen stark an An-
würden das nicht verstehen. Wir haben
schließlich gemeinsam für die Unabhängigkeit unseres Landes gekämpft.
SPIEGEL: Würde eine vollständige, von Moskau anerkannte Souveränität Tschetscheniens Ihnen ein schärferes Durchgreifen
gegen Extremisten ermöglichen?
Maschadow: Ganz sicher. Dann könnte ich
diesen Leuten sagen: Nun haben wir die
Souveränität, für die wir gekämpft haben.
Was wollt ihr noch mehr? Nun lasst uns
daran gehen, unseren Staat aufzubauen.
SPIEGEL: Wer steht nach Ihren Informationen hinter den Bombenanschlägen auf
Wohnhäuser in Russland?
die Anschläge denn organisiert und
finanziert?
Maschadow: Wenn in Russland Wahlen vor
der Tür stehen, wird immer die tschetschenische Karte gespielt, besonders jetzt,
wo Jelzins engere Umgebung befürchten muss, vom nächsten Präsidenten ins
Gefängnis gesteckt zu werden für alles,
was sie im Namen Jelzins angerichtet
hat – von der Verelendung des Landes bis
zum Krieg in Tschetschenien. Deswegen
wird nun alles Mögliche unternommen,
um einen Ausnahmezustand mit Verschiebung der Wahlen zu rechtfertigen. Und
keine Region ist dafür besser zum Experi-
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Maschadow: Ich schließe kategorisch aus,
mentierfeld geeignet als der Nordkaukasus.
SPIEGEL: Sie halten russische Geheimdienste wirklich für fähig, Unschuldige in die
Luft zu sprengen und falsche Fährten in
Richtung Kaukasus zu legen, um so das
Land in den Notstand zu treiben?
Maschadow: Ich halte das durchaus für
möglich. Die Kriegspartei in Moskau ist
sehr mächtig und sehr heimtückisch.
SPIEGEL: Russlands Ex-Premier Tschernomyrdin, die Präsidenten Ihrer Nachbarrepubliken Nordossetien und Inguschien
haben ein unverzügliches Treffen zwischen
Ihnen und Jelzin angeregt, um den dro-
Maschadow: Ich glaube, dass er das kann
und auch möchte. Als wir 1997 den Friedensvertrag unterschrieben, hat ihm seine
Umgebung ganz aufgeregt davon abgeraten. Aber Jelzin ist festgeblieben und hat
gesagt: Ich bin der Präsident, ich übernehme die Verantwortung.
SPIEGEL: Wenn Sie Jelzin morgen treffen
könnten …
Maschadow: … bin ich hundertprozentig
davon überzeugt, ihm klar machen zu können, wie er von seinen so genannten Beratern erneut hinters Licht geführt wird.
SPIEGEL: Welche Rolle spielt dabei der russische Multimilliardär Boris Beresowski?
Öl-Interessen. Jedenfalls ist sein Ränkespiel für die ganze Region hoch gefährlich.
SPIEGEL: Wäre Ihr liebster Verhandlungspartner der General a. D. Alexander Lebed,
mit dem Sie vor drei Jahren erfolgreich den
Waffenstillstand ausgehandelt haben?
Maschadow: Ich bin mir da nicht mehr so
sicher. Einerseits achte ich Lebed hoch. Andererseits zeigen jüngste Äußerungen von
ihm, dass er unser damaliges Abkommen
durchaus mit dem Hintergedanken unterschrieben hat, zunächst einmal Zeit für
Russland zu gewinnen. Und wenn es wieder stark genug sei, werde es sich im Kaukasus zurückholen, was ihm nie gehört hat.
henden Krieg zu vermeiden. Eine solche
Begegnung fordern Sie seit langem. Warum
kommt sie nicht zu Stande?
Maschadow: Schon 1994 hat unser damaliger Präsident Dudajew vergeblich um ein
Vier-Augen-Gespräch mit Boris Jelzin
gebeten. Damals gab es den Verteidigungsminister Gratschow, der mit einem
Fallschirmjägerregiment in zwei Stunden
alles regeln wollte. Und genauso gibt
es heute in Moskau Politiker, die Blockade und Quarantäne empfehlen, damit
Maschadow auf Knien im Kreml erscheint.
SPIEGEL: Jelzin selbst trauen Sie zu, mit Ihnen gemeinsam einen Ausweg zu finden?
Maschadow: Eine sehr wichtige.
SPIEGEL: Ist er der gute oder ein böser Geist
SPIEGEL: Wenn Sie selbst vom Friedensstifter Lebed nichts mehr erwarten, wer dann
in Russland soll den Tschetschenen ihre
Unabhängigkeit geben?
Maschadow: Ich denke, diesen Schritt
müsste noch Jelzin machen, wenn er etwas verstanden hat von der Schändlichkeit und Aussichtslosigkeit dieses
Kriegs. Und ich kann mir nicht vorstellen,
dass er sich von seiner Umgebung so
weit betrügen lässt, in die Geschichte als
Blutsäufer vom Kaukasus eingehen zu
wollen.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
für die Völker des Kaukasus?
Maschadow: Für Tschetschenien ein ausge-
sprochen böser. Er treibt ein intrigantes
Spiel und liiert sich dabei mit Oppositionellen wie Bassajew und Udugow. Er bezahlt ihnen ihr Fernsehen, ihre InternetZugänge, ihre Satellitentelefone. An allen
großen Lösegeld-Aktionen sind seine Unterhändler beteiligt.
SPIEGEL: Warum denn?
Maschadow: Vielleicht hat er einen Auftrag, Russlands Position im Kaukasus zu
schwächen. Vielleicht hat er hier eigene
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zose Lamy stieß nach: Wenn Patten
den anderen Vorgaben machen wolle,
könne es sich „nur um ein Missverständnis“ handeln. Das Kollegium beschloss, Patten keine Sonderstellung
einzuräumen, der Brite habe lediglich auf die „Kohärenz“, also die
Schlüssigkeit der EU-Außenpolitik,
zu achten.
Aus dem ehrgeizigen Plan einer
Verheugen tat ein Weiteres, den
gemeinsamen europäischen
Abgesandten aus London zu deckeln.
Außen- und Sicherheitspolitik
Er beantragte, mindestens einmal monatlich den Hohen Repräsentanten
wird wohl wieder nichts –
Solana zur Arbeitsgruppe Außenpolizu viele fühlen sich berufen.
tik der Kommission hinzuzubitten:
„Wir stützen den Spanier.“
n alten Zeiten schon hatte sich USSolana wird es dennoch schwer haAußenminister Henry Kissinger eine
ben. Eifersüchtig wachen die Außenverbindliche Telefonnummer in Brüsamtschefs der Mitgliedstaaten darsel gewünscht, die er anrufen könne, wenn
über, dass der Spanier ihnen nicht den
es brenne in der Welt und er mit den euRang abläuft. Misstrauisch verfolgen
ropäischen Partnern gemeinsame Aktioauch die US-Regierung und die Brüsnen besprechen wolle. Kissinger schied
seler Nato-Spitze das Treiben des
1977 aus dem Amt. Seine derzeit amtieHohen Repräsentanten. Denn Solana
rende Nachfolgerin Madeleine Albright
hat vom Kölner EU-Gipfel den Aufmuss weiter auf den Anschluss warten.
trag erhalten, sich zusätzlich um den
Vorigen Montag empfing Frau Albright
Aufbau der europäischen Verteidiin New York den britischen EU-Kommissar
gung zu kümmern. Washington beChris Patten, zuständig für das Ressort
fürchtet, dadurch könne der Zusam„Auswärtige Beziehungen“. Die beiden
menhalt des Nordatlantikpakts ausverabredeten, informell Kontakt zu halten. Partner Albright, Solana: Verbindliche Nummer
gehöhlt werden.
Von ihrer Irritation ließ sich die AmerikaEinstweilen aber darf sich die Nato darnerin nichts anmerken.
wortlich zeichnet, der Franzose Pascal
Denn tags zuvor hatte ihr ein anderer Lamy, dem der Außenhandel obliegt, der auf verlassen, dass die EU wie üblich unseine Aufwartung gemacht, der sich auch spanische Wirtschafts- und Währungskom- eins ist, gerade in sicherheitspolitischen
als europäischer Außenminister sieht – der missar Pedro Solbes, der Däne Poul Niel- Fragen. Erstmals in der Geschichte der EU
Spanier Javier Solana. Am 18. Oktober tritt son, zuständig für Entwicklungspolitik und treten die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten mit den Außenministern am
der scheidende Nato-Generalsekretär in humanitäre Hilfe.
Brüssel sein Amt als Hoher Beauftragter
Die Rolle des Oberdiplomaten Europas 15. November zu einer gemeinsamen EUfür die Gemeinsame Außen- und Sicher- aber hat sich Kommissionspräsident Ro- Ratssitzung zusammen. Die doppelte Miheitspolitik der EU an. Auf diesen neu ge- mano Prodi persönlich reserviert. Eigent- nisterrunde will erst mal über neue Greschaffenen Posten hatten ihn die Staats- lich, so war es in einer Protokollnotiz der mien beraten, die dem Hohen RepräsenStaats- und Regierungschefs fest- tanten zuarbeiten sollen. Frankreich drängt
gehalten, sollte in der neuen darauf, wie in der Nato auch in der EU ein
Kommission einer der Vizepräsi- politisches Komitee und einen Militärausdenten für die gesamten Außen- schuss einzurichten. Andere, darunter die
beziehungen zuständig sein. Der Deutschen, wollen alles lieber eine Numfrühere römische Ministerpräsi- mer kleiner.
Solanas Stab bleibt bescheiden, ganze
dent, gehärtet im Politikdschungel Italiens, überging stillschwei- 20 Experten sind dafür vorgesehen, Leiter
gend diesen Wunsch der 15 EU- wird ein deutscher AA-Diplomat, Christoph Heusgen. Und über ein üppiges BudRegierungschefs.
Prodi wollte keinen Stellver- get verfügt der Spanier auch nicht. Die
treter neben sich, der ihm die Konkurrenz bei der Kommission hingegen
Schau hätte stehlen können. Die kann mit Milliarden klotzen.
Da will Solana wenigstens selber groß
Vizeposten gingen als tröstende
Dreingabe an jene Kommissare, herauskommen. Bei der Besichtigung seidie für die Verwaltungsreform ner neuen Wirkungsstätte im Ratspalast
Kommissionschef Prodi: Rolle des Oberdiplomaten
und für die Beziehungen zum trug er seine Wünsche vor: Ein eigenes Raund Regierungschefs beim letzten Euro- Europäischen Parlament zuständig sind. dio- und Fernsehstudio müsse her, um seipäischen Rat in Köln berufen. Auch mit „Mit Bill Clinton redet Prodi“, hielt einer ne Medienauftritte zu zelebrieren. Sein
Solana verabredete Frau Albright, dass seiner engen Mitarbeiter fest – und sonst Büro samt Repräsentationsräumen möchte er im fünften Stock gleich neben dem
man miteinander telefonieren werde, wann keiner.
immer es ratsam erscheine.
Außenkommissar Patten, früher briti- Konferenzsaal des Außenministerrates einNoch mehr Einträge ins Washingtoner scher Hongkong-Gouverneur, ist von sei- richten. An den Ratssitzungen gedenkt er
Telefonverzeichnis werden fällig, wenn sich nen Kollegen schon gestutzt worden. mit eigenem Vortragsrecht teilzunehmen.
Doch die Finanzreferenten des Hausandere, ebenfalls für Außenpolitik zustän- Gleich in der ersten Kommissionssitzung
dige Kommissare in ihrem Job eingerichtet stellte Verheugen fest: Patten solle sich nur haltsausschusses erheben Einspruch –
haben: der Deutsche Günter Verheugen, nicht einbilden, dass er die außenpoliti- für derlei Umbauten sei kein Geld
der für die Erweiterung der EU verant- sche Nummer eins in Brüssel sei. Der Fran- da.
Dirk Koch
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Nur ein
Missverständnis
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hre Weltpremiere erlebte Raissa
Gorbatschowa synchron mit ihrem
Mann 1984 in London, wo sich der
im Westen praktisch unbekannte ZKSekretär für Landwirtschaft samt Ehefrau der britischen Premierministerin
Margaret Thatcher vorstellte.
Lange und rigoros prüfte Frau Thatcher Michail Sergejewitsch und musterte dessen Ehefrau beim kleinen
Dinner, wobei Raissa die Eiserne offenkundig – von Frau zu Frau – durch Willens- und Charakterstärke,
auch solide Bildung beeindruckte. Dann fällte die Britin
ihr Urteil über den präsumtiven Nachfolger des Alt-Bürokraten Tschernenko: „Ich
mag ihn, wir können ins Geschäft kommen.“ Die Sowjetmenschen haben so zuerst aus
dem Westen erfahren, dass sie
eine Erste Dame bekämen,
noch ehe deren Mann zum
Parteichef aufstieg.
Ihre für eine Funktionärsgattin ganz ungewohnten Eigenschaften verblüfften –
ihre angeborene Eleganz, ihr
Charme und vor allem ihre
Art, nicht nur eine eigene
Meinung zu haben, sondern
diese auch noch zu äußern.
Auf unerfindliche Weise
hatte sich während 23 Jahren
in der sowjetischen Provinz
ihr tadelloser Geschmack
entwickelt. Das selbstgefällige Tout-Paris mochte
lange nicht glauben, dass
Raissa sich keineswegs von
einem seiner Couturiers einkleiden ließ, sondern von
einer bescheidenen russischen Schneiderin.
Das profunde Wissen der
Absolventin der Philosophischen Fakultät in Moskau
und späteren Dozentin für
Marxismus-Leninismus an
der Landwirtschaftshochschule in Stawropol versetzte ihre ausländischen Gastgeber in Erstaunen. In
London zitierte die gebürtige Sibirierin
unvermittelt Hume und Hobbes, und
sie brachte Nancy Reagan mit der Frage aus der Fassung, wer denn eines der
im Weißen Haus aufgehängten Porträts
gemalt habe.
Der prämiierte Mähdrescherfahrer
und studierte Jurist Gorbatschow eignete sich noch als Parteisekretär in
Stawropol gründlichere Kenntnisse in
Ackerbau und Viehzucht im Fernstudium an. Auch er konnte keinesfalls
auf die Nachsicht der ihm angetrauten
Philosophin rechnen.
Bei der Vorbereitung einer Auslandsreise ging sie so methodisch vor,
dass die für das Programm verantwortlichen Protokollbeamten bei der
Suche nach den nötigen Unterlagen
ihre liebe Not hatten. Von jedem Ausflug jenseits der Grenzen kehrte Raissa ganz wie früher als junge Studentin
mit Notizbüchern heim, die sie auf Museumsbesuchen vollgeschrieben hatte.
NAC H RU F
tralorgan „Prawda“ den eigenen Generalsekretär einer Zensur unterzog.
All das konnte nicht folgenlos bleiben. Meckern von Spießern und Giftpfeile der Gerüchte haben Raissa stets
begleitet. Daran beteiligte sich in den
achtziger Jahren auch der damalige Moskauer Parteisekretär Boris
Jelzin.
Raissa waren die Sitten und Bräuche damaliger Parteibonzen ein Gräuel. Im heutigen Russland wird sich
kaum jemand vorstellen können, dass sie ihre Spesen penibel abrechnete und alle im
Ausland empfangenen Gastgeschenke von Wert gegen
Quittung ablieferte.
Würdig ertrug sie den
Rücktritt ihres Mannes als
sowjetischer Präsident im Dezember 1991, doch wie ein
Hieb hatte sie der AugustPutsch 1991 getroffen, der ihr
einen Schlaganfall und eine
Herzattacke eintrug. Dieser
Verrat aus der nächsten politischen Umgebung war womöglich der erste Anstoß für
die Krankheit, die am vergangenen Montag in Münster
ihr Leben beendet hat. Gorbatschows Abtritt von der
Kreml-Bühne war keine so
große Katastrophe wie das
Scheitern ihres gemeinsamen
Projekts – ein gründlich reformiertes Russland.
Sie kann das Lob nicht
hören, das ihr nun postum
zuteil wird, nicht von denjenigen, die es aufrichtig meinen, und auch nicht von jenen, die nach einer alten russischen Sitte die früheren
bösen, ungerechten Worte zu
spät bereuen. „Verzeih uns,
Raissa“, schrieb die Moskauer „Iswestija“.
Aber sie erfuhr immerhin
noch von den ehrlichen, anrührenden Reaktionen vieler einfacher Menschen auf ihre Krebserkrankung. In der Gorbatschow-Stiftung in
Moskau stehen zuhauf Tütchen mit
Flachssamen und Fläschchen mit dem
Saft einer rätselhaften roten Wurzel, zugesandt von Bewohnern des
Altai-Gebirges, die in einem Brief versichern, diese Mixtur bringe unbedingt
Heilung.
Andrej Gratschow
Raissa Gorbatschowa
222
DPA
1932 bis 1999
Mit einem seiner ersten Interviews
im US-Fernsehen versetzte Gorbatschow dem eigenen Land einen
Schock. Auf die Frage des Reporters, ob
er auch höchste politische Probleme
mit seiner Frau bespreche, gab er eine
schlichte Antwort: „Wir besprechen
alles.“ Das war schon lange so. Schier
revolutionär erschien, dass er dies der
ganzen Welt offen verkündete: ein Generalsekretär, der sich beraten ließ,
auch noch von seiner Frau. Dies war
wohl der einzige Fall in der sowjetischen Geschichte, bei dem das KP-Zen-
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Gratschow, 58, Berater und letzter Sprecher des
UdSSR-Präsidenten Michail Gorbatschow, arbeitet
jetzt als Journalist in Paris.
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Schlusskundgebung im Präsidentschaftswahlkampf 1998, Staatschef Chávez: Eine Art karibischer Gaddafi?
VENEZUELA
Putschist der Armen
„Hurrikan Hugo“ stellt sich in Deutschland vor: Fallschirmjäger Hugo Chávez, der in freien
Wahlen mit den Parteien der ruinierten Ölrepublik aufräumte, will sein DiktatorenImage loswerden. Als Präsident schwankt der Populist zwischen linken und rechten Visionen.
D
er geschwellte Brustkorb dreht sich
immer mit, wenn der starke Mann
seinen Kopf wendet. Das liegt nicht
an einem steifen Hals, auch kaum am kugelsicheren Unterhemd, sondern gehört
zu seiner Körpersprache. Vor heimischen
Menschenmengen bewegt Hugo Chávez
sich kraftmeierisch, wie ein sendungsbewusster Boxer, der nur Beifall kennt.
Die „kompakte Gestalt wie aus Stahlbeton“, die dem Romancier und Nobelpreisträger Gabriel García Márquez am
Präsidenten Venezuelas auffiel, kletterte
am Dienstag vorletzter Woche mit sportlicher Behändigkeit auf geparkten Flugzeugen herum: Acht Propellermaschinen der
staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft
wurden fernsehwirksam verhökert, um den
Erlös (acht Millionen Mark) für soziale
Maßnahmen bereitzustellen.
Das markante Mestizengesicht des einstigen Oberstleutnants der Fallschirmjäger lacht gern und leutselig, wirkt aber selten entspannt. Auch dann nicht, wenn
Hugo Chávez Frías, 45, etwas Populäres
unternimmt. „Mit diesen Maschinen“, ruft
der Präsident voll rückwirkender Empörung, „flogen einst unsere Bonzen aus
Industrie und Politik durch die Welt,
die Mittel des Volkes verprassend, wäh224
rend Venezuela in Hunger und Elend versank.“ Nur ein „gründlicher Exorzismus“,
so Chávez weiter, könne der venezolanischen Elite die bösen Geister der letzten
40 Jahre austreiben – „die Teufel der Korruption, der Verschwendung und der
Gleichgültigkeit gegenüber unseren Mitmenschen“.
Ein schwärmerischer Ernst prägt dabei
die Kommandostimme des Präsidenten, ein
Ton, der seine Gegner, aber auch manche
bürgerliche Anhänger besorgt macht:
Ist Chávez, der gescheiterte Putschist
vom Februar 1992 und Wunder wirkende
Wahlsieger vom vergangenen Dezember,
womöglich nicht nur ein charismatischer
Offizier mit dem Willen zur Macht, sondern ein Revolutionär? Eine Art karibischer Gaddafi vielleicht, der seine ölreiche Republik – und die politische Landschaft Lateinamerikas dazu – als Diktator
und Demagoge umkrempeln könnte?
Solche Fragen stellen sich diese Woche
der deutschen Außenpolitik, aber auch den
Diplomaten des Papstes: Chávez wird in
Berlin und Hamburg erwartet – und
zwischendurch im Vatikan. Vergangene
Woche hat er in New York versucht, Präsident Bill Clinton von seiner demokratischen Gesinnung zu überzeugen.
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Nicht auszuschließen, dass Gerhard
Schröder oder Johannes Paul II. bei ihren
Treffen mit dem Venezolaner einen unsichtbaren Dritten mit am Tisch dulden
müssen. Präsident Chávez besteht bisweilen darauf, dass der Sessel zu seiner Rechten leer bleibt. „Das ist der Platz für unseren Befreier Simón Bolívar“, pflegt er
seinen verblüfften Gästen zu erklären. „Er
hat ein Recht, dabei zu sein.“
Wenn Schröder oder Joschka Fischer mit
dieser Tischordnung Probleme haben sollten, können sie ja einen weiteren Sessel
dazubestellen – für Alexander von Humboldt, der, bald 200 Jahre ist es her, mit
dem Feuerkopf Bolívar gut bekannt war.
„Bolivarianische Republik“ wird das
Land demnächst tituliert. Die verfassunggebende Versammlung, die Chávez kurz
nach dem Amtsantritt, auf dem Höhepunkt
seiner Popularität, von den Venezolanern
nach dem Mehrheitswahlrecht zusammenstellen ließ, hat mächtig Schlagseite: Die
Anhänger des Präsidenten (auch seine Frau
und ein Bruder sind darunter) verfügen
über 120 der 131 Sitze. Sie sollen bis Mitte
Oktober die neue Verfassung durchpauken, die Chávez’ Handschrift trägt.
Mit diesem Instrument kann der politische Fallschirmspringer – sofern seine Po-
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Chávez-Anhänger vor dem Parlament: Bolivarianische Verfassung durchpauken
226
fasser der Schrift „Caudillo, Armee, Volk –
ein postdemokratisches Modell für Venezuela“. Darin ergeht sich der Autor in verwickelten antiimperialistischen Theorien,
die eindeutig faschistische Züge tragen. Zu
den Vorbildern, auf die Ceresole sich beruft, gehört der Franzose Robert Faurisson – ein gerichtsnotorischer „Negationist“, also Holocaust-Leugner.
Daran gemessen sind andere Einflüsse,
die an Chávez festgestellt wurden, völlig
harmlos: Er zitiert immer noch gern aus
dem Opus „Das Orakel des Kriegers“ – einer Sammlung von Lebensweisheiten, die
der chilenische Kampfsport-Guru Lucas
Estrella, 27, verfasst hat. Das Werk wurde
dem Präsidenten von seiner Frau, der blonden und politisch ehrgeizigen Marisabel,
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pularität (derzeit 70 Prozent) anhält – auf
demokratischem Weg das Fundament für
eine Diktatur errichten: im Dezember ein
neues Parlament, im Januar 2000 womöglich eine erneute Präsidentenwahl, allmähliche Entmachtung der Justiz, Einschüchterung der Presse. So beunruhigend
eine solche Machtfülle wirkt – noch alarmierender ist die Frage, was Chávez damit anfangen wird und wer Chávez überhaupt ist.
„Mystery man“ nennt ihn eine Washingtoner Zeitschrift: der Geheimnisvolle. Besorgt beugen sich politische Analytiker in Caracas über fremdartige, ja abseitig wirkende Texte, die Aufschluss geben
könnten. Da ist der krause Brief, den
Chávez – bereits Präsident – im März an
den Terroristen und mehrfachen Mörder
Ilich Ramírez Sánchez – genannt „Carlos“
– in ein französisches Gefängnis geschickt
hat. Darin redet Chávez den zu lebenslanger Haft verurteilten Venezolaner mit „Verehrter Landsmann“ an und gibt eine geistige Verwandtschaft mit dem „Schakal“ zu
erkennen, die selbst Gegner an Venezuelas
Präsidenten kaum vermutet hätten.
Verdächtig waren auch manche der Autorennamen, mit denen Chávez jahrelang
in seinen zitatenreichen Stegreifreden um
sich warf: Nietzsche und Clausewitz kamen darin oft vor, aber auch der „Kronjurist“ des Dritten Reiches Carl Schmitt und
der ebenfalls nicht unumstrittene Geopolitik-Apostel Karl Haushofer. Woher
stammt diese deutsche Ader bei einem jungen südamerikanischen Offizier?
Offenkundig von einem obskuren politischen Schriftsteller aus Argentinien, der
sich selbst als „Entdecker“ von Chávez bezeichnet: Norberto Ceresole ist der Ver-
Chávez-Gegner Salas Römer
„Der Ölreichtum hat uns korrumpiert“
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geschenkt, und seine Vorliebe dafür hat es
in Caracas zum Bestseller erhoben.
Acht Monate amtiert der ebenso redselige wie rätselhafte Offizier nun im Miraflores-Palais, ohne dass im mindesten
klar wäre, was Chávez – außer möglichst
unumschränkter persönlicher Macht –
wirklich anstrebt. Seine Rhetorik ist von
vager Brillanz, sein militaristisch-revolutionäres Vokabular für Demokraten schwer
genießbar. Obwohl Chávez neuerdings um
Mäßigung bemüht ist, klingt er oft genug
wie am Tag seines Amtsantritts, als er sämtlichen Regierungschefs des Kontinents –
mit Ausnahme des Kubaners Fidel Castro,
der sich eifrig Notizen machte – einen
Schrecken einjagte.
Nach der Eidesformel, die ihm am 2. Februar vorgelesen wurde, mochte der Offizier sich nämlich mit einem schlichten „Ich
schwöre es“ nicht abfinden. Stattdessen
vollführte er, eine Hand auf der Verfassung, vor dem Parlament und der zuschauenden Nation einen rhetorischen Salto mortale: „Ich schwöre vor Gott, vor dem
Vaterland und vor meinem Volke auf diese todgeweihte Verfassung, dass ich die
nötigen demokratischen Änderungen vollziehen lassen werde, um der neuen Republik ein Grundgesetz im Einklang mit der
neuen Zeit zu geben.“
In einem einzigen Satz hatte Chávez es
fertig gebracht, gleichzeitig eine neue Zeit
und eine neue Republik auszurufen – sowie seine Absicht zu bekunden, diese beiden Erneuerungen auch durch eine frische
Magna Charta zu legitimieren.
Noch immer ist das weinrote Barett des
Fallschirmjägers ein Solidaritätssymbol
über den Hügeln von Caracas, die heute
fast vollständig von Elendsvierteln überwuchert sind. Die Kopfbedeckung des seinerzeit 37-jährigen Vorsitzenden einer geheimen „bolivarianischen“ Offiziersloge
wurde nach dem versuchten Staatsstreich
vom Februar 1992 zum Kennzeichen seiner
Sympathisanten – und sechs Jahre später
zum Triumphsymbol einer Wahlkampagne,
an deren Ende Chávez im vergangenen
Dezember das ganze politische Establishment Venezuelas demütigend besiegte.
Dabei war jener Putschversuch ein klägliches Unternehmen gewesen, dilettantisch
und doch blutig. Der ganze Kontinent erlebte ihn als Schock: Als Chávez’ einziger
Panzer die Marmortreppe des MirafloresPalais hinaufrollte, wirkte er wie ein auferstandenes Relikt einer totgeglaubten
Epoche. Die Zeit der Staatsstreiche und
Militärregime in Lateinamerika galt seit
der zweiten Präsidentschaft Ronald Reagans als abgeschlossen. Nach dem Ende
der Pinochet-Diktatur in Chile und dem
Abtritt einiger karibischer Gewaltregime
sollte es nur noch einen einzigen illegitimen Herrscher geben, den alle Demokraten zu ächten hatten – Kubas Castro.
Es war somit ein Putsch gegen den Zeitgeist. Offiziere und Soldaten kamen dabei
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sinnlos um, aber Chávez erhielt die Chan- das Geld und die Machtverbindungen der
ce seines Lebens: Er durfte die Mitver- Männer geredet wird. Miss-Wahlen auf alschwörer im Fernsehen zur Kapitulation len nur denkbaren Ebenen kommen in Veauffordern und nutzte diese Gelegenheit nezuela stets auf die Titelseiten auch der
zu einer Propagandarede, die ihm die Sym- seriösen Zeitungen. Nachrichten über die
pathie der Millionen Armen sicherte.
beängstigende Zunahme der GewaltkrimiIndem sie „Hurrikan Hugo“ ins Mira- nalität und die immer häufigeren Fälle von
flores-Palais beförderten, holten 56 Pro- kollektiver Selbstjustiz erscheinen weiter
zent der Wähler nach, was dem Panzer hinten. Im Bundesstaat Lara hat der Goudes Oberstleutnants misslungen war: die verneur die Polizei angewiesen, bei LynchEntmachtung der politischen Klasse, die justiz nicht zu intervenieren: „Ihr habt
das Reich der Petrodollars 40 Jahre lang Wichtigeres zu tun, als Verbrecher zu begeführt – und völlig ruiniert
hatte.
Venezuela galt einmal als demokratischer Glücksfall Lateinamerikas, in dem zwei europäisch geprägte Volksparteien
– Sozialdemokraten und Christsoziale – jahrzehntelang die Politik beherrschten und einander
an der Macht ablösten. Deutsche
Stiftungen, benannt nach Konrad
Adenauer und Friedrich Ebert,
haben hier an zwei Generationen
von Politikern viel erzieherische
Mühe angewandt.
Nur haben Venezuelas Sozialund Christdemokraten ihr Land
bei der Machtausübung so lange
betrogen, bestohlen und ausgeplündert, bis die viel gerühmte
Demokratie reif für den erstbesten Oberstleutnant wurde, der
nach Höherem strebte. Von den Ehepaar Chávez: Neuerdings mit Cartier-Uhren
300 Milliarden Dollar, die Venezuela während der vergangenen drei Jahr- schützen.“ Ein Verbündeter von Chávez,
zehnte aus dem Erdöl-Export zuflossen, Admiral Grüber Odreman, fordert für Caliegt ein knappes Drittel auf Privatgut- racas die Einführung der Todesstrafe. Erhaben in Florida und Kalifornien, der schießungen sollten zur Abschreckung öfSchweiz und den Caiman-Inseln.
fentlich stattfinden.
Dafür muss Präsident Chávez nun bei
Chávez hat sich mit aller Schärfe gegen
den Gläubigerbanken um eine Umstruk- solche Demagogie gewandt. Er ist offenturierung der Auslandsschuld bitten, da die kundig bemüht, seine Lernfähigkeit unter
Staatskasse dem Zinsdienst nicht mehr ge- Beweis zu stellen. Zum brasilianischen Präwachsen ist. Von den 24 Millionen Vene- sidenten Fernando Henrique Cardoso soll
zolanern vegetieren nahezu 80 Prozent in Chávez neulich gesagt haben: „Achten Sie
Armut. Von einigen minderen Bananen- nicht auf meine Rhetorik, sondern auf meirepubliken abgesehen, erbringt Venezuela ne Taten.“ Wird er also die Armen, die ihn
– so eine Weltbankstudie – die schwächste an die Macht getragen haben, durch paRegierungsleistung ganz Lateinamerikas.
triotische und sozialromantische Sprüche
Die Frage, was in 40 Jahren Demokratie bei Laune zu halten suchen, während er
denn schief gelaufen sei, könnte dem Mann ansonsten fortführt, was die Weltbank vorgestellt werden, der bei der jüngsten Prä- schreibt: Privatisierung von Staatsuntersidentenwahl das Panikbündnis der eta- nehmen, Verkleinerung der Bürokratie,
blierten Parteien anführte – und dennoch Sparsamkeit um jeden Preis?
gegen den Putschoffizier Chávez unterlag.
Dafür spricht, dass viele seiner – in
Henrique Salas Römer, 63, ein weltläufiger früheren Zeiten – als links eingestuften
Wirtschaftsmann, schont seine eigene Klas- Wirtschaftsberater längst zum Neoliberase nicht: „Erstens waren unsere Parteien lismus konvertiert sind. Und ein weiteres,
autoritär geführte Klüngel, zweitens hat von Kolumnisten kolportiertes, von Invesder Ölreichtum uns im Lauf der Jahrzehn- toren positiv vermerktes Symptom:
te alle korrumpiert.“
Sowohl Chávez wie seine Frau MarisaIn der Tat wirken Venezuelas Ober- bel tragen neuerdings Cartier-Uhren. Und
schicht und gehobener Mittelstand selbst die First Lady ließ sich unlängst von reiheute noch bemerkenswert liederlich. Auf chen Freunden im Privatflugzeug nach
Dinner-Partys ist es weiterhin üblich, dass Florida bringen – zu ausgiebigem Shopnur über die Attraktivität (und die Schön- ping. Nach Revolution sieht das nicht
heitsoperationen) der Frauen sowie über aus.
Carlos Widmann
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FOTOS: H. SCHWARZBACH / ARGUS
Ausland
Gäste im Thermalbad „Blaue Lagune“ (bei Keflavik): „Die beste Energie, die man bekommen kann“
ISLAND
Goldener Brotfisch
Ein Wirtschaftsaufschwung ohnegleichen beschert der
Vulkaninsel einen Spitzenplatz in Europa – aber
auch ungewohnte Interessenkonflikte mit Umwelt und Natur.
I
m unwegsamen Hochland stieß die Reisegruppe unerwartet an eine Straßensperre. Auf einer schmalen Brücke
unweit des Gletschers Vatnajökull blockierte ein quergestellter Jeep ihren Bus.
Ein Grüppchen von Umweltaktivisten
stoppte die Expedition, zu der Islands nationales Energieversorgungsunternehmen
seinen gesammelten Vorstand gebeten hatte. Die Manager mussten zwei Protestresolutionen über sich ergehen lassen, mit
anschließender Diskussion, danach erst
durften sie ihren Trip fortsetzen.
Die feine Gesellschaft war auf dem Weg
zu Islands größtem und umstrittenstem Industrieprojekt. Im Feuchtgebiet Eyjabakkar am Fuße des mächtigsten isländischen
Gletschers soll in den nächsten Jahren ein
gigantisches Wasserkraftwerk entstehen,
um eine neue Aluminiumschmelze – die
größte in Europa – mit Strom zu versorgen.
Dafür will die Regierung über 46 Quadratkilometer unberührter Natur fluten.
Der Stausee würde nicht nur eine in Westeuropa beispiellose Landschaft vernichten,
sondern auch die Weidegründe für die einzige wilde Rentierherde der Insel sowie
Mauserplätze von tausenden besonders geschützter Kurzschnabelgänse.
Der World Wide Fund for Nature (WWF)
vergleicht die Gegend mit dem Yellowstone-Nationalpark in den USA. „Eyjabakkar muss unter besonderen Schutz gestellt werden“, verlangt Arni Finnsson vom
Naturschutzverband, der den Widerstand
organisiert.
Blockaden und Protestaktionen zum
Schutz der Landschaft, das hatte es im
230
Staatschef Grímsson: Fischköpfe und Filets
Land der Gletscher und Geysire bis dahin
noch nicht gegeben. Die 274000 Einwohner
der entlegenen Republik hoch oben im
Nordmeer interessierten sich in erster Linie für den Laichstand von Kabeljau oder
Hering, urtümliche Natur haben sie im
Überfluss.
Doch seit die Regierung in Reykjavik
die vierte große Aluminiumhütte plant
und dafür weite Flächen opfern will,
schwappt eine Protestwelle über die Insel. Die spülte im Mai erstmals die Grünen
ins Parlament und bringt inzwischen auch
die Intellektuellen auf. An die hundert
Künstler machten sich kürzlich auf den
beschwerlichen Weg, um zwischen Moosen
und Mooren für deren Schutz zu demonstrieren.
„Wir brauchen die Fabrik für unsere
wirtschaftliche Entwicklung“, hält Handels- und Industrieminister Finnur Ingólfsd e r
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son dagegen. „Es handelt sich schließlich
um grüne Energie“, beschwichtigt selbst
die Umweltministerin Siv Fridleifsdottir,
„die beste, die man bekommen kann.“
Das umkämpfte Industrieprojekt ist der
Preis für einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung. Binnen weniger Jahre entwickelte sich die kleine Nation zu Europas
Musterschüler. Wachstumsraten von mindestens 5 Prozent jährlich seit 1996 brachten dem Eiland einen Spitzenplatz
unter den OECD-Ländern (Durchschnitt: 2,9 Prozent) ein. Die Arbeitslosigkeit sank von über 5 auf
konkurrenzlose 1,5 Prozent in diesem Sommer; die Inflation fiel von
über 50 Prozent noch vor 15 Jahren
auf inzwischen 2 Prozent. Die Realeinkommen stiegen in den letzten
zwei Jahren um acht bis neun Prozent, die Kaufkraft explodierte.
Grund für das Hoch im Norden
ist die florierende Fischindustrie.
Acht von zehn Kronen im Export
werden mit Kabeljau und Rotbarsch, Hering und Heilbutt verdient. „Der Kabeljau ist der Brotfisch der Isländer“, sagen die Einheimischen. Mit Fangquoten von über
230 000 Tonnen jährlich entpuppt er sich
geradezu als Goldfisch. So lässt es sich
Staatspräsident Olafur Ragnar Grímsson
nicht nehmen, persönlich auf der Fischereimesse zu erscheinen und zwischen
Kabeljauköpfen und entgräteten Filets,
Frostergeräten und Filetiermaschinen herumzustiefeln.
Längst haben sich die Isländer an ihren
hohen Lebensstandard gewöhnt, der Kneipen und Restaurants trotz horrender Preise (Bier: zwölf Mark) bis tief in die Nacht
füllt. Doch die Regierung traut dem neuen
Wohlstand nicht ganz. „Wir sind zu abhängig von der Fischerei“, hat Ministerpräsident David Oddsson erkannt. Man
profitiere derzeit von geringen Energiekosten für die Kutterflotte und hohen Marktpreisen für die Meeresprodukte. Aber „die
Preise können rauf und runter gehen,
der Fisch kann auch wegbleiben“, sagt
Oddsson und erinnert daran, wie in den
sechziger Jahren plötzlich der Hering
verschwand.
Um die geplanten Wachstumsraten von
rund drei Prozent für die nächsten Jahre zu
garantieren, müsse Island neue Arbeitsplätze in anderen Zweigen schaffen, warnen Wirtschaftsexperten. Der Tourismus,
der 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
ausmacht und an zweiter Stelle liegt, stößt
an Grenzen. Mit gut 250 000 Urlaubern
jährlich ist der Fremdenverkehr schon jetzt,
gemessen an der Einwohnerzahl, fast so
stark wie im Reiseland Spanien.
Was liegt da näher, als Islands wichtigste Ressourcen verstärkt auszubeuten, die
Energiegewinnung aus Wasser und Geothermik. Nur rund zehn Prozent der sauberen Energiequellen sind bislang genutzt.
„Wir müssen die energieintensive Produktion fördern“, verlangt Industrieminister
Ingulfsson und setzt dabei ausdrücklich auf
den Zukunftsmarkt von Aluminium, etwa
beim Bau energiesparender Autos.
Gänzlich ungelegen kommt der Regierung gerade zu diesem Zeitpunkt eine andere Debatte, die immer wieder neu entflammt: der ewige Streit um den Beitritt zu
EU und Euro. „Island darf politisch nicht
hinter dem Polarkreis verschwinden“, bekommt Reykjavik immer wieder vom Kontinent zu hören.
Die Beitrittskriterien wären längst erfüllt, und über 70 Prozent des Außenhandels werden ohnehin mit der EU abgewickelt. Doch während sich die Union
sonst kaum vor Bewerbern retten kann,
widersetzt sich das kleine Eiland hartnäckig. „Was sollen wir dadurch gewinnen?“, fragt Oddsson. „Im Gegenzug verlieren wir den entscheidenden Einfluss auf
das für uns wichtigste Thema, den Fisch“,
meint er, „das können wir nicht zulassen.“
Die Erinnerung an den Kabeljaukrieg
von 1976, als britische Trawler in isländische Fanggebiete eindrangen, ist noch
wach. Isländische Patrouillenboote kappten die Fangleinen und wurden dafür von
Kriegsschiffen Großbritanniens bedrängt
und manchmal auch gerammt.
Erst nach Drohungen, seinen Nato-Verpflichtungen nicht nachzukommen, konnte Reykjavik eine 200-Seemeilen-Grenze
durchsetzen. Nur eine bescheidene Fangquote von 3000 Tonnen, garniert mit allerlei Auflagen, treten die Insel-Skandinavier
derzeit an Europa ab. Für eine Änderung
wären neben den Briten vor allem Spanien und Portugal dankbar, die Europas größte Fischereiflotte unterhalten.
Da stellen sich Islands Regierende lieber
stur. Fabrik und Kraftwerk werden gebaut
wie geplant, „und wir werden feststellen,
dass dies nicht so schlecht ist für die Natur“, beteuert der Regierungschef. Und der
EU-Beitritt bleibt ausgesetzt, so Oddsson,
zumindest so lange, „bis ich nicht mehr im
Amt bin“.
Manfred Ertel
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Ausland
USA
Die Zumutung der harten Liebe
Mit rabiaten Mitteln wurde in den Vereinigten Staaten die Zahl der Sozialhilfeempfänger
gesenkt – und ein Heer von „working poor“ geschaffen: Menschen, die trotz Ganztagsjob nicht
genug zum Leben verdienen. Der Wirtschaftsboom hat die Armen nicht erreicht.
einig: Um die ungeliebten Staatsgäste zurück an die Werkbank zu
treiben, darf man nicht zimperlich
sein. Wer etwa in Sedalia aufs Amt
geht, um Stütze abzuholen, kann
sich alsbald inmitten von blutigen
Gedärmen wiederfinden.
„Direct Job Placement“, erklärt
Joyce Dameron vom Sozialamt das
System. Es funktioniert so: Die
Hühnerfleischfabrik von Tyson
Foods, dem größten Arbeitgeber
am Ort, meldet ihre freien Stellen
direkt ans Sozialamt, das postwendend seine Klienten schickt. Die
können das Angebot, für 5,50
Dollar die Stunde am Fließband
Innereien aus Hühnerbäuchen zu
reißen, kaum ablehnen: Wer sich
weigert, verliert die Beihilfe.
Auf diese Art entstand eine für
Staat und Unternehmen praktische
Symbiose. Der Lebensmittelmulti (Umsatz 1998: 7,4 Milliarden
Dollar) kriegt Billigarbeiter frei
Haus, das Sozialamt senkt die Fallzahlen.
Nötigung? Eine Art Zwangsarbeit? Dameron schüttelt den Kopf:
„Wer Arbeit braucht, muss alles nehmen“,
findet sie. „Wer solche Jobs nicht will, kann
auch von uns nichts haben.“
Sedalias „Direct Job Placement“ wurde
Vorbild für den Staat Missouri, andere
schlossen sich an. Drei Jahre nach Einführung der Clintonschen „Friss oder
AP
M
anchmal ist es ein Segen,
dass viele der Bedürftigen,
die im Sozialamt Sedalia
(Missouri) Hilfe suchen, kaum lesen
können. Sonst würde sie der Mut
schon im Warteraum verlassen. An
der Wand des Flachbaus wird das
amerikanische Ideal vom eigenständigen Individuum gepriesen: „Wir
sind ein Produkt unserer Entscheidungen, nicht unserer Umstände“,
steht da, und: „Ändere deine Gedanken, und du änderst die Welt.“
Mit freundlicher Aufmunterung
haben diese Sinnsprüche kaum
noch zu tun. Die Sozialhilfeempfänger im 20 000-Seelen-Städtchen
Sedalia haben, wie alle ihre Schicksalsgenossen im Land, längst keine
Wahl mehr. Seit Bill Clinton vor
drei Jahren das „Ende des Sozialstaats, so wie wir ihn kennen“, ausgerufen hat, gilt: Jeder Fürsorgeempfänger, der arbeiten kann, muss
auch arbeiten. Bezahlung, Wochenstunden, Arbeitsbedingungen sind
dabei zweitrangig.
„Work first“ heißt die Formel, Präsident Clinton*: „Auch hier gibt es Märkte“
um Sozialhilfeempfänger wieder in
den Arbeitsprozess zu integrieren, „erst Bill Clinton seine Reform. „Tough love“,
mal arbeiten“. Damit die Lust am neuen harte Liebe, nennt sie der Volksmund.
Sozialhilfeempfänger gelten im Land der
Job auch anhält, begrenzte Washington zugleich die Zuwendungen. Jeder Amerika- Do-it-yourself-Millionäre leicht als Parasiner hat höchstens fünf Jahre seines Lebens ten, Faulpelze, Verlierer. Die Nation ist sich
einen Anspruch auf Sozialhilfe. „Gesetz
zur persönlichen Verantwortung“ nannte * Bei einer Kundgebung am 5. Juli in Hazard (Kentucky).
Im Schatten des Aufschwungs
Die Zahl der Sozialhilfeempfänger sinkt...
15
9,50
14,2
14
9,00
13
8,50
12
8,00
7,00
7,6
(unteres Fünftel der Beschäftigten)
Armutsgrenze* 7,89
Frauen
Durchschnittliches
Reale
NettojahresHaushalte nach einkommen*
Veränderung
Einkommen
gegenüber 1977
1999; in Dollar
unteres
Fünftel
oberes
Fünftel
8800
20 000
31 400
45 100
102 300
–12,0%
–9,5%
–3,1%
+5,9%
+ 38,2%
1% Spitzenverdiener
515600
+119,7%
in Preisen von 1997
6,00
5,50
Quelle: US-Gesundheitsministerium Dez.
1990 91 92 93 94 95 96 97 98
234
Durchschnittlicher Stundenlohn
bei Geringverdienern
6,50
9
7
Männer
...und vom Wirtschaftsboom
profitieren nur die Reichen.
7,50
11 11,5
Sozialhilfeempfänger
10
in Millionen
8
...doch auch Arbeit
schützt vor Armut nicht...
in Dollar
5,00
*notwendiger Stundenlohn um bei Vollzeitarbeit einen 4-Personen-Haushalt Quelle: Economic
über der Armutsgrenze zu halten
Policy Institute
1973
1977
d e r
1982
1987
s p i e g e l
1992
1997
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Quelle: CBPP
*geschätzt
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AP
WOODFIN CAMP
treibt gleichzeitig die Mieten in für ihn
unerreichbare Höhen.
Die US-Bürgermeisterkonferenz berichtet, dass die Nachfrage nach Schlafplätzen
1998 um elf Prozent gestiegen ist – und immer mehr Obdachlose haben Arbeit. Sozialhilfeempfänger, die einen Job gefunden haben, verdienen laut Urban Institute
etwa sieben Dollar die Stunde – zu wenig,
um eine Familie über die Armutsgrenze
zu hieven. Eine vierköpfige Familie mit
zwei Kindern kann da nur mit Hilfe begleitender Maßnahmen wie Essensmarken,
Kinder- und Krankenversorgung, Sozialwohnungen und Lohnsubventionen die
offizielle Armutsgrenze von 16 530 Dollar
überspringen. Was aber passiert, wenn
nach fünf Jahren die Zugaben wegfallen?
Scheinbar unbeirrt preist das Weiße
Haus den Erfolg der Reform. Doch dem
Präsidenten ist klar, dass er die ZusatzhilObdachlosenunterkunft in New York: Kehrseite der Globalisierung
fen massiv erhöhen muss, will
er sein Werk nicht gefährden.
stirb“-Methode melden nun alle 50 StaaSeine republikanischen Gegenten Vollzug. Die Zahl der Fürsorgeempspieler aber wollen die Hausfänger ist um spektakuläre 40 Prozent
haltsüberschüsse lieber an die
gesunken. Zwei Drittel davon fanden
Wähler verteilen. Um das öfArbeit, 20 Prozent verschwanden spurfentliche Bewusstsein zu schärlos aus der Statistik. Nur noch 7,3 Milliofen, besuchte Clinton, eine Denen Amerikaner leben heute auf Staatslegation von Unternehmern im
pump – ein Tiefststand wie zuletzt vor
Schlepptau, unlängst die ärms32 Jahren.
ten Regionen seines Landes.
Die große Nachfrage nach Arbeitern
Seine Botschaft: Auch hier gibt
brachte sogar Ex-Drogensüchtige und Exes Märkte zu erobern.
Häftlinge wieder in Jobs. Die ArbeitsloSo bereiste er die trostlosen
senrate schrumpfte auf 4,2 Prozent. Grund
Wohnwagenparks am Fuß des
zum Feiern, fand der Präsident. Er lud 2000
Appalachen-Gebirges in West
Unternehmer, die mittels staatlicher För- Suppenküche in Cleveland: Täglich hungrig ins Bett
Virginia, er fuhr nach Kentucky
derung Sozialhilfeempfänger eingestellt
haben, zum Navy Pier nach Chicago. sche Bundesamt der USA registriert für und Ohio, besichtigte die Wellblechhütten
Gerührt lauschten die Bosse von Burger 1997 eine offizielle Armutsrate von 13,3 im Mississippi-Delta und East St. Louis. In
King, Rank Xerox oder United Parcel Ser- Prozent – 1989, nach der langen Rezession, diesen Gegenden herrscht tiefe Armut, die
vice der neuesten Version des amerikani- betrug sie nur 12,8 Prozent. Heute lebt das Bewohner haben oft seit Generationen keischen Traums: Dankbare „Job-Rückkeh- ärmste Fünftel der Haushalte von durch- ne Arbeit. Autowracks liegen im Garten,
rer“ erzählten ihre Erfolgsgeschichten. schnittlich 8800 Dollar im Jahr. 1977 blie- Kinder spielen im Müll. Hier erinnert AmeTatsächlich sind die meisten von ihnen ben ihm noch 10 000 Dollar. Die Schere rika eher an Bangladesch als an die mofroh, den Stempel des Schmarotzers los zu zwischen Arm und Reich öffnet sich wei- dernste Technologienation der Welt.
Clinton besuchte auch das Pine-Ridgesein. Und sie hoffen, sich irgendwann die ter und schneller als je zuvor. Im wirtschaftsstärksten Land der Erde gehen vier Indianerreservat in Süd-Dakota – erstmals
Leiter hochzuarbeiten.
Doch das Selbstlob am Lake Michigan Millionen Kinder unter zwölf Jahren hung- seit Präsident Franklin Roosevelt 1936 traupasst nicht so recht zur harten Realität rig zu Bett, weitere 9,6 Millionen sind vom te sich ein Präsident wieder zu den Alhinter Clintons Zahlen-Feuerwerk: Ob- Hunger bedroht, meldet das Food Research lerärmsten. Nirgendwo ist die Arbeitslowohl mehr Menschen arbeiten, ist die Ar- and Action Center. Der eindrucksvolle Auf- sigkeit und die Alkoholikerzahl höher. Der
mut kaum gesunken. Vielmehr, so fand das schwung nimmt die 35,6 Millionen Armen Häuptling aus Washington setzte sich vor
das trostlose Häuschen von Geraldine Blue
unabhängige Washingtoner Urban Insti- nicht mit nach oben.
So wird das Land der unbegrenzten Bird und fühlte mit, als die Indianerin untute heraus, hat die staatliche Arbeitsverordnung ein Heer von „working poor“ ge- Möglichkeiten nun um „flexible“ Lebens- ter Tränen ihre Lebensbedingungen schilschaffen – Arbeitnehmern, deren Lohn formen wie die von Kenneth Lindo berei- derte: wie sie mit 27 Personen fünf Schlafnicht von der Armut befreit, Menschen, chert. Der 44-Jährige ist Bote im New zimmer in Haus und Wohnwagen teilt, wie
die trotz 40-Stunden-Woche mittellos Yorker Börsenviertel. Tagsüber läuft er sie im Winter friert, weil sie die 50 Dollar
durch die edlen Foyers der Investment- nicht hat für das Propangas.
sind.
Clinton versprach zu helfen. Mit SubSo erleben die USA derzeit zwei Seiten banken, abends wartet er auf ein Bett im
der Globalisierung: hier eine entfesselte Obdachlosenheim. Manchmal müsse er ventionen, Steuervergünstigungen, garanBörse mit Gewinnen jenseits der Ver- die halbe Nacht Schlange stehen, erzähl- tierten Niedriglöhnen soll Kapital in struknunftgrenze, dort Arbeitsplätze, von de- te er der „New York Times“. Denn die turschwache Gebiete gelockt werden. Die
20 Dollar für ein Zimmer in Harlem sind Bank of America kündigte sogleich die
nen viele Bürger nicht leben können.
Trotz der höchsten Beschäftigungsquo- bei einem Stundenlohn knapp über dem Gründung eines 500-Millionen-Dollarte seit 29 Jahren sank die Armut nur ge- offiziellen Mindestlohn von 5,15 Dollar Fonds für Investitionen in Armutsgebieten
ringfügig, berichtet das liberale Center for nicht mehr drin. Der Wirtschaftsauf- an. Falls die Sache schief geht, bürgt die
Budget und Policy Priorities. Das statisti- schwung, der Lindo den Job beschert, Regierung. „Dies sind eure neuen Märkte“,
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Ausland
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von Deodorant. Das Lösen von Konflikten
mit Worten statt Fäusten. Und natürlich: lesen, schreiben, rechnen.
Eine solch intensive Betreuung bessert
die Chancen auf einen dauerhaften Rollenwechsel. Doch nur wenige dürfen an
dem Projekt teilnehmen. Beispielsweise
Vonda Welsh. Die 25-Jährige ist stolz auf
den Dreck unter ihren Fingernägeln: Sie
hat nach einem Kurs bei Hurst einen Job
bei Elektro Leesons in Sedalia ergattert
und baut, für sieben Dollar die Stunde,
kleine Motoren zusammen.
Welsh hat eine typische Fürsorgekarriere hinter sich: High School in Sedalia, ein
Job als Zimmermädchen im Motel, mit 17
wurde sie schwanger und bezog seitdem
Sozialhilfe. Mit 18 heiratete sie einen Mechaniker ohne feste Anstellung. Die Familie lebte von gelegentlichen Aufträgen, von
AP
rief der Präsident den mitreisenden Unternehmern zu.
Für die Arbeitnehmer wird indes das
Geldverdienen immer schwerer, wie die
neueste Studie des Economic Policy Institute (EPI) zeigt. Dessen Analyse ergab, dass
die Profite der Neunziger auch auf Kosten
der Löhne gingen. Wären die wie früher
mitgewachsen, hätten sie 1997 sieben Prozent höher sein müssen. Obwohl die Löhne momentan leicht steigen, verdienen viele Amerikaner real immer noch weniger
als vor zehn Jahren.
Die Gehälter der Spitzenmanager dagegen verdoppelten sich laut EPI zwischen
1989 und 1997 – auf das 116fache des Lohns
eines Durchschnittsarbeitnehmers. Zwölf
Prozent der Amerikaner häufen 88 Prozent des privaten Vermögens an. Heute
verfügen 2,7 Millionen US-Bürger – ein
Prozent der Bevölkerung – über das gleiche Nettoeinkommen wie die ärmsten 100
Millionen – eine glatte Verdoppelung
seit 1977.
Das Ungleichgewicht trifft neuerdings
auch den Mittelstand hart, berichtet das
EPI. Nicht nur, dass dessen Wohlstand nur
noch halb so schnell wächst wie der der
Reichen. Wollte eine Mittelstandsfamilie
1996 ihren Einkommensstandard von 1989
halten, musste sie 247 Stunden mehr arbeiten. Mittlerweile haben sieben Prozent
der Arbeitnehmer mehrere Jobs, und in
den Vororten sieht man Mittelstandsväter
am Wochenende Nachbars Rasen mähen,
um die Haushaltskasse aufzubessern.
Bleibt die Hoffnung, vom Aktienboom
zu profitieren. Doch die Vorstellung, dass
jeder Amerikaner in irgendeiner Form Aktien besitze, trügt. Noch 1995 hatten knapp
60 Prozent aller Haushalte keinerlei Wertpapiere. Der anhaltende Taumel an der
Wall Street zog zwar immer mehr Menschen an, die meisten jedoch nur mit kleinen Beträgen um die 5000 Dollar.
Den untersten Schichten ist der Zugang
zur Börse versperrt durch ein Problem,
welches „das dreckige kleine Geheimnis
der USA“ genannt wird: Über ein Fünftel
der Erwachsenen zählt zu den „funktionellen Analphabeten“. Sie können ihren
Namen schreiben und einfache Anweisungen entziffern. Doch jeder komplexere Text
– die Gebrauchsanweisung eines Medikaments, das Ausfüllen eines Bewerbungsbogens – überfordert sie. Und schätzungsweise acht Millionen US-Bürger können
überhaupt nicht lesen und schreiben.
Marsha Hurst, Lehrerin vom Work Force
Development Board in Sedalia, trainiert
Härtefälle – Langzeitarbeitslose, allein stehende Mütter. Die meisten, die zu ihr kommen, sind ohne Schulabschluss, ohne Arbeitserfahrung. Manche haben Drogenoder Gesundheitsprobleme. „Diese Menschen haben ernsthafte Schwierigkeiten,
im Arbeitsleben zu funktionieren“, sagt
Hurst. Also übt sie mit ihnen: Pünktlichkeit, Verantwortungssinn, die Benutzung
Armen-Protest in Kalifornien
„Wer Arbeit braucht, muss alles nehmen“
Stütze und Essensmarken. 1996 kam das
zweite Kind. Zwei Jahre später erkrankte
der Sohn und wurde taub. Um ihn versorgen zu können, fing Vonda beim Billigmarkt Wal-Mart als Verkäuferin an. Als das
Sozialamt die Beihilfen kürzte, gab sie auf.
Schließlich wurde sie zu Marsha Hurst
geschickt. Sie bekam ihren neuen Job und
setzt nun alles daran, ein ganz normales Familienleben zu führen. 1150 Dollar verdient die junge Frau im Monat, doch ohne
die 500 Dollar Rente für das behinderte
Kind kämen sie nicht über die Runden. Für
eine Krankenversicherung reicht es nicht,
auch nicht für ein Auto. Das Sozialamt
steuert noch Essensmarken für Milchprodukte zu.
Vonda Welsh nimmt Tabletten gegen Depressionen. „Jeden verdammten Tag kämpfen wir ums Überleben“, sagt sie, „ich
arbeite 40 Stunden, und wenn ich ins Bett
falle, frage ich mich: Wie, um Himmels
willen, machen es die, die es zu etwas
bringen?“
Michaela Schießl
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Sport
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ich will mich ausprobieren“
SPIEGEL: Frau Schenk, wenn Sie in ein fernes Land fliegen, was füllen Sie bei der
Einreise unter „Beruf“ aus?
Schenk: Da gibt’s einige Möglichkeiten. Bei
der Krankenkasse bin ich Studentin. Das
Gewerbe, das ich beim Finanzamt angemeldet habe und worauf ich Steuern zahle, ist Sportlerin. Und wegen meiner Vereinbarungen mit dem Südwestrundfunk
könnte ich mich Journalistin nennen, aber
das fände ich hochgestapelt. Ich bin auf
dem Weg dahin.
SPIEGEL: Und deshalb haben Sie, die ExWeltmeisterin, Weltcupsiegerin und der
Darling der Medien, mit 25 Jahren Ihre Eisschnelllaufkarriere drangegeben?
Schenk: Hoppla! Ich setze zunächst mal
nur für ein Jahr aus.
SPIEGEL: Dennoch scheint Ihnen die
„Guinness-Show“ in der ARD, bei der Sie
vorigen Samstag neben Reinhold Beckmann wieder als Co-Moderatorin auftraten, wichtiger zu sein als Medaillen.
Schenk: Wir müssen hier mal zwischen
zwei Baustellen trennen. Ich mache dieses
Jahr noch zweimal die „Guinness-Show“,
also Unterhaltung. Und ich arbeite in der
Sportredaktion des SWR, zum Beispiel
produziere ich viertelstündige Interviewfilme für die Sendung „Flutlicht“. Das
kann man zwar nicht mit einer Samstagabend-Show vergleichen, aber ich will mich
da auf vielen Gebieten ausprobieren.
SPIEGEL: Was ist an dem Tag passiert, an
dem Sie sich gegen den Eisschnelllauf und
fürs Fernsehen entschieden haben?
Schenk: Das ist nicht über Nacht oder so
passiert. Das war eine sehr bewusste Entscheidung, ein langer Prozess. Ich habe seit
drei, vier Jahren am Ende jeder Saison
nachgedacht: Was wäre, wenn ich jetzt aufhöre oder eine Pause mache? Aber dagegen standen immer irgendwelche Ziele –
Weltmeisterschaften, Olympia –, und auf
die hatte ich ja jahrelang hingearbeitet. Im
vorigen Jahr habe ich mich dabei erwischt,
dass ich spürte: Eigentlich würde ich mich
jetzt lieber anderen Dingen widmen.
SPIEGEL: Die meisten Leistungssportler
kommen auf solche Gedanken entweder
erst bei schweren Verletzungen, wenn sie
von der Konkurrenz abgehängt werden
Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Alfred
Weinzierl.
242
T & T
Die frühere Eisschnelllauf-Weltmeisterin Franziska Schenk über
Sportler als Markenartikel, die Instrumentalisierung der Medien, den Neid der
Kollegen und die Sehnsucht nach dem Rücktritt zur richtigen Zeit
Franziska Schenk
gewann 1997 die Eisschnelllauf-Weltmeisterschaft im Sprint. Die gebürtige Erfurterin, 25, die als Olympia-Dritte 1994
schnell zum von Werbung und Medien
begehrten Star wurde, hat ihre Sportkarriere für mindestens ein Jahr unterbrochen: Für den Bayerischen Rundfunk
assistiert sie Reinhold Beckmann bei der
„Guinness-Show“, für den Südwestd e r
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rundfunk macht sie eine Interviewreihe
mit Sportlern, in der ARD präsentierte
sie vergangenen Sonntag erstmals das
„Sportschau-Telegramm“; bei den Olympischen Spielen in Sydney und in Salt
Lake City wird die Studentin der Filmwissenschaft (Nebenfächer: Publizistik
und Germanistik) zum ARD-Reporterteam gehören.
AP
oder wenn sie alles erreicht haben und in
ein Motivationsloch fallen.
Schenk: Das kommt auf den Ansatz an, mit
dem man Leistungssport betreibt. Studierenden Sportlern wird gern unterstellt, dass
die Uni nur ein Alibi sei, um zu zeigen, dass
man auch geistig in der Lage ist, etwas zu
leisten. Für mich war das Studium genauso Abwechslung wie die Praktika, die ich
bei einer Zeitung und zweimal beim Fernsehen gemacht habe. Jedes Mal musste ich
mich verabschieden mit dem Satz: Leute,
es hat mir riesig gefallen, und ich würde
gerne länger bleiben – aber der Sport geht
jetzt vor.
SPIEGEL: Und nun?
Schenk: Ich hatte vom SWR ein so interessantes Angebot, dass ich gesagt habe: Erstens möchte ich mir nach zehn Jahren
diese völlige Vereinnahmung des Lebens
durch den Sport nicht länger geben. Zweitens möchte ich in dem Jahr herausfinden:
Ist der Journalismus das, was ich will?
SPIEGEL: Es gab viele Sportler, die haben
den Absprung versucht, scheiterten in
ihrem neuen Leben und kehrten fix wieder
zurück. Wollen Sie sich mit der befristeten
Pause vor der Peinlichkeit schützen, im
nächsten Jahr vielleicht den Rücktritt vom
Rücktritt bekannt geben zu müssen?
Schenk: Woher soll ich heute wissen, ob
ich im Winter meinen Sport vermissen werde? Kein aktiver Athlet kann wissen, wie
ein anderes Leben aussieht. Wenn man sich
neue Klamotten kaufen will, dann probiert
man im Laden erst mal alles an und entscheidet sich dann. Im Moment stöbere ich
durch die Regale.
SPIEGEL: Nach ihrem Wimbledonsieg hat
die Amerikanerin Lindsay Davenport über
ihre Gegnerin Steffi Graf gesagt: „Die Steffi kann jetzt den Ausstieg selbst bestimmen. Das ist ja das, was wir uns alle wünschen.“ Gibt es eine branchentypische
Sehnsucht von Sportlern, das richtige Timing für den Abschied zu finden?
Schenk: Wir Sportler sind in einer Ausnahmesituation. Der 58-jährige Manager,
Eisschnellläuferin Schenk*: „Der ,Playboy‘ schadet eher“
der vorzeitig in Pension geht, kann sich einen schönen Lebensabend machen. Also
kauft er sich endlich sein Segelboot und
schippert über die Elbe. Für den 30-jährigen Sportler fängt nicht der Lebensabend
an, sondern der aktivere Teil des Lebens –
der muss gestaltet werden.
SPIEGEL: Steffi Graf überrascht uns seit
ihrem Rücktritt mit einem veränderten
Auftreten – weil sie die sportlichen Zwänge nicht mehr hat?
Schenk: Ich glaube, dass sie schon immer so
war, wie sie sich jetzt gibt. Aber sie wollte
nicht, dass das sichtbar wird – weil es Konzentration auf den Wettkampf kostet.
SPIEGEL: Kritiker, darunter auch Ihr Trainer, hielten Ihnen vor, dass unter der Mehrfachbelastung Werbung, Fernsehen und
Studium keine 100-prozentige Konzentration auf den Sport möglich sei.
* Bei ihrem Sturz während der Olympischen Spiele in
Nagano am 19. Februar 1998.
Schenk: Das muss er als Trainer so sehen.
Er weiß aber auch, dass ich nicht der Typ
für diesen Tunnelblick bin. Und was die
professionellen Kritiker angeht, das sind
Moden: Mal ist derjenige toll, der nur seinen Sport kennt und sich nicht von so
schlimmen Sachen wie Werbung ablenken
lässt; mal wird der mündige Athlet, der
drei Sätze geradeaus reden kann, gefeiert
– je nachdem, was gerade „in“ ist.
SPIEGEL: Wie viel büßen Sie auf Grund Ihrer Wettkampfpause finanziell ein?
Schenk: Ich verdiene weniger als mit dem
Sport, aber ich nage nicht am Hungertuch.
Ich bin beim SWR ja nicht umsonst tätig.
Und dann arbeite ich weiterhin mit meinen
alten Werbepartnern zusammen. Das Geld
kann es nicht sein, das mich zurück zum
Sport treibt.
SPIEGEL: Die „Frankfurter Allgemeine“ hat
Sie einen „Markenartikel“ genannt, der die
Attribute „schön, schnell und gescheit“ …
Schenk: … schnell ist ja nicht mehr.
M. SANDTEN
WEREK
DPA
DPA
R. FESSEL / BONGARTS
Das Leben danach Deutsche Sportstars, die 1999 ihre Karriere beendet haben
DIETER THOMA
STEFFI GRAF
KATJA SEIZINGER
JÜRGEN KLINSMANN BORIS BECKER
„Die Skispringer-Weltspitze
kann ich nach acht Knieoperationen und einem Knorpelschaden nicht mehr erreichen. Ich möchte auch mit
40 noch normal laufen.“
„Ich staune über mich
selbst, wie leicht mir der Abschied gefallen ist. Wie wenig es mir bedeutete, auch
die Sicherheit aufzugeben,
die mir der Tennisplatz bot.“
„Momentan habe ich weniger Zeit als früher. Ich studiere BWL und mache meine
ersten Gehversuche in der
freien Wirtschaft. Das geht
von acht bis sechs Uhr.“
„Ich habe immer das Studentenleben vermisst, das
meine Kumpel genossen. Einen Hauch davon kann ich
nun erleben, mit Fortbildung
etwa in EDV und Spanisch.“
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„Die Doppelfunktion
Teamchef und Spieler war
aus der Not entstanden. Erst
jetzt kann ich meine Aufgabe
beim Deutschen Tennis Bund
wirklich erfüllen.“
243
Sport
SPIEGEL: Wir zitieren aus einer Zeit, als Sie
zen. Oder auch Zeitschriften: Mit der OttoWerbung war ich Thema in allen Modeund Frauen-Illustrierten.
SPIEGEL: Ist der sportliche Erfolg nur noch
Nebensache?
Schenk: Ich würde keinem raten, Nebenschauplätze zu inszenieren, ohne wirklich
eine Basis zu haben. Eine Fotostrecke im
„Playboy“ mag was unglaublich Spannendes sein, und damit hat man auch garantiert das Medieninteresse, aber langfristig
schadet das eher. Eine Sache ist schlecht,
wenn es keine Antwort auf die Frage gibt:
„Wie ist sie denn darauf gekommen?“
SPIEGEL: Wie sind Sie denn darauf gekommen, sich fotografieren zu lassen – nur mit
Schlittschuhen bekleidet und mit Silberfarbe bemalt?
SPIEGEL: Sie haben das Foto gesperrt.
Schenk: Der Zweck war erfüllt. Es ist auch
S. MATZKE / S.A.M.
noch schnell waren.
Schenk: Ich habe das gelesen. Und wenn
jetzt geschrieben wird, ich sei nur noch
schön, dann finde ich das eigentlich ganz
witzig. Ich habe ein entspanntes Verhältnis
zum Kommerz. Solange es sowohl den Unternehmen, dem Sport als auch mir hilft,
haben wir doch nichts falsch gemacht.
SPIEGEL: Sie waren in einem Jahr 233 Minuten als Interviewgast auf dem Fernsehschirm – mehr als Matthäus, Schumacher
oder Becker; nur Franziska van Almsick
kam öfter. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Schenk: Eisschnelllauf ist eine Randsportart. Bei Olympia oder Weltmeisterschaften kommt man damit ins Programm, und
sonst bleibt man draußen. Es sei denn, man
TV-Moderatorin Schenk in der „Guinness-Show“: „Ich stöbere durch die Regale“
bringt sich auf die Agenda anderer Sendungen. Meine 233 Minuten sind nicht im
„Aktuellen Sport-Studio“ zusammengekommen, sondern bei „Menschen ’97“, bei
Harald Schmidt, bei „Wetten, dass …“.
SPIEGEL: Da werden die Schönen und die
Erfolgreichen eingeladen – also auch der
Markenartikel Franziska Schenk.
Schenk: Aber da bedarf es einer Vorleistung außerhalb des Sports. Man muss Nebenschauplätze finden, die eine glaubwürdige Affinität zum Eisschnelllauf haben.
Sie kennen meinen Werbespot für den
Otto-Versand?
SPIEGEL: Sie sind mit einem Eisbären in Kanada um die Wette gelaufen …
Schenk: … und deshalb in eine Sendung gekommen, die außergewöhnliche Werbefilme präsentiert. Der Nachrichtenwert für
die Redakteure war nicht, dass ich Weltmeisterin geworden war; die wollten was
über die Dreharbeiten erfahren. Ich verknüpfe also das Thema Sport mit einem anderen Nachrichtenwert – und schon kann
ich ganz neue Sendungen als Plattform nut244
Schenk: Man konnte vor der WM in Hamar
davon ausgehen, dass die nicht von großem
öffentlichen Interesse sein würde. Also haben wir uns überlegt, mit welchen Fotos
man für Aufmerksamkeit sorgen kann. Es
gab damals eine Pirelli-Kampagne, auf der
ein Eisschnellläufer in silbernem Anzug
und roten Stöckelschuhen bei einer dilettantischen Startpose abgebildet war. Wir
wollten das Foto nachstellen, mit richtigen
Schlittschuhen und in der richtigen Startposition. Das Problem war, dass wir in der
Kürze der Zeit keinen silbernen Laufanzug
auftreiben konnten. Da kam jemand auf
die Idee, mich anzumalen. Ich war erst
skeptisch, aber das Ergebnis war toll. Die
Bilder wurden gedruckt noch und nöcher.
SPIEGEL: Sie wurden zur Kronzeugin einer
Debatte, wie Sportler die Erotik zur eigenen Vermarktung entdecken.
Schenk: Das hätte ich nicht für möglich gehalten, wer anschließend alles angemalt
und bepinselt in der Medienlandschaft
rumgesprungen ist. Irgendwann ist mir das
auch echt auf den Senkel gegangen.
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nach wie vor ein tolles Foto.Aber wir mussten dem Publikum klarmachen: „Hallo Leute, ich bin nicht nur die mit dem Silberfoto.“
SPIEGEL: Die Inszenierung gelingt nicht jedem erfolgreichen Sportler. Gunda Niemann hat 15 WM-Titel mehr gewonnen als
Sie, die Schwimmerin Dagmar Hase hat
eine Olympische Goldmedaille geholt und
Franziska van Almsick keine. Aber in der
Werbung haben Niemann und Hase nie
eine Rolle gespielt. Warum?
Schenk: Warum wird das eine Model gebucht und das andere nicht? Weil es vielleicht einfach in dem Moment eher den
Geschmack der Masse trifft. Man kann das
sicher beeinflussen durch Sachen, die man
initiiert oder die man bereit ist zu tun. Aber
acht Stunden geduldig am Set zu stehen
und immer ein freundliches Gesicht zu machen ist auch nicht jedermanns Ding.
SPIEGEL: Dennoch produziert der kommerzielle Erfolg Neid.
Schenk: Wenn jemand glaubt, die Verteilung der Erfolge müsse sich proportional in
der Berichterstattung wieder finden, dann
kann man natürlich unzufrieden werden.
Aber damit kommentiert man ja nur die
Funktionsweise der Medien – die ich mir
zunutze mache, aber für die ich nicht verantwortlich bin.Vielen Sportlern ist es egal,
ob der Journalist unter Druck ist, weil er einen festen Sendetermin hat oder Redaktionsschluss. Ich war verfügbar, so weit es
ging, und ich bin Risiken eingegangen.
Wenn ich nach dem Silberfoto bei der
Weltmeisterschaft keine Medaille gewonnen hätte, wäre die Schlagzeile in „Bild“
doch schon klar gewesen: „Nicht mal zu
Silber reicht es.“
SPIEGEL: Dem Mannschaftsklima hat Ihre
Popularität nicht gut getan. Ihre Kollegin
Sabine Völker hat Sie „eine zu Recht unbeliebte Person“ genannt.
Schenk: Leistungssport ist Konkurrenz.Wir
sind nicht bei der Heilsarmee, sondern betreiben ein Geschäft. Wenn zwei um das
letzte Ticket für Olympia kämpfen, geht
das nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander. Ich habe mit Sabine Völker
über Jahre eine sehr fruchtbare Konkurrenz gehabt. Wir sind keine Freundinnen,
aber wir haben uns gegenseitig angetrieben.Von ihrer Äußerung war ich enttäuscht.
SPIEGEL: Es soll eine breite Front der Athletinnen aus den neuen Bundesländern gegen Sie gegeben haben.
Schenk: Ich gebe ja zu, dass sich solche Geschichten gut lesen. Aber sie entsprechen
nicht so ganz den Tatsachen. Ich kann mich
auch an eine breite Front mitfühlender
Sportler nach meinem Sturz in Nagano erinnern. Leuten, die so was schreiben, sage
ich immer: Macht so eine Situation erst
mal selber mit, ohne dass es zu irgendwelchen Spannungen kommt.
SPIEGEL: Frau Schenk, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
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Sport
spielt“. Jeder Einsatz wird mit 200 bis 400
Mark vergütet.
Zwar ist dieses Doppelpass-Spiel selbstverständlich regelwidrig, doch weder der
Deutsche Fußball-Bund (DFB) noch die
Vereine, bei denen die Polen in Lohn stehen, haben offiziell Kenntnis von den binationalen Einsätzen.Vorschriftsmäßig müsste
ein polnischer Kicker den Ball daheim sechs
Hunderte polnischer Fußballer
Monate ruhen lassen, um vom DFB die
spielen gleich für zwei Vereine – in Spielgenehmigung für Deutschland zu beder Heimat und in Deutschland.
kommen. Doch was in Polen wirklich pasDer Grenzverkehr ist regelwidrig. siert, weiß nicht mal der deutsche Verband.
Im Hoheitsgebiet der dortigen Föderation
ährend der Woche schraubt Da- funktioniert der Kontrollmechanismus nämrek Dabrowski daheim in Polen lich schon lange nicht mehr. Hier darf spiefür Volkswagen deutsche Auto- len, wer gerade spielen will.
Die Anfälligkeit ihrer Administration
mobile zusammen. Freitags, wenn die Arbeit getan ist, hat er für knapp 24 Stunden behindert zusehends die Arbeit einheimischer Fußballlehrer, deren Spieler mit
Ruhe.
Erst am Samstagnachmittag muss er für dunklen Schatten unter den Augen zum
seinen Sportverein Zamet Przemków an Training kommen. Im schlimmsten Fall geden Ball. Gleich nach dem Schlusspfiff wird fährdet die unbürokratische West-Hilfe den
Spielbetrieb ganzer Mannschaften. „Die Öffnung der
Grenzen“, weiß ein Sachkenner, „hat manchen polnischen Fußballclub ruiniert.“
Der Club Kuźnia Jawor
in der Nähe von Liegnitz
etwa galt vor einem Jahrzehnt noch als Geburtsstätte hoffnungsvoller Nachwuchskräfte. Doch seit sich
Leszek Stepień 1992 als erster Kicker nach Nordbayern aufmachte, kündigten
zwölf weitere Kameraden.
Zwei Talente schlugen soGrenzgänger Koban, Bzdyk, Dabrowski: Zeitlich beengt
gar Angebote von polnies zeitlich eng. Dann setzt sich Darek zu- schen Zweitligaclubs aus und wanderten
sammen mit den Kollegen Adam Koban in die deutsche Provinz aus. Ihr Heimatund Robert Bzdyk in seinen angejahrten verein stieg in die vierte Liga ab.
Zur Schadensbegrenzung bemühen sich
Fiat und fährt nach Deutschland.
Ihr Ziel ist ein Fußballplatz in der Nähe die polnischen Clubs schon lange um die
von Kassel: Die drei Polen sind sonntags von Fifa-Chef Joseph Blatter gewünschte
für den örtlichen Fußballclub SG Alten- Harmonisierung des internationalen Spielstädt-Naumburg, ein Mitglied der siebten kalenders – wenngleich anders als urdeutschen Spielklasse, im Einsatz. Nach 90 sprünglich von Blatter gedacht: Sie besorMinuten haben es die Gastarbeiter schon gen sich die deutschen Spieltermine ihrer
wieder eilig. Neben dem Arbeitslohn neh- Spitzenkräfte und stimmen den eigenen
men sie noch ein Lunchpaket in Empfang Kalender darauf ab.
Angesichts der Zunahme des wochenund reisen unverzüglich in die Heimat
zurück. Die liegt rund 600 Kilometer weit endlichen Grenzverkehrs konnten die polweg, und wenn zwischendurch kein Stau nischen Spieler ihren Transport zuweilen
ist, schaffen sie es noch zum Schichtbeginn optimieren – ökonomisch wie ökologisch.
Aus der Region Oppeln reist eine polniam Montagmorgen.
Derlei Mühsal des Wochenendes ver- sche Reisegruppe neuerdings im Minibus.
Einzelne Pendler wie Jerzy Wichlacz
bindet die drei Männerfreunde mit Heerscharen anderer Fußballspieler aus Polen. allerdings, der in Polen bei Miedź Legnica
Ähnlich den Anstreicherkolonnen, die in zwischen den Pfosten stand, mussten die
deutschen Großstädten zuverlässig, diskret rege Reisetätigkeit teuer bezahlen. Zwei
und netto Wände bearbeiten, verdingen Jahre lang hütete Wichlacz im Nebenberuf
sich auch begabte Kicker nebenberuflich auch noch das Tor des Bonner Kreisklasauf teutonischen Wiesen. Gastarbeiter sen-Vereins TuS Roisdorf, 800 Kilometer
Dabrowski, 30, schätzt die Zahl der Pendel- von der Heimat entfernt. Heute ist er 40
Fußballer auf „mehrere hundert – kaum Jahre alt. Seine Karriere ist am Ende – und
ein Club in Hessen, in dem kein Pole seine Ehe auch.
Andrzej Rybak
FUSSBALL
Schatten unter
den Augen
P. BRENNEKEN / TRI ASS
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ALLSPORT / ACTION SPORT
Sport
Amerikanische Synchronschwimmerinnen mit Teammitglied May (4. v. l.): Gelatine auf dem Kopf
Paragrafen
und Pailletten
Ein Amerikaner will bei Olympia
im Synchronschwimmen
antreten. Er darf nicht, weil er das
falsche Geschlecht hat.
D
er junge Mann trägt Badelatschen
und tiefe Trauer. Er sitzt auf dem
Podium des „Weyerhaeuser Aquatic Center“ in Seattle und weint leise.
Vor wenigen Minuten noch ist er seinem Beruf nachgegangen, wobei er jenes
Glücksgrinsen in sein Gesicht gezaubert
hat, das aussieht, als sei es festgefroren. Er
muss so gucken, sein Job verlangt das von
ihm: Er grinst, wenn er sich zu Wasser lässt,
und wenig später sieht man nur noch seine Arme, die sich um sich selber drehen.
Dann taucht, flink wie beim Eisvogel, der
Kopf ins Wasser, und in die Höhe schießen
seine Beine. Sie zeigen eine Grätsche,
zucken durch die Luft, als habe jemand einen Haartrockner ins Becken geworfen,
aber irgendwann taucht er immer wieder
auf. Natürlich grinst er. Und sein Publikum
schmilzt dahin, weil der Vortrag wieder
mal hinreißend war.
So ist es auch an diesem Tag gewesen,
aber dann wurde es ungemütlich am Bassin. Die Menschen stießen Buhrufe durch
die Halle, und Bill May schluchzte, den
Rotz noch nicht getrocknet: „Das alles ist
sehr entmutigend.“
Soeben war über das Hallenmikrofon
verkündet wurden, dass May, 20, nicht an
den Olympischen Spielen 2000 in Sydney
teilnehmen darf. Stattdessen werden nun
ausschließlich Frauen für die USA jenen
Sport vertreten, den May so formvollendet
zur Aufführung bringen kann: Synchron- Stunden, und selbst in der Damenumkleide fühlt er sich längst zu Hause. „Anfangs
schwimmen.
Der Entscheid ist unumstößlich und tritt war es seltsam“, weiß May noch, „aber inin den Vereinigten Staaten – einem Land, zwischen sind wir eine Familie.“
Vor allem die körperlichen Voraussetin dem das Gezappel unter Wasser hohe
Wertschätzung genießt – eine erregte Dis- zungen waren ihm behilflich: Wegen seiner
kussion über kastrierte Männerrechte los. langen Gliedmaßen hat der Amerikaner
Zwar dürfen die Herren in dieser Diszi- eine bessere Hebelwirkung als die Kolleplin, die 1984 in Los Angeles olympisch ginnen, und das größere Lungenvolumen
wurde, seit fünf Jahren grundsätzlich mit- erlaubt ihm ein paar kunstvolle Sperenztun – bei Weltmeisterschaften und Olym- chen mehr, wenn er die Luft anhalten
pischen Spielen allerdings wollen die muss.
Allein auf dem weiten Feld der KosmeSportgremien dann doch lieber nur Frautik wirkt Bill May noch etwas gehemmt.
en ins Ballettbecken einlassen.
Mays Jünger sind darob auf der Zinne, Zwar trägt auch er raffiniert geschnittene
zumal die Emanzipationsbewegung im Bademode mit Gold, Pailletten oder Perlen, wie sie in dieser DiszipSport bisher nur einspurig volllin gern gesehen wird. Doch
zogen wurde: Frauen dürfen
sein Haar ist kurz geschnitten,
boxen, Gewichte heben und im
weil er vor der gemeinhin geSchlamm catchen.
bräuchlichen Gelatine auf dem
Im Fall von Bill May ist es
Kopf zurückschreckt. May gesogar so, dass er von seiner Bestattet sich allenfalls jene kleigabung her beim olympischen
nen Nasenklammern, mit deWettbewerb glatt das Funkennen die Damen zuweilen den
mariechen geben könnte.
Kopf in die Tiefe lassen.
Er ist Mitglied der amerikaGut möglich, dass ihm die
nischen Nationalmannschaft,
Zähren vom Weyerhaeuser
gewann 1998 bei den „GoodAquatic Center am Ende nicht
will-Games“ mit der Kollegin Schwimmer May
ganz umsonst über die Wange
Kristina Lum die Silbermedaille im Duett und stieg bei den Swiss Open flossen. Es besteht neuerdings die Hoffin den letzten drei Jahren sogar als Bester nung, dass Bill May in Sydney zumindest
in der Einzelkonkurrenz aus dem Becken. als Vorschwimmer eintauchen darf.
„Bevor ich aufhöre, muss sich etwas änDeutschen Wassersportfreunden ist er seit
März dieses Jahres unvergessen, als er mit dern“, findet der Männerrechtler jetzt. Die
seiner Riege, den „Santa Clara Aqua- Damen vom Fach sehen das ganz genaumaids“, den Titel bei den German Open so und haben den Kampf für die Rechte
in Bonn holte. „Seine Beine sind für die- eines Zurückgesetzten aufgenommen.
sen Sport perfekt geformt“, weiß seit- Esther Williams, seit ihren Hollywooddem auch Peter Purps vom Deutschen Revuefilmen der vierziger Jahre so etwas
wie die Königin Mutter des parallelen
Schwimm-Verband.
Dafür hat der zarte Bill auch einiges ge- Plantschens, tritt vehement für ein genetan. Als er zehn Jahre alt war, beobachte- relles Geschlechtergemisch unter Wasser
te er seine Schwester beim seltenen Trei- ein. Und eine Kollegin aus Mays Sportben unter Wasser; seitdem stand für ihn gruppe ahnt: „Wenn er sich nicht unterfest: „Ich will das auch machen.“ Seit drei kriegen lässt, dann ist er irgendwann ein
Jahren übt er mit den Maids täglich vier Held.“
Maik Grossekathöfer
R. FRISHMAN / SPORTS ILLUSTRATED
GLEICHBERECHTIGUNG
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FOTOS: TONY STONE (li. o.); CAMERA PRESS / PICTURE PRESS (li. u.); INTER-TOPICS (re. o.); CINETEXT (re. u.)
XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR:
1. Traumfabrik Hollywood (39/1999); 2. Die Malerei der Moderne (40/1999);
3. Die Dichter und die Macht (41/1999); 4. Pop in Musik und Mode (42/1999)
Schriftzug über dem Los-Angeles-Stadtteil Hollywood; Marlene Dietrich; Marilyn Monroe; Erfolgsfilm „Titanic“
Das Jahrhundert der Massenkultur
Traumfabrik Hollywood
Schon am Ende des Ersten Weltkriegs beherrschte das frühere
Apfelsinenpflanzerdorf Hollywood 85 Prozent des Welt-Filmmarkts. Es
machte Unbekannte zu Stars und Studiobosse zu Multimillionären.
Seit Generationen nimmt seine Scheinwelt die Herzen und
Köpfe gefangen: eine unangefochtene Großmacht der Phantasie.
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Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood
Die immer
währende Party
A
de festhalten – ein sensationeller Schritt,
allerdings nicht für sein eigentliches
Ziel: Wenn eine präzise Analyse des
Vogelflugs gelänge, so glaubte Marey,
könne man nach demselben Prinzip einen
Flugapparat bauen. So hat einer, der das
Flugzeug erfinden wollte, stattdessen unbeabsichtigt einen der Grundsteine zum
Kino gelegt.
Thomas Alva Edison, über die Elektrifizierung zum Großindustriellen aufgestiegen, begann sein Augenmerk erst ein paar
Jahre später auf die Idee der „motion pictures“ zu richten. 1888 traf er sich mit Muybridge, im Jahr darauf reiste er nach Paris
zu Marey, und stets gab er an seinen Chefkonstrukteur William K. L. Dickson in New
Jersey zwecks Nachahmung weiter, was er
in Erfahrung gebracht hatte.
Zwei bis heute gültige Normen wurden
in Edisons Labors schon damals festgelegt:
die Breite des Filmstreifens von 35 Millimetern und die Art der Perforation. 1893
konnte Edison auf der Weltausstellung in
Chicago das erste, noch primitive, aber
taugliche Filmvorführgerät präsentieren:
Das von Dickson gebaute Kinetoscope
zeigte schwarzweiße 35-Millimeter-Filmstreifen von maximal 90 Sekunden Dauer
– doch unvergrößert durch ein Guckloch
für nur jeweils einen Betrachter.
Es war ein Frühstart, der, mit wenig Erfolg, zur Aufstellung von Kinetoscopes in
Lokalen mit Spielautomaten führte. Ein
echter Durchbruch und ein Massenerfolg
jedoch konnte aus der Technik erst werden,
als es Projektoren gab, die den Film auf
lles große Neue wollte er erfunden
haben, also auch den Film: Thomas
Alva Edison, der Pionier der Elektrifizierung.
Doch in Wahrheit ist die Erfindung des
Films keinem einzelnen genialen Kopf zuzuschreiben. Sie lag in der technikbegeisterten und fortschrittsgläubigen Gründerzeit vor der Jahrhundertwende überall in
Europa wie in den USA sozusagen in der
Luft. In literarischen Utopien war der Film
vielfach prophezeit worden, und die praktischen Lösungen wurden Mitte der neunziger Jahre an vier oder gar fünf verschiedenen Orten halbwegs unabhängig voneinander verwirklicht.
Keiner der Filmpioniere hatte die Idee,
mit den „motion pictures“, den bewegten
Bildern, ein weltmächtiges Massenkommunikationsmittel zu erschaffen, wie es
niemals zuvor existiert hatte.
Die wegweisenden Schritte unternahmen
zwei Männer mit rein naturwissenschaftlichem Interesse. Einerseits, im kalifornischen Palo Alto, der aus England stammende Fotograf Eadweard James Muybridge, der von 1872 an die Bewegungsphasen eines laufenden Pferdes festzuhalten versuchte. 1877 gelang ihm dies mit
einer Apparatur aus zwölf parallel aufgestellten Kameras. Andererseits, am Pariser
Collège de France, der Physiologe EtienneJules Marey, der mit ausgeklügelten Aufzeichnungstechniken den Bewegungsabläufen bei Mensch und Tier nachspürte.
1882 konnte Marey erstmals zwölf Phasen des Vogelflugs innerhalb einer Sekun-
1915 GEBURT EINER NATION
von D. W. Griffith
256
Dreharbeiten in der Wüste von Arizona mit
kleine und dann immer größere Wände zu
werfen vermochten.
Im hektischen Wettlauf der Systeme hatten Ende 1895 einen Augenblick lang die
Europäer die Nase vorn: in Berlin die Brüder Max und Emil Skladanowsky, in Paris
STILLS / STUDIO X
Die großen Filme Hollywoods
CINETEXT
Träume am Fließband
AKG
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Von Urs Jenny
1926 DER GENERAL, mit Buster Keaton
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1933 KING KONG von Ernest Schoedsack
PHOTOFEST
Marlene Dietrich, Charles Boyer (1936)*: Bestes Licht im weiten Westen
die Brüder Auguste und Louis Lumière. In
den USA setzte sich im April 1896 abermals
Edison an die Spitze, mit einem Projektor,
dessen Patent er den Erfindern Thomas
RÖHNERT / KEYSTONE
* Für die Aufnahmen zum Film „The Garden of Allah“
hatte der Produzent David O. Selznick eine künstliche
Oase bauen lassen.
Armat und C. Francis Jenkins abgekauft
hatte.
Der Erfolg dieses neuen Schauvergnügens war auf Anhieb sensationell: Tingeltangelbühnen zeigten am Ende ihres Programms ein Kurzfilm-Potpourri; Spielautomaten-Lokale, in denen das GucklochKinetoscope nicht floriert hatte, richteten
ein Hinterzimmer als Kino her; neben ihnen wurden leer stehende Kramläden zu
Vorführräumen umgerüstet.
Diese allgegenwärtigen Umschlagplätze
für die Ware Film, in Amerika „storefront
movie theaters“ genannt (in Deutschland
bald „Ladenkinos“ oder „Kinoläden“),
wurden die Basis des Massenerfolgs: Das
Vergnügen, für jedermann erschwinglich,
war – insbesondere in den proletarischen
Stadtteilen – in der alltäglichen Nachbarschaft der Einkaufsstraßen verfügbar und
jederzeit zugänglich. Das Programm begann von mittags bis in die Nacht hinein
jede halbe Stunde von vorn.
Zu sehen gab es abgefilmte Prominente,
Schaubuden-Kuriositäten, berühmte Bauwerke aus fernen Ländern, Clowns, kurze
Sketche und die ersten Historienstücke –
1896 beispielsweise, je eine gute Minute
lang, die Verbrennung der Jeanne d’Arc
und die Enthauptung der Maria Stuart.
Als allererster Filmemacher ist wohl Edisons Konstrukteur Dickson zu betrachten,
der als Autor, Regisseur, Kameramann und
Produzent in Personalunion dutzendweise
die Streifen für das Kinetoscope lieferte.
Die ersten effektbewussten Montagen, die
ersten Verfolgungsjagden und den ersten
Western (1903) schreibt man dem Amerikaner Edwin S. Porter zu. Ein paar Jahre
später etablierte sich Mack Sennett als Urvater des Slapstick-Kinos.
Zugleich stieg der erste überragende
Meister des neuen Mediums empor, D. W.
Griffith, ein erfolgloser Schauspieler und
Schriftsteller, der von 1908 an pro Jahr bei
etwa hundert der nun üblichen Zehn-Minuten-Filme Regie geführt hatte, doch bald
nach Größerem strebte: Sein fast dreistündiger Bürgerkriegs-Monumentalfilm „The
Birth of a Nation“ wurde 1915 zum beispielhaftesten Werk des Jahrzehnts; er hatte die bis dahin unerhörte Summe von gut
100 000 Dollar gekostet – und spielte 20
Millionen ein.
Die Geschwindigkeit, mit der sich das
Medium rund um die Welt durchgesetzt
hat, bleibt erstaunlich. Edison war anfangs
1937 SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN
ZWERGE von Walt Disney
1939 NINOTSCHKA, mit Greta Garbo
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1939 VOM WINDE VERWEHT,
mit Vivien Leigh und Clark Gable
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„illegale Verschwörung“ zur
Auflösung gezwungen wurde. Diese größte Niederlage
Edisons hatte weit reichende sozial- und kulturgeschichtliche Folgen. Das
angelsächsische OstküstenUnternehmertum verlor die
Macht über das neue Medium an Immigranten aus
Europa. Mit den neuen Herren verlagerte sich das Zentrum der EntertainmentIndustrie nach Kalifornien.
Weltmetropole des Kinos
wurde und blieb für immer
Hollywood, der Stadtteil an
den Hügelhängen über Los
Angeles.
Die andere historische
Niederlage, die den Weg
des Kinos für immer bestimmte, erlitten durch den
Ersten Weltkrieg die Europäer – Sieger wie Besiegte – gegen die
Amerikaner. Vor dem Krieg waren Frankreich und Italien die international führenden Kino-Mächte gewesen und auch
auf dem amerikanischen Markt stark
präsent.
Doch der Krieg, der in Europa Produktion und Export lahm legte, lieferte dem
US-Kino die Welt kampflos zur Eroberung
aus – bei Kriegsende besaß Hollywood zu
Hause 98 Prozent Marktanteil, in der übrigen Welt 85 Prozent. Die USA hatten sich
damit ein für alle Mal als einzige und nie
ernsthaft angefochtene Welt-Exportmacht
des Films durchgesetzt.
Die Lichtstärke, die das Filmmaterial der
frühen Jahre benötigte, lieferte am zuverlässigsten die Natur. Auch WohnzimmerDekorationen wurden unter freiem Himmel oder in einem Glashaus aufgebaut.
Dafür war das Klima im Nordosten Amerikas nicht günstig, und so verlegten viele
Firmen ihren Produktionsbetrieb im Winter nach Florida, Kuba und besonders Südkalifornien.
Dort waren die Bedingungen, über die
Zuverlässigkeit des Sonnenscheins hinaus,
optimal: Für Außenaufnahmen gab es in
Reichweite von Los Angeles Meeresküste
PHOTOFEST
in die Produktion von Software (Filmen) nur eingestiegen, um den Verkauf seiner Hardware (Kameras
und Projektoren) voranzutreiben. Doch angesichts eines Erfolgs, den er nicht geahnt hatte, regte sich bei
ihm mehr Appetit: Nun
trachtete er nicht nur nach
einem größeren Stück, sondern nach dem ganzen Kuchen, und zwar höchst aggressiv. Ende 1908 hatte Edison die zehn wichtigsten
Firmen der jungen Branche
zur Gründung der Motion
Picture Patents Company (MPPC) zusammengezwungen. Ziel des Unternehmens, das sich selbstbewusst „Trust“ nannte, war
die volle Kontrolle des ame„United Artists“-Gründung (1919)*: Viel mehr verdienen
rikanischen Kinomarkts.
Doch der „Trust“ akzeptierte nur etwa tionsfirma Independent Motion Picture
4000 der existierenden 6000 US-Kinos als Company.
Damit entstand die erste, später „UniAbnehmer. Die übrigen (wohl die kleinsten
und schäbigsten) sollten ausgehungert wer- versal“ genannte vertikal integrierte Filmden, um das Medium Film vom Zwiebel- firma in den USA: ein Konzern, der (wie
und Knoblauchgeruch der Einwanderer- alle späteren großen „Studios“) Produkghettos zu befreien und zu einem bür- tion, Verleih und Kinobesitz in einer Hand
gerlich schicklichen Entertainment (zu zusammenbrachte. Laemmle war ein
deutlich höheren Preisen) zu verfeinern: Draufgänger mit fabelhaftem MarktSchließlich waren die führenden Köpfe der instinkt. Er war der Erste, der die Namen
MPPC durchweg Repräsentanten des Ost- der bisher anonymen Stars, die er der Konkurrenz abwarb, groß herausstellte. Er förküsten-Establishments.
Doch die über 2000 Kleinunternehmer, derte den in Europa schon erfolgreichen,
zum größten Teil osteuropäische Immi- vom „Trust“ jedoch bekämpften Trend zu
granten, entwickelten Widerstandskraft, längeren Filmen, und er ermutigte andere
und rasch setzte sich ein Deserteur aus Kinoketten-Besitzer, den Sprung in Proder MPPC an die Spitze der Rebellion: duktion und Verleih zu wagen – allen vorCarl Laemmle, aus dem Württember- an William Fox und Adolph Zukor, die
gischen stammend, vom Konfektions- Gründerväter der späteren Großstudios
verkäufer und kleinen Kinoladen-Betrei- 20th Century-Fox und Paramount.
In ihrem ersten Geschäftsjahr lag der
ber in Chicago zum Filmverleiher und
Kinoketten-Besitzer aufgestiegen, kün- Marktanteil von Edisons MPPC nahe bei
digte 1909 Edison die Treue auf (der ihn 100 Prozent, vier Jahre später hatte sie die
deshalb über die Jahre mit 289 Prozes- Hälfte an die Independents verloren, war
sen verfolgte) und gründete die Produk- also gescheitert und schon ohne Zukunft,
als sie von einem US-Bundesgericht 1915 als
1942 CASABLANCA, mit Ingrid Bergman
und Humphrey Bogart
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1946 GILDA, mit Rita Hayworth
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CINETEXT
TELEBUNK
* Vertragspartner Douglas Fairbanks, Mary Pickford,
Charles Chaplin, D. W. Griffith.
CINETEXT
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood
1949 TÄNZER VOM BROADWAY,
mit Fred Astaire und Ginger Rogers
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Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik
CINETEXT
und Wüste, Schluchten, Dschungel und
Schneegebirge.
Warum ausgerechnet das kleine Apfelsinenpflanzerdorf Hollywood zum Sammelpunkt der mittelständischen Filmbetriebe
wurde, ist nicht zu ergründen; auch die
Herkunft des Ortsnamens ist umstritten.
Offenbar war das Gelände noch spottbillig,
und eine Firma zog die andere nach.
Als erster Film soll in der Umgebung von
Los Angeles 1908 ein „Graf von Monte
Christo“ gedreht worden sein. In den
nächsten Jahren verlegten Griffith und
Cecil B. DeMille ihr Dreh-Hauptquartier in
die Gegend, 1912 zog Sennett, den unter
anderem die Erfindung der Sahnetortenschlacht unsterblich gemacht hat, mit seinem ganzen quirligen Hopplahop-Produktionsbetrieb nach Hollywood, 1914 betrat
Laemmle die Szene.
Er kaufte für sein geplantes neues Studio
ein Riesengelände hinter jenem Hügelzug,
der später, in den zwanziger Jahren, in Monumentalbuchstaben mit dem Namen „Hollywood“ verziert wurde (ursprünglich stand
dort übrigens, als Werbung für ein nie realisiertes Siedlungsprojekt, „Hollywoodland“). Als Laemmle 1915 im San Fernando
Valley mit gebührendem Pomp seine „Universal City“ eröffnete, hatte ein Luxus-Sonderzug in sechstägiger Fahrt von Chicago
quer über den Kontinent Repräsentanten
der Geld- und Showbusiness-Elite nach Los
Angeles gekarrt – es war eine symbolträchtige Fahrt, eine Machtübergabe an die Zukunftsmetropole im fernen Westen.
Mit den Produktionsbetrieben wuchs die
Belegschaft von fest angestellten Handwerkern und Technikern, Bürokräften und
Regisseur Hitchcock*: Ungewöhnliches
Autoren, Regisseuren und Darstellern. Und
natürlich begriffen die Stars am schnellsten, in welchem Maß ihre Prominenz
Marktmacht und Kapitalkraft bedeutete.
Der erste Star, der sich eine Jahresgage
von seinerzeit sagenhaften 100 000 Dollar
erkämpfte, war 1915 die 22-jährige Mary
Pickford. Schon bald zog ein schmächtiger
junger Komiker aus England namens
Charles Spencer Chaplin gleich, den Sennett erst Ende 1913 nach Hollywood gelockt
hatte. Und als Pickford 1916 ihren Preis auf
* Im Hafen von Monte Carlo bei einer Drehpause zu
dem Film „Über den Dächern von Nizza“ (1955).
LITERATUR
Wolfgang Jacobsen u. a. (Hrsg.): „Geschichte des deutschen Films“. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1993;
596 Seiten – Film, Vaterland, Politik: gründliches
Pionierwerk.
Ephraim Katz: „The Film Encyclopedia“. HarperCollins, New York 1994; 1496 Seiten – Lexikon mit zahllosen Biografien und Fachbegriffen, unzuverlässig
nur in den Randzonen des außeramerikanischen
Films.
Klaus Kreimeier: „Die Ufa Story“. Hanser Verlag,
München 1992; 520 Seiten – Was Krupp für die Rüstung bedeutete, war die Ufa fürs Nazi-Kino.
Robert Sklar: „Movie-Made America“. Random
House, New York 1975; 340 Seiten – Anschauliche
Wirtschafts- und Filmgeschichte Hollywoods.
CINETEXT
CINETEXT
Richard Alleman: „The Movie Lover’s Guide to Hollywood“. Harper & Row, New York 1985; 328 Seiten – Unentbehrlich für den Tourismus zu den Villen
der Stars.
Kenneth Anger: „Hollywood Babylon“. 2 Bände. Verlag Rogner & Bernhard, München 1975/85; 308 und
332 Seiten – Die wichtigste Skandalchronik, gut bebildert.
Otto Friedrich: „Markt der schönen Lügen“. Verlag
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1986; 672 Seiten – Der
Roman der goldenen Jahre Hollywoods.
Ronald Haver: „David O. Selznick’s Hollywood“. Verlag Rogner & Bernhard, München 1980; 428 Seiten –
Opulenter Bildband, voller Produktionsdetails.
1950 BOULEVARD DER DÄMMERUNG,
mit Gloria Swanson
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1952 ZWÖLF UHR MITTAGS, mit Grace Kelly,
Gary Cooper und Katy Jurado
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Hollywood
Talent aus Europa
STILLS / STUDIO X
RÖHNERT / KEYSTONE
fast eine Million Dollar pro Jahr hochgeschraubt hatte, blieb auch er nicht zurück.
1919 gründeten die beiden Spitzenverdiener zusammen mit zwei Kollegen die Produktionsfirma United Artists, um fortan
auf ihr Risiko noch viel mehr zu verdienen.
Ende der zwanziger Jahre galt Chaplin als
der berühmteste Mensch der Welt.
Bis 1920 vervielfältigten und verfeinerten sich die Erzählmittel des Kinos beträchtlich; als Normaldauer eines Spielfilms hatte sich eine Länge von 80 bis 100
Minuten durchgesetzt. Die „storefront movie theatres“, deren Tagesgeschäft die
Laufkundschaft war, hatten ausgespielt.
Das Stummfilmkino war zu einem gepflegteren Feierabendvergnügen mit einem
gewissen Komfort und obligater Musikbegleitung geworden, und die Stars erwiesen
sich als seine verlässlichste Attraktion.
Es waren Goldgräberzeiten; es wurden
Riesensummen verdient und Riesensummen verschleudert. Das Kino, naturgemäß
eine Branche für Spielernaturen, verlockte leichtfertige und in der Hoffnung auf
schnellen Gewinn unbedenkliche Draufgänger zu riskanten Coups. Und die 1919
verhängte Prohibition, dieses unselige
Selbstkasteiungsprogramm einer puritani-
schen Nation, förderte, wie sich bald zeigte, nicht die Tugend, sondern gerade die
Lust am Laster.
Das bienenfleißige Hollywood verwandelte sich, zumindest in den Bilderblättern
Anfang der zwanziger Jahre, in die Szenerie einer immer währenden Party, bei der
illegaler Whiskey und Champagner in Strömen flossen – und falls der Alkohol tatsächlich mal knapp wurde, gab es noch Opium,
Kokain, Heroin im Überfluss. Sogar im Senat zu Washington wurde der Ort als „Orgien-Schauplatz“ gegeißelt. So verdiente
sich die „Traumfabrik“ den Titel, den ihre
berühmteste Skandalchronik trägt: „Hollywood Babylon“.
Selbstmorde, Morde und Drogentode in
skandalös rascher Folge: Die Schlagzeilen
waren fatal und brachten Mal um Mal all
jene einflussreichen Tugendwächter auf
Hochtouren, denen das Medium Film
grundsätzlich suspekt, frivol und jugendverderblich erschien. Zensur drohte, Abwehr tat Not. Hollywood brauchte dringend einen prominenten Saubermann, der
sich der Öffentlichkeit als Garant eines neuen Moralbewusstseins der Branche präsentieren ließ. Der richtige (wenn auch persönlich keineswegs über alle Zweifel erhabene) Mann für den Job war der US-Postminister Will H. Hays. Sein von der Filmindustrie selbst eingerichtetes und finanziertes Sittenrichter-Amt, für das Hays eine
Jahresgage von 100 000 Dollar kassierte,
sorgte in den Kinos für eine saubere Leinwand und in Hollywood für saubere Betten,
indem es die Schauspieler vertraglich zu
untadeligem Privatleben verpflichtete.
Natürlich ersannen die Filmemacher vielerlei neue Finessen, um auf der Leinwand
das Tabuisierte deutlich zu machen, und
natürlich galt fürs Star-Privatleben wie eh
und je, dass man sich nur nicht erwischen
lassen durfte. Alles in allem jedoch erwies
sich diese beispiellose Heuchelei des „Hays
1954 DIE BARFÜSSIGE GRÄFIN,
1958 DIE KATZE AUF DEM HEISSEN
mit Ava Gardner
BLECHDACH, mit Liz Taylor
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tisch, wie sich das Edisons
MPPC einst erträumt hatte.
Hollywood in den dreißiger
und vierziger Jahren: Das waren fünf große und drei oder
vier etwas kleinere Konzerne
(„Studios“) mit zigtausenden
Angestellten, die Produktion,
Verleih und Filmtheater fest im
Griff hatten. Drei von den
großen besaßen zusammen
etwa 2000 Kinos (Paramount
knapp 1000, Fox und Warner
Bros. jeweils gut 500), die übrigen Studios weitere 500. Das
waren nicht einmal 20 Prozent
aller US-Filmtheater, doch es
waren landauf, landab die
größten und besten, insbesondere die Premierenkinos – ein
Außenseiter hätte keine Chance gehabt, sein Werk in einem
dieser Häuser unterzubringen.
So gingen 95 Prozent des GeHollywood und seine vielen Stars*: Der Film lockte mit
samtumsatzes an die Großen.
Kein Zweifel, auf seine Weise war das ten Film aller Zeiten in Angriff, indem er
arbeitsteilig durchorganisierte Studiosystem zum Drehbeginn eine spektakuläre Feuin seiner Blütezeit so funktional und zu- ersbrunst legte: „Vom Winde verweht“.
Selznick verschliss mehrere Autoren und
gleich so produktiv, so reich in der Palette
der Regisseure und Stars, dass das Publikum Regisseure, doch dann, 1939, erwies sich
nie einen Mangel empfand. Unverwechsel- der Film unzweifelhaft als das krönende
bare Regisseure wie John Ford und Frank Kinoereignis schlechthin.
Der andere überragende HollywoodCapra, Howard Hawks und Billy Wilder
wurden in und mit diesem System groß. Produzent, der stets sein eigener Herr
Und wenn sich einmal ein junger Tausend- blieb, hatte seinen Weg still und unauffälsassa dermaßen ungebärdig aufspielte, dass lig begonnen: Walt Disney. Er beherrschte
man ein Betriebsrisiko in ihm zu sehen be- schon Mitte der dreißiger Jahre unangegann – Orson Welles beispielsweise 1941 mit fochten den Zeichentrickfilm-Markt und
seinem Geniestreich „Citizen Kane“ –, dann wirkte nun zielstrebig mit der Vermarkgab es Möglichkeiten, ihn mit Komplimen- tung durch Comic-Zeitschriften, Spielzeug
und Haushaltswaren dahin, dass Kinder
ten hinauszuwerfen.
Als gloriose Ausnahme von der Regel, seine Geschöpfe schon kannten, bevor sie
dass unabhängige Produzenten in Hol- zum ersten Mal selbst in ein Kino kamen.
Seiner bieder konservativen Familienlywood nichts zu gewinnen hätten, setzte
sich David O. Selznick in Szene: Er fühlte ideologie blieb er treu, und in ihrem Sinn
sich, als er sich 1936 nach einer Blitzkar- hat er 1955 noch einmal bahnbrechend geriere bei Paramount und MGM selbständig wirkt: Die Eröffnung des ersten „Disneymachte, stark genug, um seine Projekte zu
finanzieren und dann einem der Studios * Oliver Hardy und Stan Laurel, Elvis Presley, Clark
zum Verleih anzubieten. Er zeigte Gespür Gable, John Wayne, Charles Chaplin, Marilyn Monroe,
Dean, Humphrey Bogart, Fred Astaire, Cary
beim Import ungewöhnlicher junger Ta- James
Grant, Boris Karloff („Frankensteins Monster“), Marlon
lente aus Europa wie Ingrid Bergman oder Brando; Gemälde von Renato Casaro nach dem Fresko
Alfred Hitchcock; und er nahm den größ- „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci.
1960 PSYCHO von Alfred Hitchcock
264
CINETEXT
CINETEXT
Code“ als erfolgreiche kosmetische PROperation. Ein paar Jahre später wagte es
die nun reputierlich herausgeputzte Branche, sich durch Gründung einer „Akademie“ selbst zu adeln, die ihr fortan durch
die jährliche feierliche Verleihung von Preisen (Spitzname „Oscars“) den Kunstwert
ihrer Produkte bestätigte.
Hollywoods kräftig wachsendes Exportvolumen führte Mitte der zwanziger Jahre
in vielen europäischen Ländern zu staatlichen Abwehrmaßnahmen. Die aber unterlief Hollywood durch Investitionen. In
Deutschland etwa übernahmen Paramount
und MGM rund 50 Prozent der Verluste
des angeschlagenen Ufa-Kapitals und beanspruchten dafür die Hälfte des Angebots
in den Ufa-Kinos.
Umgekehrt hat sich Hollywood bis heute immer wieder durch den Import europäischer Talente gestärkt. Aus Schweden
etwa wurden in den zwanziger Jahren die
Regisseure Victor Sjöström und Mauritz
Stiller sowie die Schauspielerin Greta Garbo geholt; aus Deutschland die Regisseure
Ernst Lubitsch und F. W. Murnau, die
Schauspieler Emil Jannings und Conrad
Veidt, die Schauspielerinnen Pola Negri
und Marlene Dietrich. Der Künstler-Exodus, den die Nazis auslösten, war in Hollywood nicht unbedingt so willkommen.
Solange das „System Hollywood“ problemlos florierte, war man auch nicht versessen darauf, allzu viel Kapital in Innovationen zu stecken – in die technisch längst
mögliche Einführung des Tonfilms zum
Beispiel. Doch die Profite schrumpften,
und als die vier ruppigen Warner Brothers
mit ihrer Firma ins Schleudern kamen,
setzten sie auf den Ton als letzte Chance.
Ihr erster eigentlicher Tonfilm „The Jazz
Singer“ erzielte 1927 einen so sensationellen Erfolg, dass die ganze Branche in geradezu panischem Tempo nachzog.
Die Investitionen in die teure Tonfilmtechnik sicherten dem Hollywood-Kino
auch über die Wirtschaftskrisenjahre hinaus eine neue, anhaltende Attraktivität,
und als Nebenwirkung zeigte sich, dass unabhängige kleine Produzenten nun endgültig nicht mehr konkurrenzfähig waren.
Für gut zwei Jahrzehnte beherrschte Hollywood den US-Kinomarkt so monopolis-
CINETEXT
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood
1968 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM
1972 DER PATE, mit James Caan, Marlon
von Stanley Kubrick
Brando, Al Pacino, John Cazale
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RENATO CASARO - ALL RIGHTS RESERVED
für alle Mal: Unabhängige Produzenten,
deren Vorbild der brillante Einzelgänger
Selznick war, prägten die Hollywood-Geschichte der zweiten Jahrhunderthälfte. Sie
haben die großen Regisseure dieser Jahrzehnte durchgesetzt, von Elia Kazan und
Stanley Kubrick bis Francis Ford Coppola,
Martin Scorsese und Woody Allen.
Die wirklichen Erben der alten Tycoons
oder Moguln aber sind Steven Spielberg
und George Lucas, die gewiss eher in dem
familiensinnigen Imperialisten Walt Disney
ihr Vorbild sehen. Spielberg und Lucas haben (teils gemeinsam, teils jeder für sich) seit
den Siebzigern eine beispiellose Strecke von
Super-Erfolgsfilmen vorgelegt. Und sie haben in jenen Werbestrategien, die ein Kinowerk zum sensationellen Ereignis hochpeitschen, ebenso Maßstäbe gesetzt wie in
der weiteren Vermarktung des Erfolgs durch
Spielwaren, Klamotten und RummelplatzAttraktionen. So schufen sie sich ihre Imperien – Spielberg auch als brillanter Regisseur, Lucas als dynamischste Kraft in der
Entwicklung jener computerisierten Tricktechniken, ohne die das Weltkino des nächsten Jahrzehnts nicht denkbar sein wird.
Philosophen haben das Geheimnis des
Kinos gelegentlich darin gesehen, dass es
den Tod überwinde, und ohne Zweifel hat
es Menschen wie Marilyn Monroe und
Charlie Chaplin, Greta Garbo und Humphrey Bogart eine eigene Art von Unsterblichkeit verliehen.
Seinen letzten sensationellen und überragenden Superlativ vor der Jahrhundertwende, einzig im Aufwand wie im Erfolg,
hat Hollywood mit der Revision einer
symbolträchtigen Katastrophe vom fortschrittsversessenen Jahrhundertbeginn erzielt, dem Untergang der „Titanic“: Es hat
die Todesfahrt in ein Erlösungsmärchen
umgedichtet. So was bringt noch immer
nur das Kino zu Stande.
Farbe und Massengepränge
land“ wies den anderen Studios den Weg,
sich über das Kino hinaus in Rummelplätzen und Freizeitparks ein neues weites Geschäftsfeld zu erschließen. Hollywoods
Glanzzeit schien um die Jahrhundertmitte
zu Ende zu gehen. Erstens ließ der rasche
Siegeszug des Fernsehens die Kinozuschauerzahlen in den USA dramatisch
schwinden – von 4,7 Milliarden im Jahr
1947 auf 2,2 Milliarden im Jahr 1959. Zweitens kündigten die prominentesten Stars
und Regisseure die feste Bindung an ein
Studio. Und drittens knackte ein Gerichtsurteil 1948 das lukrative Quasimonopol der
Studios – sie mussten sich von den eigenen
Kinoketten trennen.
Natürlich hat das Fernsehen dem Kino
die Spitzenposition als Entertainment-Medium entrissen – doch wer hätte die Erfahrung, die Kapazitäten und die Profis gehabt, um den rasant wachsenden Stoffbe-
darf des neuen Mediums durch EndlosSerien, Spielshows und Trallala zu decken,
wenn nicht die Studios mit ihren eingespielten Apparaten? Die Zahl der neuen
Kinofilme sank von Jahr zu Jahr, doch
ebenso rasch wuchs das Produktionsvolumen der TV-Abteilungen in den Studios –
das war, nebenbei, noch einmal ein Sieg
Hollywoods über New York.
Und für das Überleben des Kinos in Konkurrenz mit dem grundsätzlich braven, konformistischen Fernsehen galt: Der Film
musste mit schärferen Reizen locken, mit
Farbe, mit Breitwand, mit Massengepränge. Trotz vieler fataler Fehlspekulationen
geriet durch all die Jahrzehnte nie der kindlich schlichte Glaube ins Wanken, dass durch
den größten Aufwand der größte Erfolg zu
erzwingen sei. Manchmal gelang das sogar.
Das Ende der festen Studio-Bindung der
Künstler jedoch verschob die Gewichte ein
Urs Jenny, 61, ist SPIEGEL-Autor.
DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
1982 E. T. von Steven Spielberg
20TH CENTURY FOX
CINETEXT
JAUCH & SCHEIKOWSKI
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS;
XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR
1990 PRETTY WOMAN, mit Richard Gere
und Julia Roberts
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1997 TITANIC von James Cameron
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Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Szene
AU T O R E N
Vollständiger „Vulkan“
„Vulkan“-Verfilmung (mit Hoss, Stefan Kurt, Adrien De Van)
durfte einer aus der Runde der Emigranten kein Politkommissar mehr sein, und dessen Wunsch, der kommunistischen Partei anzugehören, wurde schlichtweg eliminiert – ebenso eine
Passage, in der Spanienkämpfer gemeinsam die Internationale singen: Tribut an den Zeitgeist. Einem anderen vom damaligen Verlag – Fischer in Frankfurt – erwünschten Eingriff
allerdings widersetzte sich die Schwester, die im Roman als
Marion von Kammer auftritt (im Film dargestellt von Nina
Hoss): Die Schilderung einer homosexuellen Affäre des „Vulkan“-Helden Martin Korella (gespielt von Christian Nickel)
blieb unangetastet.
T H E AT E R
POP
Fausts polnischer Jünger
Hit-Ehren für Dean Martin
I
m angestaubt-konservativen Theaterbetrieb seiner Heimat Polen gilt er seit
einigen Jahren als einzige Regie-Hoffnung: Mit nur wenigen, stilistisch stark
variierenden Inszenierungen hat sich Grzegorz Jarzyna, 31, als jugendlicher,
skandalträchtiger Rebell und mediengeübter Pop-Star des Theaters zwischen
Warschau und Krakau etabliert. „Doktor Faustus“, sein neuestes Werk, hatte am
vergangenen Freitag im Berliner Hebbel-Theater Premiere – als Auftragsarbeit
der Berliner Festwochen, die in ihrer 49. Saison ausschließlich „Junges Theater
aus Osteuropa“ vorstellen. Jarzynas „Doktor Faustus“, eine Dramatisierung des
Künstler-Romans von Thomas Mann, ist eine atmosphärisch dichte, virtuos gespielte und waghalsig verknappte Umsetzung der Geschichte um den Tonsetzer
Adrian Leverkühn, der
einen verhängnisvollen
Pakt mit dem Teufel abschließt. Der Regisseur
erzählt den Mythos aber
nicht als rein urdeutsches
Dilemma zwischen Kunst
und Kälte. Denn dieser
Stoff über den Komponisten, der nicht mehr lieben
darf, sei für ihn, so der
deutschstämmige Regisseur, „die erschütterndste
und die klarsichtigste
Erzählung unseres zu
Ende gehenden Jahrhunderts“.
Jarzyna-Inszenierung „Doktor Faustus“
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E
s ist ein Comeback, wie es sich Dean
Martin an der Theke seiner Himmelsbar
ausgedacht haben könnte. Dem 1995 verstorbenen Schauspieler und
Sänger ist posthum der
Überraschungscoup des
Pop-Jahres geglückt: Seine Hit-Sammlung „The
Very Best Of Dean Martin“ (EMI) mit Klassikern
wie „Everybody Loves
Somebody“ und „Volare“
hat es in den vergangenen
Wochen weltweit in die
obersten Ränge der Ver- Martin (1990)
kaufs-Hitparaden geschafft. Das Album avancierte zur Nummer
eins in Australien und Schweden, landete
unter den ersten zehn in England und Frankreich, unter den Top 20 in Deutschland –
zwischen Lou Bega und Britney Spears. In
den Clubs tanzen inzwischen auch wieder
Menschen unter 30 zu Martins Whiskey-weicher Stimme und singen auf Karaoke-Partys
von „Amore“. EMI-Pressechef Frank Bender
erklärt sich den Erfolg schlicht mit dem
„herrschenden Zeitgeist“.
267
SCHEID / LIAISON / GAMMA / STUDIO X
ULLSTEIN BILDERDIENST
eist ekeln sich die Literatur-Fachleute, wenn ein Roman,
nur weil er gerade als Vorlage für eine Verfilmung gedient
hat, mit einem Klebe-Etikett „Das Buch zum Film“, neuer Aufmachung und Filmfotos in die Buchläden kommt. Im Fall von
Klaus Manns Emigranten-Roman „Der Vulkan“ (1939) ist es ein
Segen: Zum Start des gleichnamigen Films, der am 21. Oktober
in die Kinos kommen soll (Regie: Ottokar Runze), hat der Rowohlt-Verlag nicht einfach nur die Taschenbuchausgabe fortgedruckt (bisherige Auflage: mehr als 100 000 Exemplare). So
erscheint jetzt jener Roman, der
dem 1906 geborenen, 1949 freiwillig aus dem Leben geschiedenen ältesten Sohn Thomas Manns
zu Recht als der gelungenste aus
seiner Feder erschien, erstmals
wieder in der Form, wie er während des Exils in Europa und den
USA entstanden ist. Um nämlich
Mitte der fünfziger Jahre überhaupt eine Ausgabe des bis dahin kaum bekannten Werks in
Deutschland zu ermöglichen,
hatte Erika Mann, des Autors
Schwester, eine Reihe von Veränderungen und Streichungen
vorgenommen. Zum Beispiel
Erika, Klaus Mann (1927)
CINETEXT
M
Szene
L I T E R AT U R
Mit’m Radl da
Jörg-Uwe Albig: „Velo“. Verlag Volk & Welt, Berlin; 160
Seiten; 28 Mark.
268
Apartmenthaus in Havanna
FOTOGRAFIE
Morbides
in Pastell
H. ENGELS
M
ehr als 900 Gebäude
Engels-Foto „Cuban Telephone Company“
von architektonischer
ten; 68 Mark) beigesteuert, der auf hoBedeutung sind in Havanna verzeichhem fotografischem Niveau dem morbinet, und deshalb wurde die Altstadt von
den Charme der Inselhauptstadt hulder Unesco zum Weltkulturerbe erdigt. In sanftem pastellfarbenem Licht
nannt. Doch spätestens seit Kuba zum
zeigt er, fast menschenfrei, die PrunkModereiseziel geworden ist und der
bauten des alten kapitalistischen Kuba
Latino-Boom aus allen Lautsprechern
im heutigen sozialistischen Zustand. Betönt, gehört Kubanisches in jede gut
eindruckend bleibt, trotz fortgeschritteausgestattete Wohnung. Son und Salsa
nen Verfalls, die Vielfalt der Architekgibt es auf CD und im Kino, karibisches
tur: Art Nouveau, Art Deco, Moderne
Jerk-Hühnchen in der Tiefkühltruhe,
Klassik, Modernismus – für jede Stilund für den Wohnzimmertisch hat der
richtung der ersten Jahrhunderthälfte
Münchner Fotograf Hans Engels den definden sich in Havanna repräsentative
korativen Architektur-Bildband „HavaPrachtbauten.
na“ (Prestel-Verlag, München; 104 Sei-
Kino in Kürze
„Die Braut, die sich nicht traut“. Man
muss es den Machern von „Pretty
Woman“ hoch anrechnen, dass sie
genug Anstand besaßen, romanzenhungrigen Zuschauern nicht einfach
„Pretty Woman 2“ in den Rachen zu
stopfen. Aber in dem Gedanken, mit
demselben Dream-Team – vor der
Kamera Julia Roberts und Richard
Gere, dahinter Garry Marshall – eine
weitere Fabel um ein ungleiches Paar
zu drehen, steckte einfach zu viel
Geld, als dass Hollywood ihm widerstanden hätte. „Runaway Bride“
(Originaltitel) ist darum eine FortRoberts, Gere in „Die Braut, die sich nicht traut“
setzung, die mit großem Aufwand
vorgibt, keine zu sein. Der Film lässt einen taffen New Yorker Journalisten auf eine junge Frau prallen, die in ihrer Kleinstadt-Idylle schon drei Verlobte am Altar versetzt hat.
Beim Versuch, den ungehemmten Aschenputtel-Charme von „Pretty Woman“ zu kopieren, strengt sich die Neuauflage derart an, dass ihr jede Nonchalance flöten geht: Sie
setzt immer noch eins drauf. Und beim zehnten gequälten Gag will der Zuschauer die
zaghafte Beinah-Braut endlich zum Jawort verdonnern.
PARAMOUNT
a kommt einer aus Vechta in die
große Stadt Berlin und hofft darauf, sich im Asphaltkrieg behaupten zu
müssen. Und weil es nirgendwo härter
zugeht als auf den Straßen, wird er
Fahrradkurier. Er heißt Enzberg, liebt
sein Fahrrad und hält Geschwindigkeit
für Hygiene, „denn Schnecken machen
Schleim“. Enzberg bremst nie, Radarfallen entkommt er
„durch entschlossene
Beschleunigung“,
und „wenn ihm ein
ziviler Radfahrer auf
dem falschen Radweg“ entgegenwackelt, hält „er den
Ellenbogen raus“.
„Velo“, das Buch des
Journalisten und Literaturdebütanten
Jörg-Uwe Albig, 39, ist noch ein BerlinRoman, aber Albig hat wenig gemein
mit den derzeit gepriesenen deutschen
Jung-Erzählern. Denn das Letzte, was
er will, ist, eine handwerklich saubere
Geschichte aus der dreckigen Großstadt
zu erzählen. Seine Story – sie handelt
von Liebe, Vertrauen, Verrat und Tod –
jubelt er vielmehr dem Text geradezu
verstohlen unter. „Velo“ ist entschlossen
durchstilisiert, expressiv, streckenweise
essayistisch: Da hat einer jeden Satz bis
zum Anschlag durchgezogen.
Dummerweise passt „Velo“ auch deshalb partout nicht in den Zeitgeist, weil
er der Großstadt Berlin ihren ganzen
Hype nicht abkauft. Er entlarvt den
Rummel als eine Selbstaufblähung derjenigen, die aus Vechta oder sonst woher in die Metropole einfallen und jetzt
so furchtbar gern Stadtguerrilla spielen
möchten. Aber die Stadt, träge und
gleichgültig, spielt nicht mit. Enzberg
stählt sich für den Ernstfall, „der ihm
teuer war“, aber der Ernstfall tritt nicht
ein. An einer Straßenkreuzung trifft der
Fahrradkurier – „das Gesäß sieghaft gespannt“ – auf eine Gruppe saufender
Schlachtenbummler, aber wie er auch
„mit brennender Leidenschaftslosigkeit“ den Angreifern entgegenstarrt,
sein Blick erhält „keine Antwort“:
wieder eine verpasste Schlacht.
Jörg-Uwe Albigs Held ist eine lächerlich-grimmige Gestalt, ein jugendlicher
Kamikaze-Spießer, dessen „einzige
Angst war, keine Angst vor seinem Inneren haben zu müssen“.
H. ENGELS
D
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Kultur
LEBENSHILFE
Am Rande
Lust auf Jazz
Schluss mit durstig
in Sprachwitz mit einem 68 JahE
re alten Bart hält die DudenRedaktion seit Monaten auf Trab:
J
azz gilt bei vielen Zeitgeistern als unsinnlich, ein Festmeter
Jazz-Platten als so verführerisch wie eine Briefmarkensammlung. Zu Unrecht, meint der Münchner Schriftsteller Joseph von Westphalen. Westphalen, 54, ein erklärter Freund
schöner Frauen und schöner Musik, hat deshalb jetzt auf vier
CDs eine Sammlung rarer Jazzstücke zusammengestellt „unter dem Gesichtspunkt der erotischen Verwendbarkeit“ („Wie
man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt“. Kein & Aber
Records, Zürich; 69 Mark). Inspiriert durch Westphalens Romanhelden und Alter Ego Harry von Duckwitz, ist die Musikauswahl des Jazz-Erotomanen zwar aus urheberrechtlichen
Gründen recht konservativ geraten (bei über 50 Jahre alten
Titeln fallen keine Lizenzgebühren an), doch exquisit: Von
eher unbekannten Titeln wie Julia Lees „Lotus Blossom“
(1947) oder James Koks „Jazznocrazy“ (1935) erhofft er sich
ebenso lustfördernde Wirkung wie von den üblichen Verdächtigen Duke Ellington oder Billie Holiday. Auch für besonders
hartnäckige Fälle weiß Westphalen Rat: „Eine Karte für eine
Puccini-Oper – und schon ist Pretty Woman zu allem bereit.“
FILM
Erfolg ohne Seife
W
ährend die sogenannten DokuSoaps im TV oftmals nicht nur inhaltlich weit hinter den Erwartungen
zurückbleiben – so soff etwa die Quote
des RTL-„Clubschiffs“ kläglich ab –, erleben klassische Dokumentarfilme derzeit im Kino eine Renaissance: Wim
Wenders’ Huldigung der kubanischen
Musiker vom „Buena Vista Social Club“
haben inzwischen fast 700000 Zuschauer
Westphalen
gesehen. Wenders hat damit gute Chancen, der erfolgreichste deutsche Regisseur des Jahres zu werden. Aber auch
Dokumentarfilme mit weniger populären Themen erweisen sich als unerwartet
erfolgreich: Die melancholische Bukowina-Elegie „Herr Zwilling und Frau
Zuckermann“ wollten schon knapp
20 000 Zuschauer sehen, und Dominik
Wesselys tragikomischer Staubsaugervertreterfilm „Die Blume der Hausfrau“
erreichte – obwohl bundesweit nur in
vier Kinos zu sehen – inzwischen 35000
Besucher. Am 7. Oktober kommt der
nächste potenzielle Doku-Hit in die Kinos: Werner Herzogs in Cannes gefeierte
Klaus-Kinski-Hommage „Mein liebster
Feind“ startet mit 20 Kopien.
PANDIS / TELEPRESS
„Viehjud Levi“. Das Jahr ist 1933, der Ort
ein abgelegenes Tal im Schwarzwald. Es
treten auf: die Bauern, die Narren und
der Wirt, die Kellnerin, der Rebell und der
Viehhändler. Wie in einer Brechtschen
Lehrparabel entwirft Didi Danquart, vor
allem als Dokumentarfilmer bekannt, den
Anbruch einer neuen Ära, der sich auch
diese winzige, scheinbar aus der Zeit gefallene Dorfgesellschaft nicht entziehen
kann. Ein Bahnarbeitertrupp, angeführt
von einem verschlagenen Ingenieur,
schleppt die vergifteten Ideen der Nazis
ein, und bald wird aus dem geachteten
Viehhändler ein verhasster Jude. Ein wenig zu berechnet und berechenbar wirkt
das herb-strenge Heimatdrama (Vorlage
war ein Theaterstück Thomas Strittmatters), und selbst die herausragende Darstellertruppe kann das Reißbrett, das
durch die Leinwand schimmert, nicht vergessen machen.
„Wer nicht hungrig ist – ist
satt / Wer aber keinen Durst grad
hat, / Was ist mit dem?“ So fragte
1931 der Reimer und Drehbuchautor Otto Eis in dem Berliner
Blatt „Der Querschnitt“ und schlug
der Sprachgemeinschaft die Vokabel „storp“ vor: „Fragt nun der
Kellner: ,Kognak?‘ / Ich ihn mit
,storp‘ davonjag.“ Der Vorschlag,
mit diesem Wort den Zustand
des Nicht-Durstens zu umschreiben, fand kein Gehör,
so wenig wie „schmöll“
von Robert Gernhardt.
Der Dichter hatte
1975 im Satiremagazin
„Pardon“ als „Werner
Schmöll“ die DudenRedaktion aufgefordert,
die Lücke mit dem Namen ihres Entdeckers zu
schließen. Ernst wurde
es erstmals 1993, als die
Gesellschaft für deutsche Sprache eine Großumfrage
zur Lösung des „bisher ungelösten
Sprachrätsels“ startete. Die Vorschläge der knapp 1000 Einsender
fanden die Wiesbadener Sprachheger zum Davonlaufen. Die Mannheimer Konkurrenz vom Duden
aber wollte es in diesem Jahr endgültig wissen. Die Idee des Tee-Herstellers Lipton, auf Millionen von
Eistee-Behältern eine Suchanzeige
des Duden nach dem Wort für
„nicht mehr durstig“ zu drucken,
ließ von Juni bis September über
50 000 Vorschläge auf die DudenRedaktion niedergehen – allein
über 9000 Internet-Nutzer mailten
ihren Vokabelsenf dazu. Unter den
Favoriten: gewässert, gelöscht, entdurstet, nimedu (nie mehr durstig)
und gedulipt. Welches Wort künftig
dem „satt“ zur Seite stehen soll,
will die Jury allen Wissensdurstigen am 7. Oktober auf einer Pressekonferenz in Hamburg eintrichtern. Fest steht immerhin, dass
die Duden-Redaktion nicht sofort
den preisgekrönten Vorschlag in
die Nachschlagewerke aufnehmen
wird. Für ein solches Vorhaben hat
die deutsche Sprache nämlich schon
ein Wort: Schnapsidee.
Herzog, Kinski (mit Statistin, 1987)
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Kultur
MUSIKBETRIEB
Saitensprung nach
Jericho
Das Berliner Philharmonische Orchester, Deutschlands
edelster und teuerster Klangkörper, drängt ins Geschäftsleben:
Unter dem Etikett „Berliner Philharmoniker“ betreiben
die Musiker einen schwunghaften Handel mit Medienrechten,
CD-Aufnahmen und Baseball-Kappen.
F
W. SCHMIDT / NOVUM
ür die Haute Couture der Tonkunst ist eine „elegante Schreibtisch- oder Vitridie Berliner Philharmonie eine erste nenuhr mit integriertem Wecker und einAdresse. Hier hat einmal der emsigs- klappbarem Aufstellrücken“ für 89 Mark,
te Plattenspieler der Klassik rotiert, und „in Silber oder Matt“.
bis heute ist Karajans Goldgrube ein Hort
Der Solitär unter den philharmonischen
des Wohlklangs und des Wohlstands.
Juwelen aber ist eine „spielbare SammlerDenn in Hans Scharouns fünfeckigem CD in Geigenform“, deren Edition „weltSchachtelbau hat das Berliner Philharmo- weit“ auf 1000 Stück begrenzt ist und auf
nische Orchester, Deutschlands beste und der der verblichene Karajan den fünften
bestbezahlte Big Band, seine Heimstatt.
Ungarischen Tanz von Johannes Brahms
Die 122 fest angestellten Musiker, die dirigiert, sonst nichts – mit 2 Minuten und
jährlich mit rund 25 Millionen Steuer-Mark 35 Sekunden Spielzeit für 189 Mark wahrsubventioniert werden, gelten als Edelleu- lich ein Schnäppchen der Spitzenklasse.
Berliner Philharmonisches Orchester in der
te der Spielkultur und übernehmen durchDamit das Orchester als neuer Markenaus auch vaterländische Pflichten.
artikler auch sichtbar wird, ziert alle ein paar Striche des Pentagons kaum merkNächsten Monat beispielsweise starten Produkte ein dreifach ineinander ge- lich verdickt und ihren Namen rechts nesie zu einer Kurztournee in die Metropo- schachteltes Fünfeck, Abbild des Philhar- ben das Logo gedruckt.
Scheinbar fein getrennt, sieht doch alles
len der ehemaligen Siegermächte und tre- monie-Grundrisses; daneben steht, dezent
ten, mit Gerhard Schröder als Schirmherr, natürlich, der Namenszug des Klangkör- zum Verwechseln ähnlich aus, und genau
in Moskau, London, Paris und Washington pers: „Berliner Philharmoniker“, Deutsch- das ist der Trick: Hinter dem DoublettenImage verbirgt sich, von der Öffentlichkeit
zum sinfonischen Dank für alliierte Obhut lands jüngste Handelsmarke.
an. Motto der Reise: „50 Jahre BundesreWie sich die Bilder und Briefköpfe glei- kaum wahrgenommen und von den Kulpublik Deutschland“.
chen: Das Berliner Philharmonische Or- turpolitikern gern übersehen, eine der duKein Zweifel – wenn es um Kunst und chester residiert in der Herbert-von-Kara- biosesten Konstruktionen des Betriebs –
Kasse, um Stand und Standesdünkel geht, jan-Straße 1, schmückt sich seit Jahren mit ein Klangkörper mit Januskopf.
Juristisch ist die Sache okay. Das luxuist das Berliner Philharmonische Orchester dem Tripel-Fünfeck und setzt seinen Titel
die deutsche Nationalmannschaft. Und mit rechts unter das Emblem. Die Berliner riös subventionierte Berliner Philharmoder lässt sich Staat machen.
Philharmoniker haben dieselbe Adresse, nische Orchester ist eine Institution der
deutschen Hauptstadt, untersteht
Seit dem Start in die neue Saidem weisungsberechtigten Kulson haben die Berliner Senatstursenator Peter Radunski, hat
musikanten allerdings ihr Sortieinen Intendanten und einen
ment ungewöhnlich erweitert.
Chefdirigenten mit ProgrammNeuerdings liefern sie nicht mehr
hoheit und verrichtet mit Tuten
nur klingende Stoffe, etwa Deund Blasen öffentlichen Dienst.
bussys duftige Tonschleier oder
Eine Behörde für Beethoven.
deftiges Gewirk von Wagner,
Das von denselben Musikern
sondern auch allerlei handfeste
gebildete Orchester namens
Web- und Strickwaren sowie di„Berliner Philharmoniker“ ist
versen Schnickschnack für den
eine Gesellschaft bürgerlichen
gehobenen Nichtsnutz.
Rechts (GbR), braucht sich von
Neu im Repertoire der staatskeinem Senator, Intendanten
tragenden Tonkünstler sind etwa
oder Maestro etwas sagen zu lasPolo-Hemden von M bis XXL (69
sen, musiziert, managt, mauMark), Baseball-Caps aus „100
schelt nach eigenem Gusto und
Prozent gekämmter Baumwolle
mit verstellbarem Verschluss“ (29
Mark), ein 150 Zentimeter langer
* Am 3. Oktober 1998 bei der Feier zum Tag
Kaschmir-Schal (189 Mark) und Scorpions-Mitglieder mit Fan Schröder*: „Präsenz ist alles“
der Deutschen Einheit in Hannover.
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L. SCHIRMER / OSTKREUZ
FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ (li.); S. BERGEMANN / OSTKREUZ (re.)
Berliner Philharmonie: Apokalyptisches Donnerwetter zwischen Tingel und Tangel
Souvenirstand in der Berliner Philharmonie, Verkaufsartikel: „Das bringt Mäuse“
schaufelt Kohle in die privaten Taschen,
als Zubrot zum Gehalt.
Durch die Zwitterstellung sind die Musiker fein raus: Als Senatsensemble genießen sie alle Segnungen der deutschen
Subventionspraxis und profilieren sich als
hoch bezahlte Champions der deutschen
Klassikliga; gleichzeitig nutzen sie in der
GbR ihren öffentlichen Status und verwerten diesen für ihre eigenen Interessen
– Berliner Filzharmonie.
Bei den von Chefdirigent Claudio Abbado geleiteten Salzburger Osterfestspielen beispielsweise geben die Berliner ihre
Konzerte als Philharmonisches Orchester,
machen also Dienst nach Vorschrift und
ohne Sondervergütung. Sobald die Herrschaften aber, vielleicht schon am nächsten
Abend, vor Ort Oper spielen, firmieren sie
als Philharmoniker und kassieren die Gage
als Extra. Oper ist nicht ihr Ding.
„Wie das alles mit den immerhin vom
Berliner Senat bezahlten Kosten einer
Dienstreise verrechnet wird“, sagt ein philharmonischer Insider zum SPIEGEL,
„weiß keiner“, „den Kuddelmuddel durchschaut niemand.“
Ursprünglich herrschte bei dem deutschen Eliteorchester strenge Gütertrennung. Die Berliner Philharmoniker sollten,
als kommerzielle Sachwalter des Berliner
Philharmonischen Orchesters, dessen Ind e r
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teressen auf dem Schallplattenmarkt vertreten. Da das senatseigene Ensemble keine privaten Geschäfte betreiben soll und
der Senat vom Getrickse der Labels nichts
versteht, schlossen sich die fest angestellten
Musiker Anfang der fünfziger Jahre zur
GbR „Berliner Philharmoniker“ zusammen, wählten zwei Geschäftsführer und
betrieben fortan alle Medienaktivitäten in
freier, einträglicher Selbstbestimmung.
Was immer sie, vor allem in der Ära des
hochtourigen DJ Karajan, für Plattenfirmen einspielten, ging auf ihr Konto – Millionenbeträge. Durchaus logische Versuche
des Senats, wenigstens einen Teil dieser
Nebeneinkünfte in die Staatskasse zu lenken und so indirekt die Subventionskosten
für das Philharmonische Orchester zu drosseln, schlugen fehl. Niemand wollte es mit
den empfindlichen Kulturträgern und
ihrem Goldesel Karajan verderben. In den
fetten Jahren des Klassikgeschäfts dürfte
jeder Berliner Philharmoniker durch diese
Praxis sein Festgehalt verdoppelt haben.
Doch inzwischen sind die rosigen Zeiten
des Platten-Booms passé. Zwar wirft das
CD-Geschäft immer noch schön was ab,
vor allem bei Live-Produktionen, die die
knapsenden Plattenfirmen neuerdings bevorzugen. Dabei müssen die Musiker nämlich gar nicht erst ins Studio und in ihrer
Freizeit fiedeln. Vielmehr werden die Generalprobe und die öffentlichen Darbietungen des Philharmonischen Orchesters
einfach mitgeschnitten und,
wenn nötig, zusammen mit
ein paar nachträglichen Korrekturdetails zum veröffentlichungsreifen Band gemixt.
Auf der fertigen CD spielen
dann – bewährter Rollentausch – die Philharmoniker,
und die kassieren.
Dennoch „ist ganz klar“,
sagt ein Musiker, „dass sich
die GbR bei sinkendem Plattenverkauf neu orientiert.
Ihr Fernziel sind mehr Konzerte und Events in Eigenregie. Das bringt Mäuse“.
Das bringt allerdings auch
Ärger in den eigenen Reihen.
„Wenn es so weitergeht“,
sieht ein Philharmoniker schon „die traditionelle Reputation des Berliner Philharmonischen Orchesters gefährdet“.
Während die fest angestellten Senatsmusiker gern ihren abendländischen Kulturauftrag herausstreichen, machen sich
ihre freischaffenden Doppelgänger inzwischen mit Tingel und Tangel hundsgemein.
Im vergangenen Februar suhlten sich die
Philharmoniker vor den Mikrofonen des
BMG-Labels Ariola im Schmuse-Sound eines neuartigen Gesamtkunstwerks. Das
hieß „Die Krone der Schöpfung“ und war
die Krone des Schwachsinns.
Da schnulzten und schluchzten die
Streicher, das Schlagzeug machte endzeit271
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Kultur
SIPA
lichen Wirbel, Pauken und Trompeten beschworen Jericho. Mario Adorf zitierte zwischen wuchtigen Tutti-Schlägen ein paar
Bibelsprüche, und dann, nachdem das Orchester wieder sein apokalyptisches Donnerwetter herausposaunt hatte, begann der
weltenmahnende Barde Udo Jürgens, der
Menschheit am Pianoforte 13 Minuten lang
die Leviten zu lesen: „Wir fragen nicht, wir
nehmen, wir leben uns’re Gier!“, heulte
der Oldie zur philharmonischen Dröhnung
– ein vor Ort angemessener Singsang.
Chefdirigent Karajan (1975)
L. SCHIRMER / OSTKREUZ
Schnäppchen der Spitzenklasse
Chefdirigent Abbado (1996)
Klangkörper mit Januskopf
Kaum war das Jürgens-Album mit „besonderem Dank“ für die „kreative Mitarbeit“ der Berliner in Umlauf, kam in der
Philharmonie neue Verwirrung auf: Erst
kündigte der amtierende Intendant Elmar
Weingarten wegen „Entfremdung“ mit
dem Orchester seinen Abgang an, dann
gingen die Wogen hoch, weil sich das Orchester bei der Expo 2000 in Hannover mit
der lokalen Popband Scorpions zum gemeinsamen Auftritt zusammentun würde.
Nur – welches Orchester?
d e r
„Ganz eindeutig das Berliner Philharmonische Orchester“, behauptet Olaf Maninger, 34, Solocellist und einer der beiden Geschäftsführer der GbR. Weingarten
selbst habe der Expo den Abend unter der
Bedingung zugesagt, dass die Berliner in
Hannover noch ein zweites, rein klassisches Programm darbieten dürften. Die
Veranstalter hätten das zugesagt. Daraufhin habe die GbR mit dem ZDF über die
TV-Rechte verhandelt: Auf der Mattscheibe hätte sich das elitäre Berliner Philharmonische Orchester nämlich wieder lukrativ in die geschäftstüchtigen Berliner
Philharmoniker verwandelt.
Doch „urplötzlich“, so Maninger, habe
Weingarten der GbR mitgeteilt, dass die,
laut „Zeit“, „wundersame Liaison“ mit
den vom Bundeskanzler hoch geschätzten
Rockern doch nicht stattfinde. Schon sah
die GbR ihre Felle davonschwimmen, da
griff – seltener Fall – Kultursenator Radunski ein und durch: Es werde gespielt.
Weingarten gehorchte.
Während sich der um das Ansehen
des Philharmonischen Orchesters besorgte Intendant nun auf sein Valet einstimmt, planen die Philharmoniker munter drauflos.
„Präsenz ist alles“, umschreibt GbRSprecher Maninger den wachsenden Trend
zum Koofmich-Ensemble. Im Orchester
gebe es „keinen kommerziellen Geist“, beteuert er, es kümmere sich nur „selbstbewusst um das, was es macht. Wir gehen
nicht leichtfertig mit der Würde des Orchesters um, aber wir wollen raus aus dem
Elfenbeinturm“ – und rein ins Geschäft mit
Tand und Trödel.
Wann immer das Berliner Philharmonische Orchester an seinem Stammplatz
zum Konzert lädt, lädt seit September
im Foyer der Philharmonie der blau
schimmernde Stand der Philharmoniker
zum Shopping ein und preist seine Accessoires an.
Dieses Verkaufsprogramm, versichert
Maninger, sei „kein kommerzielles, sondern ein rein kommunikatives Konstrukt“.
Auf diese Weise könnten Konzertbesucher
„Erinnerungsstücke von einem der besten
Orchester der Welt erwerben“, „ein heißer
Wunsch vieler Klassik-Freunde“.
Ab Mitte November wird der Souvenirhandel auf das neue Sony-Kommunikationscenter am Potsdamer Platz ausgeweitet; vom Jahr 2000 an soll das philharmonische Sortiment auch auf Tourneen und
im Internet angeboten werden.
Zur Einweihung des gesamten SonyKomplexes wollen die umtriebigen Philharmoniker einen besonders grotesken
Saitensprung wagen: Zur Taufe des Riesenbaus parieren die sonst so stolzen Olympier,
für Beethovens Neunte und ordentlich Zaster, erstmals dem Taktstock eines Amateurdirigenten. Den schönen Götterfunken
schlägt dann der Bariton Norio Ohga, Sonys
erhabenes Oberhaupt.
Klaus Umbach
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Kultur
KUNST
Strampeln in der
Cyber-Welt
In flimmernden Kunstwerken
präsentiert eine
Ausstellung in Karlsruhe
die finsteren Seiten
des digitalen Zeitalters.
W
„Cult of the New Eve“. Ein inszenierter
Computervirus, der Grafiken auf dem Bildschirm nur noch hysterisch hüpfen lässt,
führt vor, wie Technik außer Kontrolle
gerät – und der Benutzer hilflos glotzt.
Immer stärker, auch das illustriert die
Schau, verliert sich die Grenze zwischen
Wirklichkeit und Fiktion. So können sich
ZKM-Besucher am virtuellen Tisch versammeln, obwohl sie in Wahrheit in verschiedenen Räumen sitzen.
Bald, prophezeit Weibel, werden sich bis
zu 100 000 Menschen via Internet zu Computerspielen treffen. Vielleicht tragen die
Figuren dann sogar die Visagen der realen
Spieler. „Die Computerfreaks“, sagt er,
„wollen nicht mehr einsam durch das Netz
surfen, sondern ein Gefühl von Geselligkeit
haben.“ Eine Scheingeselligkeit, hockt
doch jeder allein vor seinem Monitor.
Bei aller Netz-Kritik pflegt Weibel die
Hoffnung auf eine faszinierende Cyber-Zukunft: Das Internet werde mit seiner flimmernden Techno-Ästhetik und den nur
flüchtigen Erscheinungen die bildende
Kunst, Musik und Literatur revolutionieren
– auch wenn der Visionär zugibt, dass viele Künstler von der Web-Avantgarde nichts hören wollen.
All jenen, die weder E-Commerce noch Meta-Suchmaschinen
kennen und als digitale Analphabeten den Anschluss ans vernetzte Zeitalter zu verpassen drohen,
will Weibel Orientierung geben.
Im ZKM soll über die gesellschaftliche Macht des Internet diskutiert
– aber auch hemmungslos gespielt
und gesurft werden. Man lässt sein
Porträt im „Smell.Bytes“- PC der
Griechin Jenny Marketou speichern, ein allwissender Apparat,
der angeblich Schönheit und Körpergerüche messen kann, oder
strampelt sich ab, um einen Computer per Pedal anzutreiben.
Jenseits des interaktiven Spielelands bietet die Schau vor allem
eine eindrucksvolle, internationale Bestandsaufnahme aktueller
Kunst im und zum Internet. Weibel will mit seinem Debüt auch
ZKM-intern Punkte sammeln:
Seit Monaten sorgen nur die Querelen im Haus für Schlagzeilen.
Erst 1997 war das ZKM nach langer
Vorlaufphase eröffnet worden – und habe
sich bald, moniert Weibel, in einen bequemen Dämmerzustand sinken lassen;
vor allem nach dem Rückzug des inzwischen verstorbenen Gründers Heinrich
Klotz. „Ausgerechnet das Zentrum für
Medientechnologie“, ärgert sich der neue
Chef, „hat das neue Medium Internet verschlafen.“
Das Motto der Ausstellungseröffnung
klingt denn auch wie eine Drohung an Weibels Gegner: „It really works now!“, verkündet die Einladung.
Ulrike Knöfel
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
er den schummrigen Salon betritt, wird auf einen Schlag um
hundert Jahre zurückgebeamt.
Dunkelrote Tapeten, ein Hirschgeweih und
tiefe Polstersessel kopieren einen protzigen
Spießer-Kitsch der Gründerzeit. Merkwürdig schlicht mutet in diesem Ensemble
antiquierter Staubfänger nur ein blanker
Holztisch an, auf dem der fiktive Hausherr
ein Weinglas bereitgestellt hat.
Doch Vorsicht: Schon der Griff nach
dem Kelch bringt abrupt gespenstische Un-
im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe (bis 9. Januar).
ZKM-Chef Peter Weibel, 55, im Januar
in der badischen Provinz angetreten, feiert
mit der Ausstellung seinen späten, dafür
aber multilokalen Einstand. Die Schau ist,
wie es sich in globalen Cyber-Zeiten gehört, mit Parallelveranstaltungen in Graz,
Barcelona und Tokio vernetzt.
Eigentlich will die österreichische
Power-Maschine Weibel – ein Ex-Skandalkünstler, längst aber auch anerkannter
Theoretiker und Arrangeur junger Medien-Kunst – die schräge neue Bits- und
Bytes-Welt kritisch ausleuchten. Seine
fröhliche Geisterbeschwörung, meint Salon-Künstler Collins, sei dennoch nicht fehl
am Platz. Er behandle eben eine archaische Form der Fern-Kommunikation. Und
blicke zurück auf eine Epoche, in der zwar
das Telefon schon erfunden war, Traditionalisten jedoch eher an ihre WohnstubenSpiritualität glaubten als an das Technikzeitalter.
Séancen mögen inzwischen aus der
Mode sein, nicht aber die Skepsis gegenüber neuen Technologien. Auch das Inter-
Marketou-Installation „Smell.Bytes“: Erschreckend allwissende Apparate
ruhe ins plüschige Ambiente. Auf der
Tischplatte blinken Wörter auf, durch den
Raum huschen rote Blitze, und dazu ertönt ein bedrohlich dunkles Klopfen.
Die witzig-theatralische Installation
„Truth in Clouds“ des US-Künstlers Nicolas Collins ist auf solche Spektakel-Effekte angewiesen, schließlich imitiert sie eine
Geisterséance – und das auf einer Kunstschau, die sich dem für viele noch immer
futuristischen Medium Internet widmet.
„Net_condition“ heißt das erstaunlich
lebendige und bisher größte deutsche
Kunstereignis zum Thema World Wide Web
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net, so Museumschef Weibel, erscheine den
meisten Menschen suspekt. Zu Recht?
In Karlsruhe werden die fiesen Seiten des
digitalen Zeitalters immerhin in originelle
Kunstwerke verpackt. Jordan Crandall sorgt
mit Film-Projektionen für den beklemmenden Eindruck, dass Video- und Webkameras ihr Überwacher-Auge stets auf alles
und jeden werfen: Sie liefern – scheinbar
live – Luftbilder von Gebäuden, zeigen angeblich nichts ahnende Paare beim Sex.
Erweitert wird das Grusel-Repertoire
durch die Cyber-Sex-Maschine „FuckU“
oder das digitale Frankenstein-Projekt
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Kultur
L I T E R AT U R
Sex unter
Rüsseltieren
Spengler, 52, Schriftsteller und Journalist,
lebt im bayerischen
Ambach. Sein jüngster
Roman „Die Stirn, die
Augen, der Mund“ ist
soeben im Rowohlt
Verlag erschienen.
E
s muss endlich einmal gesagt werden, dass überraschend wenige Autoren einen packenden Roman über
Elefanten schreiben können.
Ich meine damit nicht einen Roman, in
welchem diese Tiere als Objekte zum
Draufschießen vorkommen. Davon gibt es
mehr, als die Regale halten sollten. Die
Rede ist vielmehr von Romanen, die jene
Tiere aus ihrer eigenen Sichtweise beschreiben: als Wesen, die vergnügt sind und
M. FENGEL
Tilman Spengler über
Barbara Gowdys Roman
„Der weiße Knochen“
hungern, kopulieren, sich schämen und
träumen. Die, kurzum, vieles so machen
wie wir, nur etwas bedächtiger, nachdrücklicher und mit einer den Uneingeweihten anfangs vielleicht befremdlichen
Begeisterung für Kot und Urin.
Jetzt liegt so ein Roman vor, er trägt den
Titel „Der weiße Knochen“, und er erzählt
so selbstverständlich und kühl, so unaufgesetzt und leidenschaftlich von Glück und
Leid mehrerer Familien, dass die Leserschaft sich bald fragt: Warum nicht öfter
Elefanten, oder: muss es denn immer gleich
der Mensch sein?*
Die Autorin des Romans, die 1950 in
Windsor/Ontario geborene Barbara
Gowdy, ist hier zu Lande bekannt – noch
lange nicht bekannt genug – geworden
durch ihre Romane „Fallende Engel“
(1993) und „Mister Sandman“ (1995) sowie durch eine Sammlung von Kurzgeschichten „Seltsam wie die Liebe“ (1993).
Wer diese Geschichten gelesen hat,
weiß, dass sich Barbara Gowdy stets in jenen Randzonen bewegt, in denen nur ein
Wimpernschlag das Vertraute von dem
Monströsen trennt. In welchen, etwa, die
Sehnsucht nach körperlicher Liebe aus der
Sicht eines siamesischen Zwillings, einer
* Barbara Gowdy: „Der weiße Knochen“. Aus dem Englischen von Ulrike Becker und Claus Varrelmann. Verlag Antje Kunstmann, München; 304 Seiten; 39,80 Mark.
Nekrophilen oder einer scheuen Vorstadtexhibitionistin beschrieben wird.
Und damit zurück zu den Elefanten. Auf
den ersten Blick taugen sie wenig als Identifikationsfiguren, denn moralisch sind uns
diese Wesen turmhoch überlegen. Elefanten praktizieren ein weitgehend unangefochtenes Matriarchat, ernähren sich strikt
vegetarisch, werden kriegerisch nur, wenn
sie bedroht werden, zeigen ein beneidenswert entspanntes Verhältnis zur Sexualität
und darüber hinaus noch viele andere löbliche Eigenschaften, von denen unsereiner
nur träumen kann.
Hinzu kommt, dass die Menschen (also
auch wir, die Leser) diesen Tieren in verwerflicher Habgier nachstellen, aus ihren
Füßen Schirmständer fertigen lassen und
aus ihren Zähnen geschmacklose Elfenbeinschnitzereien. Und: Die Elefanten können schon geringfügigere Kränkungen
nicht vergessen.
Klingt das nicht nach dem Stoff, aus welchem Rührstücke gefertigt werden? Das
tut es in der Tat, und man muss wohl schon
eine sprachlich und geschmacklich so gefestigte Autorin wie Barbara Gowdy sein,
um in einem Roman, der die Welt ganz
selbstverständlich aus der Perspektive des
Rüssels schildert, all den Fallstricken des
Niedlichen, des Larmoyanten und Putzigen, des Drolligen und des Herzzerreißenden souverän ausweichen zu können.
E. ROBINS
So ertappt sich der Rezensent dabei, dass er
nach kürzester Zeit überhaupt nicht mehr verwundert ist, wenn die
Vertreterinnen der biologischen Ordnung Proboscidea miteinander reden, als seien sie dicke
Frauen in den Vorstädten
Nordamerikas. Jene Wesen, die, ausgestattet mit
einer dem Betrachter unerklärlichen Kraft, dutzendköpfige
Familien
weitgehend unbeschadet
durchs Leben bringen. Es
verdutzt den Leser nur einige anfängliche Seiten
lang, dass er als Mensch
weder ein Privileg auf die
Organisation von Macht
und Tradition hat, noch
sich etwas auf die KenntAutorin Gowdy: „Sie verstehen mich doch auch“
nis wirksamer Heilkräfte
Was uns bei anderen Schriftstellern viel- einbilden sollte. Und wie der Rezensent
leicht als Vorlage für „Ein Herz für Tiere“ wird auch das Publikum bald um das
begegnet wäre, verwandelt sich unter Schicksal seiner Elefantenherden und -helGowdys sehr kühler, sehr ironischer Feder den bangen.
Die größte Aufmerksamkeit gilt natürin ein Drama des Untergangs, bei dem eine
Elefantenherde einen entfernteren, aller- lich der jungen Kuh „Matsch“ (die Namen
dings weitgehend schuldlosen Zweig der der Beteiligten sind bei der kanadischen
Autorin in aller Regel vordergründiger
Buddenbrooks verkörpern könnte.
als beim Schöpfer der Buddenbrooks).
Matsch, das Tier mit dem lahmen Bein und
mit dem grünen Auge aller Visionärinnen,
jenes Geschöpf, welches mit seiner (Adoptiv-)Familie durch die Savannen Ostafrikas streift, immer größere Strecken zurücklegen muss, weil Dürre herrscht, weil Zäune gezogen wurden und weil noch niemand
den magischen „Weißen Knochen“ gefunden hat, dessen spitzes Ende den Weg zum
„Sicheren Ort“ weist.
Was der sichere Ort bedeutet, soll hier
nicht verraten werden, die Spannung sei
den Lesern gegönnt.
„Ich halte es für überhaupt nicht schwer,
mich in einen Elefanten hineinzudenken“,
sagte Barbara Gowdy einem Reporter,
„mich können die Tiere ja auch verstehen.
Man passt sich einander an.“
Dennoch wäre mir, müsste ich die physische Erscheinung der Autorin beschreiben, das Bild einer Elefantenkuh – wenn
überhaupt – dann erst nach der Lektüre
dieses Romans eingefallen. Hätte meine
Mutter Fotos von Frau Gowdy gesehen,
wären unweigerlich Eigenschaftswörter gefallen wie „feingliedrig“, „zart“, vielleicht
sogar „zerbrechlich“. Einschlägige Adjektive mithin, doch aus der Welt des Porzellans und damit direkt gegengängig dem bekannten Bild der Rüsseltiere.
Vielleicht rührt daher die delikate Meisterschaft der Autorin.
™
Kultur
dern unterwegs, Familienangelegenheiten
gehen für ihn nun mal vor –, fragte eine
AU T O R E N
New Yorker Boulevardzeitung an, ob er
mit seiner Brüskierung Clintons eine politische Haltung zum Ausdruck bringen wolle; an seiner Stelle sei nach einer peinlichen
Pause beim Galadinner Lauren Bacall an
den Tisch des Präsidenten geholt worden.
Als er sein erstes Buch schrieb, war er 64. „Die Asche meiner
McCourt schrieb schnell einige klärende
Mutter“ wurde ein Welterfolg. Jetzt ist er 69 und die
Zeilen ans Weiße Haus (er mag Clinton,
trotz allem) und wurde gleich wieder zu eiFortsetzung erscheint in Millionenauflage: Der amerikanische
ner familiären Lesung in die PräsidentenIre Frank McCourt genießt seinen Ruhm als spätes
gemächer gebeten. Er fuhr hin, und Hillary
Wunderkind – und lebt seine eigene Legende. Von Erich Follath und Bill waren sehr dankbar.
Kein Zweifel: Da ist einer angekommen
unter den Glitterati und Literati der USA,
Konkurrenz für den weisen John Updike
und den weiß gekleideten Tom Wolfe.
Schwer begreiflich ist dieser Aufstieg für
Kenner des Literaturbetriebs, aber noch
verblüffender für ihn selbst. Geschichten
wie die von den Clintons erzählt er wie
eine doppelte Persönlichkeit: Er weiß, was
er tut, und genießt es; beobachtet sich aber
gleichzeitig wie ein Unbeteiligter – und
kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Frank-im-Glück, hineinkatapultiert in
ein Wunderland.
„Das alles habe ich mit einem einzigen
Buch geschafft. Andere Autoren, viele bedeutende darunter, haben für ihr gesamtes
umfangreiches Lebenswerk nicht so viel
Anerkennung erfahren“, sagt McCourt,
und dann, als müsse er ob all seiner Erfolge ein schlechtes Gewissen haben: „Höchste Zeit, dass ich jetzt den zweiten Teil meiner Erinnerungen vorlege.“
In seinem Debüt „Angela’s Ashes“ kommen keine bestsellerträchtigen Berühmtheiten und keine strahlenden Aufsteiger
vor. Frank McCourt erzählt von dem alkoholsüchtigen Vater, einem irischen MöchMcCourt auf dem Friedhof in Limerick: „Viele Katholiken, aber wenige Christen“
tegernpatrioten, der wegen seiner Hilfsdienste für die katholirank McCourt hat gelernt, mit Gesten
schen Terroristen der IRA Hals
sparsam umzugehen. Damals, in den
über Kopf Irland verlassen muss
Slums von Limerick zu den Zeiten
und später mit seiner Familie weseiner irischen Kindheit, holte sich jeder
gen wirtschaftlicher Probleme
schnell eine blutige Nase, der eine falsche
zurückkehrt. Von seiner Mutter,
Bewegung machte. So duckt er sich bis
die verzweifelt versucht, ihre
heute bei jedem Treffen und jedem GeKinder durchzubringen. Von den
spräch instinktiv weg, als wolle er keine
Armenvierteln im westirischen
Angriffsflächen bieten: ein Boxer, der
Limerick, wo alles im Schlamm
selten die Deckung aufgibt. Ein Misstrauiund Kot erstickt, wo gesoffen, gescher, gestählt im permanenten Überhurt, vor allem aber gehungert
lebenstraining.
wird. Und, oft schon in KinderAber an diesem Morgen könnte Frank
tagen, an Krankheit und AusMcCourt die ganze Welt umarmen. Und
zehrung gestorben.
er zeigt es – mit einer weit ausladenden, jeDie kleinen Zwillingsbrüder
den Selbstschutz vernachlässigenden Ges- New York in den vierziger Jahren: „Amerikas Lichter“
McCourt, mit denen die anderen
te. „Dies alles hier ist mein Besitz“, sagt er
und lässt mit weit erhobenen Händen sei- barn von Meryl Streep, Dustin Hoffman Kinder ein Bett teilen, rafft eine Lungenentzündung dahin. „Sechs Monate nach
nen Zeigefinger kreisen bis zum Horizont. und Arthur Miller geworden.
Außerdem besitzt Frank McCourt noch Olivers Heimgang wachten wir an einem
Ein umgebautes Herrenhaus, eine riesige
Wiese mit Bäumen, ein naturbelassener eine große Wohnung an der New Yorker ekligen Novembermorgen auf, und da lag
Teich – McCourt-Country, so weit das Auge Fifth Avenue. Außenministerin Madeleine Eugene – kalt neben uns.“ So lapidar schilreicht. Er hat das millionenteure Anwesen Albright hat ihn zum Frühstück in ihre Pri- dert Frank das Ungeheuerliche.
Aber Frank weiß gar nicht, was aufgeben
nahe der kleinen Stadt Roxbury im US- vatwohnung gebeten. Und als der SchriftBundesstaat Connecticut vor einem hal- steller zweimal eine Einladung ins Weiße heißt, für Selbstmitleid hat er keine Zeit.
ben Jahr gekauft und ist damit zum Nach- Haus ausschlug – er war mit seinen Brü- Elfjährig ist er mit seinen Gelegenheitsjobs
I. COOK / PEOPLE WEEKLY
Aus der Asche ein Feuer
ARCHIVE PHOTOS
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Kultur
A. SAHIHI
„’Tis“ hat McCourt sein Zweitwerk ge– und Klauen – schon Haupternährer der einfach schreiben – ich war’s mir schuldig
Familie: streetsmart und nie um einen ori- und auch meinem Verlag.“ Ellen, seine drit- nannt, weil er sich vorgenommen hat, geginellen Einfall verlegen. Wie er Fish and te Frau und selbst Publizistin, hat ihn zu- nau dort weiterzumachen, wo er aufgehört
hat: Das Wort beschließt „Angela’s Ashes“.
Chips auftreibt, wie er seine ersten Erfah- sätzlich zum Schreiben angefeuert.
rungen mit Sex macht (er ist 15, als seine
Er hat ihr einen traditionell irischen Harry Rowohlt hat es mit „Doch“ überGeliebte an Tuberkulose stirbt), wie er eine Claddagh-Ehering gekauft, obwohl sie kei- setzt – also kommt auf den deutschen
geizige Alte übers Ohr haut und schließlich ne Irin ist, und er trägt auch selbst diesen Markt ein Buch mit dem Titel „Doch“?
das Geld für die Flucht nach Amerika zu- Bekennerschmuck. Er sagt, er wolle in den Der Luchterhand Literaturverlag entschied
sammenkratzt: Das sind Geschichten, die USA leben, aber ein kleines Häuschen in sich lieber für die vorletzten Worte des erssüchtig machen, herzzerreißend traurig der Stadt seiner Jugend zu kaufen, das ten Memoirenteils, mit denen ein hoffund oft zwerchfellerschütternd komisch könnte er sich „im hohen Alter“ schon vor- nungsvoller Frank (allerdings im Original
zugleich.
stellen. Er weiß: Man kann einen McCourt in Frageform) seine neue Heimat charakEin Teil des Bestseller-Erfolgsgeheim- aus Limerick herausholen, aber Limerick terisiert: „Ein rundherum tolles Land“*.
„Eines würde mich kränken“, sagt der
nisses liegt in der besonderen Erzählper- nie ganz aus einem McCourt. „Ich bin auf
spektive begründet. Jahrzehntelang hat beiden Kontinenten, in beiden Kulturen zu Autor, „wenn Kritiker mir vorwerfen, dass
sich McCourt, längst in den USA einge- Hause. Ich sitze auf dem Bindestrich von ich auf Teufel komm raus meinen Erfolg
wiederholen will und deshalb in die Klibürgert und inzwischen Lehrer für Eng- Irisch-Amerikanisch.“
lisch und Literatur, mit seiner Story geFrüher, in ihrem Slum, träumten sie von scheekiste greife.“
Frank McCourt hat alles getan, um aus
quält, hat immer neue Anfänge geschrieben fernen Ländern. Den einzigen einigerund wieder zerrissen. Erst nach seiner Pen- maßen läusefreien Raum nannten seine der „Asche“ keine Masche werden zu lassionierung kam ihm die zündende Idee: Er Geschwister und er „Italien“. Jetzt ist für sen. Er erzählt nun mit „erwachsener“
schrieb seinen Lebensroman aus der Sicht Frank McCourt überall Italien, ach was, Stimme, er geht auch kritischer um mit seiund in den Sprachebenen des Kindes.
jetzt gehört ihm das ganze Mittelmeer und ner Familie. Und doch ist die Magie von
Als Frank McCourt diesen Kunstgriff ge- die Anrainer dazu: Er brennt darauf, sein der ersten Seite an wieder da: Die Sprache,
die Figuren fesseln – der Vater, der sich nur
funden hatte, war er 64 Jahre alt – ein spä- amerikanisches Anwesen zu zeigen.
noch dem Suff widmet und sich
tes Wunderkind. Zwölf Monate
von seiner Familie abwendet, eine
lang schrieb der Autor wie im FieScheidung auf irisch; die Mutter,
berwahn, dann hatte er den ersten
die nicht weiß, wie sie sich aus
Teil seiner Memoiren fertig. Sie
den Fängen ihrer Armut und ihrer
versetzen den Leser mit solVorurteile befreien soll.
cher Intensität in die HinterFranks amerikanische Story
höfe von Limerick, dass er den
ist keine Tellerwäscher-wird-MilAngstschweiß der Hungernden
lionär-Geschichte. Der junge Mann
zu spüren, das Trost spendende
dient sich schmerzlich langsam
Guinness zu schmecken glaubt.
nach oben. Er schrubbt in einem
Sie transportieren ihn, auf den
Hotel, schleppt Tiefkühlfleisch
letzten Buchseiten, an Bord eines
durch Schlachthöfe. Er wird verÜberseedampfers, wo der 19-jährispottet wegen seines Akzents, seige Frank 1949 seiner Zukunft
ner schlechten Zähne, seiner ententgegenschlingert und schon
zündeten Augen. Er fühlt sich als
sieht, „wie die Lichter von AmeAussätziger. Er träumt von den
rika funkeln“.
blonden All-American-Girls mit
Selten hat ein Buch Kritiker
ihrem „Schneeglöckchenlächeln“
wie Publikum in so vielen Länund kommt in den ersten Jahren
dern so gleichermaßen begeistert.
doch nur an irische MauerIn den USA erhielt „Angela’s
blümchen heran.
Ashes“ den „National Book CriWeil er in Irland schon mit 14
tics Circle Award“ und den Pulit- McCourt mit Frau Ellen auf seinem Landsitz: „Rundherum toll“
die Schule verlassen musste,
zerpreis. In Deutschland wählten
die Buchhändler McCourt zum „Autor des
Viel Holz, viel Glas, viel hohe Wände scheint ihm der Weg nach oben verbaut;
Jahres“. Das Werk wurde in 19 Sprachen und Platz zum Atmen ist in der luxuriös immerhin verdient er als ungelernter Arübersetzt und verkaufte sich weltweit bis umgebauten Scheune. Auf Möbel legt der beiter so viel, dass er seinen Brüdern Majetzt mehr als vier Millionen Mal – die Hausherr weniger Wert; dafür auf Spiel- lachy, Michael und Alphonsus bei ihrem
Branche spricht vom „Phänomen des Jahr- sachen. Fein säuberlich aufgereiht steht Weg von Limerick nach Amerika helfen
zehnts“.
eine große Armee von Zinnsoldaten auf kann. Seine Rettung ist schließlich – die
Hat ein Autor nach einem solchen Über- dem Schreibtisch. „Das hier ist meine IRA, U. S. Army. Über deren AusbildungsproWurf überhaupt Lust auf eine Fortsetzung, aber ich lasse sie nie gegen die Briten ins gramm im Rahmen der „GI Bill“ findet er
zumal ihm die Stimme des Kindes und sein Gefecht ziehen“, sagt McCourt, der als zum Studium.
Frank McCourt verbringt seinen Mischaurig schönes Limerick nun zwangsläu- Kind in Limerick nie Spielzeug besessen
fig verloren gehen? Zittert Frank McCourt, hat. „Die fanatischen Iren, wie mein Vater litärdienst von 1951 bis 1953 hauptsächlich
dessen Debüt die „New York Times“ mit einer war, müssen in Schach gehalten in Deutschland. Die Zeit im bayerischen
Lenggries hält er noch heute für „die
James Joyce’ „Ulysses“ verglich, vor den werden.“
Kritikern seines zweiten Buches?
Auf dem Tisch liegen Zeitungen und schönste meines Lebens“. Er wird, zurück
„Ich weiß, es gibt genug Immigranten- Zeitschriften aus aller Welt, so zerlesen, in New York, Berufsschullehrer und verRomane, aber ich hoffe doch, dass sich vie- als habe da einer Seite für Seite nach etwas bietet den Kids als erstes, mit Sandwiches
le dafür interessieren, wie es mit Angela, Bestimmtem gesucht – zum Beispiel nach
meinem Vater, meinen Geschwistern und den ersten Kritiken seines neuen Buchs, * Frank McCourt: „Ein rundherum tolles Land“. Deutsch
mir weiterging“, sagt Frank McCourt. das in diesen Tagen in den USA und in von Rudolf Hermstein. Luchterhand Literaturverlag,
„Außerdem musste ich diese Fortsetzung Deutschland erscheint.
München; 496 Seiten; 48 Mark.
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Kultur
zu werfen – da ist er empfindlich. Später
schafft er den Sprung an die renommierte
Stuyvesant High School.
Aber die Erinnerung an Limerick hört
nie auf, ihn zu quälen – und ihn zu locken.
In der ersehnten Neuen Welt martert ihn
nun nicht mehr der Hunger, sondern die
Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Er holt Vater und Mutter zu einem Besuch nach New
York, beide getrennt – beide Trips werden
zum Fiasko.
Der Vater, der behauptet hat, er rühre
keinen Tropfen mehr an, kommt volltrunken im New Yorker Hafen an. Frank verfrachtet den Torkelnden schnell zurück und
sieht ihn erst wieder, als er gestorben ist.
Zur Trauer am Sarg ist er nicht fähig, und
alles, woran er sich später von der Beerdigung erinnert, ist ein Lachen über eine
Möwe. „Er wurde in der falschen Zeit geboren“, sagt Frank McCourt über seinen
Erzeuger, eher nüchtern als bitter. „In einem früheren Jahrhundert hätten ihn die
Engländer als Rebellen gehängt. Er wäre
glücklich und singend gestorben – und hätte uns Kinder mit der Aufforderung verschont, wir sollten für die irische Sache
unser Leben geben.“
Die Mutter, die Frank und sein Bruder
Malachy für zwei Wochen eingeladen haben, geht zur Verblüffung ihrer Kinder
nicht mehr zurück. Doch glücklich wird
Angela nicht in New York. Sie schikaniert
ihre Söhne, weigert sich, deren Frauen zu
akzeptieren, und vermisst sogar die oft ausgebrannte Feuerstelle in ihrem alten SlumHaus, die „Asche“, die Frank McCourts
erstem Buch den Titel gab. „Sie wollte,
dass wir nette, irische, katholische Mädchen heiraten, und wir taten ihr diesen Gefallen nicht“, sagt Frank McCourt.
Als sie stirbt, bringt er ein großes Opfer:
Gemeinsam mit seinen Brüdern verstreut
er ihre Asche auf dem katholischen Friedhof von Limerick. Für Angela war die Kirche ein Anker. Für Frank ist sie der Quell
allen irischen Übels, „bei uns gab es viele
Katholiken, aber ganz wenige Christen“.
Nie hat sich einer der Priester in Limerick
um die Slums gekümmert, erinnert er sich
– außer bei der „Osterpflicht“: Da kamen
die Pfaffen und sammelten bei den Ärmsten der Armen Spenden.
Gelegentlich treffen sich die übrig gebliebenen McCourts. Dass sie der Welterfolg von „Angela’s Ashes“ besonders zusammengeschweißt hätte, kann man nicht
sagen. Malachy, Schauspieler, Barbesitzer,
Hansdampf in allen Flaschen, hat sich clever an den Erfolg des Bruders herangehängt. Er veröffentlichte 1998 seine eigenen Memoiren, eine amüsante, aber uninspirierte Anekdotensammlung aus den
frühen New Yorker Jahren: die Erinnerungen eines Berufs-Iren. Damit kam Malachy
Franks zweitem Buch zuvor – und landete
einen Bestseller. Ein weiterer aus der irischen Bettlerfamilie war in den USA groß
herausgekommen. Noch ein Big Mc.
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Frank grollte und mochte das Buch des
Bruders nicht lesen. Doch inzwischen haben sie sich versöhnt und organisieren Familienfeiern mit Michael (Barkeeper in San
Francisco) und Alphonsus (Restaurateur in
New York). Nicht immer arten die Treffen
in Harmonie aus; zu unterschiedlich sind
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Bestseller
Belletristik
1 (2) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (1) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
3 (3) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
4 (5) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
5 (4) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
6 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
7 (7) Henning Mankell Die fünfte Frau
Zsolnay; 39,80 Mark
8 (9) Johannes Mario Simmel Liebe ist
die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark
9 (8) Walter Moers Die 131/2 Leben des
Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
10 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
11 (12) Martha Grimes Die Frau im
Pelzmantel Goldmann; 44 Mark
12 (13) Birgit Vanderbeke Ich sehe was,
was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark
13 (10) John Grisham Der Verrat
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
14 (–) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
15 (–) Stephen King
Atlantis
Heyne; 44 Mark
Flower-Power,
Woodstock und der
Vietnamkrieg –
das Epos
einer Generation
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die Charaktere, zu gebrochen die Erfolgsgeschichten. Auch Frank, inzwischen Großvater, erlitt Rückschläge: Zwei seiner Ehen
gingen in die Brüche. Immer wieder wurde er, auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum, in die irischen Trinkerkreise
von New York zurückgestoßen.
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Sigrid Damm Christiane und
Goethe Insel; 49,80 Mark
2 (3) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
3 (2) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
5 (6) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
6 (5) Dale Carnegie Sorge dich
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark
7 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
8 (8) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
9 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen
beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
10 (10) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
11 (11) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
12 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
13 (–) Jon Krakauer Auf den Gipfeln
der Welt Malik; 39,80 Mark
14 (–) Ulrich Wickert
Vom Glück, Franzose
zu sein
Hoffmann und Campe;
36 Mark
Köche, Agenten und
Mätressen – wahre
Geschichten aus
einem immer noch
fremden Nachbarland
15 (12) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
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Als er dann, schon als Berühmtheit, nach
Limerick reiste, hatte er ein mulmiges Gefühl. Manche beschimpften ihn als Nestbeschmutzer, aber die meisten feierten ihn
begeistert. Das Touristenbüro der Stadt veranstaltet inzwischen „Angela-Touren“ zu
den (meist abgerissenen) Schauplätzen der
McCourt-Memoiren. Die Universität, die es
zu Franks Jugendzeiten noch nicht gab, verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Das hat er
als einen Triumph empfunden. Und sollte
jemand gesehen haben, wie er sich die eine
oder andere Träne aus den Augen wischte,
so kümmerte ihn das einen „Fiedlerfurz“,
um es mal auf Limerickisch zu sagen.
Seine Erfolgsstory zieht Kreise: Mit einem Budget von 45 Millionen Dollar stellt
Hollywood Limericks Elend nach. Frank
McCourt war auf dem Film-Set, und die
Ironie der Geschichte sprang ihn an wie ein
Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe.
Die Produzenten fanden weder in Limerick oder irgendeiner anderen Stadt im
prosperierenden Irland die für die „Authentizität“ notwendige bittere Armut. So
zogen die Filmemacher im Niemandsland
in der Nähe von Dublin graue Fassaden
hoch, eine ganze Gasse, bis sie fast aussah
wie damals die Gosse; und als sie das Ambiente zu wenig dramatisch fanden, pinselten sie alles noch rissiger, noch verhärmter.
„Sie haben die künstlichen Häuser künstlich verslumt“, sagt Frank McCourt kopfschüttelnd. „Herr im Himmel, sie haben
eine ganze Industrie um mich und meine
Lebenserinnerungen herum gebaut.“
Aber der Immigrant hat Amerikas Spielregeln längst perfekt inhaliert. Er verdrängt
die Schmerzen, die ihm die Beobachtung
der Filmszenen bereitet. Er lässt sich am
Drehort fotografieren. Regisseur Alan Parker, der schon „Evita“ erfolgreich verfilmte, sei sein Wunschregisseur und werde
auch dies hier schaffen, sagt McCourt,
pflichtgemäß begeistert. Emily Watson, die
Preisgekrönte von „Breaking the Waves“,
sei eine „perfekte“ Angela.
Was bleiben dem Mann, der nächstes
Jahr 70 wird, sonst noch für Wünsche? Er
überlegt nicht lange. Er möchte ein Buch
über Ehen schreiben und warum sie selten
halten, da fühlt er sich als Experte. Er würde, ein begeisterter Marathonmann, viel
dafür geben, den New York Marathon mitzulaufen. Und er hätte verdammt gern
mehr Zeit, McCourt-Country in Connecticut zu genießen.
Frank McCourt ist zufrieden mit sich,
seinen Büchern, der Welt – und doch immer auch auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „Vier zu drei steht es in dem
Kampf der McCourts gegen Gott“, sagt er,
als gehe es um ein Fußballspiel; vier Kinder der Familie sind durchgekommen, drei
hat der Allmächtige im Babyalter zu sich
genommen, Frank wird nie verstehen, warum, und es Ihm auch nie verzeihen.
„Vier zu drei – wir führen. Aber wer
weiß, wie lange noch?“
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FOTOS: SENATOR FILM
chen Gesichtszügen und der
Maulfaulheit des „Absolute
Giganten“-Darstellers Giering
durchaus Chancen auf einen
Spitzenplatz bei James-DeanÄhnlichkeitswettbewerben entdecken.
Doch anders als etwa Thomas Jahns deutscher Kinohit
„Knockin’ on Heaven’s Door“
verpflanzt Regisseur Schipper
nicht einfach US-Vorbilder in
ein nur angeblich deutsches
Niemandsland. „Absolute Giganten“ nämlich ist nicht bloß
ein rau-sentimentaler JungsFilm, sondern eine Kinohuldigung an Hamburg. Wobei man
durchaus ein paar sehr schöne
Bilder von der Elbe, vom Hafen
und der Reeperbahn zu sehen
bekommt – der Hauptschauplatz des Films aber ist eine Hochhaussiedlung am Rand der Stadt.
Das ist der Ort, der Floyd, Ricco und
Walter zueinander gebracht hat und mit
dem sie eine seltsame Hassliebe verbindet; hier kicken sie auf dem Bolzplatz und
flirten mit dem leider ein paar Jahre zu
jungen Nachbarmädchen (nett verschlampt
und zerbrechlich: Julia Hummer); hier
prahlen sie beim Bier mit ihren Tischfußballkünsten und schwärmen von tollen Autos, Musik und krummen Heldentaten; und
hier verrät Floyd eines Abends seinen
Freunden, dass seine Bewährung überstanden ist und er am nächsten Morgen für
immer die Stadt verlassen will.
Als Schauspieler arbeitete Schipper, 32,
erst im Theater und war in Tom Tykwers
Filmen „Winterschläfer“ und „Lola rennt“
dabei; in seinem von Tykwer produzierten
ersten Spielfilm schickt er seine Akteure
auf eine nächtliche Abschiedstour mit Verfolgungsjagden, Ausflügen in die Drogenhölle und einem Duell am Kickertisch –
und zeigt in aller Action-Hektik bewundernswertes Vertrauen in die Genauigkeit
und den Witz seiner Darsteller.
Insofern sind die Passagen, in denen
Schipper seine Helden davon reden lässt,
wie groß ihre Sehnsucht sei und wie mies
sie sich fühlten, weil nun „die geilste Zeit im
Leben“ zu Ende gehe, nahezu überflüssig:
Das alles haben die Gesten und Gesichter
längst ebenso erzählt wie die Musik. Die
stammt fast vollständig von Notwist, einer
allseits hoch gelobten deutschen Rockband.
Zu Hause sind die Notwist-Jungs im
bayerischen Weilheim, auch der Regisseur
Schipper lebte lange in München, weshalb
Erbsenzähler vielleicht darüber rätseln, ob
der Hamburg-Film „Absolute Giganten“
wirklich authentisch sei.Was natürlich völlig egal ist: Mit solcher Behauptungskraft
und so viel umwerfendem Charme hat lange kein deutscher Film mehr Musicalträume und reales Leben miteinander versöhnt.
Wolfgang Höbel
Schipper-Kinofilm „Absolute Giganten“: Musical-Glamour in der Tiefgarage
FILM
Die geilste Zeit
im Leben
Der Regisseur Sebastian Schipper
präsentiert mit „Absolute
Giganten“ seinen ersten Kinofilm
– eine raue Ballade über das
Ende einer Jungs-Freundschaft.
W
as tun drei junge Großstadthelden mitten in der Nacht in der
Tiefgarage, wenn sie plötzlich die
große Sehnsucht packt? Sie wälzen sich auf
der Motorhaube ihres Autos im Hamburgerund Pommes-Müll, drehen das Radio auf
Maximallautstärke und nehmen Aufstellung
für einen Freudentanz – zu Marc Bolans
Pop-Klassiker „20th Century Boy“.
Der Einbruch märchenhaften MusicalGlamours in eine ansonsten eher triste
Welt aus Hochhausbeton und Absturzkneipen ist in diesem Film so etwas wie die
Erfüllung der allerwildesten Träume: Ein
paar wunderbare Augenblicke lang sieht
es so aus, als wären Floyd, Ricco und Walter tatsächlich das, was der Filmtitel verspricht – „Absolute Giganten“ eben.
In Wahrheit schlagen sich die drei Burschen, von denen der Schauspieler und Regie-Newcomer Sebastian Schipper in seinem Kinodebüt erzählt, eher als Kleinmurkser durchs Hamburger Leben: Floyd
(Frank Giering) hat wegen irgendeiner Jugendstrafe eine Bewährung am Hals und
rackert als Krankenpfleger. Ricco (Florian
Lukas) jobbt als Buletten-Brutzler in einem Schnellimbiss. Und der dicke Walter
(Antoine Monot jr.) ist zwar ein As im Aufmotzen von Motoren, muss sich aber ständig vom Chef der Autowerkstatt, in der er
sein Geld verdient, herunterputzen lassen.
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„Absolute Giganten“, schon das ist eine
erfreuliche Nachricht, setzt trotzdem nicht
auf die Verlierertragik des neueren deutschen Depressionskinos der Nachtwandler und Untergeher. Ob Floyd, Ricco und
Walter wirklich Loser sind oder im Lebenslotto nicht doch den Hauptgewinn ziehen, ist nämlich längst nicht ausgemacht.
In ihren Köpfen jedenfalls bewegen die
drei grandiose Pläne: Walter wird seinen
Ford Granada, Baujahr 1974, noch weiter
aufrüsten (oder gegen einen größeren
Schlitten tauschen) und die tollsten Mädchen der Stadt spazieren fahren; Ricco übt
Tag und Nacht an seinen Reim-Künsten
und wird als Deutschrap-Star die Massen
verzaubern; und Floyd wird auf einem
Frachter anheuern und irgendwo in der
Ferne das Abenteuer suchen.
„Giganten“-Darsteller Giering, Hummer
Hoffen auf den Hauptpreis im Lebenslotto
Schippers Film füllt ein Genre mit neuem Leben, das im US-Filmgeschäft in
schönster Blüte steht, von deutschen Regisseuren aber meist verschmäht wird: den
Abschied von der Kindheit, das Drama des
Erwachsenwerdens. Dabei lässt sich schon
der Filmtitel als Anspielung auf den größten aller jugendlichen Rebellen verstehen
– in keinem seiner Filme sah James Dean
besser aus als mit geschultertem Schießgewehr in „Giganten“. Und wer mag, kann
im verschlafenen Augenaufschlag, den weid e r
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Kultur
KLASSIKER
„O gebt euch der Natur!“
Er war ein Meister „der hohen betrachtenden Trauer“, wie ihn der Romantiker Brentano genannt
hat: der Dichter Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843). Aus dem schmalen Lebenswerk des Poeten
ist jetzt ein bisher unbekannter Brief aufgetaucht – mit dem Plan eines „humanistischen Journals“.
rich Hölderlin zu gewähren, was er immer
wieder aus der Natur schöpfte: „Mut und
Kraft“ – vor allem zum Dichten.
Doch des Dichters Innenwelt war alles
andere als eine Idylle: Die Hauslehrerstelle beim Frankfurter Geschäftsmann Jakob
Friedrich Gontard
hatte er aufgeben
müssen. Nicht wegen
pädagogischen Misserfolgs (der kleine
Henry liebte seinen
Lehrer), sondern weil
Vater Gontard eifersüchtig auf den feurigen jungen Mann in
der Nähe seiner hübschen Gattin geworden war; von Gontards Frau Susette,
der großen Liebe seines Lebens, hatte
Hölderlin sich, als er
Frankfurt verließ,
auch innerlich zu
trennen versucht –
die beiden sahen einander nur noch selten
und tauschten gele-
Hölderlins Brief an Ebel
Mein Theurer!
Ich habe indeß zu dauernd und zu
ernst an Ihnen und Ihrer Sache Theil genommen, als daß ich es mir nicht gönnen
sollte, Sie einmal wieder an mein Daseyn
zu mahnen.
Wenn ich indeßen gegen Sie geschwiegen habe, so war es gröstentheils, weil ich
Ihnen, der mir so viel und immer mehr
bedeutete, irgend einmal in einer bedeutenderen Beziehung, oder doch in einem
Grade des Werths, der Sie auf eine schiklichere Art an unsre Freundschaft mahnen
könnte, entgegenzukommen hofte.
Nun treibt mich eine Bitte früher zu Ihnen, und Sie werden mich auch in dieser
Gestalt nicht verkennen. Ich habe die Einsamkeit, in der ich hier seit vorigem Jahre
lebe, dahin verwandt, um unzerstreut und
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BPK
Ä
ußerlich ging es dem Erzdichter vaterländischer „Innigkeit“ leidlich:
Wenn der 29-jährige Poet aus dem
Fenster seiner Wohnung in Homburg vor
der Höhe blickte, sah er fette Äcker und
blühende Gärten, stolze Eichen auf einem
Hügel, saftige Wiesen
in einem Tal. Und
aus der Ferne grüßte
die Kaufmannsstadt
Frankfurt am Main
mit dem Kaiserdom.
Das Zimmer bei
der Familie des Glasermeisters Wagner
kostete bloß 70 Gulden Miete im Jahr
(rund 900 Mark), viel
mehr
hätte
der
schwärmerisch veranlagte Stiefsohn eines
schwäbischen Weinhändlers kaum aufbringen können. Und
„das schöne Wetter,
die heitre Sonne und
die grüne Erde“ gaben sich anscheinend
große Mühe, FriedDichter Hölderlin
mit gesammelten unabhängigen Kräften
vieleicht ein Reiferes, als meine bisherigen
kleinen schriftstellerischen Producte sind,
zu Stande zu bringen, und wenn ich schon
gröstentheils der Poësie gelebt habe, so
ließ mich doch Nothwendigkeit und Neigung nicht so weit vom ernsten Nachdenken entfernen, daß ich nicht meine
Üb[b]erzeugungen zu größerer Bestimtheit und Vollständigkeit auszubilden, und
sie, so viel möglich, mit der jezigen und
vergangnen Welt in Anwendung und Reaction zu sezen gesucht hätte.
Gröstentheils schränkte sich mein
Nachdenken auf das, was ich zunächst
trieb, die Poësie ein, insofern sie lebendige Kunst [ist] und zugleich aus Genie und
Erfahrung und Reflexion hervorgeht, und
idealistisch und systematisch und anschaulich individuell ist.
Diß führte mich zum Nachdenken über
Kunst und Bildung und Bildungstrieb
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gentlich Briefe, die heimlich in einer Gartenhecke hinterlegt oder hastig auf die
Gasse geworfen wurden.
Als Schriftsteller war der junge Mann,
der schon im August 1797 auf den großen
Goethe „etwas gedrückt und kränklich“
gewirkt hatte, auch nicht besonders erfolgreich: Er nennt sich selbst zu dieser Zeit
einen „armen Unberühmten“. Mit dem
Ideen-Roman „Hyperion oder der Eremit
in Griechenland“ war ihm der Durchbruch
zum Ruhm nicht gelungen; er sehnte sich,
außer nach den „zärtlichgroßen Seelen“
einer mythischen Vergangenheit, konkret
nach einem „geltenden Posten in der gesellschaftlichen Welt“.
Und was die Politik betraf: Die anarchischen Zustände im revolutionären Frankreich nährten erste Zweifel am Sinn der –
zuvor auch von ihm bejahten – gewaltsamen Revolte. Was ihn allmählich auch seinen jakobinischen Freunden entfremdete,
zumal dem Regierungsrat Isaak von Sinclair, der ihn nach Homburg gelockt hatte.
Aus dieser vielfach gespannten Situation
wollte sich Hölderlin nicht nur mit Gedichten befreien, die immer wieder Susette
als „Diotima“, als „des Himmels Botin“
einer besseren Welt, als Göttin eines künf-
überhaupt, über seinen Grund und seine
Richtungen ... Auf diese Art haben mir die
Materialien, die ich unter den Händen
habe, zu dem Entwurf eines humanistischen Journals Veranlaßung gegeben, das
in seinem gewöhnlichen Karakter ausübend poëtisch wäre, dann auch die
Kunst belehrend behandelte, in dem es im
Kunstwerk seine Organisation, zu einem
bestimmten Karakter sowohl als zur idealischen Bedeutung, und den harmonischen Wechsel seiner Töne, im Allgemeinen sowohl als in Rüksicht auf seinen bestimmten Stoff zeigte …
Endlich sollte das Journal im Allgemeinen, aus dem Gesichtspuncte der
Humanität beobachtend und räsonirend,
über die Karaktere und Sitten und Meinungen und Formen des menschlichen
Lebens, als aus einer gemeinschaftlichen
Quelle, dem organisirenden Bildungstriebe, und seinem Grunde, der vielfältig
CINETEXT
Hölderlin-Film „Feuerreiter“ (1998)*: Der Dichter sah in Diotima „des Himmels Botin“ einer besseren Welt
tigen „Landes der Liebe“ anriefen; auch
die selbstkritische Arbeit am „Empedokles“-Drama, dieser antikisierenden Überhöhung eigener Selbstmordgelüste, bescherte ihm nicht die nötige innere Ruhe.
Hölderlin wollte weniger und mehr als all
das: Herausgeber sein, eine Zeitschrift
gründen.
Sie sollte „Iduna“, nach der altnordischen Göttin der ewigen Jugend heißen,
monatlich erscheinen, ein „Journal für Damen, ästhetischen Inhalts“, mit poetischen
Hölderlin-Handschrift aus dem Brief an Ebel: „Haben Sie die Güte, mein Theurer!“
und inig organis[irt]chen Menschennatur
hervorgegangen, jedoch mit Unterscheidung des Edlen und der Abart, des Reinen und der Verirrung – belehrend und
unterhaltend seyn.
Verzeihen Sie mir diese schwerfällige
Vorrede, mein Theurer! aber die Achtung
gegen Sie ließ mir nicht zu, Ihnen mein
Vorhaben so aus dem Stegreif zu verkündigen; eben so wenig hielt ich es für
schiklich, den Plan, so viel ich ihn für
mich selbst entwerfen durfte, und die Materialien, die ich bereit habe, Ihnen bestimmt zu nennen; ich wollte also nur
den Karakter des Journals und das, was
man seinen Geist nennt, ungefähr
berühren …
Ihnen … wird es nicht schwer seyn,
sich, nach [e]ernsteren Beschäfftigungen,
auch auf diesen Gesichtspunct zu stellen
und durch Ihren Nahmen und Ihre Theilnahme ein Geschäfft zu begünstigen, das
dienen soll, die Menschen … einander zu
nähern, und, indem es die verschiedenen
Formen ihres Treibens und Lebens in
Einem Geiste vereinigt, und in harmonischen Wechsel sezt, … sie der Beschränktheit ein wenig zu entrüken, den
furchtsamen Egoismus, der immer auf
Einem Puncte sto[ct]kt, zu mildern, und
die Seele der Gesellschaft in schnellern
Umlauf zu bringen.
In jedem Falle, unvergeßlicher Freund!
werden Sie mir es verzeihn, daß ich mich
mit dem alten Zutrauen an Sie gewandt
und diesen Wunsch gegen Sie geäußert
habe … Haben Sie die Güte, mein Theurer! mich wenigstens bald mit irgend einer Antwort zu erfreun, und glauben Sie,
daß ich, wie immer und immer mehr Sie
geachtet habe und achte.
Der Ihrige
Hölderlin.
Erstveröffentlichungen und Aufsätzen
zur Geschichte und kritischen „Beurteilung“ der Kunst. Auf diese Zeitschrift
bezieht sich ein bisher unbekannter Hölderlin-Brief, der unlängst in Zürich aufgetaucht ist und den der SPIEGEL erstmals, in gekürzter Fassung, druckt (siehe
Kasten).
Im Sommer 1799, in der Homburger
Schein-Idylle, schrieb Hölderlin mehrere
Briefe an Autoren, um sie zur Mitarbeit an
„Iduna“ zu überreden – an seinen Förderer Schiller, an Goethe, an den Philosophen Schelling, auch an den damals
bekannten Arzt und Reiseschriftsteller
Johann Gottfried Ebel („Schilderung der
Gebirgsvölker der Schweitz“), der ihm die
Lehrerstelle im Hause Gontard vermittelt
hatte. Ohne die Mitarbeit prominenter Autoren mochte der junge Stuttgarter Verleger Steinkopf das Risiko nicht eingehen,
die Zeitschrift herauszubringen.
Das „Iduna“-Projekt markiert eine besonders kritische Phase in der Entwicklung
des Dichters: Die unerhörte Zeile „Wer auf
sein Leid tritt, steht höher“ stammt aus
jenen Tagen. Hölderlin war nach dem
Scheitern als Theologe und Hauslehrer zu
einer Arbeit bereit, die viel mit Organisation, mit Honorarverhandlungen, Reisen
und Korrespondenzen zu tun hatte und
mit der er sich einem größeren Publikum
stellte. Dass dieses Vorhaben am Ende
kläglich scheiterte, hat gewiss, neben dem
Diotima-Melodram, das kurz nach 1800
spürbar werdende Abtauchen des Dichters
in den Wahnsinn beschleunigt.
War das Programm der Zeitschrift zu
hochgestochen? Hatte Hölderlin die Werbebriefe um Mitarbeit zu unterwürfig, zu
abstrakt formuliert? Hat er am Ende eini* Mit Marianne Denicourt als Diotima, Martin Feifel als
Hölderlin.
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Kultur
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ge dieser Briefe zwar entworfen, aber nie Beispiel mit der „Unterscheidung des Edabgeschickt?
len und der Abart“, nicht nur belehren,
Antworten auf diese Fragen ist die Wis- sondern auch „unterhaltend seyn“. Ansenschaft, aber auch die große Fan-Ge- derswo verspricht er wie ein Sonntagspremeinde des unglücklichen Elegikers jetzt diger, die Beiträge der Zeitschrift sollten
durch den Züricher Manuskript-Fund nä- versuchen, „den furchtsamen Egoismus,
her gerückt, der dem amerikanischen Ger- der immer auf Einem Puncte stockt, zu
manisten und Kleist-Forscher Hermann F. mildern“.
Weiss in der dortigen Zentralbibliothek geEgoismus, „Geist des Neides“ – das war
glückt ist; die Fachzeitschrift „Text“ wird dem poetischen Vorsänger eines neuen
den Brief Ende dieser Woche ungekürzt „Gemeingeistes“ der damals ungeeinten
veröffentlichen*. Weiss, 62, ProfesDeutschen genauso zuwider wie
sor an der University of Michijeglicher „Despotismus“, der
gan in Ann Arbor, stieß bei
das „Menschenrecht“ auf
der Durchsicht des Züricher
Freiheit missachtet; oder
Registers zum Ebel-Nachwie jene muffige Enge der
lass auf die Fotokopie
einst von ihm durchlitteeines Hölderlin-Briefes
nen Klosterschule, wo
vom 6. Juli 1799, in dem
das Lesen „schädlicher
der Dichter ausführlich
Bücher und Romanen“
sein „Iduna“-Projekt erbei Karzerstrafe verboläutert – auf dass Leute
ten war.
wie Ebel und Wilhelm
Hölderlins Gegenprovon Humboldt „es nicht
gramm, das den Ebelgegen Ihre Würde finden“
Brief grundiert, hieß, frei
möchten, „daran Theil genach Rousseau: „O gebt
nommen zu haben“.
euch der Natur, eh sie euch
Dass Hölderlin einen dernimmt!“ (Empedokles). Der
artigen Werbebrief an Ebel
Begriff „Natur“ zielte dabei
Philosoph Schelling
geschickt hatte, war der Forletztlich auf eine umfassende
schung bekannt. Doch der Text galt bisher Harmonie – im Verhältnis des Menschen zu
als verschollen. Der Grund ist erstaunlich sich selbst wie zur Welt, was als Balance
banal: Das Original befindet sich in Pri- zwischen Vielfalt und Einheit auch für die
vatbesitz, die Fotokopie gelangte erst ideale Kunst galt.
während der sechziger Jahre in die ZenDie Zeitschrift „Iduna“ hatte demnach
tralbibliothek, seitdem hatte sie da noch ein hohes Ziel: Sie sollte durch lebendige
niemand aufgestöbert – inzwischen wurde „Bildung“ und Poesie den „gemeinschaftauch das Original im Ebel-Nachlass als lichen Karakter“ der Menschen „fördern“,
Leihgabe deponiert.
die Gesellschaft „in Einem Geiste“ verWährend Hölderlin in dem „Iduna“ be- edeln, und das im „harmonischen Wechtreffenden Brief an Schiller – auch er ein sel“ der „Töne“ und Stimmen, „systemaglückloser Zeitschriften-Gründer – nur tisch und anschaulich individuell“. Der
kurz den Plan erklärt und viele Details Mensch sollte „dichterisch wohnen“ lerfortlässt, mutet er Ebel eine ausführliche nen, bei jeder Einzelentscheidung den
Philosophie dieses „humanistischen Jour- Blick auf die Ganzheit seines Lebens und
nals“ zu, fast eine Art Kompendium seiner der Welt suchend. Ein utopisch-ästhetisches
Poetik. Passagenweise ist das Schreiben mit Konzept, das an Schillers „Briefe über die
dem „Iduna“-Brief an Schelling identisch, ästhetische Erziehung des Menschen“
von dem ein Entwurf erhalten ist.
(1795) erinnert – und neben dem simplen
Doch die Abweichungen sind so auf- Populismus heutiger „Journal“-Macher
schlussreich wie die Überschneidungen: wie ein kurioser Fremdkörper wirkt.
Der Brief an Schelling ist
Verleger Steinkopf, anzugleich philosophischer
scheinend schon ein ziemund persönlicher – Schellich moderner Medienling hatte zusammen mit
mensch, wünschte sich da
Hölderlin (und Hegel) am
doch viel „mehr RückTübinger Stift studiert,
sicht aufs Publikum und
hier konnte der Dichter
weniger Spekulation“ –
an eine alte Freundschaft
und schob das Projekt,
anknüpfen. Gegenüber
nicht allein wegen der AbEbel hingegen drückt
sage Schillers, so lange vor
Hölderlin sich direkter,
sich her, bis sogar Hölderpopulärer aus. So betont
lin selbst den Glauben
er, das Journal wolle, zum
daran verlor. „Schämen
sich denn“, fragte der
*„Text“ 5/1999. Hrsg. v. Roland
Dichter verbittert im
Reuß. Stroemfeld Verlag, FrankHerbst 1799 seine Susette,
furt am Main/Basel; 68 Mark. Der
„die Menschen so meiner
Hölderlin-Brief wird ausführlich
ganz?“ Mathias Schreiber
Brief-Entdecker Weiss
kommentiert.
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Kultur
Ausflug zum Militär verschlug es ihn nach Nashville,
in die Hauptstadt des Country-Universums.
Da allerdings war Kristofferson nur ein Talent unKris Kristofferson, in den
ter tausenden. Also ließ er
Siebzigern Country-Star
sich in einem Musikstudio
und Kinoheld, feiert in Hollywood
als Hausmeister anstellen
ein Comeback – und tritt
und wischte besonders langsam, wann immer Johnny
nun auch als Musiker wieder an.
Cash im Studio auftauchte.
Cashs Gattin June Carter
awaii ist das Texas der Südsee, jemochte den adretten Hausdenfalls sieht Kris Kristofferson das
meister, der ihr Demobänder
so. Der Himmel strahlt fast 365 Tage
für den Gatten gab – allerim Jahr leuchtend blau, die Cowboys des
dings ohne Resonanz. Eines
Meeres reiten mit ihren Surfbrettern auf
Sonntags charterte Kristofden Wellen, und die wilde Natur liefert den
ferson einen Hubschrauber,
Geschmack von Freiheit und Abenteuer.
landete bei Familie Cash im
Vor zehn Jahren hat sich der texanische
Garten und überreichte dem
Schauspieler und Sänger Kristofferson, 63,
Hausherrn, der im Schlafandeshalb am Strand der Hawaii-Insel Maui
zug mit Schrotflinte rauseine Ranch eingerichtet, die er mit seiner
stürmte, ein Demoband mit
dritten Frau und fünf Kindern bewohnt. Es
„Me and Bobby McGee“ –
ist seine Fluchtburg, in die er sich aus Verein nett erfundenes Märbitterung über Amerika und den entfesselchen? „Die Wahrheit und
ten Globalkapitalismus zurückgezogen hat.
nichts als die Wahrheit!“,
Allerdings profitiert er gerade von den
beteuert Kristofferson.
Vorteilen des freien Marktes: Als SchauFest steht, dass Johnny
spieler und Sänger feiert er ein künstleri- Star Kristofferson (1998): Wiederkehr als finsterer Sheriff
Cash anfing, Kris Kristoffersches und auch finanziell lohnendes Comeback. Mit Hollywood-Hits wie „Blade“ und Inbegriff fast aller trauriger Heldenmythen, son zu fördern. Der hatte gewaltige Erfolge und noch viel mehr Affären, unter an„Payback“ ist Kristofferson in den vergan- die Amerika noch zu bieten hat.
genen Monaten, wenn auch nur in NebenAuch im wahren Leben ist Kristofferson derem mit Janis Joplin, die „Me and Bobrollen, auf die großen Leinwände, also ins ein Mann, der Legenden liebt. Dass etwa die by McGee“ zum Klassiker machte. Weil
Geschäft, zurückgekehrt. Weil sein Name CIA bei John F. Kennedys Ermordung die Kristofferson jung und ein besonders schödeshalb auch in der Pop-Welt wieder Er- Fäden zumindest mitzog – „das ist doch of- ner singender Cowboy war, folgten Filmfolg verspricht, hat seine Plattenfirma fensichtlich“. Der Meister rührt abwesend angebote aus Hollywood. Er drehte mit
schnell eine neue CD herausgebracht.
im kalten Kaffee und belehrt den Intervie- John Huston („Fat City“), Martin Scorse„The Austin Sessions“ ist eine Art Best- wer: „In diesem Land können Träume wahr se („Alice lebt hier nicht mehr“) und Sam
of-Kollektion. Der alte Schmuse-Cowboy werden, aber es ist auch gefährlich, ein Träu- Peckinpah („Pat Garrett jagt Billy the
restauriert mit prominenten Gästen wie mer zu sein. Visionäre wie Malcolm X und Kid“) und küsste Barbra Streisand vor (für
Jackson Browne („Wir kennen uns noch Martin Luther King haben das mit dem Le- „A Star is Born“) und hinter der Kamera.
Um sein geballtes Glück ertragen zu
aus dem Knast, Nicaragua-Demo oder ben bezahlt.“
so“), Steve Earle und Mark Knopfler jene
Zur Welt gekommen als Sohn eines Air- können, trank er zu viel, und als er sich auf
Songs, die ihn vor langer Zeit berühmt Force-Generals, saß er als Knabe am liebs- die Hauptrolle in Michael Ciminos Soziamachten: „For the Good Times“, „Sunday ten daheim und verfasste Lieder und Kurz- listen-Western „Heaven’s Gate“ einließ,
Morning Coming Down“ und natürlich geschichten. Die waren offenbar so gut, dass soff er mit ab. Bis heute pflegt er seine Ver„Me and Bobby McGee“.
er ein Stipendium für die Universität von schwörungstheorie: „Der Film wurde liAuch Elvis, Frank Sinatra und Janis Oxford erhielt. Da ruderte und boxte der quidiert, weil er eine unbequeme GeJoplin haben Stücke gesungen, die, was we- Texaner gegen die Jungs aus Cambridge, schichte erzählte. Es war ein gezielter
niger bekannt ist, von Kristofferson ge- studierte Shakespeare und schrieb einen Schlag gegen das kreative Hollywood.“
Das war 1980. „Ein Alptraumjahr. Mein
schrieben wurden. „Es gibt immer noch Roman immerhin fast fertig. Nach einem
Agent und mein Manager starben. Meine
Menschen, die mir nach
Plattenfirma meldete Konkurs an, und meiKonzerten mitteilen, dass
ne Frau ließ sich scheiden.“ Danach lanihnen das Original von Janis
deten Kristoffersons Filme nur noch im
Joplin besser gefällt“, sagt
Fernsehen und in Videotheken und seine
der Musiker, „ich habe gePlatten auf dem Grabbeltisch.
lernt, damit zu leben.“
Vor drei Jahren hat ihn dann der RegisMehr als einzelnen Songs
seur John Sayles vom Ruf des Siebzigerverdankt Kristofferson seiJahre-Wracks befreit. Er ließ ihn in „Lone
nen Erfolg seinem Image als
Star“ als finsteren Gesetzeshüter auftreten.
melancholischer Schmer„Zum ersten Mal gestand man mir zu, dass
zensmann. Seine Songs hanich schauspielern kann“, sagt der wiederdeln meist von den Degeborene Star. Nun hofft er darauf, dass die
sastern der Liebe – und seiWelt endlich einsieht, dass nicht Janis Joplin
ne Kinorollen zeigen ihn als
oder Elvis, sondern er selbst der beste Intertragischen Trucker, scheipret seiner Lieder ist. Christoph Dallach
ternden Revolverhelden und Kristofferson mit Rita Coolidge (1980): Desaster der Liebe
POP
Geballtes Glück
M. PUTLAND / RETNA / PHOTO SELECTION
C. KOLK / OUTLINE / INTER-TOPICS
H
294
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Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
Prisma
Fahrzeug
wird abgebremst
zusätzlicher
Sender
zur exakten
Positionsbestimmung
Satellit des
Global Positioning
System (GPS)
30
500 m
30
Navigationssystem
im Armaturenbrett
CD-Rom mit
gespeicherten
Geschwindigkeitsbegrenzungen
VERKEHR
Wolfsburger Zwangsbremse
F
ür Aufregung in Industrie und Politik sorgte vergangene
Woche ein Workshop über „intelligentes Geschwindigkeitsmanagement“ bei der Bundesanstalt für Straßenwesen
in Bergisch Gladbach. Experten aus den Niederlanden, Großbritannien und Schweden präsentierten Versuchsfahrzeuge,
die per Satellitenstrahl automatisch auf die vorgeschriebene
Geschwindigkeit abgebremst werden können. Die Zwangsbremse besteht aus einer Kombination aus Satellitennavigator
und Tempomat – zwei Geräten, die längst auf dem Markt
sind. Auf der CD-Rom im Navigationsgerät sind nicht nur
die einzelnen Straßen, sondern auch die dort jeweils zulässigen Höchstgeschwindigkeiten verzeichnet. Beim Einfahren
in eine Tempolimit-Zone aktiviert der Navigator automatisch
den Tempomat, der sich, anders als bei derzeitigen Systemen,
nicht durch Gasgeben deaktivieren lässt. Was technisch einfach
zu realisieren ist, erscheint politisch kaum durchsetzbar. Das
deutsche Verkehrsministerium distanziert sich kategorisch
von jeglicher Zwangsbremsung: „Leitbild bleibt der eigenverantwortliche Kraftfahrer.“ Im Nachbarland Holland hingegen
lässt das dortige Verkehrsministerium die automatische Tempodrosselung jetzt in einem Großversuch erproben. Zwangsgebremst wurde indes auch das Management beim niederländischen VW-Importeur „Pon’s Automobielhandel“, der die 20
Versuchsfahrzeuge vom Typ „Bora“ geliefert hat. Ursprünglich
wollten die Volkswagen-Statthalter im Zusammenhang mit dem
Autopilot-Projekt öffentlich auftreten. Ein PR-Manager aus
der Wolfsburger Konzernzentrale sagte dazu: „Wenn ihr euch
einen neuen Job suchen wollt, könnt ihr das gerne tun.“ Konzern-Chef Ferdinand Piëch missbilligt den Einsatz von VWFahrzeugen für den Pilotversuch zur Zwangsbremsung.
MEDIZIN
Lästige Nasenpilze
ie Auslöser einer chronischen Entzündung der Nasennebenhöhlen
(„Sinusitis“) sind offenbar in mehr als
90 Prozent aller Fälle Pilze, die in den
Schleimhäuten siedeln. Bislang hatten
Mediziner die Erkrankung, von der
etwa 15 Prozent aller Erwachsenen betroffen sind, überwiegend auf bakterielle Erreger zurückgeführt. Doch dies
trifft nur auf die akute, längstens vier
Wochen dauernde Entzündung der
Stirn- und Kieferhöhlen zu, bei der
auch eine Behandlung mit Antibiotika
Erfolg bringt. Forscher an der amerikanischen Mayo-Klinik in Rochester haben nun in einer zwei Jahre dauernden
Studie an 210 Patienten mit chronischer
Sinusitis festgestellt, dass in fast allen
Fällen offenbar eine Fehlreaktion des
Immunsystems auf in der Nase praktisch jedes Menschen siedelnde Pilze zu
der chronischen Erkrankung führte. Die
neue Fährte, so hoffen die Wissenschaftler, könnte „in zwei bis vier Jahren“ zu einer wirksameren Therapie
führen.
FOTOS: M. DARDEN
D
„Subaru“-Sternwarte auf Hawaii
ASTRONOMIE
Japanisches
Riesenteleskop
A
uf dem 4205 Meter hohen Mauna
Kea, dem höchsten Gipfel von Hawaii, haben japanische Astronomen ein
optisches Riesenteleskop errichtet, das
schärfere Bilder vom Sternenhimmel
liefern soll als alle bisherigen Observatorien. Das am Freitag vorletzter Woche
offiziell eingeweihte Himmelsauge verfügt über einen Spiegel mit einem Gesamtdurchmesser von über acht Metern
und ist das ehrgeizigste Projekt, das japanische Wissenschaftler bislang außerhalb ihres Landes verwirklicht haben.
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Für umgerechnet
650 Millionen Mark
errichtet, soll das
auf den Namen
„Subaru“ (so die
japanische Bezeichnung für den Sternhaufen der Plejaden) getaufte Instrument Japans
Astronomie mit einem Sprung „aus
relativer Bedeutungslosigkeit in
die vordersten Rei„Subaru“-Teleskop hen der himmelsbeobachtenden Nationen befördern“, wie die „New York
Times“ kommentierte. Das außergewöhnlich gute, auf Vergleichsaufnahmen mit Fotos des Weltraumteleskops
„Hubble“ bereits gezeigte Auflösungsvermögen ihres Subaru-Teleskops
führen die Japaner auf zahlreiche Innovationen bei seiner Konstruktion
zurück. So werden bei dem bislang unerreicht dünnen und entsprechend
leichten Spiegel schon geringste Abweichungen mit Hilfe von 261 Kleinmotoren wieder ausgeglichen.
297
Prisma
Computer
ELEKTRONIK
Quakende Cyberkröte
E
FOTOS: TECMATH
r ist ein Fossil der Computer-Steinzeit: der Sound-Chip „Mos 6581“.
Das Sound Interface Device (Sid) wurde anno 1983 für den Heimcomputer
Commodore 64 entwickelt. Seine für
damalige Verhältnisse enorme Leistung
ermöglichte es, Computerspiele mit
mehrstimmiger Begleitmusik zu untermalen. Das Gedudel der Soundtracks
von Spielen wie „Commando“ oder
„Wizball“ brannte sich in die Hirne
einer ganzen Generation von Computerfans. Drei 25-jährige schwedische Ingenieurstudenten wollen die Klangästhetik jener Epoche in der Musik wieder
beleben. Das Team um Daniel Hansson
hat die „Sidstation“ entwickelt, einen
Synthesizer im handgebördelten Aluminiumgehäuse, in dem der
Mos 6581 sein Werk
„Mann im Anzug“ in der Pfalzgalerie, Kunststoffrohling (unten)
AU S S T E L L U N G
Kunst aus dem Automaten
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
F
„Sidstation“
tut. Nur drei Töne gleichzeitig kann das
Gerät erzeugen. Britzeln und Fiepen als
Ruhegeräusch verbietet den Begriff HiFi, doch charakterstarken Klängen mit
so bizarren Namen wie „Spaceducks“
und „Fatburger“ tut das keinen Abbruch. „Der Sound der Originalchips
des Jahrgangs 1987 ist mit nichts zu vergleichen“, schwärmt Hansson. Manche
Töne gemahnen an eine quakende
Cyberkröte; andere klingen, als würde
Darth Vader furzen oder der Roboter
R2D2 durchgekitzelt. Die Fachpresse erhebt die Maschine zum Kultgerät, auch
wenn der spartanische Klangerzeuger
mit rund 1240 Mark im Internet-Versand nicht gerade billig ist. Techno-Produzenten müssen sich beeilen, denn der
Sid-Baustein wird seit 1991 nicht mehr
hergestellt. „Über einen Mittelsmann,
der nicht verrät, wo sie herkommen, haben wir die letzten 1000 Chips aufgestöbert“, erklärt Hansson, „dann ist endgültig Schluss.“
www.sidstation.com
298
ünfzig Bundesbürger stehen in der
Pfalzgalerie in Kaiserslautern unter
Glas – als Kunststofffiguren im Maßstab
1:10. Die Konzeptkünstlerin Karin Sander hat die Miniaturen mit modernster
Technik anfertigen lassen. Die repräsentativ ausgewählten Bürger, darunter
FCK-Spieler Ratinho, Oberbürgermeister Bernhard Deubig und der Museumshausmeister Rudolf Bernert, wurden in
je zwölf Sekunden per Laserstrahl von
einem „Body-Scanner“ der Firma Tecmath abgetastet. Die Datensätze reisten
auf CD-Rom nach Olpe, wo der „Extruder“ der Firma Glatz Engineering die
Modelle in je 30 Stunden aufbaute:
In Schichten von 0,2 Millimeter Dicke
formte der Roboter die Kontur durch
präzise Steuerung eines dünnen Strahls geschmolzenen
ABS-Kunststoffs. Ein Airbrush-Spezialist in Donzdorf kolorierte die Rohlinge. Sander verbot den
Technikern, die feinen
Schichtkanten zu glätten: „Die sichtbaren
Stufen sind so authentisch wie die Schnitzspuren einer Holzskulptur“,
erläutert sie. Bis zum
31. Oktober sind die Kunstmenschen in Kaiserslautern zu sehen, dann reist
die Ausstellung nach Madrid, New York und Tokio.
SPIELZEUG
Puzzlesteine mit Hirn
R
und ein Jahr nach der Premiere in den USA bringt Lego
seinen Elektrobaukasten „Mindstorms“ auch auf den
deutschen Markt. Ab Oktober ist das „Robotics Invention
System“ für 450 Mark im Handel. Herzstück ist ein gelber
Riesenklotz mit Mikroprozessor, der bis zu drei Elektromotoren steuern und durch sinnreiche Verkabelung mit
Lichtschranken und Berührungssensoren mit der Außenwelt
in Kontakt treten kann. Programmiert wird der Baustein
vom PC aus, auf dessen Monitor Nachwuchs-Erfinder ab
zwölf Jahren Programmelemente wie Puzzlestücke grafisch
zusammenfügen können – eine kindgerechte Programmier„Mindstorms“-Roboter methode, die am amerikanischen MIT erdacht wurde.
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Werbeseite
Werbeseite
JAUCH UND SCHEIKOWSKI
Titel
Übermensch-Visionen Terminator, Superman, Androidin (aus dem Film „Metropolis“): „37 Millionen Dichter von der Qualität Homers“
Zucht und deutsche Ordnung
Mit Vokabeln wie „Menschenzucht“ und „Anthropotechniken“ entfachte der Philosoph Sloterdijk
einen sehr deutschen Intellektuellen-Streit. Dämmert eine Ära des genoptimierten
Menschen? Mehr als die Gentechnik könnte der Wandel des Menschenbildes die Welt verändern.
300
AKG
Nietzsche
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dijk mit dem Humanismus abgerechnet.
Sich auf Nietzsche berufend, hatte er dafür
plädiert, anstelle der herkömmlichen gesellschaftlichen „Zähmungen“ des obersten Zweibeiners im Tierreich auch an
„züchterische Steuerung der Reproduktion“, an „Selektionen“, zu denken.
Mehr noch: Gezielt setzte der Metaphernakrobat Vokabeln ein, die ungläubigen Abscheu provozieren mussten – „Menschenzucht“ und „Anthropotechnik“.
Kaum einer gab vor, das
Raunen Sloterdijks recht verstanden zu haben. Träumt er
von Lara Croft oder Superman
aus der Retorte? Die schwierige Frage einer zukünftigen
Nutzung der Gentechnik jedenfalls geht er mit größtmöglicher Unschärfe an, „in der
Weise eines Rorschachtests“,
wie der Philosoph Ernst TuT. STEPHAN
sprochen, was Geistesgrößen wie Martin
Heidegger und Friedrich Nietzsche auch
schon beschäftigt habe, nämlich das „autoplastische Potenzial von Homo sapiens“.
Damit hatte er ein weiteres Mal einen jener dunklen Begriffe geprägt, mit denen
er nun seit mehr als zwei Wochen die Intellektuellen der Republik erregt: In einem
Vortrag auf einer Heidegger-Tagung im
bayerischen Schloss Elmau hatte Sloter-
AKG
S
einen Wortcocktail hatte der Provokateur wieder mal gut geschüttelt. An
einer „Versachlichung der Diskussion“ sei ihm gelegen, begann Peter Sloterdijk bräsig, schließlich sei „die bürgerliche Öffentlichkeit“ zum Diskutieren da.
Dann aber, warm geworden, zeigte der
ehemalige Bhagwan-Jünger mit der schütteren Haarmähne, was er unter Diskussion
versteht: „Paparazzotum“ sei „in die Philosophie eingedrungen“, verkündete der Denker den versammelten Journalisten, die
sich am vorletzten Wochenende zu einem „Philosophicum“
im Wintersportort Lech am
Arlberg eingefunden hatten.
Mit genießerischer Grämlichkeit stilisierte sich Sloterdijk zum Opfer „linksfaschistischer Agitationen“. Er habe
doch nur in einer „literarisch
hochcodierten Form“ ange- Platon
Sloterdijk
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CINETEXT
FOTOS: A. BREKER / GALERIE FÜR GEGENSTÄNDLICHE KUNST / KIRCHHEIM / TECK (l.); CORE DESIGN (r.)
Übermensch-Vision Lara Croft: Neuer Adel
Ideal-Menschen im Relief (von Arno Breker): Angst vor genetischer Vermüllung
gendhat in der „Zeit“ klagte. Warum entfachte dann ausgerechnet diese nebulöse
Rede eine derartige Kanonade wechselseitiger Beschimpfungen?
Zwar mag Sloterdijk mit dem Begriff der
„Anthropotechnik“ eine zum Streit taugliche Reizvokabel ersonnen haben. Aber
genügt dies, um den Aufruhr der Intellektuellen zu erklären? Schließlich geistert die
Vision vom planmäßig gestalteten Menschen seit langem durch die Kolumnen.
Spätestens seit in dem schottischen
Dörfchen Roslin ein Klonschaf neugierig
und zutraulich eine Truppe von Fotografen
und Journalisten beschnupperte und der
schüchterne Bioforscher Ian Wilmut sich
als sein Schöpfer zu erkennen gab, sahen
viele Experten die Ära des Reißbrett-Menschen angebrochen. „Jetzt wird alles machbar“, hatte damals, im Februar 1997, der
amerikanische Biologe Lee Silver verkündet. Der britische Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat sah gar „die Zukunft
der Menschheit auf dem Spiel“.
Anfang dieses Monats, während in der
deutschen Presse gerade die publizistische
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Schlacht um Sloterdijks „Regeln für den
Menschenpark“ entbrannte, stellte ein USBiologen-Team die neueste Labor-Kreatur
vor: eine Maus, deren Intelligenz sie mit
gentechnischer Hilfe aufgerüstet hatten.War
damit nicht ein Vorbote des optimierten
Menschen aufgetaucht? Und hätte dies nicht
besser getaugt als Aufreger für eine Debatte über die Zukunft der Biotechnik?
So sehr sie die Methoden der Fortpflanzung auch durcheinander gewirbelt haben
– bisher haben die Wissenschaftler das
menschliche Erbgut der Keimzellen selbst
noch nicht angetastet. Noch ist die Humangenetik eine rein diagnostische Disziplin, die im klinischen Alltag eher eine Nebenrolle spielt. Gleichwohl hat sich die moderne Medizin schon längst des Menschen
als Modelliermasse bemächtigt. Chirurgen
und Organzüchter, Babymacher und Entwickler von Psychopillen – sie alle haben
es sich zum Ziel gesetzt, Körper und Geist
zu formen. Sie begnügen sich nicht damit,
ihn gesünder zu machen; sie wollen auch
den schöneren, leistungsfähigeren und
glücklicheren Menschen schaffen.
Schon reifen in den Labors der Biotechnologen Haut und Knorpel heran. Ärzte
formen pulverisierte Knochen zu Kiefern,
bauen Ohrmuscheln aus dem Rohstoff von
Menschenzellen, sie lassen Leber- und Bindegewebe wie Spalierobst an feinverästelten Kunststoffgerippen ranken und wollen
aus Embryozellen Zweitorgane für Schwerkranke züchten.
Auch Methoden, Geist und Gemüt mit
medizinischen Mitteln zu formen, haben
301
Titel
Eine Plastikwanne, in der künstliches
Fruchtwasser schwappt, soll dereinst die
Gebärmutter ersetzen. Ziegenföten konnten die Wissenschaftler darin bereits drei
Wochen lang am Leben erhalten.
Empfängnis, Geburt, seelische Gesundheit und Tod: Alles, was einst – je nach
Weltauffassung – als Domäne des Schöpfers, des Schicksals oder der Natur galt,
wurde inzwischen vom Gestaltungswillen
der Biowissenschaften usurpiert. Und
doch ist all dies in den Augen vieler Visionäre nur das Präludium. Das „Jahrhundert der Biologie“, so prophezeien sie,
sei noch gar nicht angebrochen. Jetzt erst
hätten die Biotechniker das letzte Tabu,
den Eingriff in die menschliche Keimbahn,
ins Visier genommen. Damit stehe der
wahrlich genetisch verbesserte Mensch
auf dem Programm.
„Wir übernehmen gerade die Kontrolle über unsere eigene Evolution“, verkündet der Biophysiker Gregory Stock
von der University of California in Los
Angeles. Und um Widerspruch gar nicht
erst aufkommen zu lassen, fügt er sogleich
hinzu: „Es gibt keinen Weg, diese Technik
aufzuhalten.“
Mit seiner Einschätzung steht Stock
nicht allein. Das Gen-Design werde „bedeutsamer als die Atomspaltung und nicht
minder gefährlich“ sein, mahnt die New
Yorker Molekularbiologin Liebe Cavalieri,
U
nlängst fanden viele es noch witzig, wenn der Metaphernjongleur
ihnen überraschende Namen gab.
Wer Geistliche zu Versicherungsangestellten erklärt, amüsiert selbst die so Genannten. Auch eine Festversammlung von
Industriebossen durfte sich geschmeichelt
fühlen, als Peter Sloterdijk ihr das pikante Kompliment machte, sie seien Berufsrevolutionäre – schließlich verlange ihr
Gewerbe ja pausenloses Umdenken.
Seit kurzem jedoch erfreuen die vielen
bunten Vergleiche des Karlsruher Ästhetik-Professors niemanden mehr. Seinen
Protest gegen die Entlassung des Münchner Theaterchefs Dieter Dorn nahm Sloterdijk Ende Februar zum Anlass, die
„neue Mitte“ als „Unterwerfung der Begabten unter die Mittelmäßigen“ anzuprangern – ein ziemlich durchsichtiger
Versuch, Personalquerelen für den eigenen Auftritt zu nutzen. Und nun probt
der Denker, der sich gern ostentativ bescheiden „Schriftsteller“ nennt, den richtig groben Ton: Mit Geiferwörtern jeder
Art überzieht Sloterdijk, 52, mittlerweile
all jene, die vor seiner raunenden Rede
über „Anthropotechnik“ warnen.
Wie konnte es so weit kommen? Jahrelang galt der gelernte Literaturwissenschaftler als Harlekin der Philosophen-
T. WAGNER / SABA
Eingang in die ärztliche Praxis gefunden:
Millionen von Zappelkindern schlucken
das Medikament Ritalin, das ihre Nervosität, zugleich aber, so mahnen Kritiker,
auch ihren kreativen Übermut zähmt.
Mehr als ein Zehntel der US-Amerikaner
ist dank Prozac oder einem seiner chemischen Verwandten glücklich gestimmt. Ist
die Pharmakologie auf diese Weise nicht
längst im Begriff, einen neuen, modischen
Menschentypus zu erschaffen?
Am weitesten auf dem Weg zur Menschenzucht ist die Reproduktionsmedizin
fortgeschritten. In amerikanischen Samenbanken können sich Frauen in umfänglichen Katalogen einen Vater für ihre Kinder
aussuchen. Alle Haar- und Hautfarben,
Größen, Abstammungen und akademischen Titel – bis hin zum Nobelpreisträger
– stehen zur Wahl. „Praktisch betreiben
wir ja schon Auslese“, sagt der Bonner
Hirnforscher Detlef Linke, „im Fetozid, in
der Sperma-Auslese – da ist schon Realität, was viele für unmöglich halten.“
Und alljährlich wird mehr möglich: In
der letzten Woche verkündete ein Ärzteteam, dass es ihm erstmals gelungen sei, einer 30jährigen Tänzerin aus Arizona einen
Eierstock zu implantieren. Prompt legten
Forscher aus New York noch nach: Sie planen die Verpflanzung eines Hoden. In Japan wird derweil bereits am nächsten Kapitel der Fortpflanzungsmedizin gearbeitet:
Ziegen-Fötus in künstlicher Gebärmutter (an der Juntendo-Universität in Tokio): „Es ist schon Realität, was viele für unmöglich halten“
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Harlekins Griff nach der Macht
Mit immer neuen Begriffs-Kapriolen unterhält Peter Sloterdijk seit Jahren seine Leser.
Nun aber geht der wendige Ästhetik-Professor aufs Ganze:
In Spekulationen über „Menschenproduktion“ will er sich als Groß-Denker etablieren.
CAMERA PRESS
K. SCHNE / ZEITENSPIEGEL
schlottern wie in einer sprich: gute Versicherungen. Hauptsache,
Wundertüte, und zwang so die Hörer sind verblüfft.
Auch seine Elmauer Rede inszenierjedes Mal die Feuilletonisten zu rätseln, „was genau- te Sloterdijk mit der Geheimnistuerei
er er gemeint hat“ („Süd- eines Zauberkünstlers. Das humanistische „Phantasma“ sei „unwiderruflich
deutsche Zeitung“).
Gern gibt sich Sloterdijk abgelaufen“, erwiderte Sloterdijk auf
auch heute noch als Ideen- Martin Heideggers „Brief über den Husurfer, dem nur daran liegt, manismus“. Heutige Massenmenschen
sich „in die Bewegung seien keine „Hirten des Seins“ (Heidegdes Elements einzulassen“, ger) mehr; überhaupt verbreite das
als Anwalt eremitischer Bild vom Hirten dubiose pastorale Har„Weltfremdheit“ oder gar monie.
Anstatt „bescheiden und zahm“ zu
des „mystischen Weges“.
Gleich darauf mimt er den bleiben wie die verkümmerten „letzten
Geisteslenker und fordert, Menschen“, die Nietzsches Zarathustra
„dass das Subjekt einen „Haustiere“ nennt, müsse man in ZuPhilosoph Sloterdijk: Platzende Fruchtblase
planetarischen Realismus kunft die Herausforderung der „Menszene. Während ringsum Kritischer Ra- entwickeln muß“. Ob er „Subversions- schenproduktion“ „aktiv aufgreifen“ –
tionalismus, Hermeneutik und andere übungen gegen den Absolutismus der Ge- erzieherische „Zähmung und BefreunDenkerclubs unscheinbar ihr Wesen trie- schichte“ macht, einen „neuen Weltver- dung“ reiche nicht aus. So „verschwomben, reiste Sloterdijk 1980 zum Bhagwan trag“ anmahnt (ohne ihn überhaupt zu men und nicht geheuer“ es klinge, man
nach Poona und kam erleuchtet zurück. skizzieren) oder, wie in der jetzt erschei- müsse über „Merkmalsplanung“ nachDrei Jahre darauf überraschte er mit ei- nenden Trilogie „Sphären“, das Urbild denken. Dann fallen die Stichwörter „Anmenschlicher Sicherheit und Gefährdung thropotechnik“ und „Züchtung“.
ner „Kritik der zynischen Vernunft“.
Kein Wunder, dass diese Mixtur aus geHinter dem großspurig bei Immanuel in der platzenden Fruchtblase finden will,
fährlich Ungefährem etliche IntellektuelKant geborgten Titel verbarg sich, von al- stets spielt er ums große Ganze.
Auf dem Weg zur kynischen Macht- le entsetzte. Doch inhaltlich hat Sloterdijk
lerlei „Erheiterungsarbeit“ umrahmt,
eine Abrechnung mit den angeblich gräm- ergreifung ist er auch schon recht weit sich bis heute nicht auf die Proteste einlichen Denkern der Gegenwart und ihren gekommen. 1992 erhielt er einen Lehr- gelassen. Viel lieber stilisiert er die Angriffe zum zynischen KesAhnherren: Sloterdijk sortierte die ge- stuhl an der Hochschule für
seltreiben und erklärt mit
samte Ideengeschichte nach fröhlich- Gestaltung in seiner Vaterwenig kynischem Machtfrechen „Kynikern“ und bösen „Zyni- stadt Karlsruhe. Nach viel
anspruch: „Die Kritische
kern“, Wölfen im Schafspelz der Auf- Palaver wurde er Anfang
Theorie ist gestorben.“
klärung. Nur Kyniker wie Moses, David, 1993 Leiter eines „Instituts
Konkret: Jürgen Habermas,
Luther oder Eulenspiegel, Intellektuelle, für Kulturphilosophie und
ihr Nestor, habe als Oberdie auch Watschen als Argument nicht Wahrnehmungslehre“ an
zyniker abgewirtschaftet.
scheuten, seien die wirklich treibende der Wiener Akademie der
Doch für solche Eil-AbKraft des Geistes gewesen. Spätere „Her- bildenden Künste. Der Diewicklungen eignet sich Harenzyniker“ dagegen hätten keine gute, derichs Verlag gründete
bermas, übrigens ebenfalls
freche Stimmung verbreitet. In ihren eine Buchreihe „PhilosoSuhrkamp-Berater, denk„Großtheorien“ herrsche ein übler „Zu- phie jetzt!“ mit Sloterdijk
bar schlecht. Weltweit ansammenhang zwischen Erkenntnistheo- als Herausgeber. Und neuerkannt als wichtigster leerdings ist er als Berater des
rie und Erkennungsdienst“.
bender GesellschaftstheoDie zwei dicken, süffig geschriebenen Frankfurter Suhrkamp Ver- Heidegger (1968)
retiker Deutschlands, hat er
Bände wurden rasch ein Bestseller und lages tätig.
Inzwischen hat er sein Talent zum ne- stets den Dialog der Begriffsarbeiter gemachten Sloterdijk zum Star. Erfinderisch
hat er seither das Freund-Feind-Schema bulosen Ausdruck weiter trainieren kön- sucht. So begrüßte er auch 1983 ein neuvariiert und fortgeschrieben. Er bot neue nen. Vergangenes Jahr, am 9. November, es Buch, weil es eine „glanzvolle VerbinPolaritäten auf wie „Kopernikanische taufte er die Nation zur „Stress-Gemein- dung zwischen philosophischer EssayisMobilmachung und ptolemäische Abrüs- schaft“ um. Beim Bundesverband deut- tik und Zeitdiagnose“ enthalte. Ironie
tung“, grübelte dem „Eurotaoismus“ scher Banken empfahl er gegen den der Geschichte: Das gelobte Werk war
oder der „Hyperpolitik“ nach, schrieb Schock der Globalisierung einen für je- Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen
Essays, in denen Wortmonster umher- den Menschen eigenen „Immun-Mix“ – Vernunft“.
Johannes Saltzwedel
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Titel
Schöne neue Welt?
Biotechnische Eingriffe am Menschen
VERFAHREN
CHANCEN UND RISIKEN
Fahndung nach dem Gen für
eine Erbkrankheit im Erbgut
des ungeborenen Kindes. Erweist sich das Gen als defekt,
so besteht die Möglichkeit
einer Abtreibung.
Zwar ist die „eugenische Indikation“ im
geltenden Recht abgeschafft, trotzdem
sind Abtreibungen bei bestimmten
Erbkrankheiten üblich. Allerdings beschränkt sich diese Methode auf
Eltern, bei denen eine erbliche Belastung bekannt ist.
Genetischer Test des Embryos im Labor. Nur solche
Embryonen werden in die
Gebärmutter implantiert, die
das defekte Gen nicht im
Erbgut tragen.
Nach deutschem Recht nicht zulässig – doch der Druck, auch diese
Methode zu erlauben, wächst.
Patienten mit einer Erbkrankheit wird ein intaktes Gen in
kranke Zellen eingeschleust.
Bisher in hunderten klinischen
Studien, unter anderem auch in
Deutschland, getestet, allerdings
nahezu ohne jeden Erfolg.
Kopie aus der
Retorte Klonen
Züchtung der genetisch
identischen Kopie eines
Menschen.
Technisch vermutlich möglich, nach
deutschem Recht aber verboten.
Diese Methode hätte keinerlei therapeutischen Nutzen, sondern würde nur
dem Bedürfnis Einzelner dienen, sich
selbst – zumindest genetisch – zu
einer Wiedergeburt zu verhelfen.
Reparatur nach
der Zeugung
Ein defektes Gen wird schon
im befruchteten Ei durch ein
intaktes ausgetauscht. Der
so korrigierte Embryo wird
der Mutter implantiert.
Technisch nach Auffassung vieler Experten einfacher als die somatische
Gentherapie. Nach deutschem Recht
aber verboten, denn die Veränderung
im Erbgut würde auch an die Nachkommen des behandelten Embryos weitergegeben.
Gene, welche das Risiko an
Krankheiten wie Krebs, Fettsucht oder Asthma erhöhen,
werden vor der Einpflanzung
in die Gebärmutter ausgeschaltet.
Nach deutschem Recht verboten.
Zudem ist völlig ungewiss, ob derartige Eingriffe ins Erbgut möglich sind,
ohne zugleich in unkontrollierter Weise andere Vorgänge im Körper zu
beeinflussen.
Ein Gen, das Schutz vor
Krankheiten wie Aids gewährt, wird ins Erbgut einer
befruchteten Eizelle geschleust.
Mit dieser Methode wäre ein entscheidender Schritt in Richtung auf gezielte
Erbgutverbesserung gemacht: Nicht
nur Träger von Krankheits- oder RisikoGenen könnten mit ihr behandelt werden, sondern im Prinzip jeder.
Theoretisch ließen sich auch
Eigenschaften wie Intelligenz,
Aggressivität oder Schönheit
genetisch verändern.
Mit dieser Form der Manipulation stünde die Tür zum genetischen Design des
Menschen offen. Noch allerdings ist die
Wissenschaft von dieser Möglichkeit
weit entfernt: Wie die Gene die komplexen Eigenschaften des Menschen
steuern, ist bisher unbekannt. Außerdem würde sich jeder Eingriff ins Erbgut
in vielfältiger und möglicherweise
schädlicher Weise im Körper auswirken.
Euthanasie im
Mutterleib
pränatale
Gendiagnostik
Selektion im Labor
Präimplantationsdiagnostik
Reparatur aus
der Spritze
somatische Gentherapie
Keimbahntherapie
von Erbkrankheiten
Prävention
im Erbgut
Ausschalten von
Risiko-Genen
Schutzschild
vor Krankheit
Einbau von
ResistenzGenen
Übermensch aus
dem Labor
Genetische Optimierung
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ihr Kollege Lee Silver von der Princeton
University sieht gar die Geburt einer neuen Menschen-Spezies heraufdämmern: Die
Reichen würden ihr Erbgut so lange aufrüsten, bis sie sich mit den Armen nicht länger paaren wollten oder könnten.
Auch in der deutschen Presse fehlte es
nicht an ähnlichen Weissagungen. In der
„Süddeutschen Zeitung“ ließ sich der Berliner Molekularbiologe und Essayist Jens
Reich Anfang Februar mit der Prognose
vernehmen: „Nicht nur der Lebensanfang
und die konstitutionelle Ausstattung des
Menschen werden unter technische Machbarkeit fallen, sondern auch der Lebenslauf
und die Lebenserwartung.“
Wenig später folgte ihm Francis Fukuyama: Die Menschheit, so der US-Politologe, befinde sich „am Scheitelpunkt
einer neuen Explosion technologischer
Innovation“ – sie sei im Begriff, „einen
neuen Menschentypus zu schaffen“.
In seinem Aufsatz stellte Fukuyama –
Wochen bevor Sloterdijks Rede das „Deutsche Beben“ („Zeit“) auslöste – den „SZ“Lesern in Aussicht, die Technik werde künftig „das Züchten von weniger gewaltsamen Menschen“ erlauben, und dieser Möglichkeit werde man sich kaum verweigern
können. Auch von „Nietzsches Übermenschen in der Flasche“ und einer „posthumanen Geschichte“ war da die Rede – warum gab es darüber keinen Krach?
Dass ein deutscher Denker so daherredet, wie Sloterdijk es tat – das war es, was
die Sache zum Skandalon erhob. In der
Tat: Das Vokabular, dessen sich der Provokateur bediente, wäre in diesem Land noch
vor kurzer Zeit unvorstellbar gewesen.
Seit den sechziger Jahren hatte in
Deutschland der intellektuelle Geist konstant von links geweht. Seine Utopie war die
klassenlose Gesellschaft des demokratischen Sozialismus, in der sich der „Neue
Mensch“ in harmonischer Selbstverwirklichung frei entfalten sollte.
In Sloterdijks „Menschenpark“ sind die
schönen Träume der 68er wie mit einem
rhetorischen Knall zerstoben; sie muten
aus dieser Sicht fern an wie das Mittelalter.
Schon die Einseitigkeit, mit der Sloterdijk seine philosophischen Zeugen – Platon, Nietzsche, Heidegger – ausschlachtet,
ist ein Rückfall in eine andere Welt. Seine
Textmontagen künden von einer elitären,
antidemokratischen Geisteshaltung, von
tiefem Misstrauen gegen die menschliche
Natur, der laut Sloterdijk mit „Zähmung“
kaum noch beizukommen ist.
Wo der linksliberale Zeitgeist noch kürzlich nach sexueller Befreiung, sanfter
Pädagogik oder humanerem Strafvollzug
rief, sieht Sloterdijk eine „beispiellose Enthemmungswelle“ rollen – ein Wüten entfesselter Triebe, dem Einhalt geboten werden müsse, womöglich durch züchterische
Maßnahmen, wie der Philosoph insinuiert:
Er spricht – wortgewaltig, aber vage – von
einer „genetischen Reform der Gattungs-
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Der antiliberale Reflex
Ob bei Botho Strauß’ „Bocksgesang“, der Walser-Bubis-Debatte oder der Polemik um Peter
Sloterdijk – stets zielt die intellektuelle Provokation auf den linksliberalen Mainstream.
P
eter Sloterdijk auf allen Kanälen: die den Unwillen nachdrängender, vorSloterdijk, das Opfer „linksfaschis- auseilender oder sonstwie unzeitgemäßer
tischer Agitation“, einer „Starnber- Denker erregt. Dies umso mehr, als die
ger Fatwa“ von Ajatollah Habermas und „light version“ der Kritischen Theorie in
seinen „Mudschahidin der Kritischen all ihren Popularisierungen unterdessen
Theorie“. Sloterdijk, der tapfere Philo- eine Art Nationaleigentum, Common
soph, als Objekt von „Paparazzotum“ und Sense der westlich orientierten „neuen
„Erregungsjournalismus“ – tagaus, tagein Mitte“ geworden ist wie „1968“ und
präsentierte sich der Vordenker der „Re- Woodstock.
Sämtliche deutsche Großdebatten des
geln für den Menschenpark“ während der
vergangenen Wochen in einem wahren In- vergangenen Jahrzehnts – ob der Walserterview-Feuer als kämpferischer Visionär, Bubis-Streit vor einem Jahr, die Polemik
der von einer Verschwörung der Ewig- um Botho Strauß’ „Anschwellenden
gestrigen, den skrupellosen Adepten einer Bocksgesang“, der Historikerstreit über
linksliberalen „political correctness“ gna- die Singularität von Auschwitz und die
Auseinandersetzung über das Holocaustdenlos verfolgt wird.
In der Sendung „Kulturzeit“
(3Sat) kam er vergangene Woche
noch einmal auf den Kern seiner
skandalträchtigen Intervention
zurück – natürlich in Form einer
„Prophezeiung“: Nach der gegenwärtigen Schmutzkampagne
werde sich die Debatte wieder auf
die Fragen der gentechnologischen
Perspektiven konzentrieren, um
dann aber, so Sloterdijk, in eine
„sehr harte“ Auseinandersetzung
über die Kritische Theorie von
Habermas & Co. zu münden.
Dem philosophischen Angreifer schien es nichts auszumachen,
dass er dabei den Kampf um einen Leichnam annoncierte – denn
dass die Kritische Theorie tot sei,
hatte er schon Anfang September
erklärt. Sei’s drum, die Stoßrich- Schlagzeilen über Tabu-Verstöße
tung seiner publizistischen Attacken ist klar: Es geht um die seit den sech- Mahnmal in Berlin – drehten sich um die
ziger Jahren bestehende Vorherrschaft Interpretationshoheit über die Gegender Kritischen Theorie und ihres Alters- wart, die sich in Deutschland immer noch
präsidenten Habermas – mit dem, pikant, und unweigerlich im Verhältnis zur jüngsSloterdijk auch noch im selben verlege- ten Vergangenheit, vor dem Hintergrund
rischen Boot sitzt, dem Suhrkamp-Ver- des Völkermords an den Juden entscheidet: Wer sagt, wie die Lage ist – und mit
lag in Frankfurt.
Freilich hat die kritische Gesellschafts- welchen Worten?
Es ist kein Zufall, dass die großen intheorie der Gründerväter Adorno und
Horkheimer („Dialektik der Auf- tellektuellen Auseinandersetzungen der
klärung“) sich längst ihrer Radikalität letzten Jahre stets eher von „rechts“ denn
entledigt und ist, nicht selten auch in ei- von „links“ angezettelt wurden – von
nem verwaschenen Mainstream-Konsens, einem aus alten Tiefen schöpfenden
als diffus-linksliberales Dauerunbehagen Kulturpessimismus, der an der ökonoan der Wirklichkeit tendenziell mehr- mistisch-profanen Massendemokratie
heitsfähig. Es scheint gerade diese eher westlichen Zuschnitts irre wird und, grübverhaltene Ratio von reformistischer Kri- lerisch-raunend, nach neuen (oder ganz
tik und kommunikativer Skepsis zu sein, alten) Ufern sucht. Jede geistige Provo-
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kation muss sich daher auf gleich zwei
Objekte stürzen: auf die vermeintlich vorherrschende Denkweise (samt ihrer Theoretiker) und auf ihre Interpretation der
nationalsozialistischen Vergangenheit –
samt ihren Folgerungen.
Es ist offenkundig, dass Sloterdijk beide Ziele ins Visier genommen hat, indem
er mit Begriffen wie „Selektion“ und
„Menschenzüchtung“ hantierte und die
Kritik an seiner frivolen Fascho-Semantik
als hysterische Anfälle eines jakobinischen Antifa-Alarmismus denunzierte,
dessen Denken sich in Reflexen erschöpfe. Dass sich seine eigene Denkweise in
raunender Andeutung künftiger Horizonte der „Menschenproduktion“ unterm Banner fortgeschrittener „Anthropotechniken“ erschöpft, spielt dabei keine Rolle.
Schon vor einigen Jahren hat der geübte Provokateur des Zeitgeists in einem
Bändchen unter dem Titel „Selbstversuch“ darüber räsoniert, „was ein Autor
tut, indem er gefährliche Ansichten
von gefährlichen Stoffen ausprobiert“ –
er sucht die „Chance zum Metaskandal“ in Erwartung altlinksliberaler
„Entrüstungsreflexe“, die im Handumdrehen seine These beweisen sollen: Ein
letztes Mal heult hier, vom Heranrauschen des Neuen schwer getroffen, das
alte morsche Denken auf – doch seine
Zeit ist abgelaufen. Quod erat demonstrandum.
Auch Martin Walser bediente sich vor
Jahresfrist dieses assoziativen Zirkelschlusses – auch er attackierte den linksliberalen Common Sense, auch er führte
die „Unschärfe im Umgang mit dem
Skandalösen als Pose“ vor, wie die „taz“
über Sloterdijk urteilte, auch er fühlte
sich missverstanden und von den „Meinungssoldaten“ in den Medien gar mit
„vorgehaltener Moralpistole“ verfolgt.
Auch Walser kokettierte mit Grenzüberschreitung und Tabubruch, ohne sie
tatsächlich zu begründen, das heißt, mit
guten Argumenten zu belegen und vor
allem: das neue, angeblich befreite Terrain zu skizzieren.
Auch bei ihm schwebte allzu vieles
zwischen den Zeilen und im Raume, als
rhetorische Frage formuliert und letztlich
doch als Bekenntnis in die Welt gestoßen:
„Bestimmt schon zwanzigmal“ habe er
S. MOSES
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„weggeschaut“, wenn im
Fernsehen Filme über den
Holocaust liefen, jene
„Dauerpräsentation unserer Schande“, die das
Schreckliche nur „zu gegenwärtigen Zwecken“ instrumentalisiere.
Wie Sloterdijk vermischte Walser in seiner literarischen Selbst- und Fremderkundung Analyse und
Behauptung auf kaum entwirrbare Weise. Begriffsgranaten wie „Gewissenswarte der Nation“, „Meinungsdienst“ und „Moralkeule“ wirbelten durch die
Hirne des Publikums, doch
eine neue Klarheit, gar Dichter Walser bei Friedenspreisverleihung (1998): Begriffsgranaten wirbeln durch die Hirne des Publikums
eine neue Wahrheit hinterließen sie nicht. Marcel Reich-Ranicki die westlich-konsumistische Mediengeeigenschaften“, von „expliziter Merknannte Walsers Paulskirchen-Bekenntnis sellschaft: „Das Regime der telekratimalsplanung“ und „pränataler Selektion“.
schließlich eine „unseriöse Provokation“, schen Öffentlichkeit“, so Strauß, „ist die
So tollkühn hat sich, zumindest in der
eine „verantwortungslose Rede“: „Das ist unblutigste Gewaltherrschaft und zuWortwahl, noch kein deutscher Intellekder eigentliche Skandal: Sie nennt nicht gleich der umfassendste Totalitarismus
tueller über die Tabus hinweggesetzt, die
Ross und Reiter“ – stattdessen wimmele der Geschichte.“ Ein Passepartout, das
seit Auschwitz in der Bundesrepublik als
es in ihr „von unklaren und vagen Darle- auch Peter Handke immer wieder gern
unantastbar galten – und das auch noch
gungen“, mit denen sie „Argumente für benutzt, um gegen die Verheerungen des
pünktlich zum Beginn der „Berliner Redie Stammtische“ liefere. Ein höchst ak- „Amerikanismus“ zu Felde zu ziehen.
publik“, während auch die Politik sich von
Es liegt in der Logik der intellektuellen
tuelles Urteil.
der Geschichte zu verabschieden sucht.
Jene eigentümliche Verbindung von Skandaldebatte, dass die Lesarten und
Schwer vorstellbar, dass Sloterdijk die Bri„Antiliberalismus“, „Angst-, Gefähr- Interpretationen verschieden, ja gesanz seines provokanten Vortrags falsch
dungs- sowie Erlösungsdenken“, „Elita- gensätzlich sind, dass mit unzähligen
eingeschätzt hat.
rismus“ und „Einzelgängertum“ fiel auch Worten und Invektiven aufeinander
Dass seine gentechnischen ZüchtungsKritikern von Botho Strauß’ Essay „An- eingedroschen wird, ohne dass Arguphantasien, wissenschaftlich betrachtet,
schwellender Bocksgesang“ auf, der 1993 mente zum Zuge kämen, denen alle
vorerst eher wirklichkeitsfremd sind,
über Monate die Gemüter der Nation Kontrahenten Geltung und Plausibilität
spielt dabei eine geringe Rolle. Die „gatzubilligen könnten – mit deren Hilfe gar
erregte.
tungspolitischen Entscheidungen“, die er
„Von der Gestalt der künftigen Tra- ein gewisses Einvernehmen zu erzielen
anpeilt, sind auch in seinen Augen noch
gödie wissen wir nichts“, schrieb der wäre. Stattdessen geht es allein um die
ferne Zukunftsmusik. Was Sloterdijks WiSchriftsteller und Theaterautor ahnungs- Macht des Diskurses, Positionskämpfe
dersacher vielmehr auf den Plan ruft, ist
voll. „Wir hören nur den lauter werden- und die Bastionen des Zeitgeists. Für
die politische Dimension seines Vortraden Mysterienlärm, den Bocksgesang Esprit, für Clarté oder gar Humor ist da
ges, der einen prinzipiellen Wechsel
in der Tiefe unseres Handelns“. Irgend- kein Platz. Die Sache ist bitterernst.
ankündigt: Züchtung statt Erziehung, BioIm Berliner „Tagesspiegel“ ließ Slowann, so prophezeite er in apokalyplogie statt Politik, Rasse statt Klasse.
tischer Rede, werde es zu einem „gewal- terdijk schon mal erkennen, dass er sich
„Er hätte sich bewusst sein müssen,
seine Kritiker, blitzgescheitigen Ausbruch gegen den
dass hier eine sehr hohe Sensibilität bete und niveauvolle BurSinnenbetrug“ kommen.
steht“, sagt der Bioethiker Dietmar Mieth
schen wie er selbst, für die
Auch er polemisierte wie
von der Katholisch-theologischen Fakultät
nächste Großdebatte lieber
die Romantiker, Antimoder Universität Tübingen und wirft Slogleich im Biolabor herandernisten und Gegenaufterdijk ein „Defizit an Bedächtigkeit“ vor.
züchten werde: „Wenn ich
klärer des 19. und 20. Jahr„Im provokativen Sinn“, meint der ehean meine völlig naturbelashunderts gegen die „Totalmalige DDR-Bürgerrechtler Reich, sei
senen Denunzianten denherrschaft der Gegenwart“,
„die jetzige Aufregung sinnvoll“ – aber
ke“, so Sloterdijk wörtlich,
gegen die „öffentliche Inauch er fügt hinzu: „Die ganze Tradition
„würde ich allerdings wüntelligenz“ der „gewitzten
gefällt mir nicht, in der das daherkommt.“
schen, die Kunst, gebildete
und zerknirschten GewisFestzustellen bleibt, dass keineswegs
und sympathische Mensenswächter“, gegen den
erst mit dem NS-Rassenwahn die Ideen
schen hervorzubringen,
„Drill des Vorübergehenvon erblicher Manipulation und Menwäre doch schon ein wenig
den“ und das „Ausmerzen
schenzucht in die Welt kamen. Der Traum,
weiter.“
mythischer Zeit“.
dass im Zuge eines umfassenden WanVoilà, Züchters Traum,
Auch bei ihm gipfelt die
dels der Gesellschaft auch jeder Einzelne
tomorrow’s world. It’s just a
konservative Kulturkritik
zum Idealwesen mutieren müsse, hat im
zombie.
im maßlosen Urteil über Autor Strauß
Abendland eine lange Tradition.
Reinhard Mohr
Stichwortgeber vieler Utopisten wurde der Athener Platon, der um 375 vor
Titel
Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden Menschen“ – das
Christentum, so Nietzsche später abfällig, sei dagegen „Heerdenthier-Züchtung“.
Zwar meinte er mit „Züchtung“ und „Zucht“ fast immer
strengste, elitäre Erziehung. Aber
mit der Zeit machte sich Nietzsche auch Notizen über eine
„Verbesserung der Gattung“
selbst. Im Herbst 1881 grübelte
er bereits, „ob nicht ein Theil der
Menschen auf Kosten des anderen zu einer höheren Rasse zu
erziehen ist“, ein „neuer Adel“,
wie er bald hinzufügte.
In „Also sprach Zarathustra“
trat dann das fatale Wort vom
„Übermenschen“ seine Laufbahn an. Noch später zögerte
Nietzsche nicht mit dem Vorschlag, „grosse Wagnisse und Gesamt-Versuche von Zucht und
Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls,
die bisher ,Geschichte‘ hiess, ein
Ende zu machen“.
Die platten Schlüsse aus solchen Visionen zogen andere –
mit bekannten Folgen. Der Dichter Gottfried Benn schrieb im
Juni 1933, er erwarte, dass ein
Große und schöne Frauen werRassenkunde-Plakat (um 1933): Weltweit bejubelten Experten … neuer „deutscher Mensch“ entden nur mit großen und tüchtistehe, „halb aus Mutation und
gen Männern verbunden, dicke Frauen mit
Für derlei Fabelziele, glaubte Fourier, halb aus Züchtung“. Nietzsche war zum
mageren Männern und schlanke Frauen
genüge eine durchgreifende Veränderung Kronzeugen einer wahnhaften Rassenlenmit starkleibigen Männern, damit sie sich
der Gesellschaft – ähnliche Doktrinen ent- kungsidee geworden.
in erfolgreicher Weise ausgleichen … Im
Für deutsche Ohren klingt der Begriff
wickelten später auch die Marxisten. ErSchlafgemach stehen schöne Bildwerke
ziehung und Indoktrination galten ihnen „Eugenik“ stets und unweigerlich nach eiberühmter Männer.
ner der Varianten von Hitlers Züchtungsals Mittel der Menschen-Manipulation.
Erst im Zeitalter der Aufklärung setzte
Selbst nach Darwins bahnbrechendem und Vernichtungswahn: Im Namen der Eusich dann die Idee vom besseren Menschen Buch über die „natürliche Zuchtwahl“ genik haben die Nazis hunderttausende
in den Köpfen fest. Jean-Jacques Rousseau (1859) dauerte es noch 16 Jahre, bis Fried- sterilisiert und Millionen getötet.
Doch Eugenik ist keine Erfindung der
hatte seinem „Émile“ (1762) eine strikt rich Nietzsche, Griechisch-Professor und
natürliche Erziehung zukommen lassen Platon-Kenner in Basel, notierte: „Man Nationalsozialisten. Jahrzehntelang galt sie
wollen, damit er so die üblen Begleitum- kann durch glückliche Erfindungen das vielen Wissenschaftlern als Königsweg für
stände der Zivilisation umgehe. Als die we- grosse Individuum noch ganz anders und die Zukunft des Menschen. Zu ihren Beniger skeptische Mehrheit den Fortschritt höher erziehen, als es bis jetzt durch die wunderern zählten nicht nur Hitler und
als Triebfeder geschichtlicher Entwicklung Zufälle erzogen wurde. Da liegen meine Mussolini, sondern auch Churchill und
Roosevelt. Lange vor 1933
entdeckte, tauchte ebenso rasch die Frage
wurde eugenisches Gedanauf: Warum sollte der Homo sapiens selbst
kengut in rechten wie in linvon ihm ausgeschlossen sein?
ken Kreisen akzeptiert, in Los
Charles Fourier, Kaufmann und PläneAngeles ebenso wie in Lonmacher, träumte 1808 von einer Zukunft,
don oder Berlin.
da die Menschen nach strikten Regeln in
Francis Galton, ein Vetter
Landkommunen lebten, so genannten Phavon Darwin, prägte 1883 den
lanstères. Dort würden sie 144 Jahre alt, jeBegriff „Eugenik“ (griechisch
der bis zu zwei Meter groß und 200 Kilo
im Sinne von: „gut im Erbschwer. Die Begabungen, errechnete der
gut“) und definierte ihn als die
Frühsozialist, könnten sich geradezu astroWissenschaft der genetischen
nomisch steigern: Eine Weltbevölkerung
Verbesserung des Menschen
von drei Milliarden – damals eine ungedurch Zucht. Seither drängte
heure Zahl – brächte ohne weiteres 37 Millionen Dichter von der Qualität Homers, 37
Millionen Mathematiker mit den Geistes* Beamte des Rasseforschungsinstituts
gaben eines Newton und zahllose weitere
suchen nach Merkmalen des „nordiSupertalente hervor.
… das deutsche Modell: Rassenforschung der Nazis*
schen Typs“.
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AKG
Christus in seinem Dialog „Politeia“ („Der Staat“) Sokrates die
Frage stellen ließ, was Gerechtigkeit sei. Platon entwarf ein
streng nach Kasten gegliedertes
Gemeinwesen, in dem „Philosophenkönige“ darüber bestimmen
könnten, wann und wie „die
besten Männer mit den besten
Frauen möglichst oft zusammenkommen“ durften. Das Erbgut
der Herrenrasse, der „Wächter“,
sollte reingehalten, ja möglichst
nach Schönheit und Intelligenz
gesteigert werden.
In die Tat umgesetzt wurde das
Programm von antiken Machthabern nie – und ebenso wenig von
den Christen im frommen Mittelalter, die nicht daran zu denken wagten, dass das Ebenbild
Gottes verbesserbar sein könnte.
In den Aufbruchsjahren der
Reformation kam dann der britische Kronjurist Thomas More in
seinem Staatsentwurf „Utopia“
auf einige Lenkungsideen Platons zurück. Ein Jahrhundert
später ersann auch der kalabresische Dominikaner Tommaso
Campanella einen „Sonnenstaat“, in dem beste Zuchtbedingungen herrschen:
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Werbeseite
Werbeseite
Titel
FLASHLIGHT
SIPA
ker ihre Phantasien ab 1933 hemes Forscher, den Traum von der biomungslos in die Tat umsetzen konnlogischen Verbesserung der Menschten. Rassenhygiene und Eugenik
heit endlich anzugehen, der Eingriff
wurden Grundbausteine der Hitlerin das Erbgut galt ihnen geradezu als
schen Diktatur.
ethisches Gebot. Weltweit gründeten
Wenige Monate nach Hitlers
sich nach der Jahrhundertwende euMachtübernahme wurde das „Gegenische Fachgesellschaften.
setz zur Verhütung erbkranken
Ihre Vision: Gelänge es, die ÜberNachwuchses“ erlassen. Es hatte die
tragung von Krankheits- oder andeZwangssterilisation tausender Schiren schädlichen Genen zu verhinzophrener, Epileptiker, Blinder, Taudern, dann werde die Menschheit
ber, Missgebildeter, Alkoholiker und
binnen weniger Generationen der
geistig Behinderter zur Folge.
Erbhygiene in einen völlig anderen
Das Ehegesundheitsgesetz verbot
Zustand erhoben sein: frei von
die Eheschließung von „ErbbelasteKrankheit und Siechtum, frei von Erten“. In Heil- und Pflegeanstalten
scheinungen wie Alkoholismus und
wurden die Insassen zur „erbbiologiKriminalität, sogar frei von Armut.
schen Bestandsaufnahme“ gedrängt
Ohne Eugenik, so die neue Heils– die Voraussetzung der Massenverlehre, drohe die genetische Vermülnichtung von psychisch Kranken.
lung und der sichere Untergang, mit
An „erbgesunde“, nichtjüdische
ihr stehe eine glorreiche Zukunft be„Volksgenossen“ dagegen gaben die
vor – wie glorreich, das machte der
Nazis Ehestandsdarlehen – in der
spätere Nobelpreisträger Hermann
Hoffnung, damit die Reproduktion
Joseph Muller 1935 klar: Im Verlauf
von genetisch Höherstehenden anvon nur 200jähriger Menschenzucht,
zukurbeln. Am abstrusesten wurde
so Muller, sei es „für die Mehrheit
der Gedanke der Menschenzüchtung
der Bevölkerung möglich, Anlagen
im „Lebensborn“ verwirklicht, eivon der Qualität solcher Männer wie
nem Geheimprojekt von Himmler.
Lenin, Newton, Leonardo, Pasteur,
Arische Frauen sollten dort mögBeethoven“ zu besitzen.
lichst von SS-Männern geschwängert
Eugenik stand selbst bei jenen
hoch im Kurs, die später ihre Opfer Proben in Samenbank: Nobelpreis-Gene aus dem Katalog werden und arisch-erbreinen Nachwuchs in Serie produzieren.
wurden: Der deutsche Zionist ArDamals jubelten viele Experten in der
thur Ruppin forderte 1919 eine „Auslese Hund bringen – künftige Amerikaner würdes Menschenmaterials“ zur Besiedlung den „dunkler in der Pigmentierung, kleiner Welt dem deutschen Modell zu. DeutschPalästinas – nur solche Juden von beson- in der Statur, unbeständiger“ und „stärker land, so hieß es in „Eugenical News“, dem
derer „körperlicher, beruflicher und mo- Verbrechen wie Diebstahl, Kindesent- Blatt der internationalen Eugeniker-Geralischer Beschaffenheit“ sollten in das Ge- führung, Gewalttätigkeit, Mord, Vergewal- meinde, sei viel weiter als andere Länder
tigung und Lasterhaftigkeit verfallen“.
in der „biologischen Fundierung des nalobte Land eingelassen werden.
Um dergleichen abzuwenden, schreck- tionalen Charakters“. Das deutsche SteriDie damaligen Eugeniker waren keineswegs nur jene Chauvis und Wegbereiter ten die USA vor der „negativen Eugenik“ lisationsgesetz, so hieß es 1933, stelle einen
der nationalsozialistischen Vernichtung, als nicht zurück. Massenhaft ließen sie in den Meilenstein dar in der eugenischen „Kondie sie heute erscheinen. Viele von ihnen zwanziger und dreißiger Jahren Menschen trolle der menschlichen Fortpflanzung“.
waren ernsthafte, bekümmerte Sozialre- sterilisieren, die angeblich Träger schlech- Bis zum Kriegseintritt der USA 1941 floss
formatoren, die hofften, mittels Eugenik ter Gene waren. Gleichzeitig wurden Ein- amerikanisches Geld in die eugenische Foreine bessere Welt zu schaffen, in der Eu- wanderer penibel auf die vermeintliche schung der Deutschen.
Erst nach Kriegsende, als das Entsetzen
genik sahen sie eine Grundlagenwissen- Qualität ihres Erbguts untersucht.
In Deutschland hatte sich die eugeni- über Auschwitz und den Umfang eugenisch
schaft der Sozialpolitik.
In den USA wurde schon 1910 das Eu- sche Forschung nicht anders entwickelt als inspirierter NS-Verbrechen sich verbreitegenics Record Office gegründet, finanziert in anderen Ländern auch – nur mit dem te, galt die Eugenik weltweit als diskredivon Stiftungsmillionen unter anderem der Unterschied, dass die deutschen Eugeni- tiert. Nur einige Biologen und Mediziner
mochten sich von dem Gedanken
Carnegie Institution. Forscher arnicht lösen. Der Amerikaner Mulbeiteten an Studien zur Vererbler zum Beispiel, Medizin-Nobelbarkeit von „Nomadismus“, von
preisträger des Jahres 1946, be„Unbeholfenheit“ und sogar von
harrte darauf: Wolle man der Wei„Liebe zum Meer“, die sie besonterverbreitung schädlicher Erbanders oft bei Marineoffizieren
lagen Einhalt gebieten, müssten
glaubten nachweisen zu können.
drei Prozent der Bevölkerung
Wer arm war, galt damals die„von der Fortpflanzung eliminiert
sen Forschern nicht als Produkt
werden“. 1962, bei einer hochgesellschaftlicher Verhältnisse,
karätig besetzten Konferenz zur
sondern als Träger ungünstiger
Zukunft des Menschen, trat MulMoral- und Lern-Gene. Charles
ler als Wortführer hervor – aufs
Davenport, einer der führenden
Neue berauschten sich die GeneUS-Eugeniker, sah daher schwarz
tiker an den alten Theorien.
für die Zukunft der USA. Der
Niemand hat den Schrecken
„große Zustrom von Blut aus Südüber die eugenischen Phantasteosteuropa“, so schrieb er, werde
das US-Volk genetisch auf den Frühgeborenes im Brutkasten: Der Mensch als Modelliermasse reien besser auf den Punkt ge310
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Werbeseite
Werbeseite
Titel
DPA
GAMMA / STUDIO X
Zwar hat die pränatale Gendiagnose
ihren festen Platz im klinischen Alltag gefunden. Doch beschränkt sie sich darauf, in
den vergleichsweise seltenen Fällen, in denen eine erbliche Belastung der Eltern bekannt ist, die Frucht im Mutterleib zu untersuchen. Und als einzige „Therapie“ für
die diagnostizierte Krankheit bietet sie die
Abtreibung an.
Noch weniger Erfolge kann die sogenannte somatischen Gentherapie vorweisen. Als der Pionier French Anderson 1990
erstmals ein erbkrankes Mädchen mit einem intakten Gen behandelte, sprachen
Beobachter von einer Zeitenwende in der
Medizingeschichte. Inzwischen klagt selbst
James Watson, ehedem einer der glühendsten Verfechter dieser Methode: „Wenn wir
auf Erfolge warten wollen, warten wir, bis
die Sonne erlischt.“
Die Biologie erwies sich als weit komplexer, als es der Optimismus der Forscher
hatte wahrhaben wollen. Doch nicht
Enttäuschung macht sich unter Watson
und seinen Mitstreitern breit. Im Gegenteil: Die bisherigen Versuche, so die LehGentherapeut Anderson: Zeitenwende in der Medizingeschichte?
re, die sie aus den Misserfolgen der Verbracht als Aldous Huxley in seinem geln. Begeistert begrüßten die meisten Me- gangenheit zogen, seien nicht weit genug
Roman „Schöne neue Welt“ (1932). Die diziner die Genforschung. Nun schien es gegangen.
Den Durchbruch versprechen sie sich
darin geschilderte Herrschaft von Alpha- endlich möglich, auch die bisher so hartMenschen über die mit einer Glücksdroge näckigen und unbesiegbar scheinenden nun von der sogenannten Keimbahnruhig gestellten Arbeitssklaven der Retor- Übel bei der Wurzel zu packen. Denn alle therapie – bereits in der befruchteten
ten-Gammas, -Deltas und -Epsilons wurde Biologie, so die Doktrin der neuen Wis- Eizelle müsse der Genchirurg eingreifen.
senschaft, hat ihren Ursprung in den spi- Auf dem Programm steht damit erstmals
zum Sinnbild der Gen-Diktatur.
in der Geschichte der wahrhaft genmaniHuxleys visionäre Kraft ist umso be- raligen Bauplan-Molekülen.
Aber hält die angekündigte Revolution, pulierte Mensch. „Wenn wir bessere
merkenswerter, als er noch nichts wissen
konnte von der Sprache der Gene. Bis die was sie verspricht? Dämmert die Ära einer Menschen herstellen könnten durch das
beiden Wissenschaftler Francis Crick und alle Krankheiten niederringenden Medizin Hinzufügen von Genen“, so Watsons erJames Watson mit Pappmodellen von Ba- herauf, die schon im Erbgut den krankma- klärtes Ziel, „warum sollten wir das nicht
tun?“
senmolekülen herumgespielt und schließ- chenden Faktoren zu Leibe rückt?
Bisher fällt die Bilanz nüchtern aus. 20
Noch ist allerdings gänzlich ungewiss,
lich ein spiralförmiges Gebilde zusammengepuzzelt hatten, waren alle Eugenik- Jahre lang blieb die Genmedizin weitge- ob dieses Programm von mehr Erfolg geVerfechter auf die archaische Methode der hend das, was sie an ihrem Ursprung war: krönt sein wird als alle früheren. Es scheint
eine Ankündigungs-Wissenschaft. Fast durchaus möglich, ja vielen sogar wahrViehzüchter verwiesen.
Inzwischen ist die Doppelhelix zur Iko- täglich finden sich die Fanfarenstöße der scheinlich, dass sich auch hier die Biologie
ne einer ganzen Wissenschaft geworden: Genforscher in der Presse. Und doch si- den Visionären verweigert.
Bisher haben die Genforscher allenfalls
das molekulare Substrat alles Vererbbaren gnalisieren Worte wie „Hoffnung“, „Erund damit zugleich jener Rohstoff, aus dem wartung“ oder „Möglichkeit“, dass die an der Oberfläche das unermesslich komsich neue, verstiegene Pläne für das Men- medizinische Ernte der wissenschaftlichen plizierte Wechselspiel der Moleküle im
Entdeckungen auf eine ungewisse Zukunft Körper verstanden. Jeder Eingriff in dieses
schen-Design schmieden ließen.
Räderwerk der Natur könnte Folgen nach
Es dauerte weitere 20 Jahre, bis auch vertagt wird.
sich ziehen, die niemand abdas Rüstzeug bereitstand, mit dem sich dieschätzen kann.
ser Rohstoff bearbeiten ließ: Seit Anfang
Gene, die bei Menschen
der siebziger Jahre können Biotechniker
Krankheiten verursachen, sind
den Erbgutstrang auch zerschneiden und
von der Evolution nicht erneu zusammenkitten. Im Reagenzglas
dacht worden, um sie zu
entstanden Tabakpflanzen, die dank eipiesacken. Die Anlage zur
ner Genspende vom Glühwürmchen leuchZuckerkrankheit etwa, so nehten, und breitschultrige Mäuse mit Hühnermen die Forscher an, ist einst
genen.
als Anpassung an Hunger entDen Medizinern kam die Geburt der
standen. Träger der DiabetesGentechnik sehr zupass: Es schien sich eine
Gene konnten die Nahrung
neue Perspektive zu eröffnen, um den in
den siebziger Jahren ins Stocken geratenen
besser verwerten und waren
Fortschritt der Heilkunst wieder zu beflüdeshalb eher im Stande, Notzeiten zu überstehen. Gentechniker, die solche Gene
* In Boston züchteten Forscher 1995 aus Menschenzeltilgen wollen, setzen damit
len eine Ohrmuschel und transplantierten sie in den
womöglich aufs Spiel, dass
Maus mit Menschenohr*: Eingriff in die Natur
Rücken einer felllosen Maus.
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Titel
dereinst möglicherweise dämmernde Ära
der Menschenzucht aufzustellen vermag;
die Frage lautet vielmehr, ob sie diesen
von der Naturwissenschaft insinuierten
Wandel des Menschenbildes nur hinnimmt
oder ihm etwas entgegenzusetzen hat.
Um nicht von philosophischen Bedenken belästigt zu werden, haben die Biologen zunächst in den USA ihre eigenen Philosophen gekürt: Innerhalb der letzten 25
Jahre hat sich die Disziplin der Bioethik
entwickelt, deren erklärte Aufgabe es ist,
Handlungsanweisungen zu geben, wie mit
den neuen Techniken aus dem Biolabor
umzugehen sei.
Als Import aus den USA hat sich die
junge Disziplin inzwischen auch in
Deutschland etabliert. In Bonn, Freiburg,
Göttingen und Tübingen wurden BioethikZentren gegründet.
Philosophisch betrachtet, ist die Formation eines neuen Ethikzweiges ein weit rei-
medizinischen Väter des Retortenkindes
Louise Brown: „Die Ethik muss sich der
Wissenschaft anpassen, nicht umgekehrt.“
Wohin die damit verbundene langsame
Erosion aller humanen Prämissen führen
kann, zeigt die Argumentation des umstrittenen Bioethikers Peter Singer, der gerade seine Professur an der Elite-Universität Princeton angetreten hat: Debile stellt
er, aus ethischer Sicht, auf eine Stufe mit
Schimpansen und erklärt die Tötung
schwerstbehinderter Neugeborener für
zulässig. Zum Amtsantritt in der letzten
Woche verglichen ihn Demonstranten in
Rollstühlen auf Plakaten mit Hitler.
Die Strategie, dass mit der künftigen
Manipulationstechnik der Weg geebnet
wird, exerzieren die Gentechniker und
ihr bioethisches Gefolge derzeit beim
Eingriff in die Keimbahn vor. Nur wenige
Jahre ist es her, da dies unumstritten als
letzte Grenze galt, welche die Genforscher niemals überschreiten wollten.
Vor zwei Jahren dann
schien den US-Wissenschaftlern die Technik
fortgeschritten genug, um
an dem Tabu zu rütteln.
Nahe Washingtons versammelten sie sich zur ersten „Gene Therapy Policy
Conference“. Erklärtes
Ziel: Vorgaben für den
Eingriff in die menschliche
Keimbahn zu erarbeiten.
Die Experten schickten
sich an, die alte Utopie
vom besseren Menschen
in die Tat umzusetzen.
Und sie waren überzeugt,
diesmal das technische
Werkzeug dafür in Händen zu halten.
Zugleich aber wussten
sie, welch erbitterte politische, ethische und religiöse Widerstände sie würden
brechen müssen. Deshalb
zogen sie sich auf eine
Strategie zurück, die sich
immer wieder als erfolgreich erwiesen hat:
Sie zerlegten den epochalen Schritt zum
Menschen-Design in viele kleinere Etappen, die sich jede für sich leichter bagatellisieren lassen. Denn die Akzeptanz für ihr
Jahrhundert-Unterfangen wird nur in Raten zu erlangen sein.
Zunächst, so beteuern sie, sei einzig die
genetische Korrektur einiger weniger
schwerer Erbkrankheiten in Reichweite.
Und wer könne dies verurteilen?
Wer Patienten am Tay-Sachs-Syndrom,
an Muskeldystrophie oder Chorea Huntington habe leiden sehen, der könne kaum
bestreiten, dass es ein Segen wäre, wenn
sich diese Leiden gentherapeutisch ausmerzen ließen. „Wir sind uns doch einig,
dass dies Fehler der Natur sind, schreckliGAMMA / STUDIO X
Menschen sich künftig an eine veränderte
Umwelt nicht mehr anpassen können.
Andere Erbkrankheiten werfen bereits
für die Lebenden eine Art Dividende ab.
Die Sichelzellenanämie beispielsweise
breitete sich im südlichen Afrika aus, weil
das defekte Gen einen Schutz bietet vor
der tödlichen Malaria tropica. Ähnliche
Geflechte im Erbgut bestehen zuhauf: Kein
Gentechniker könnte absehen, welche Kettenreaktionen er entfacht, wenn er in diese Mechanismen eingreift.
Doch so vage die Aussicht auf den
Zuchtmenschen aus der Bioretorte auch
sein mag, so unübersehbar ist in der Wissenschaft die Debatte über ihn entbrannt.
Unverhohlen suchen ihn die Visionäre der
Genmedizin zunächst in die Köpfe der
Menschen zu pflanzen. Zumindest eines
scheint ihnen dabei schon jetzt zu gelingen:
Die Naturwissenschaften sind im Begriff,
das Bild vom Menschen zu wandeln.
Klonschaf Dolly, Schöpfer Wilmut: „Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel“
Die langsame Neudefinition vollzieht
sich in den nüchternen Protokollen der Wissenschaftsmagazine, in denen die Bandenmuster der Genforscher, die monotonen
Buchstabenabfolgen der Gensequenzen
und die kryptischen Kürzel zu sehen sind,
mit denen die Abschnitte der Erbgutmoleküle bezeichnet werden. Unbeirrt von allen bisherigen Misserfolgen, fahren sie fort,
nach dem molekularen Substrat von Intelligenz, Aggressivität oder Partnertreue zu
fahnden. Die Vielfalt des Lebens wird so auf
genetische Information reduziert; das Hirn,
ehedem Sitz einer Seele, wird zur „wetware“ (in Analogie zur Soft- und Hardware
der Computer) degradiert.
Für die Philosophie stellt sich damit weniger die Frage, ob sie die Regeln für eine
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chender Schritt. Denn so tiefgreifend Chemie, Atom- oder Informationstechnik die
Welt auch verändert haben mögen, keine
dieser Wissenschaften brachte eine eigene
Ethik hervor. Allein die Biologie misst sich
eine Sonderrolle zu – weil sie sich mit dem
Wesen des Menschen selbst befasst.
Mit der Formulierung einer Bioethik hat
sich, von vielen unbemerkt, das Verhältnis
von Wissenschaft und Ethik umgekehrt.
Die in der deutschen Philosophie wurzelnde Ethik geht von einem Verständnis
von der Natur des Menschen aus und leitet daraus Kriterien für das Handeln ab.
Ganz anders die aus den angelsächsischen Ländern stammende Bioethik. Niemand hat dies prägnanter auf den Punkt
gebracht als Robert Edwards, einer der
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Titel
SABA
che Krankheiten mit einer simplen Ursa- Menschen betrachten“, beteuerte Watson
che“, beschwor der Genmediziner Theo- bei seiner Berliner Rede. „Nie wieder dürdore Friedmann seine Kollegen.
fen sie zu Dienern politischer und sozialer
Ist aber einmal dieser erste Schritt getan, Planer werden.“
dann werden sich die Forscher dem nächsGenau dieses Gebot aber ist mit dem
ten zuwenden – und sich dabei auf den Eingriff in die Keimbahn in Gefahr. Zum eiersten berufen: Wenn die Korrektur eines nen liegt es im Wesen dieser Methode, dass
Krankheitsgens zulässig ist, warum sollte andere – Eltern, Ärzte oder der Staat –
das Ausschalten eines Gens, welches das über die Genausstattung zukünftiger MenRisiko für Krebs oder Alzheimer in sich schen befinden. Der Einzelne ist dem Urbirgt, verboten sein? Und was schließlich teil seiner Schöpfer ausgeliefert.
ist daran zu verdammen, wenn Eltern
Zum anderen eignet sich die Keimihrem Kind mehr Intelligenz mit auf den bahnmanipulation geradezu ideal, um die
Lebensweg geben wollen?
uralte Utopie von der gezielten VerbesseBestandteil des Werbefeldzugs für das rung des Menschen zu verwirklichen – und
Projekt des Menschen aus der Genretorte damit wird sie zum Instrument der Macht.
ist es auch, die zögerlichen Deutschen für
Auch in Sloterdijks Elmauer Rede klanden großen Plan zu begeistern. Dies war gen solche Untertöne deutlich an. Sloterbezweckt, als James Watson 1997 bei einer dijks Vortrag ist durchtränkt von Begrifmolekularbiologischen Konferenz in Berlin fen, die den Verdacht wecken, er mache
seinen deutschen Kollegen zurief: „Es ist sich für eine gezielte, politische Menan der Zeit, Hitler hinter uns zu lassen.“
schenzucht stark.
In der Tat verläuft die Debatte über die
„Zucht“ setzt einen „Züchter“ voraus,
Fortschritte der Humangenetik, Gentech- der eugenische, rassische Ziele verfolgt.
nik und Reproduktionsmedizin in Deutsch- Wenn Sloterdijk von „gattungspolitischen
land anders als in jedem anderen Land. Entscheidungen“ und „Regeln für den Men„Die Diskussion hat die
schenpark“ spricht, dann
Form, die sie in der Bunlassen sich diese Worte
desrepublik immer hat:
kaum anders deuten.
leicht hysterisch“, konAndere, die sich an der
statiert Molekularbiologe
Debatte jetzt beteiligen,
Reich angesichts des
warnen vor allzu großen
Streits um Sloterdijk.
Berührungsängsten. „So
Verwirrt nehmen die
was muss auf den Tisch“,
Deutschen wahr, wie biosagt Jens Reich. „Es ist
logische Fragen die politibesser, die Diskussion in
schen Fronten bröckeln
der Öffentlichkeit zu halassen. Gleichgültig, ob es
ben, weil das Probleme
um die Abtreibung erbsind, die auf uns zukomkranker Föten geht, um
men.“
das Lebensrecht beatmeDer Bonner Hirnforter Hirntoter mit schlascher Linke geht noch eigendem Herzen oder um
nen Schritt weiter: „Dass
die Vision vom gentechwir einmal in das Unbenisch verbesserten Menwusste runtersteigen, wie
schen: Stets finden sich Erzeugung eines Klons im Labor
Sloterdijk das vorgeführt
die Linken in einer eigenhat, ist sicher gut.“ Allerartigen Koalition mit der katholischen Kir- dings müsse man danach „auch wieder ins
che wieder. Die von der Faschismus-Erfah- Bewusste einsteigen“.
rung traumatisierten Linken wie die kon„Problematisch“ findet auch Linke, dass
servativ-religiös argumentierenden Rech- Sloterdijk „das Vokabular des Rassismus
ten verstehen sich, wenn es um bioethische benutzt, ohne sich wirklich davon zu disFragen geht, als Hüter der Menschennatur. tanzieren“. Ein „Skandal“ sei im Übrigen
Damit stoßen sie bei den von amerika- „die Verbindung mit Heidegger“.
nischem Pragmatismus geleiteten BioethiDass der Menschenplaner aus Karlsruhe
kern meist auf Unverständnis. Für diese ist eine Diskussion angestachelt hat, der sich
mit der voranschreitenden Wissenschaft die Gesellschaft am Ende dieses Jahrhunauch das Bild in stetem Flusse, das man derts zu stellen hat, wird von kaum jemand
sich von der Natur des Menschen zu ma- bestritten. Ob sein Beitrag hilfreich ist,
chen habe. Jede neue Technik erfordere umso mehr.
eine neue Debatte darüber, welche Form
„Ich muss gestehen“, schreibt der Phider Menschen-Manipulation ethisch zuläs- losoph Tugendhat über die Sloterdijksig oder verwerflich ist.
Rede, „dass ich nicht verstanden habe,
Ein einziges moralisches Gebot gilt es worum es dem Autor überhaupt geht. Was
nach Auffassung der US-Bioethiker zu be- will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas
herzigen: Dem Einzelnen müsse das Recht in diesem Aufsatz, was wir jetzt besser vervorbehalten bleiben, selbst über die An- stehen würden?“ Resigniert konstatiert er:
wendung neuer Methoden zu entscheiden. „Ich habe nichts gefunden.“ Marco Evers,
Klaus Franke, Johann Grolle
„Genetiker müssen sich als Diener der
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„Der Mensch droht zu stolpern“
Der Bonner Philosoph und Bioethiker Ludger Honnefelder über
Genexperimente mit Föten, die Irrungen seines Kollegen Sloterdijk und
die Renaissance einer naturwissenschaftlich aufgeklärten Moral
SPIEGEL: … Sie meinen das er-
H. G. OED
folgreiche Klonen des schottischen Schafs …
Honnefelder: … ein neues Kind
zeuge, das mit dem verstorbenen genetisch identisch ist,
einen zeitversetzten eineiigen Zwilling sozusagen, dann
nehme ich diesem Kind das
Stück Freiheit, das im Zufall
liegt.
SPIEGEL: Aber die Genetik
möchte die Macht des Schicksals begrenzen. In der vorgeburtlichen Diagnostik zum Beispiel. Dort erhoffen sich viele
Eltern Auskunft über mögliche
Behinderungen ihrer Kinder.
Was ist daran aus Sicht eines
Ethikers problematisch?
Honnefelder: Hier kann es zum
Konflikt zweier grundlegender
Güter kommen. Die große Gefahr ist eine ungewollte Eugenik von unten.
SPIEGEL: Gibt es noch andere
Bedenken der Philosophen gegen die Genmedizin?
Honnefelder: Bei der Keimbahntherapie
zum Beispiel …
SPIEGEL: … die bedeutet, dass ein Eingriff
an den Genen vorgenommen wird, der
auch die zukünftigen Kinder prägt …
Honnefelder: Ja, Befürworter sagen, diese
Intervention in das Genmaterial sei gerechtfertigt, wenn der zukünftige Mensch
eine so schwere Krankheit hätte, dass man
unterstellen kann, dass er als Betroffener
sie nicht wollen kann. Dann, so sagen manche, wäre es doch geradezu die Pflicht des
Arztes, diese Therapie anzuwenden.
SPIEGEL: Was als „Krankheit“ gilt, ist allerdings soziokulturell bestimmt.
Honnefelder: Eben hier beginnt das Problem.
SPIEGEL: Vielleicht wäre Händel nie zur
Geburt zugelassen worden – er war Epileptiker.
Honnefelder: Das ist der Grund für mich, einer solchen Argumentation nicht zuzustimmen. Wir müssten ein wirklich eindeutiges Kriterium für eine schwere Krankheit haben. Dass einer den Veitstanz als
genetische Disposition seinen Nachkommen nicht wünscht, leuchtet ein. Aber wie
steht es mit Zwergwüchsigkeit, bestimmten
Philosoph Honnefelder: „Die Natur ist keine Blaupause“
Honnefelder, 63, lehrt an der Universität
Bonn Philosophie und ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik. In mehreren Beratergremien untersucht er mit Medizinern und
Biologen die moralischen Probleme der
modernen Gentechnik.
SPIEGEL: Herr Professor Honnefelder, Ihr
Kollege Sloterdijk will allen Ernstes die
Zähmung der Bestie Mensch durch genetische „Züchtung“ erreichen. Versagen die
Philosophen als seriöse Kritiker der Biotechnologie?
Honnefelder: Dass Gentechnik und Biotechnologie die größte ethische Herausforderung der Gegenwart sind, ist längt bekannt.
Der Rat der Philosophen wird gesucht.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Honnefelder: Ein Anruf der urologischen Abteilung einer Universitätsklinik mit der
Frage: „Dürfen wir dem Wunsch einer Patientin entsprechen und den Samen ihres
gerade bei einem Unfall ums Lebens gekommenen Ehemanns übertragen? Wir werden von dem Wunsch der Patientin bedrängt
und wissen nicht, was wir tun sollen.“
SPIEGEL: Hatten Sie Mitleid?
Honnefelder: Natürlich. Aber das Interesse
des Kindes hat Vorrang. Deshalb verbietet
das deutsche Recht solche Übertragung.
SPIEGEL: Gilt die Zustimmung aller Betroffener als Voraussetzung und Grenze des
Machbaren? Gerade beim Klonen, also
dem genetischen Kopieren eines Menschen, könnte die Zustimmung doch gar
nicht eingeholt werden?
Honnefelder: Durch Klonen würde ein
Mensch hergestellt, der zum größten Teil
eine Kopie eines Genoms eines anderen
Menschen ist. Ihm würde etwas genommen, was bisher zur natürlichen Ausstattung eines Menschen gehört: dass seine
Abstammung sich dem Zufall der Kombination des elterlichen Erbguts verdankt.
Er würde aus der genetischen Lotterie herausgenommen und der Verfügung durch
einen Dritten ausgeliefert.
SPIEGEL: Warum erzeugt ein geklontes Wesen Angst?
Honnefelder: Es ist die Fremdbestimmung,
die im Klonen liegt, die die Ablehnung begründet. Wenn ich ein Kind, das ich durch
einen Unfall verloren habe, wieder zum
Leben erwecken will, indem ich mit Hilfe
des Dolly-Verfahrens …
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Honnefelder: Dabei geht es um die Fra-
ge, ob man „überzählige“ Embryonen
als Zwischenstationen benutzen darf,
um daraus dann Gewebe und Organe zu
züchten.
SPIEGEL: Wie haben Sie ethisch argumentiert?
Honnefelder: Wir betrachten den menschliche Embryo als ein Lebewesen, das dem
mit der Menschenwürde verbundenen
Schutz und damit dem Instrumentalisierungsverbot unterliegt. Selbst wenn es um
höhere Zwecke ginge, darf ein menschliches Lebewesen nicht instrumentalisiert
werden.
SPIEGEL: Sloterdijk fragt, was der Humanismus zur Zähmung des Menschen überhaupt noch leisten kann.
Honnefelder: Es ist doch umgekehrt:
Wir brauchen die Idee der Humanität
mehr denn je. Das Argument, dass
das Projekt des Humanismus durch
Menschenzüchtung abgelöst werden
soll, widerlegt sich schon dadurch,
dass sich die Genetiker über die Ziele einig werden müssten – und dann
wären wir wieder bei der Frage nach
der Humanität. Genetiker wie Ethiker
müssten erst einen Konsens über den
gewünschten, den wünschbaren Menschen erzielen. Dass wir auf das Expertenwissen der wenigen, kundigen
Ideenfreunde zurückgreifen sollen,
wäre eine Lösung, die durch die Philosophiegeschichte längst als widerlegt gilt.
SPIEGEL: Kommt die öffentliche Diskussion in Deutschland nicht viel zu
spät?
Honnefelder: Sie hat inzwischen intensiv eingesetzt, doch gibt es immer
noch die Tendenz zu Schwarzweißmalerei. Manche verfahren nach dem
Motto: Wenn die Dinge zu komplex sind,
vermeidet man die Diskussion lieber ganz
und ruft nach Verbot. Oder man folgt einfach dem zynischen Argument: Was technisch möglich ist, wird sowieso gemacht.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Honnefelder: Wir müssen angemessene Formen für ethische Auseinandersetzungen in
Wissenschaft und Gesellschaft finden. Die
Probleme der Gentechnik treffen uns in
einer Situation, in der viele geglaubt hatten, die Moral zu einer Privatsache erklären zu können oder sich auf rechtliche
Regelungen zu beschränken. Nun entdecken wir, dass die Moral der „Preis der
Moderne“ ist, wie Otfried Höffe sagt. Die
Menschheit hat Jahrtausende gegen den
Widerstand der Natur angekämpft, diesem
Widerstand sein Leben abgerungen. Nachdem der Widerstand der Natur in wichtigen
Teilen weggefallen ist, droht der Mensch
nach vorne zu fallen und zu stolpern. Nicht
mehr die Natur setzt ihm Grenzen, er muss
sich selbst Grenzen setzen.
J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS
Augenfehlern? Wo ist die Grenze? Von den SPIEGEL: Hegel sagt, dass die Philosophie
Menschenversuchen, die erforderlich wä- ihren Flug immer erst in der Dämmerung
ren, ganz abgesehen.
beginnt, also wenn es schon spät ist. Muss
SPIEGEL: Ästhetischen Bedürfnissen soll die nicht Ihr Fach – gerade bei einer so stürmisch sich entwickelnden Wissenschaft wie
Gentherapie also auf keinen Fall dienen?
Honnefelder: Weltweit ist man sich einig, der Humangenetik – hinterherhinken?
dass auf jeden Fall die Verbesserung von Honnefelder: Die Gefahr, immer zu spät zu
wünschenswerten Eigenschaften wie bei- kommen, ist zweifelsohne gegeben. Aber
spielsweise Eingriffe zu Gunsten eines bes- bei der Entwicklung der Gentechnik hat
seren Aussehens oder Gedächtnisses ver- die kritische Reflexion sehr früh eingesetzt.
boten werden müssen.
SPIEGEL: Mit welchen Ergebnissen?
SPIEGEL: Ihr Kollege Sloterdijk überschrei- Honnefelder: Die Keimbahnintervention ist
tet doch diese Grenze, wenn er bessere in Deutschland durch das EmbryonenMenschen züchten will. Ist seine Vorstel- schutzgesetz verboten und auch nach der
lung im Kern faschistisch?
Menschenrechtskonvention des EuropaHonnefelder: Die von Sloterdijk ins Gespräch gebrachte Menschenzüchtung
beruht auf einer viel zu deterministischen Vorstellung von Genetik, die
nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht. Dahinter steht ein völlig
falsches Verständnis von Natur, als sei
sie nach einer Blaupause gemacht, bei
der man bestimmte fehlerhafte Einzelheiten reparieren kann.Wir wissen
heute mehr denn je, dass die Natur
ein hochkomplexes Ganzes ist, das die
gezielte Erzeugung eines neuen Menschentyps ausschließt.
SPIEGEL: Noch oder für immer?
Honnefelder: Ich vermute, dass das
immer so bleibt. Wir stehen erst am
Anfang einer Entwicklung. Wir werden nach Abschluss des GenomProjekts zwar eine weitgehende Entzifferung des menschlichen Erbguts
haben, aber das Zusammenwirken
der Gene im Rahmen der Zellbiologie ist bisher noch eine Terra incognita.
SPIEGEL: Haben Sie einen moralischen
Einwand gegen Sloterdijk? Er schlägt Zwillinge: „Wir brauchen die Idee der Humanität“
ja vor, die Philosophen sollten „aktiv“ werden und in das „Spiel“ der Züch- rats nicht erlaubt. Sie wird weltweit nicht
tung des Menschen eingreifen.
praktiziert.
Honnefelder: Die Absicht von Experten, SPIEGEL: Aber daran wird doch schon geüber andere zu bestimmen, auch wenn sie arbeitet?
noch so gut gemeint wäre und erstrebens- Honnefelder: Es ist die Frage, was Sie unter
werte Eigenschaften zum Ziel hätte, stellte „arbeiten“ verstehen. Es gibt Experimeneinen Tugendterror dar und verstieße gegen te mit Spermien und unbefruchteten
die ethische Selbstbestimmung, die jedem Eizellen. Möglicherweise auch im Früheigen ist. Ein Menschenbild, das „Züchter“ stadium von befruchteten Eizellen. Aber
und „Gezüchtete“ unterscheidet, ist ein ele- es wäre mir neu, wenn man versucht hätmentarer Verstoß gegen das Gleichheits- te, solche Experimente bis hin zur
prinzip, das darauf beruht, dass jeder das Schwangerschaft und Geburt weiterzuVermögen hat, sittliches Subjekt zu sein.
führen.
SPIEGEL: Wenn die Philosophen nicht als SPIEGEL: Aber wenn es trotzdem pas„Züchter“ des moralischen Menschen be- siert, würden Sie mal wieder zu spät
rufen sind, inwieweit taugen sie als Kon- kommen. Wann ist es Ihnen denn schon
trolleure der Genforschung?
mal gelungen, der Forschung voraus zu
Honnefelder: Die großen moralischen Theo- sein?
rien verstehen sich – im Gegensatz zu Slo- Honnefelder: Hinsichtlich der jüngsten, beterdijk und einer bestimmten Platon-In- sonders aktuellen Forschung an menschliterpretation – als Aufklärung des morali- chen embryonalen Stammzellen sind die
schen Urteils von jedermann. Es ist ein ethischen Probleme bereits zum GegenMissverständnis, dass die Ethiker so etwas stand gemacht worden, noch bevor die erswie ein Vormund sein könnten. Die Ethik ten Experimente im Humanbereich bekann nur bei der moralischen Urteilsfin- gannen.
dung behilflich sein.
SPIEGEL: Worum geht es dabei?
Interview: Carolin Emcke,
Nikolaus von Festenberg
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B. SCHWARZ / DER SPIEGEL
Anthropologe Clarke*: Behutsam wie ein Zahnarzt bei der Wurzelbehandlung
ANTHROPOLOGIE
Meister des Knochenpuzzles
Wie kaum ein anderer vermag der Brite Ron Clarke fossilen
Knochen Geheimnisse zu entlocken. Lange wurde er verkannt.
Jetzt verhilft ihm das Skelett eines Vormenschen zu Weltruhm.
I
REUTERS
m Schein einer Handlampe legen Ron funden, welches kein Affe mehr war, aber
Clarke und seine beiden Assistenten auch noch kein Mensch.
Millimeter für Millimeter ein Skelett
Vor dreieinhalb Millionen Jahren war
frei, das ins Sediment einer Tropfsteinhöhle die Kreatur durch einen schmalen Spalt
eingeschlossen ist. Nicht größer als Corn- 22 Meter tief gefallen. Panisch muss sie
flakes sind die Stücke, die sie aus dem be- nach einem Ausgang gesucht haben, ehe sie
tonharten Gestein meißeln.
verendete. Der Sturz selbst
Jeder zu kräftige Schlag
sei nicht tödlich gewesen,
könnte irrtümlich einen
versichert Clarke. Denn
Knochen zertrümmern.
dort, wo das Skelett gefunEs ist kein gewöhnliches
den wurde, könne es nicht
Skelett, das die drei Mänhingeschlagen sein. Die feiner Stück für Stück aus
nen Kalkablagerungen, die
dem Felsen schälen. Vollsich zwischen Fels und
ständig freigelegt wird es
Knochen schoben, verraten
einzigartige Erkenntnisse
dem Urmenschenforscher
über die Menschwerdung
des Affen liefern. Denn nie
* Oben: Bei Ausgrabung in der
zuvor wurde ein so intakter
Sterkfontein-Höhle; unten: KnöchelÜberrest eines Wesens ge- Vormenschen-Knochen*
fragmente des „Little Foot“.
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zudem: „Es war noch Fleisch auf den Knochen, als Geröllmassen den Körper unter
sich begruben.“
Der Affenmensch liegt, eingebettet in
einen steilen Hang, auf der rechten Gesichtshälfte. Ober- und Unterkiefer sind
zum makaberen Totenkopf-Grinsen erstarrt, die Zähne zusammengebissen. Sein
linker Arm ist über den Kopf gestreckt.
Das deutet darauf hin, dass er ins Rutschen
geraten war und dann versucht hat, sich an
einem Felsvorsprung festzuhalten. Beim
Sturz in die Tiefe muss er sich den linken
Unterarm gebrochen haben, denn Elle und
Speiche weisen beide an der gleichen Stelle Brüche auf. Der Rest seines Körpers,
Rippen, Wirbelsäule und auch das Becken,
sind noch von Fels umschlossen.
Seit mehr als zehn Jahren sucht Clarke,
55, nun schon in Südafrikas fossilreicher
Sterkfontein-Höhle nach Überresten aus
einer Zeit, als der erste Mensch noch nicht
geboren war. Die Ausbeute aus den grundwasserreichen unterirdischen Kammern
füllt ganze Wandschränke der Universität
Witwatersrand im 50 Kilometer entfernten Johannesburg; und in einer unscheinbaren Wellblechhütte am Rande der Ausgrabungsstätte lagern weitere Kisten voller
Jahrmillionen alter Relikte: mineralisierte
Schädel Blatt fressender Affen, Lianenfossilien, Skelettfragmente ausgestorbener
Raubkatzen.
Hätte der Anthropologe nicht vor fünf
Jahren in einem dieser Kartons vier kieselsteingroße Vormenschenknochen entdeckt, er wäre vermutlich als erfolgloser
Knochensucher in die Annalen seiner missgünstigen Zunft eingegangen. Noch Ende
vergangenen Jahres schalt ihn sein neuer
ehrgeiziger Forschungsleiter als „Mann
ohne besondere Fähigkeiten“.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Clarke seinen Jahrhundertfund längst gemacht. Doch
wollte er den Fundort und sich selbst vor
einem Ansturm Neugieriger schützen. Und
so wussten nur seine beiden Assistenten
und seine Frau davon.
Den Weg zu dieser größten Entdeckung
seiner Karriere hatte Clarke indes schon im
September 1994 gebahnt. Damals hatte er
Kisten und Kästchen in der Wellblechhütte durchforstet. Er stieß dabei auf vier
kleine Knöchelchen, die das Etikett als
Antilopenfossilien auswies. Neugierig
drehte und wendete er seinen Fund und erkannte plötzlich, dass er versteinerte Knöchel eines linken Vormenschenfußes in
Händen hielt.
Seine Erkenntnis sollte die gängige Lehrmeinung hinfällig machen, nach welcher
der Urmensch erst in der Steppe das aufrechte Laufen erlernte. Der Fuß besaß
zwar den für Klettertiere typischen abgespreizten großen Zeh; doch ließ er zugleich
den federnden Spann eines Zweibeiners
erkennen. Er musste demnach einem Zwitterwesen gehört haben, das sich sowohl
von Ast zu Ast schwingen konnte, als auch
Werbeseite
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Wissenschaft
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Schienbein, das nahtlos an den „LittleFoot“-Fund passte. Auch ein rechter Unterschenkelknochen stammte offensichtlich von demselben Exemplar.
Damit wurde Clarke schlagartig klar:
Eine Beute von langbeinigen Jagdhyänen
oder Säbelzahnkatzen konnte dieser Menschenaffe nicht geworden sein, denn ein
Raubtier hätte als erstes Hände und Füße
verspeist. Und weil das rechte Schenkelstück eine relativ frische Bruchstelle aufwies, musste der Rest der Leiche noch im
Fels der Grotte eingeschlossen sein. Die
Füße waren offenbar Ende der zwanziger
Jahre weggesprengt worden, als in der
Höhle Kalk gebrochen wurde. Der Detektiv im Forscher erwachte.
Mit dem aberwitzigen Auftrag, die
passende Bruchstelle in einer der Höhlenwände zu finden, schickte Clarke seine Assistenten Stephen Motsumi und
Nkwane Molefe in das 80 Quadratmeter
große Gewölbe. Nach nur anderthalb Tagen wurden die beiden fündig. Seither ver-
J. KUUS / SIPA
auf zwei Beinen ging. Und weil die Vegetation an der Fundstelle vor über drei Millionen Jahren eindeutig einer Waldfauna
entsprach, bewiesen die „Little Foot“ getauften Knöchel: Dieser Affe war schon im
Dschungel gut zu Fuß.
Der Coup war nicht der Erste, bei dem
sich Clarke als Meister des Knochenpuzzles erwies. Selbst unauffällige Besonderheiten an Schädeln, Wirbeln, Beckenknochen brennen sich in sein Gedächtnis
ein wie Feuerzeichen. Immer wieder gelang es ihm, Knochenfragmente zusammenzufügen, von denen niemand sonst
vermutet hätte, dass sie ineinander greifen.
Dieser Fähigkeit und dem fast zwanghaften Bedürfnis, Ordnung in eine nur
noch bruchstückhaft erhaltene Vergangenheit zu bringen, verdankte der gebürtige
Brite erste bahnbrechende Erfolge, als er
noch ein Neuling auf dem Gebiet der Urmenschenforschung war. Erstmals hatte
sich Clarke vor 30 Jahren nach einem Besuch im Transvaal-Museum in Pretoria einen Namen gemacht. In einer Zunft, in der
der Weg zum Ruhm normalerweise über
ebenso teure wie rare Schürfrechte führt,
erregte dies einige Aufmerksamkeit.
Dem jungen Mann mit dem Faible für
uralte Knochen war aufgefallen, dass es
sich bei einem als „Nussknackermann“
(Paranthropus robustus) ausgezeichneten
Exponat tatsächlich um den Schädel eines
sehr viel jüngeren Verwandten des Menschen handelte. Und nicht nur das: Clarke
sichtete ein paar Vitrinen weiter ein Stück
Oberkiefer, das perfekt in den falsch bezeichneten Schädel passte. 20 Jahre lang
waren die beiden Fragmente getrennt ausgestellt worden. Scharen von Wissenschaftlern hatten sie betrachtet. Niemandem war etwas aufgefallen. „Die meisten
Menschen glauben, was man ihnen vorsetzt“, sagt Clarke. „Sie können Form und
Gestalt einfach nicht sehen.“
Das Sehen hat Clarke bei dem Entdecker des Nussknackermanns selbst, bei
Louis Leakey, gelernt. Von einem Vortrag
Leakeys über dessen Fund in der tansanischen Olduvai-Schlucht fasziniert, brach
er sein Archäologie-Studium in London ab
und folgte dem Forscher in die Steppe Ostafrikas. Leakeys Hominiden-Truppe war
berühmt für ihren trainierten Blick; sie
stand im Ruf, eine Art „geistiges Radar“ zu
besitzen, einen seherisch anmutenden
Spürsinn, den bald auch Clarke erwarb.
Puzzleaufgaben haben den britischen
Anthropologen seither immer wieder fasziniert. Und so ließ ihm auch „Little Foot“
keine Ruhe. In der Hoffnung, weitere Vormenschenüberreste zu finden, durchstöberte er beharrlich sämtliche Kisten mit
Fossilientrümmern aus jenem Winkel der
Sterkfontein-Höhle, aus dem der Zwitterfuß stammte – lange vergebens.
Erst zweieinhalb Jahre später stieß er
aus purem Zufall auf weitere Knöchel und
ein Wadenbeinstück sowie ein Stück
Fußmodelle von Gorilla, Vormensch, Mensch
„Es war noch Fleisch auf den Knochen“
bringt Clarke seine Zeit am liebsten unter
Tage.
Behutsam und präzise wie ein Zahnarzt
bei einer Wurzelbehandlung hat er inzwischen eine Gelenkpfanne des Unterarms
freigelegt. Sie ist anders gewölbt als die
aller bisher bekannten Vormenschenarten.
Möglich, dass er eine neue Spezies entdeckt hat. Und weil er gern querdenkt,
hofft Clarke, am Ende des Arms „eine
Hand mit langen Fingern“ zu finden, wie sie
ein Orang-Utan hat. Das würde seiner Detektivarbeit „besondere Würze“ verleihen.
Clarke weiß, dass er mit solchen Vermutungen den Spott vieler Kollegen auf
sich zieht. Denn falls der Affenmensch am
Grunde der Sterkfontein-Höhle tatsächlich
dem langarmigen, rotzotteligen Wesen aus
Borneo ähnelt, so müsste die Vorgeschichte des Menschen wohl neu geschrieben
werden. Der Puzzler Clarke fühlt sich von
dieser Vorstellung inspiriert – zumal noch
Zeit bleibt für Spekulationen: Es werden
Jahre vergehen, bis die unbekannte Leiche vollständig geborgen ist und Clarke
das letzte Kapitel seines prähistorischen
Krimis schreiben kann.
Birgit Schwarz
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Motor und Sport“ nach ersten Testfahrten im vergangenen Oktober, stelle „alles
in den Schatten, was bisher als wohlabgestimmte Federung galt“. Auf Autobahnen werde die S-Klasse „zum fliegenden
Teppich“.
Andere teilten dieses uneingeschränkte
Lob jedoch nicht. Ein Tester der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bezeichnete
den Komfort der Mercedes-Limousine
zwar als „sänftenähnlich“, monierte aber
„unpräzises Fahrverhalten“ und „unerwünschte Aufbaubewegungen bei schneller
Kurvenfahrt“.
Das empfanden viele Kunden offenbar
ähnlich. Seit dem Verkaufsstart bekam das
Werk zwar nur von 1,5 Prozent der Käufer
Neues Mercedes-CL-Coupé: Mit Hochdruck gegen Nickbewegungen
kritische Rückmeldungen. Der
Inhalt der Kritik war jedoch
AU T O M O B I L E
häufig gleich. Die Lenker der
S-Klasse empfanden das Fahrverhalten als unpräzise, manche hatten gar das Gefühl,
in dem schwäbischen Luxuswagen „seekrank“ zu werden.
Nach Aussagen eines Mercedes-Sprechers kamen diese
Verwöhnte Mercedes-Kunden
Eindrücke fast ausschließlich
sind von der Luftfederung
von Kunden, die vom VorgänMercedes-S-Klasse im Fahrtest: „Glitschige Fuhre“
in der neuen S-Klasse genervt.
germodell umgestiegen waren
Schwankbewegungen der Karosserie na- und nun „nicht mehr das gewohnte
Im CL-Coupé werden jetzt
Gefühl der Schwere“ hatten. Die neue
hezu vollständig verhindert.
wieder Stahlfedern eingebaut.
Erstaunlich ist dabei, dass die Stuttgar- S-Klasse ist immerhin um sechs Zentner
einerlei Kompromisse sollen die ter Ingenieure ein anderes, erst vor einem leichter als die alte.
Gleichwohl gingen die Ingenieure den
Premiere des jüngsten und teuers- Jahr in der neuen S-Klasse eingeführtes
ten Mercedes trüben. Das neue Fahrwerksprinzip mit dem CL wieder ver- Beschwerden nach und mussten sich einCL-Coupé, prahlt Entwicklungschef Hans- lassen. Während der Aufbau der großen Li- gestehen, dass das Schwank-Phänomen
Joachim Schöpf, „ist das derzeit an- mousine auf Luftkissen ruht, wird der des nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Vor
spruchsvollste Automobil Deutschlands“. Coupés von konventionellen Stahlfedern allem bei hohen Geschwindigkeiten und
Aus Tradition gilt der von der S-Klasse getragen. Die Luftfederung, seit Jahrzehn- Seitenwindböen erwies sich der weich geabgeleitete, luxuriöse Zweitürer als Zuga- ten ein Wunschtraum vieler Fahrwerks- federte Luxuswagen als nicht ganz so spurbe der Ingenieure, in der die modernste techniker, setzt sich somit wieder mal nicht stabil wie erwünscht. „Da wurde die Fuhre etwas glitschig“, kommentiert ein MerTechnik des Hauses eingebaut wird. Die- durch.
sem Prinzip folgend, schufen die EntwickBereits 1956 erprobten Mercedes-Inge- cedes-Manager.
Die Techniker besserten nach. Seit April
ler 1992 einen klotzigen Panzer, der die nieure diese Technik an einem Prototyp
monströse S-Klasse noch einmal um 80 Ki- des „Adenauer-Wagens“ vom Typ 300c werden die Limousinen der S-Klasse mit eilogramm Leergewicht übertraf und somit und vier Jahre später an zwei weiteren Ver- nem in drei Punkten modifizierten Fahrden Gipfel eines fahrzeugtechnischen Irr- suchsfahrzeugen. Die Werksfahrer notier- werk ausgeliefert:
wegs markierte.
ten jedoch „kräftiges Stuckern“ und „un- π Eine Umprogrammierung in der Steuerelektronik sorgt dafür, dass die StoßDas neue CL-Coupé, das mit Motorleis- angenehm wirkendes Wanken“. Mitte der
dämpfung früher gestrafft wird, wenn
tungen ab 306 PS zu Preisen ab 175 392 Sechziger kam die Luftfederung dann in
das Auto ins Wanken gerät.
Mark auf den Markt kommt, soll jetzt als Spitzenmodellen der S-Klasse und der
erlesenes Destillat der aktuellen, wesent- Staatskarosse Mercedes 600 zum Serien- π Härtere Gummi-Metall-Lager an der
Hinterachse erhöhen die Fahrstabilität
lich schlankeren S-Klasse weniger durch einsatz, überzeugte aber nicht und wurde
des Wagens.
Wuchtigkeit als durch technische Finesse bald wieder ausgemustert.
brillieren. 32 Neuentwicklungen birgt der
Allein der französische Hersteller π Die Kraft der Servolenkung wird bei
hohen Geschwindigkeiten stärker als
Wagen laut Herstellerauskunft.
Citroën pflegt bis heute eine Kombination
bisher verringert – das Auto reagiert daAls bedeutendste Innovation wohnt al- aus Luft- und Öldruckfederung, Hydrodurch weniger flatterhaft.
len CL-Modellen eine serienmäßige Er- pneumatik genannt, als schrulliges MarDie Kunden wurden über diese Modifirungenschaft inne, deren Kürzel an Ele- kenzeichen, ohne dass nennenswerte Vormentarschule denken lässt: ABC steht je- teile der Technik je die Fachwelt überzeugt kationen nicht informiert. Auch werden die
doch für „Active Body Control“ und soll hätten. Allein die theoriegeleitete Über- Fahrwerke der vor April ausgelieferten
dem Spitzenmodell laut Mercedes „ein bis- zeugung, dass sanfte Luftpolster letztlich S-Klassen nur für solche Kunden kostenfrei
lang unerreichtes Optimum an Fahrdyna- mehr Fahrkomfort ermöglichen müssten nachgebessert, die von sich aus das Fahrals elastischer Stahl, lässt die Ingenieure verhalten bemängeln.
mik“ verleihen.
Denn die höhere Fahrstabilität geht klar
Kern des Systems ist eine Hochdruck- bis heute nicht ruhen.
Mit der neuen S-Klasse schien der zu Lasten des Komforts. Die Vorteile der
Hydraulik, die beim Anfahren, Bremsen
oder in Kurven sekundenschnell die Durchbruch geschafft. Deren Luftfede- aufwendigen Luftfederung werden somit
Stoßdämpfung strafft und somit Nick- oder rung, schwärmte das Fachblatt „Auto, wieder kassiert.
Christian Wüst
T. BADER
Seekrank in
der Sänfte
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V E R H A LT E N S F O R S C H U N G
Hilfloses
Gekicher
Warum ist Kitzeln
schrecklich und schön zugleich?
Neue Theorien versuchen eine
der seltsamsten Verhaltensweisen
des Menschen zu erklären.
H
326
Achseln
Taille
Rippen
Füße
Hier kitzelt es
am schlimmsten
Knie
Kehle
Gekitzelte Körperregionen und Lachdauer
in Sekunden
Nacken
Handinnenflächen
0,0
0,4
0,8
1,2
Quelle: American Scientist
1,6
2,0
2,4
2,8
ihre Handinnenflächen mit einem kleinen
Schwämmchen und zeichneten dabei die
Hirnströme der Testpersonen auf.
Erwartungsgemäß kicherten die Freiwilligen zunächst leise vor sich hin. Gleichzeitig regten sich Hirnzellen, die Berührungsreize verarbeiten. Kitzelten sich die
Probanden jedoch selbst, kam kein Juchzer
mehr über ihre Lippen. Das Kleinhirn hatte die Kontrolle im Kopf übernommen und
den Körper gleichsam vorgewarnt. „Der
Kitzel-Reiz kommt nicht mehr als Überraschung“, erläutert der Londoner Neurologe Christopher Frith.
Viele Forscher finden die Reflextheorie
jedoch zu simpel, um das Mysterium zu
erklären. Sie glauben an eine starke soziad e r
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TONY STONE
exen und Kobolde kitzelten einst
das Vieh im Stall, um es zu ärgern.
Wenn Liebende einander „in die
Hände“ killern, so weiß der Volksmund,
erhöht das die Liebesleidenschaft. Aus Siebenbürgen wiederum stammt der Rat, bei
Säuglingen nicht zu viel killekille zu
machen – sonst werde der Sprössling später „stottern“.
Kaum eine menschliche Verhaltensweise
ist so sonderbar wie das Kitzeln. Wie kann
es sein, dass sich ein Kitzel-Opfer gleichzeitig quält und halb totlacht? Warum ist es
unmöglich, sich selbst zu kitzeln? Und
schließlich: Welcher biologische Sinn steckt
hinter dem masochistischen Gegacker?
Seit kurzem glauben Forscher dem Geheimnis auf der Spur zu sein. Mit eigens konstruierten Kitzel-Maschinen lösen sie bei
festgeschnallten Versuchspersonen immer
neue Lachsalven aus. Minutiös zeichnen sie
dabei die Hirnaktivität und die Dauer der
Heiterkeit auf, um das Rätsel zu lösen.
„Ursprünglich ist das Kitzeln dazu da,
etwas Fremdes auf dem Körper zu entdecken“, sagt Robert Provine, Psychologe an
der University of Maryland. Haarige Spinnen und giftige Skorpione hat der Forscher dabei im Sinn. Schon dem primitiven
Säuger krabbelten diese hin und wieder
den Nacken hinauf und mussten zwecks
Lebensrettung schnellstmöglich entfernt
werden.
Den sanften Druck von Spinnenbeinen
zählen die Forscher dabei zum „leichten
Kitzeln“, „Knismesis“ genannt. Um „starkes Kitzeln“ („Gargalesis“) auszulösen, bedarf es dagegen heftigerer Reize. Geeignet sind etwa zeitlich gut gewählte Attacken, bei denen sich Zeigefinger neckisch
in zarte Körperseiten bohren.
Blitzschnell und unbewusst ist die Reaktion auf derartige Übergriffe. In kaum
kontrollierbaren Spasmen windet sich der
Gekitzelte. Zwerchfell und Eingeweide wogen im Schüttelkrampf. Ein Stakkato glucksenden Juchzens entweicht der Kehle. Erst
kürzlich konnten britische Wissenschaftler
nachweisen, dass diese Reaktion reflexartig abläuft. Gleichzeitig fanden sie heraus, warum es nicht zum Lachen ist, sich
selbst zu kitzeln.
Die Forscher schnallten als kitzelig eingestufte Probanden auf eine Liege, reizten
Liebespaar beim Kitzeln
Trainingsprogramm für den Zweikampf?
le Komponente. „Kitzeln gehört zu den
ersten Verhaltensweisen, die Mutter und
Kind aneinander binden“, sagt etwa Kitzelforscher Provine. „Und es ist ein wichtiger Teil der körperlichen Liebe.“
Sex und Kitzeln, Lust und Qual – spätestens seit Marquis de Sades Empfehlungen zur Sexualpraktik liegen sie nah beieinander. Die Internet-Seite „Joys of Abrasion“ („Freuden des Abriebs“) etwa
empfiehlt, die „Schleifmaschine in der
Garage“ zu lassen, weil es mit dem Kitzeln
eine „wesentlich effektivere Methode
gebe, den Partner zu erregen“. Und Michael Treasure vom „Leather Archives &
Museum“ in Chicago führt Interessenten
gern durch eine Sammlung von „Objekten und Strukturen zum Stimulieren der
Haut“.
Bestätigung für die Theorie des sozialen
Kitzelns zieht Lach-Experte Provine auch
aus Versuchen mit Schimpansen, die er im
Dienst der Forschung zu fröhlichem Gelächter („ein hechelndes Geräusch“) animierte. „Affen sind ganz groß im Kitzeln“,
berichtet Provine. Zusammen mit anderen
Formen des Spiels wie Fangen oder Ringen
werde beim Kitzeln das Sozialverhalten
trainiert. Auch beim Menschen seien es fast
immer „Partner, Freunde und Verwandte“,
die sich kitzelten. „Man kitzelt nur, wen
man liebt“, will der Psychologe beobachtet haben.
Mit einer Umfrage hat Provine auch versucht, seine These zu belegen. 70 Prozent
der Befragten bestätigten, dass „andere
mich kitzeln, weil sie Zuneigung zeigen
wollen“. 64 Prozent allerdings beschrieben Kitzeln als oftmals unangenehm. Die
Hälfte der Befragten erklärte gar, dass Kitzeln darauf ziele, andere zu ärgern.
Dieser Widerspruch ist es, der die Forscher am meisten verwirrt. Obwohl auf
Kitzeln oft fröhliches Kichern folgt, entdecken Generationen von Kindern immer
wieder neu, wie sie ihre Spielkameraden
mit gut organisierten Kitzel-Attacken martern können. Im Mittelalter wurde der tätliche Angriff auf die Lachmuskeln sogar
als Folter angewandt: Die gefesselten Füße
wurden mit Salz bestreut, das eine Ziege
sodann aufleckte. So mancher Unglückselige musste sich zu Tode lachen.
„Viele Menschen sind davon überzeugt,
dass andere es toll finden, gekitzelt zu werden“, sagt die Psychologin Christine Harris von der University of California in San
Diego. Bei den meisten löse Kitzeln jedoch
sehr zwiespältige Gefühle aus. „Anhaltendes Kitzeln kann äußerst qualvoll sein“,
sagt Harris und bekennt: „Ich hasse es,
gekitzelt zu werden.“
Die Forscherin glaubt, dass die widersprüchlichen Gefühle beim Kitzeln Teil eines angeborenen Trainingsprogramms sein
könnten, das den Menschen für den Zweikampf mit wilden Tieren oder mordlüsternen Artgenossen stählen soll: „Kitzelig sind
vor allem solche Stellen des Körpers, die
auch verwundbar sind.“
Das unangenehme Gefühl beim Kitzeln,
argumentiert Harris, ermutige Kinder
dazu, sich selbst zu verteidigen. Weil die
Kleinen dabei aber zugleich so vergnügt
lachten, würden die Eltern darin bestärkt,
immer weiter zu kitzeln – so werde der
Lerneffekt optimiert.
Mit der Theorie vom frühkindlichen
Nahkampftraining ließe sich auch erklären,
weshalb die stärker im Zweikampf engagierten Männer kitzeliger sind als Frauen.
Die Anzahl der Rezeptoren, die in der
Haut den Kitzel-Reiz registrieren, sei allerdings bei allen Menschen fast gleich, betont der Physiologe Robert Foreman von
der University of Oklahoma.
Für besonders empfindliche Gemüter,
die schon beim Gedanken ans Kitzeln in
„hilfloses Gekicher“ verfallen, hat Foreman deshalb nur eine Empfehlung parat:
„Willensstärke“.
Philip Bethge
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S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street,
San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530
S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel.
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T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku,
Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957
WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau,
Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474
WA S H I N G T O N Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National
Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax
3473194
W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431)
5331732, Fax 5331732-10
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Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes
Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle,
Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch,
Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac,
Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp,
Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier,
Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen,
Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp,
Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel,
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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea
Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja
Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm,
Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel,
Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle,
Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop,
Karl-Henning Windelbandt
B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles
I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke
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Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms
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Chronik
SAMSTAG, 18. 9.
18. bis 24. September
SPIEGEL TV
MONTAG, 20. 9.
MONTAG
0.05 – 0.35 UHR SAT 1
KAUKASUS Zum Kampf gegen islamische
BEFRIEDUNG In Osttimor landen die
Rebellen, mutmaßlich verantwortlich
für Bombenanschläge in Russlands
Großstädten, verschanzen sich russische
Truppen in Tschetschenien.
ersten Einheiten der australischen UnoFriedenstruppen.
MILITÄR In Stettin formiert sich ein
multinationales Corps dänischer,
polnischer und deutscher Soldaten;
militärische Ausrichtung: „gegen
niemanden“.
SONNTAG, 19. 9.
SCHLAPPE In Sachsen holt sich
die SPD innerhalb von zwei Wochen die
fünfte Abfuhr bei Landtags- und
Kommunalwahlen. „König Kurt“ Biedenkopf sichert der CDU mit 56,9
Prozent der Stimmen die absolute
Mehrheit im Landtag, die PDS wird zur
zweitstärksten Fraktion (22,2 Prozent),
und die SPD kommt auf nur
noch 10,7 Prozent – ein historischer
Tiefstand.
PROTEST Mit Tränengas und Wasserwer-
fern bekämpft die malaysische Polizei
vor der Nationalen Moschee in Kuala
Lumpur 10 000 demonstrierende Anhänger des inhaftierten Oppositionspolitikers
Anwar Ibrahim.
KATASTROPHEN In Taiwan bebt innerhalb
von 29 Minuten fünfmal die Erde; bei
Richterskalawerten bis zu 7,6 kommen
mehr als 2000 Menschen zu Tode, über
8000 werden verletzt.
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Unterm Rotlicht –
St. Pauli bei Tag und bei Nacht
Die Stripperin in der Nachtbar und der
Polizist von der Davidwache, der Arzt
im Hafenkrankenhaus und die Prosti-
DIENSTAG, 21. 9.
BESUCHER Israels Ministerpräsident
Ehud Barak betritt als erster ausländischer Staatsgast das Berliner Bundeskanzleramt.
RENTEN Arbeitsminister Riester will
Geringverdienenden die private
Altersvorsorge mit einer Sparzulage
erleichtern.
DICHTER Literaturkritiker küren
Gottfried Benn zum deutschsprachigen
Top-Lyriker des Jahrhunderts, auf
den Plätzen: Paul Celan, Bertolt Brecht
und Rainer Rilke.
MITTWOCH, 22. 9.
REFORM Vor der Uno-Vollversammlung
fordert Außenminister Joschka Fischer,
im Sicherheitsrat das Vetorecht einzuschränken, um die Durchführung von Uno-Aktionen zu
beschleunigen.
ÄRZTE Gesundheitsministerin
Andrea Fischer wirft den
Kassenärzten Politikunfähigkeit vor und bricht den
Dialog über die Gesundheitsreform ab.
Kiez in Hamburg
ACTION PRESS
tuierte, der Koberer vor dem Sexclub
und der Imbissbudenpächter: Sie alle
leben und arbeiten im größten Rotlichtviertel der Republik. Eine Reportage
über Menschenschicksale in HamburgSt. Pauli.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Der Alptraumjob – unterwegs mit
deutschen Fernfahrern in Europa
Scharfe Kontrollen erwarten die BrummiFahrer auf deutschen Autobahnen: Etwa
130 Inspekteure des Bundesamtes für
Güterverkehr führen täglich Untersuchungen über Lenk- und Ruhezeiten
durch. Eine Reportage über die Last mit
den Lastern.
DONNERSTAG, 23. 9.
RAUMSONDEN Der erste inter-
planetarische Wettersatellit erreicht den Planeten Mars –
dann bricht der Funkkontakt
ab.
PARTEIEN Führende Politiker
der Bündnisgrünen drohen mit
einem Ausstieg aus der Regierung.
FREITAG, 24. 9.
SYGMA
BENZIN Für süddeutsche
Matchpoint für
die Tennisspieler
Steffi Graf und Andre
Agassi: Während
einer Boxgala in Las
Vegas gaben sich die
beiden Sport-Stars
erstmal in der Öffentlichkeit einen Kuss.
Autofahrer lohnt sich die Tankfahrt nach Österreich oder in
die Schweiz, wo der Preis
pro Liter um bis zu 28 Pfennig
niedriger ist.
KIRCHE Die katholischen
Bischöfe können sich nicht auf
einen gemeinsamen Kurs im
Streit um die Konfliktberatung
für Schwangere einigen.
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SAMSTAG
22.00 – 23.05 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
Das Überlebens-Paket –
die Ausbildung deutscher Tornado-Piloten
Vier Millionen Mark investiert das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik pro Pilot, um ihn für das Leben
zwischen Tod und Überschall zu drillen. In der Jetpiloten-Schmiede in Sheppard, mitten in der texanischen Wüste,
bringen Ausbilder der US-Luftwaffe
den Aspiranten aus Germany das Fliegen bei.
SONNTAG
RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Die Sendung entfällt wegen der LiveÜbertragung der Mediengala zur Verleihung des Deutschen Fernsehpreises.
329
geistreicher Buchautor,
humorvoller Kolumnist
und amüsanter Plauderer. Stets hielt er sich
an sein erstes Gebot:
Die Kurse müssen
langfristig steigen, weil
es an der Börse „mehr
Dummköpfe als Papiere gibt“. Er selbst sammelte Aktien, vor allem US-Blue-Chips, wie andere Briefmarken. Seine Witwe Françoise wird einige
Zeit brauchen, das Sammelsurium seiner
Depots mit mehr als 500 verschiedenen
Titeln zu ordnen. André Kostolany starb
am 14. September in Paris.
Gestorben
Willy Millowitsch, 90. Das gleichnamige
Volkstheater existiert seit 1895 in Köln, und
sein nachmaliger Besitzer herrschte hier
als Prinzipal fast sechs Jahrzehnte lang.
Subventionen hat es nie für Millowitsch gegeben, abgesehen von ein paar Aufbauhilfen durch den Kölner Oberbürgermeister
Konrad Adenauer unmittelbar nach Kriegsende – „dat de Leute wieder wat zu lachen
haben“. 1953 flimmerte aus dem 1000-Plät-
ze-Haus mit dem Militärschwank „Der
Etappenhase“ die erste TV-Originalübertragung eines Theaterstücks in deutsche
Wohnzimmer. Frühe Fernsehgewaltige riefen „Kulturschande“, aber Millowitsch war
ein Straßenfeger (heute: Quotenkönig), der
es auf Sehbeteiligungen bis zu 90 Prozent
brachte. Der begnadete Charakterkomiker
mit der oft überbordenden Gestik, der im
wahren Leben auch gerne den Mürrischen
gab, spielte in mehr als hundert Fernsehstücken und Kinofilmen mit, ab und an
stand er auch auf seriöser Bühne. Wenn
Millowitsch, der Kölscheste aller Kölschen,
zu Karnevalszeiten das Beicht-Liedchen
„Wir sind alle kleine Sünderlein“ anstimmte, sangen selbst abgedrehte HipHopper
mit.Willy Millowitsch starb letzten Montag
in seiner Heimatstadt an Herzschwäche.
André Kostolany, 93. Als „Börsenguru“
haben ihn seine Fans verehrt. Doch konkrete Tipps hat ihnen „Kosto“ nie gegeben. Als „Spekulant“ ließ er sich feiern.
Aber gezockt hat der pfiffige Alte schon
lange nicht mehr. Eigentlich wollte der Ungar lieber Pianist oder Komponist werden.
Der Vater, ein Budapester Schnapsfabrikant, schickte den Jüngling jedoch zu einem befreundeten Börsenmakler nach Paris in die Lehre. Die schillernde Welt der
Aktienzocker und Finanzhaie ließ ihn nie
wieder los. 1941 floh der Kosmopolit mit jüdischen Vorfahren vor den Nazis in die
USA, 1948 war der Börsianer wieder da.
Schon bald machte er sich einen Namen als
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te er, in Hollywood und am Broadway abgeblitzt, das Trinken angefangen, als der
Chef des New Yorker Shakespeare-Festivals
ihm die Titelrolle in ,,Richard III“ anbot.
Von da an ging’s bergauf. Vom verknöcherten Geizhals Scrooge aus Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ bis zum durchgeknallten
General Turgidson in Kubricks „Dr. Seltsam“ – stets waren es die anspruchsvolleren
Rollen, die Scott auf der Bühne, im Fernsehen und in über 30 Kinofilmen verkörperte. Das Publikum verehrte ihn; zahlreiche
Kritikerpreise folgten. Sein Groll gegen das
Hollywood-Establishment aber blieb:
Als ihm 1971 für seine Darstellung des
kantigen Weltkrieg-IIGenerals Patton der
„Oscar“ verliehen
werden sollte, verweigerte er die Annahme.
Die Auszeichnung sei
„bedeutungslos“, beschied er die Bosse,
die Zeremonie eine würdelose „Fleischbeschau“. George C. Scott starb am
vergangenen Mittwoch in seinem Haus
nahe Los Angeles.
AP
WDR
George C. Scott, 71. In jungen Jahren hat-
Urt ei l
Friedel Balsam, 57, Gründer des westfälischen Sportbodenherstellers Balsam, wurde
am vergangenen Montag vom Landgericht
Bielefeld zu acht Jahren Haft verurteilt. Nach
dreieinhalbjähriger Verhandlungszeit sah es
das Gericht als erwiesen an, dass Balsam
zusammen mit seinem inzwischen untergetauchten Finanzchef Klaus Schlienkamp
45 Banken durch Luftgeschäfte und falsche
Rechnungen um mehr als 1,3 Milliarden
Mark geschädigt hat. Anders als Schlienkamp, der während der Untersuchungshaft
ein 230 Seiten umfassendes Geständnis unter dem Titel „Das Milliardengrab“ verfasste (SPIEGEL 17/1996), hatte Balsam bis zum
Schluss jede Schuld abgestritten.
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M. DARCHINGER
Register
Werbeseite
Werbeseite
Ehepaare Lafontaine, Strauss-Kahn/Sinclair
und ehemaliger Vorsitzender der SPD, wird
in Frankreich auch nach seinem Rücktritt
noch hoch geschätzt. Kein Geheimnis
macht der französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, 50, daraus, dass er
sich in Begleitung seiner Frau Anne Sinclair, 51, mit dem Ehepaar Lafontaine zu einem privaten Mittagessen traf, während
zwischen den beiden Regierungen das
große Schweigen herrscht. Das Magazin
„Paris Match“ druckte von diesem Treffen
ein Foto über eineinhalb Seiten. „Unentwegt“, so das Blatt, „webt der Finanzminister am Band der sozialdemokratischen
Freundschaften“. Die Gesprächsthemen bei
den Begegnungen mit Gleichgesinnten stehen unter dem Leitmotiv: „Wir dürfen unser sozialistisches Erbe, das die Solidarität
und den gesellschaftlichen Zusammenhang
betont, nicht unter den Tisch kehren. Mehr
Markt verlangt mehr Regulierung.“ Das
heißt mehr Staat. Es gehe, so das Magazin,
um „einen Diskurs, der gegen die ,andere‘
europäische Linke gerichtet ist, verkörpert
von den Strauss-Kahn feindlich gesinnten
Brüdern: Blair und Schröder“.
Edelgard
Bulmahn, 48, Bundesfor-
schungsministerin, weiß auch aus ChauviSprüchen das Beste zu machen. Die Politikerin, untergebracht im denkmalgeschützten Gebäude der ehemaligen Ständigen
Vertretung in Berlin, das mit recht muffig
riechendem Mobiliar aus den siebziger Jahren ausgestattet ist, geht schon mal zum
Luftschnappen ein Stockwerk höher. Dabei
stieß sie jüngst auf einen Tischler, der an
332
der Treppe werkelte. Ob er sie bitte vorbeilassen würde? Der junge Mann, so erinnert sich die Ministerin, musterte die Fragende von oben bis unten: „Aber immer
doch. Für so eine junge, gut aussehende
Frau unterbreche ich doch gerne mal mei-
Rena Mero, 30, unter dem Namen „Sable“
F. OSSENBRINK
Oskar Lafontaine, 56, Ex-Finanzminister
Mathieu oder Catherine Deneuve – als
Gipsbüste der nationalen „Marianne“ in
den Hallen der „Hôtel de ville“ platziert
wird. Dem Chef des Camembert-Geburtsorts („seit 1791“) stinkt es, dass die auf die
Französische Revolution von 1789 zurückgehende Galionsfigur der Republik „wie
eine Schaufensterpuppe“ ständig ausgewechselt wird („kein Camembert-Logo
wird laufend verändert“) und dass die
Funktionäre des Bürgermeisterverbandes eigenmächtig nur sechs Kandidatinnen ihres Geschmacks angeboten haben.
Gaubert plädiert für eine PuppenMarianne, die der
„Figaro“-Karikaturist
Jacques Faizant, selbst
eine nationale Institution, 1986 entworfen hat. Die putzige
Gips-Französin erhielt schon bei der
Geburt ihre höchste
Weihe: Der verstorbene Staatspräsident
François Mitterrand,
lange Bürgermeister
von Château-Chinon
an der Loire, ließ sie
zu seinen Lebzeiten
als einzige Marianne- Chirac, Marianne
Variante ins Mitterrand-Museum stellen; und auch der jetzige Staatspräsident Jacques Chirac, 66,
hatte noch vor seinem Amtsantritt 1995
keine Einwände gegen einen Fototermin
gemeinsam mit Faizants Marianne.
N. ALAIN / SYGMA
PARIS MATCH
Personalien
Bulmahn
ne Arbeit.“ Bulmahn interpretierte die Anmache flugs um in eine regierungsfreundliche Äußerung: „Endlich mal einer, der es
zu schätzen weiß, was wir für das Handwerk tun.“
Jean Gaubert, 62, Bürgermeister des westfranzösischen Käse-Dorfs Camembert,
bringt mit einer Revolte gegen institutionalisierte Covergirls wie die Schauspielerin
Laetitia Casta oder die TV-Moderatorin
Estelle Hallyday das für den 23. November
angesetzte Marianne-Fest in die Bredouille. Bis dahin sollen rund 36 000 französische Rathauschefs eine Mademoiselle
küren, die – Nachfolgerin von feschen
Französinnen wie Brigitte Bardot, Mireille
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berühmte Schau-Ringerin, steht im Mittelpunkt eines Rechtsstreits. Die World Wrestling Federation (WWF) beansprucht in einer
beim Bundesgericht in Manhattan eingereichten Klage gegen das US-Herrenmagazin „Playboy“ die Rechte an dem Künstlernamen „Sable“. Grund der Klage: Das Magazin plant ein Heft, das ausschließlich der
mehr oder weniger verhüllten Rena Mero gewidmet ist, mit dem Titel: „Playboy’s Wrestling Superstar. Die Frau, die Sie als ,Sable‘ im
Naturzustand liebten“. Als „Sable“ war Mero
der weibliche Champion der WWF und eine
Figur mit ganz speziellen Eigenschaften, die
sich die Wrestler-Organisatoren ausgedacht hatten:
eine „heiße Verführerin“ in
eng sitzendem Overall, die
ihre „Hüften und ihren Körper in einer äußerst aufreizenden Manier zu bewegen
hatte“. Kurzum, „Sable“
war eine Erfindung der
WWF und somit deren
„geistiges Eigentum“, so die
Mero als „Sable“ Klageschrift. Deshalb er-
ein Einsatzleiter-Fahrzeug, zwei Polizisten
wurden als Eskorte abkommandiert und
Naumann und die Seinen bis zum Eingang
des Kanzleramts geleitet.
Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, erfreute sich gemeinsam mit seinem Duzfreund, dem polnischen Staatspräsidenten
Aleksander Kwaśniewski, 44, an einem
Fotoalbum. Das hatte der Pole am vergangenen Mittwoch nach Berlin mitgebracht
zu einem 20-minütigen Meinungsaustausch
in kleinster Runde. Inhalt des Albums: Fo-
F. OSSENBRINK
Michael Naumann, 57, Staatsminister für
Kultur und Ex-Verleger, ist im neuen Amt
Frust gewohnt. Doch was ihm am vergangenen Dienstag vor dem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Barak widerfuhr, wäre auch für duldsamere Gemüter
eine Prüfung gewesen. Dem Staatsminister
wurde auf dem Weg ins Kanzleramt am
Schlossplatz von Berliner Polizei der
Durchgang verwehrt, schließlich sollte im
Laufe des späteren Nachmittags der Hubschrauber mit dem hohen Besucher landen. Naumann, im Umgang mit Vertretern
der Obrigkeit noch aus heißen Studententagen erfahren, zückte sogleich seinen
Dienstausweis. Doch die Polizisten blieben
unbeeindruckt. Auch die Bemerkung einer
Naumann-Begleiterin: „Lesen Sie keine
Zeitung?“, die das Verhältnis von unten
und oben wieder herstellen sollte, ließ die
Beamten kalt. Schließlich gab sich Naumann listig: „Begleiten Sie mich in mein
Büro, dann sehen Sie ja, dass wir da keine
Bomben legen wollen.“ Da näherte sich
Kwa śniewski (l.), Schröder (r.), Mitarbeiter
ACTION PRESS
tos von den Treffen der beiden Politiker in
den vergangenen zwei Jahren. Gastgeber
und Besucher vertieften sich in den Anblick der Bilder und gerieten ins Schwärmen, auf Englisch und auf Deutsch. Schröder: „Eins muss man euch lassen in Polen:
Tolle Frauen habt ihr da.“ Kwaśniewski
gab das Kompliment höchst angeregt zurück: „Aber schau an deine Seite. Tolle
Frauen auch in Deutschland.“ Bei der Betrachtung der letzten Seiten des Albums
kam der Kanzler um die Einsicht nicht herum: „Aber so ein Mist. Da sieht man mal,
wie wir älter geworden sind.“
Mero
wartet die WWF vom Gericht, dass es dem
„Playboy“ untersagt, die Handelsmarke
„Sable“ für eine Nacktfotostrecke zu benutzen. Einer der WWF-Juristen brachte es auf
den Punkt: Wenn der „Playboy“ „Sable“Nacktfotos veröffentlicht, sei das nichts anderes, als wenn die WWF für sich mit dem
„,Playboy‘-Bunny Werbung machte“. Rena
Mero hat sich übrigens bereits im Juni von
der WWF getrennt wegen angeblicher sexueller Belästigung und Vertragsbruch.
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Karsten Voigt, 58, Amerika-Koordinator
im Auswärtigen Amt, bekam es dieser Tage
mit Spätfolgen der deutschen Wiedervereinigung zu tun. Auf seinem Schreibtisch in
Berlin landete ein Telegramm, das sein
Amtsvorgänger Werner Weidenfeld 1991
an einen Empfänger in Dresden geschickt
hatte. Inhalt: Eine Einladung zu einer Podiumsdiskussion. Aus den diversen Aufklebern und handschriftlichen Vermerken
von Zustellern versuchte Voigt das Schicksal des Irrläufers zu rekonstruieren. In
Dresden war am Tag nach der Versendung
in Bonn ein Zusteller erfolglos: „Name
nicht an Klingeln. Klingeln im Haus erfolglos.“ Ein zweiter Zusteller schließlich
gab mit knapper Notiz alle Mühen auf:
„Empf. unb. 17. 8. 91“, meldet der letzte
Vermerk aus Dresden. Wo das Telegramm
acht Jahre lang verschwand, bevor es nun
wieder per normaler Briefzustellung in der
Bonner Außenstelle des Auswärtigen
Amtes landete, ist nicht ganz klar. Voigt
sinniert nun über das Tempo der deutschen Vereinigung: „Gute Dinge brauchen
manchmal länger.“
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Zitate
Aus der „Bild“-Zeitung
Aus der „Neuen Ruhr-Zeitung“
Aus der „Westdeutschen Zeitung“: „Für
Heinrich Stang war selbst das heimische
Mettmann kein gutes Pflaster, denn auch
hier kam er nicht über 40 Prozent,
während Oberkreisdirektor Robert Wirtz,
ebenfalls Mettmanner, hier doch deutlich
im zweistelligen Bereich ankam.“
Aus der „Zeit“
Aus der „Freizeit Revue“
Aus der „Landeszeitung“ für die Lüneburger Heide
Aus der „Badischen Zeitung“: „Jackson
Pollock wurde Maler und Held und das
schon zu Lebzeiten. Sein früher Tod gab
ihm den Rest: Ein Mythos entstand aus
Kaltem Krieg und freiem Westen, aus Spätmoderne und einer Kunst, die sich zum ersten Mal ,spezifisch amerikanisch‘ nennen
durfte.“
Aus dem „Südhessen Morgen“
Aus dem „Badischen Tagblatt“: „… alle Beziehungen zwischen China und Taiwan, das
sich 1949 vom Festland löste, werden von
politischen Hintergedanken bestimmt.“
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Die „Stuttgarter Zeitung“ zum
SPIEGEL-Gespräch mit dem
designierten SPD-Generalsekretär Franz
Müntefering über die Krise seiner Partei
„Wir sind umgekegelt“ (Nr. 38/1999):
Franz Müntefering ist ein Mann, der kaum
etwas dem Zufall überlässt. So dürfte es
auch kaltes Kalkül sein, dass er ausgerechnet zu Beginn dieser Woche, in der er im
Berliner Willy-Brandt-Haus die Macht übernommen hat, im SPIEGEL mit dicken Pinselstrichen sein öffentliches Bild noch einmal konturierte: „Ich bin Volksschüler, und
man hat dann eine bestimmte einfache Art,
zu sprechen und sich zu bewegen“, gab der
Mann dort zu Protokoll, der einmal von sich
selbst gesagt hat: „Ich kann nur kurze Sätze.“
Die „taz“ zur SPIEGEL-Meldung
„Panorama – Berichte für Pieroth“
(Nr. 36/1999), wonach Elmar Pieroth
Wohnzimmergespräche initiierte,
bei denen West-Politiker und Prominente
Ost-Berlinern in deren Wohnungen
begegneten und anschließend darüber
Berichte abfassten.
Die umworbenen Multiplikatoren im Osten
sind über die Enthüllung wenig amüsiert.
„Das liest sich wie meine Stasi-Akte“,
empörte sich einer der Besuchten. Um
„Rückkopplung“ sei es gegangen, redet
sich Pieroth nun heraus. Als ob das eine
Entschuldigung wäre. Um nichts anderes
als eine „Rückkopplung“ zwischen SEDParolen und dem real existierenden Volk
ging es doch schon Mielkes Mannen.
Der SPIEGEL berichtete …
… in Nr. 23/1999 „Rechtsextremisten –
Angriff der Phantompartei“ über die
dubiose Kandidatenaufstellung der
DVU zur Landtagswahl in Brandenburg.
Zwei Wochen nach der Wahl ist in Brandenburg ein Streit darüber ausgebrochen,
ob die DVU zur Wahl zugelassen werden
durfte und ob die Wähler wegen der ominösen Kandidatenaufstellung erneut an die
Urnen gerufen werden müssen. Die DVU
hatte knapp die Fünf-Prozent-Hürde geschafft. Kritisiert wird vor allem Landeswahlleiter Arend Steenken, der die DVUAnmeldung angenommen hatte. Ihm seien
keine Verstöße gegen das Wahlgesetz bekannt gewesen, rechtfertigt er sich. Verfassungsschutzchef Hasso Lieber verweist hingegen auf den SPIEGEL-Bericht vom Juni,
dessen Darstellung er bestätigte und den
jeder hätte lesen können. Den SPIEGEL, so
die Ausflucht Steenkens, habe er nicht gelesen. Juristen sehen allerdings kaum Chancen für eine Wahlwiederholung.
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