DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 39
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 39
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 27. September 1999 Betr.: Serie, Kaukasus, Liebe, SPIEGEL Spezial V or zehn Jahren begann sich die DDR von innen her aufzulösen, um wenig später ganz zu verschwinden. Besonders dramatisch waren jene 100 Tage, die zwischen dem mutigen Schnitt durch den Eisernen Vorhang an der ungarischen Grenze und der Öffnung des Brandenburger Tors lagen. 20 SPIEGEL- und SPIEGEL-TV-Redakteure haben noch einmal recherchiert, Geheimdienstdossiers studiert, Augenzeugen befragt und Regierungsakten gesichtet. So lässt sich der Niedergang des SED-Staates nun fast minutiös rekonstruieren. „Die Geschichte der Einigung muss nicht neu geschrieben werden“, sagt Autor Jochen Bölsche, 54, „aber viele spannende Geschichten dahinter lassen sich erst jetzt erzählen.“ Die 13-teilige SPIEGEL-Serie „100 Tage im Herbst“ beginnt in diesem Heft (Seite 52). D er Amtssitz von Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow ist gesichert wie eine Festung: Schwer bewaffnete Männer stehen auf dem Hof, vor den Stahltüren und im Vorzimmer des Politikers. Seit russische Streitkräfte Ortschaften in der Nähe der Hauptstadt Grosny bombardieren, sind die Sicherheitsvorkehrungen weiter verschärft worden. „Es gibt ja nicht mehr viele, die sich hierher wagen“, begrüßte Maschadow SPIEGEL-Korrespondent Jörg R. Mettke, 56, vergangenen Donnerstag zum Gespräch. Der Journalist war über die benachbarte Kaukasusrepublik Inguschien eingereist. Nach dem Willen Moskaus sollte dies gar nicht mehr möglich sein. „Wieder mal eine ausländische Geisel?“, fragten die Grenzer scherzend Mettkes tschetschenischen Begleiter. Dann durfte er passieren (Seite 216). F. SCHUMANN / DER SPIEGEL R Beyer, Knöfel egelmäßige Eifersuchtsschübe und Dauersehnsucht, darüber klagen viele Regierungsbeamte, die nach Berlin gezogen sind und ihre Liebe in Bonn zurücklassen mussten. Doch auch in anderen Berufsgruppen sind solche bitteren Seelenzustände verbreitet – wer heute Karriere machen will, kann seine Koffer packen: Mancher Arbeitgeber verlangt weltweite Mobilität, Fernbeziehungen entwickeln sich zu einer Lebensform der Zukunft. Die SPIEGEL-Redakteurinnen Susanne Beyer, 30, und Ulrike Knöfel, 30, haben sich unter Liebes-Nomaden umgehört. Beide sammelten selbst Erfahrungen mit Fernbeziehungen. „Nicht alles daran ist schlecht“, sagt Beyer, „solche Partnerschaften bleiben jedenfalls aufregend“ (Seite 174). A uch der Literaturbetrieb kommt am Internet nicht vorbei. Herstellung und Vertrieb von Büchern werden zunehmend digital abgewickelt, wer will, kann Kafka auf seinen Handcomputer laden. „Die Zukunft des Lesens“ ist anlässlich der Frankfurter Buchmesse Titelthema im neuen SPIEGEL Spezial. Außerdem im Heft: das neue Zentrum der Popszene in Malmö, die Erlebnisse eines Verfassungsschutz-Spitzels und Mozart an den Ufern des Amazonas. SPIEGEL Spezial, das Reportage-Magazin, ist von Dienstag an im Handel. Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Titel Philosophenstreit über die Menschenzucht........ 300 Die Provokationen des Peter Sloterdijk ............. 302 Angriffe auf den linksliberalen Mainstream – die Intellektuellendebatten der letzten Jahre..... 306 Interview mit dem Philosophen und Bio-Ethiker Ludger Honnefelder über Moral und Naturwissenschaften ......................... 317 Endzeit-Angst bei den Grünen SPIEGEL-Essay A. VOELKEL / MELDEPRESS Peter Glotz: Digitaler Kapitalismus ..................... 82 Deutschland 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates: Jochen Bölsche über den Untergang der DDR .. 52 „Wir wollen raus“ – Massenprotest und Massenflucht ..................... 61 Porträt: Bärbel Bohley und das Neue Forum .. 78 Wirtschaft Trends: Mannesmann und Thyssen/Krupp planen Milliardendeal / Banken wollen samstags öffnen .. 115 Geld: Angst vorm Herbst-Crash / Attraktive Baustoff-Aktien ................................. 117 Affären: Wie die WestLB seit Jahren Milliarden am deutschen Fiskus vorbeischleust ................... 118 Steuern: Erben im Visier der Finanzpolitik ....... 120 Autoindustrie: Managerkrieg bei DaimlerChrysler................................................... 126 Schulden: Berater als Abzocker........................ 130 Erdöl: Die neue Macht des Opec-Kartells .......... 132 Spekulation: Interview mit drei Daytradern über Börse und Geldgier.................................... 134 Elf Aquitaine: Die dubiose Vermittlerrolle des Dieter Holzer............................................... 138 Internet: Erfinder ohne Fortune........................ 142 Medien Gunda Röstel, Fischer Der Staat will mehr vom Erbe PDS: Annäherung an die CDU? Seite 106 In Thüringen und Sachsen hat die PDS die Sozialdemokraten als führende Oppositionspartei überrundet. Doch die Freude der Postkommunisten hält sich in Grenzen: Die Schwäche der SPD rückt weitere rot-rote Regierungen in weite Ferne. Manche PDS-Vordenker spekulieren gar auf Bündnisse mit der CDU. Herr der Cyberwelten Seite 178 Der Japaner Shigeru Miyamoto, 46, ist der Star der Videospiel-Erfinder. Seine phantasievollen Geschöpfe wie der quirlige Klempner „Mario“ oder der jugendliche Held „Link“ im Märchenspiel „Zelda“ wurden zu Ikonen der Popkultur. Im SPIEGEL-Gespräch erzählt Miyamoto, wie er die opulenten Kunstwelten schuf, warnt vor Gewalt im Videospiel und verrät, wie lange seine Kinder vor dem Bildschirm hocken dürfen: „Zwei Stunden pro Tag sind das Maximum.“ M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE Gesellschaft 6 Seite 120 Eine gewaltige Umverteilung kommt in Gang: Die Eltern des Wirtschaftswunders treten ab und übertragen ein Billionen-Vermögen an die nächste Generation. Das Finanzamt geht heute fast leer aus. Das soll sich ändern: Der Reichtum von Vermögenden wie Gloria von Thurn und Taxis oder Michael Otto weckt die Begehrlichkeit der Politik. Rot-Grün plant die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Gloria von Thurn und Taxis, Unternehmer-Paar Otto Trends: Zeitung für Prostituierte / Interview mit Musikproduzent Dieter Bohlen ... 145 Fernsehen: Neues Gerichts-TV bei Sat 1 / Enttäuschende Quoten für Wigald Bonings Morgen-TV ........................................................ 146 Fernsehen: In Brasilien boomen Sex-Shows ..... 148 Musik-TV: Viva-Chef will an die Börse............... 154 Werbung: Gags für den Osten ............................ 160 Talkshows: Maybrit Illner, die neue Polit-Talkmoderatorin des ZDF.......................... 164 Szene: Mütterhaus im Internat / New Yorker Designer entwerfen Hautenges im Militär-Look ... 173 Partnerschaft: Wie Fernbeziehungen aufs Liebesleben wirken ............................................ 174 Computerspiele: SPIEGEL-Gespräch mit dem Videospiel-Designer Shigeru Miyamoto...... 178 Psychologie: Die Leiden vergewaltigter Frauen in den Balkan-Kriegen ........................... 184 Interview mit der Psychologin Edita Ostojiƒ über Hilfe für Opfer sexueller Gewalt................ 186 Unternehmer: Der Bierkrieg des BayernPrinzen Luitpold ................................................ 188 Schon denken grüne Abgeordnete darüber nach, wohin sie sich politisch retten sollen, wenn ihre Partei auch bei den nächsten Wahlen abstürzt. Joschka Fischer, heimlicher Parteichef und vorige Woche gefeierter Redner vor der Uno, kommt die Endzeit-Stimmung gelegen. Er will die Grünen auf seinen Kurs zwingen. Wichtigstes Ziel: Ablösung des Sprecherinnenduos Röstel/Radcke. FOTOS: M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE Panorama: Hochtief-Vorstand unter Betrugsverdacht / Prinz Charles backt für die Expo ........ 17 Regierung: Grüne in Untergangsstimmung......... 22 Kanzler: Die Last mit der Symbolik .................... 26 Außenpolitik: Schröder auf dem Balkan............. 27 Hauptstadt: Verkehrschaos im Regierungsviertel 28 SPD: SPIEGEL-Gespräch mit Ministerpräsident Wolfgang Clement über die Modernisierung seiner Partei ......................... 30 Kirche: Bischöfe in der Abtreibungsfrage ratlos ... 32 Finanzen: Zahlen für die ärmeren Länder?......... 36 Politisches Buch: Der Tagebuchschreiber Walther Leisler Kiep............................................ 44 Karrieren: Ex-Terroristin als Friedenshelferin..... 48 Strafjustiz: Der Fall Jenny.................................. 90 Senioren: Elektronische Fußfesseln für Heimbewohner .................................................... 94 Aids: Richter wollen ärztliche Schweigepflicht einschränken ....................................................... 98 Umwelt: Allergien durch Geflügelfabriken? ...... 100 Wahlen: Der unaufhaltsame Aufstieg der PDS im Osten .................................................... 106 Blindgänger: Bedrohliche Monsterbomben....... 112 Seite 22 Miyamoto-Figur „Link“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 FOTOS: AP (gr.); REUTERS ( kl.) Ausland Tiananmen-Platz in Peking, Autopräsentation Panorama: Schlag gegen Hamas / Hofer wartet auf das Urteil in Teheran............... 191 China: Die KP feiert sich selbst ......................... 194 Taiwan: Tigerstaat mit wackligem Fundament... 204 Italien: Andreotti und die Mafia........................ 206 Indonesien: Tragödie in Osttimor ..................... 210 Interview mit Präsidenten-Beraterin Dewi......... 214 Kaukasus: SPIEGEL-Gespräch mit Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow über den Konflikt mit Russland.......................... 216 Europa: Kompetenz-Chaos in der EU-Außenpolitik................................................ 220 Nachruf: Raissa Gorbatschowa .......................... 222 Venezuela: Ein Fallschirmspringer räumt auf.... 224 Island: Kampf um grüne Energie ...................... 230 USA: Jobwunder macht die Armen ärmer ......... 234 Sport Stars: SPIEGEL-Gespräch mit der Eisschnellläuferin Franziska Schenk .................. 242 Fußball: Deutsch-polnischer Grenzverkehr ....... 247 Gleichberechtigung: US-Synchronschwimmer darf nicht zu den Olympischen Spielen.............. 251 Spiegel des 20. Jahrhunderts 50 Jahre Sozialismus in China Seite 194 Statt auf Maos Sozialutopie, die Millionen Tote kostete, setzen die Erben des Großen Steuermanns auf Marktwirtschaft und Nationalismus. Die KP, die jetzt den 50. Jahrestag ihrer Revolution feiert, träumt von der Weltmacht – doch die Grundlagen ihrer Herrschaft bröckeln. Die Chinesen nehmen sich neue Freiheiten. Die Steuertricks der WestLB Seite 120 Seit Jahren schleust die Westdeutsche Landesbank (WestLB) Milliarden über diverse Londoner Fondsgesellschaften am deutschen Fiskus vorbei. Dem Staat entgehen Einnahmen aus Gewerbe- und Körperschaftsteuer in Millionenhöhe. Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Traumfabrik Hollywood .......................... 255 Kultur Szene: Rückkehr des Traumpaares Julia Roberts und Richard Gere ins Kino / Thomas Manns „Doktor Faustus“ als Theaterstück .................... 267 Musikbetrieb: Die Nebengeschäfte der Berliner Philharmoniker .................................... 270 Kunst: Eine Karlsruher Ausstellung zeigt, was Künstlern zum Internet einfällt ................... 274 Literatur: Barbara Gowdys Elefanten-Roman „Der weiße Knochen“ ....................................... 276 Autoren: Frank McCourts weltweiter Erfolg ..... 278 Bestseller ......................................................... 284 Film: Sebastian Schippers „Absolute Giganten“.. 286 Klassiker: Unbekannter Brief Friedrich Hölderlins aufgetaucht........................ 288 Auszüge aus dem Brief des Dichters .................. 288 Pop: Das Comeback des Countrysängers Kris Kristofferson............................................... 294 Wissenschaft + Technik Rücktritt auf Probe Seite 242 N. BAUMGARTL / BILDERBERG Schön, schnell und gescheit: Franziska Schenk verdankt ihre Popularität nicht nur dem sportlichen Erfolg, sondern auch ausgefallenen Werbekampagnen. Als Interviewgast bei Talkshows war die Eisschnellläuferin ein gefragter Star. Nun gönnt sie sich erst mal ein Jahr Pause und versucht sich als TVModeratorin: „Ich will Schenk mich ausprobieren.“ Prisma: Zwangsbremsung von Pkw per Computer / Japanisches Superteleskop auf Hawaii ......................................................... 297 Prisma Computer: Roboterbaukasten von Lego / Körper-Kopien als Kunstobjekte ............. 298 Anthropologie: Der Urmenschen-Forscher Ron Clarke – Meister im Knochenpuzzle........... 320 Automobile: Nachbesserungen an der S-Klasse von Mercedes ..................................................... 324 Verhaltensforschung: Warum lacht der Mensch beim Kitzeln? ................................. 326 Briefe .................................................................... 8 Impressum................................................... 14, 328 Leserservice ..................................................... 328 Chronik ............................................................. 329 Register ............................................................ 330 Personalien....................................................... 332 Hohlspiegel/Rückspiegel ................................ 334 Jahrhundert-Mode Berliner Filzharmonie Seite 270 Deutschlands edelster Klangkörper spielt eine dubiose Doppelrolle: Als „Berliner Philharmonisches Orchester“ verrichtet er – hoch subventioniert – öffentlichen Dienst, als „Berliner Philharmoniker“ macht er beste Geschäfte mit Videos und CDs. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Die Kleider und Designer einer Epoche. Außerdem in kulturSPIEGEL, dem Magazin für Abonnenten: Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis über das Geheimnis des Glamours. 7 Briefe „Soziale Gerechtigkeit ist erst dann erreicht, wenn jeder das hat, was der andere nicht hat.“ Dr. Dr. Wolfgang Erbe aus Osnabrück zum Titel „Was ist soziale Gerechtigkeit?“ SPIEGEL-Titel 37/1999 Etwas mehr Volk unters Geld streuen Nr. 37/1999, Titel: Was ist soziale Gerechtigkeit? Wenn jeder Wähler vor den Wahlen im Saarland, in Brandenburg, Thüringen und in Nordrhein-Westfalen das SPIEGELGespräch mit Bundesfinanzminister Hans Eichel zu lesen bekommen hätte, wäre wohl der katastrophale Wahl-Einbruch für die SPD nicht in diesem Ausmaß erfolgt. Hamburg Eric Marr Die Ideen der beiden Jungdynamiker Ederer und Schuller sind nicht schockierend, sondern vollkommen unsinnig. Denn die ,,Deutschland AG“ kann sich ihre Mitglieder im Gegensatz zu einem Unternehmen nicht aussuchen. Unternehmen stellen im Normalfall nicht jeden Menschen ein, dessen Eltern schon Mitarbeiter des Unternehmens sind. Außerdem kann sich ein Staat von vielen verlustreichen „Geschäftsfeldern“ nicht trennen. Unter solchen Bedingungen wäre jedes Management überfordert. Köln Jan Bruners Auch Sie lassen offen, was unter sozial gerecht zu verstehen ist. Dabei ist die Deutung sehr einfach. Schließlich weiß jeder, Peter Janssen Dr. Erhard Behrbalk Offensichtlich lebt Herr Eichel in einem anderen Land, oder er hat schon lange keinen Kontakt zu den Menschen mehr. Wie sonst könnte er davon ausgehen, dass die Menschen das, was er als Zukunftsprogramm bezeichnet, als sozial gerecht empfinden. Schröder, Blair und neoliberalen Konsorten möchte ich den Rat mit auf den Weg geben – wenn sie die nächsten Wahlen nicht mit aller Gewalt verlieren wollen: Bitte etwas mehr Volk unters Geld streuen. Dresden Tübingen Andreas Meißner Wir brauchen Chancengleichheit am Start, das heißt Erbschaftsteuer auf 99 Prozent, Kindergeld und Bafög hoch. Sämtliche Subventionen und Steuerabschreibungen abschaffen und die europäische Quellensteuer einführen. Wir sollen dabei aber nicht unsere Fürsorge- und Solidaritätspflichten herunterschrauben, das heißt obligatorische private Anteile an Renten und Gesundheitssystem, die von rein steuerfinanzierten großen Anteilen gestützt werden. Frechen (Nrdrh.-Westf.) Stephan Dützmann Der Versuch, materielle Gerechtigkeit für alle zu schaffen – von den Politikern gern, aber fälschlicherweise als soziale Gerechtigkeit angepriesen –, kann nur in einer umfassenden, staatlich verordneten Gleichmacherei enden, was letztlich „soziale Diktatur“ bedeutet, in der die einen etwas gleicher sind als die anderen. Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. September 1949 Klage gegen Herforder Wunderdoktor Bruno Gröning Das bayerische Innenministerium wertet seine Heilungen als „freie Liebestätigkeit“. Mao Tse-tung proklamiert die „Volksrepublik China“ In der Frage der Anerkennung gehen Großbritannien und die USA getrennte Wege. Italienischer Alarmruf: „Helft dem Süden“ Doch für Rom ist die oberitalienische Industrie wichtiger. Graham Greenes „Der Dritte Mann“ in Wien verfilmt Von Regisseur Carol Reed mit Orson Welles in der Hauptrolle. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Sie haben für die Debatte die angemessenen Beschreibungen und Fragen geliefert. Danke für die zum Teil ausgezeichnete Argumentation. Es geht nicht um neoliberale Deregulierung, sondern um soziales „readjustment“. Witten (Nrdrh.-Westf.) Prof. Birger Priddat Universität Witten/Herdecke Andrej Schmalzriedt Gab es zu irgendeiner Zeit „wirklich einmal gleiches Recht Demonstration gegen Arbeitslosigkeit (in Hamburg) für alle?“ Ich glaube, danach su- Idealisten suchen nach Gerechtigkeit chen die Idealisten nicht nur in diesem Land, sondern in der Welt. Ich hof- was individuell gerecht ist, nämlich behalfe, nicht vergebens, denn die Revolution ten zu dürfen, was legitim erworben wurhat lange genug ihre Kinder gefressen. de. Und weil nicht sozial gerecht sein kann, Bingen Irmtraud Schäfer was individuell ungerecht ist, dürfte jedem rasch klar werden, dass angesichts großer In einem Zeitraum, in dem sich heute das Umverteilungen hier zu Lande große soGesamtwissen der Menschheit verdoppelt, ziale Ungerechtigkeit herrscht. Zahlen schafft es nicht ein einziger der verkruste- doch vier Prozent der einkommensteuerten Politvereine, auch nur den zehnten Teil pflichtigen Bevölkerung 40 Prozent der seines Parteiprogramms zu aktualisieren. Einkommensteuer und 40 Prozent nur vier Leipzig Roy Kummer Prozent. Mehr Umverteilung kann diese soziale Ungerechtigkeit nur verschärfen. Was soll diese unsägliche Forderung nach Brüssel Dr. Hardy Bouillon einer Erhöhung der Erbschaftsteuer? Jetzt Centre for the New Europe Stephanskirchen (Bayern) Jürgen Engelhardt 8 Leipzig Titel: Reichskriminaldirektor Arthur Nebe beschäftigt Astrologen d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 D. TODD / ACTION PRESS Rodgau (Hessen) Ein glänzender Artikel der Herren Fleischhauer/Schäfer/Schumann, der sich deutlich abhebt von anderen. Die dringenden Reformen, die endlich von einer Regierung angefasst werden, werden indes an Lächerlichkeiten scheitern: Schröder hat vergessen, seine SPD zu überzeugen und der „Bild“-Zeitung zu sagen, dass sie das Reformprogramm der Bevölkerung erklären darf. stimmt der SPIEGEL auch noch in diesen „Neider-Chor“ mit ein. Sicherlich fällt einem Erben das Vermögen eher zu, als dass er es mit eigener Arbeit verdient hat. Aber was ist denn daran ungerecht? Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe Soziale Gerechtigkeit? Die Antwort ist einfach: Soziale Gerechtigkeit herrscht, wenn sich Arbeit und Vorsorge lohnen. Nicht jedoch, wenn unbequeme Jobs oft ausgeschlagen werden auf Grund eines Sozialsystems, das von zunehmend gestresst Arbeitenden getragen werden muss. Nicht, wenn ein Europa-Beamter doppelt so viel verdient wie ein Bundesbeamter gleicher Qualifikation, steuerfrei. Nicht, wenn Erträge aus Sparguthaben und nun auch aus Kapital-Lebensversicherungen besteuert werden, andererseits Erträge aus Spekulationsgeschäften de facto steuerfrei bleiben und man dem leichtfertigen Verschwender Schuldenerlass in Aussicht stellt. Nicht, wenn unfähige oder missliebige Spitzenbeamte abgestellt werden mit großzügigen Bezügen. Nicht, wenn ein einziger – eventuell mit politischer Nachhilfe – in Bauland gewandelter Acker mehr hergibt als mehrere Jahre Arbeit. Nicht, wenn sich Steuersparkonstruktionen eher lohnen als Wert schöpfend konstruktive Arbeit. das in Berlin. Ich habe den Eindruck, dass sich Leute wie Kunert oftmals wissentlich mit der DDR-Führung anlegten. Etwas Besseres als eine Ausbürgerung ohne Gefahr konnte ihnen doch nicht passieren. Und das Risiko einer Haft wegen Republikflucht, die jedem DDR-Bürger bevorstand, gab es doch auch nicht. Deshalb ist es sehr schmutzig, sich abwertend über die restlichen 17 Millionen DDR-Bürger zu äußern, die in keiner Weise so privilegiert waren. Radisleben (Sachsen-Anh.) Peter Muser Wenn das SED-Politbüro im Januar 1971 an Breschnew schrieb, dass Ulbricht sich gern auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin sieht, so gehört dieser Vorgang vermutlich in die Vorbereitungsphase seiner Ablösung. Mit Sicherheit war das aber keine neue Erkenntnis, denn zu meiner Zeit als DDR-Bürger bis 1961 und damit zehn Jahre vor diesem Schreiben war schon für Ulbricht die Bezeichnung „Sachsenlenin“ landläufig. Hamburg Hartwig Bunzel St. Leon-Rot (Bad.-Württ.) Hermann Tropf Wollen wir „gerecht“ mit dem englischen „fair“ übersetzen und „sozial gerecht“ mit „fair-play“? Das hieße: 1. Alle müssen sich an die gleichen Spielregeln halten. 2. Jeder muss auch die anderen einmal an den Ball kommen lassen – auch der Staat. Zurzeit verfügt der deutsche Staat über rund die Hälfte aller Ballkontakte, fast jede zweite erwirtschaftete Mark wird zunächst durch ihn bewegt: Ist das noch „sozial gerecht“? Bonn Dr. Peer-Robin Paulus AG Selbständiger Unternehmer Redakteure Augstein, Becker mit DDR-Chef Ulbricht (1957) Ihre Titelfrage hätte lauten müs- Zu langer Händedruck des Spitzbarts? sen „Was ist sozial gerechtfertigt?“ Denn solange es Leute gibt, die al- Ich bin doch sehr verwundert, dass Sie in les ausnutzen, was die Solidarkassen her- Ihrem hervorragenden Beitrag zur ehemageben, selbst wenn sie nicht bedürftig sind, ligen DDR das Bild Ihres Herausgebers wird es auch keine Gerechtigkeit im so- nicht gezeigt haben. Augstein ist bei einem zialen Sinne geben können. SPIEGEL-Gespräch von 1957 mit Ulbricht als Stenograf abgebildet. Offenbar beSteinburg (Schlesw.-Holst.) Peter Fiting fürchtete er einen zu langen Händedruck des Spitzbarts, der die Hand so lange hätdrücken können, bis die SED-Fotografen Schwierigeres und härteres Leben te ihr Bild im Kasten hatten. Das Gespräch Nr. 37/1999, 40 Jahre DDR: führte allerdings Augsteins Freund und Günter Kunert über die Ära Ulbricht Mitgeschäftsführer Hans Detlev Becker. Ein Schriftsteller wie Herr Kunert kann und Hamburg Hans Neumann will sich wahrscheinlich nicht in die Lebenssituation der vielen Menschen auf dem Leser Neumann erinnert sich richtig. Das Lande versetzen, die auf Grund von Eigen- Bild hätte aber nicht in den Text gepasst, tum nicht so ohne Weiteres der sowjeti- der gedruckt wurde. Indes ist Augstein schen Besatzungszone den Rücken kehren nicht der Stenograf gewesen. –Red. wollten oder konnten.Viele hofften ja auch, dass es bald zu einer Wende kommen wür- Selbstverständlich waren Ulbricht die Maßde. Dazu lebte Herr Kunert wohl zu sehr in nahmen der Teilung Berlins bereits beseiner privilegierten Berliner Künstlerszene, kannt, als er den Satz „Niemand hat die fernab vom Leben auf dem Lande. Dieses Absicht, eine Mauer zu bauen“ prägte. Leben war sicher schwieriger und härter als Plauen (Sachsen) Dietrich Schönweiß 12 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Für Mendes Ablösung gekämpft Nr. 37/1999, FDP: Die Partei setzt sich von Guido Westerwelle ab B. KARWASZ Dass Herr Westerwelle Herrn Mende unter die erfolgreichsten FDP-Vorsitzenden einreiht, ärgert mich. Ich habe damals unter anderem als Bundesvorsitzender der Jungdemokraten für dessen Ablösung gekämpft. Mende war weder bei Wahlen so erfolgreich, aber schon gar nicht mit seiner Politik. Er hat jahrelang der Modernisierung der FDP, den Reformen nach innen sowie einer neuen Ostpolitik entgegenBaum gestanden. Erst mit Scheel, Genscher, Lambsdorff, Flach, Dahrendorf, Maihofer und anderen ist die FDP zu einer entscheidenden, wirklich liberalen politischen Kraft geworden, oft umstritten, aber letztlich erfolgreich. Hätten wir doch heute nur ein wenig von dieser Kraft! Nur eine durchgreifende liberale Erneuerung könnte die FDP noch retten. Mit personellen Veränderungen allein ist es nicht getan. Köln Gerhart R. Baum Bundesminister a. D. Den Franken wird man’s nicht danken Nr. 37/1999, TV-Serien: Die „Lindenstraße“ – Versuch eines Abschieds WDR Jetzt hat mich endlich einer durchschaut! Dass ausgerechnet dem SPIEGEL das gelingt, ist nicht ganz so schlecht, als wenn es zum Beispiel der ,,Bamberger Bote“ gewesen wäre. Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, diese elendige Wollmütze abzustreifen und mit ihr all die verwelkten Ideale der 68er. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, ein bisschen Humor zu haben, für den ich sogar einige Wochen meines luxuriösen Auslandslebens hergegeben hätte. Wie oft schon habe ich die Zeit meiner Adoleszenz in der fränkischen Provinz und vor allem die restpastoralen Erziehungsversuche meiGeissendörfer ner Vorfahren verflucht. Es hat nichts genutzt. Deswegen gibt’s aber Gott sei Dank wenigstens diese Fernsehserie, bei der aber leider niemand gemerkt hat, dass sie eigentlich eine Satire ist. Aber wie schon meine Oma väterlicherseits immer gewusst hat: ,,Den Franken wird man’s nicht danken.“ Köln Hans W. Geißendörfer „Lindenstraßen“-Regisseur d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Briefe Woher nehmen wir Deutschen das Recht, uns als Kritiker betätigen und Spielberg des Eigennutzes und der Gewinnsucht überführen zu müssen? Diskutieren nicht gleichzeitig Politiker und Manager über Zeit und Höhe von Entschädigungszahlungen und über die Möglichkeit, diese steuerlich abzusetzen? Wo ist auf breiter Ebene in Deutschland eine Betroffenheit und Umkehr der Herzen zu sehen? Büdingen (Hessen) Uli Meissner Dass 50 000 Menschen, die die Shoah überlebten, ihren Enkelkindern ein Videoband zeigen können mit Einzelheiten ihres Lebens, über die manche bis zu diesem Interview nie gesprochen hatten, erscheint mir wichtiger zu sein als die Bedenken einiger Wissenschaftler, die alles viel „besser“ gemacht hätten. M. LENGEMANN Ludwigsburg (Bad.-Württ.) E. Tschepe Shoah-Projektmanager Spielberg Technik für die Gameboy-Generation Prophet im eigenen Land Nr. 37/1999, Hollywood: Historiker kritisieren Steven Spielbergs Shoah-Projekt Was ist denn gegen die Vorgehensweise von Herrn Spielberg einzuwenden, die wahrscheinlich mehr Menschen die Augen für die unfassbaren Vorgänge vor 60 Jahren öffnet, als dies in den letzten Jahrzehnten die Gralshüter der sogenannten Wissenschaft je in ihren Elfenbeintürmen vermochten. Auch Herr Broder muss akzeptieren, dass die technischen Möglichkeiten der heutigen Zeit genutzt werden müssen, um auch die Gameboy-Generation für solche Themen zu interessieren. Prüm (Rhld.-Pfalz) Mario Schmitz Ich frage mich oft: Was war denn jüdische Identität vor der Shoah? Worüber in aller Welt haben damals jüdische Zeitungen geschrieben? Was haben die lebenden Juden gemacht, als es noch keine Über-Lebenden gab? Doch meinen Sie wirklich, dass da ein durchgeknallter, hybrider jüdischer Regisseur noch viel Schaden anrichten kann? Wir Über-Lebenden müssen uns damit einrichten, dass es unter uns auch Spielbergs und andere Meschuggene gibt. Falls wir uns nicht irgendwann auf unsere jüdischen Werte besinnen, die im Eigentlichen unsere Identität ausmachen, dürfen wir uns über Spielberg nicht beklagen. Er hat es auf seine Art wenigstens versucht. Mischung aus Schmock und Schlemihl, der er nun mal ist. St. Ippolito (Italien) 14 Ich möchte auf ein Projekt, das das Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam und das Fortunoff Video Archive der Yale University von 1995 bis 1996 durchgeführt haben, aufmerksam machen. Unter dem Titel „Archiv der Erinnerung“ wurden 78 Interviews mit Überlebenden der Shoah vorrangig aus der Region Berlin und Brandenburg aufgezeichnet. Es sind lebensgeschichtliche, offene Interviews, die ohne Gebühr im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin eingesehen werden können. Dem „Propheten“ im eigenen Land wird oft nicht geglaubt, und er wird häufig nicht zur Kenntnis genommen. mit konservativen Ständen, mit Zensur. Tucholsky war Moralist und kämpfte gegen ein unmoralisches Deutschland. Er bezahlte für seine Haltung den höchsten Preis. Ist alles Satire, was sich so nennen darf? „Peep“, eine Sendung, die sich erkennbar mit angeblich satirischen Inhalten produziert? Das Goldene Kalb Quote bedankt sich.Wer ist das nächste Opfer? Übrigens schreibt Tucholsky weiter: „Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier (in der Satire), nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist …“ Mainz Jürgen Kessler Leiter des Deutschen Kabarettarchivs Wo sich infantile Instinktjournalisten orientieren an Triebphantasien verklemmter Schlammdackel, damit die Einschaltquoten stimmen, entstehen keine Satiren, sondern Machwerke für den Geschmack des Massenpublikums. Anstatt diesem „dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend“, so Tucholsky, wird er zum Maßstab der Medien„kultur“ gemacht. Braunschweig Reinhard Walzer Geschmacklos oder nicht – entscheidend ist doch vielmehr: Es ist nicht einmal witzig. Das FKK-Video der ,,Gerd-Show“ ist einfach nur vulgär, flach und ohne jeden Esprit. München Florian Römer Potsdam Dr. Irene Diekmann Moses Mendelssohn Zentrum, Uni Potsdam „Bild“-Schlagzeile zur „Peep“-Sendung Noch viel, viel mehr und schärfer Nr. 37/1999, Satire: „Peep“-Show erregt den Kanzler Tucholskys „Was darf Satire? Alles“ stammt aus dem Jahre 1919. Hintergrund: die Konventionen des untergegangenen Kaiserreichs, die anhaltende Auseinandersetzung VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Hauptstadt, Kirche, Senioren,Aids,Wahlen, Blindgänger,Werbung, Unternehmer: Ulrich Schwarz; fürRegierung, Kanzler, Außenpolitik, SPD, Finanzen, Karrieren: Dr. Gerhard Spörl; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Trends,Geld,Banken,Steuern,Autoindustrie,Schulden,Erdöl, Spekulation,Affären, Internet, Fernsehen (S. 148), Musik-TV: Gabor Steingart; für Titel (S. 302, 306, 317), Fernsehen (S. 146, 147), Talkshows, Szene, Partnerschaft, Psychologie, Musikbetrieb, Kunst, Literatur, Bestseller,Film,Pop: Wolfgang Höbel; für Panorama Ausland,China,Taiwan, Italien,Indonesien,Kaukasus,Europa,Nachruf,Island,USA,Kanzler (S. 27): Dr. Romain Leick; für Stars, Fußball, Gleichberechtigung: Matthias Geyer; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Prisma, Titel (S. 300), Computerspiele,Anthropologie,Automobile,Verhaltensforschung,Umwelt,Chronik: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTOS: AKG (2); Arno Breker/Galerie für gegenständliche Kunst, Kirchheim/Teck; DC Comics; Eidos Interactive; Institute for Genomic Research; Sygma Jonathan Stern d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Phantasien verklemmter Schlammdackel? Wenn „alles erlaubt“ ist und die Quote es verlangt, wird dann demnächst ein Gummikardinal die keusche Moderatorin in Gretchenmaske penetrieren? Was soll das Adenauer-Histörchen mit einem harmlosen Politscherz in der Sprechblase, verglichen mit diesem obszönen schweinigelnden FarceBundeskanzler. „Die Leute mögen das einfach“, so Elmar Brandt. Manche Leute mögen noch viel, viel mehr, Herr Brandt, und noch viel, viel schärfer. Ist das Grund genug? Gstaad (Schweiz) Gunter Sachs Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. In der Heftmitte befindet sich in einer Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Firma Peek & Cloppenburg, Düsseldorf. Einer Teilauflage klebt ein Prospekt der Deutschen Bank, Frankfurt/M., sowie eine Postkarte des SPIEGELVerlags/Abo. bei. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Topdeq, Pfungstadt, Meiniger Verlag, Neustadt, und die Verlegerbeilage kultur/SPIEGEL/SPIEGEL-Verlag bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama KO S OVO - E I N S AT Z Auf verminten Schmugglerpfaden D Manager unter Verdacht I n der Affäre um den Ausbau des Berliner Großflughafens Schönefeld ermittelt die Staatsanwaltschaft der Bundeshauptstadt jetzt auch gegen das größte deutsche Bauunternehmen, den Essener Hochtief-Konzern. Der Vorwurf lautet auf Betrug in jenem Auswahlverfahren, in dem ein Bewerberkonsortium um Hochtief zunächst den Zuschlag erhalten hatte – Anfang August jedoch stoppte das Oberlandesgericht Brandenburg den Fortgang des Sechs-Milliarden-Mark-Projekts wegen Verfahrensmängeln. Der für das Airport-Geschäft zuständige HochtiefVorstand Wolfhard Leichnitz sowie die Projekt-Geschäftsführer Constantin von Alvensleben Leichnitz und Reinhard Kalenda sollen, so die Strafverfolger, unzulässige Kontakte zu Berliner Spitzenpolitikern gesucht haben – Eigentümer des Flughafens sind der Bund sowie die Länder Berlin und Brandenburg. Hintergrund des Ermittlungsverfahrens ist der Einsatz eines Berliner Journalisten mit besten politischen Verbindungen, den Hochtief als Berater verpflichtet hatte. Der Emissär pflegte etwa regelmäßige Kontakte zum Leiter der Berliner Senatskanzlei Volker Kähne. Die Staatsanwaltschaft sieht hierin einen Verstoß gegen die Vergaberichtlinien, nach denen solche Lobbyarbeit nicht statthaft gewesen sei. Die Hochtief-Manager bestreiten die Vorwürfe. Der Einsatz des Emissärs sei keine verbotene Geheimaktion gewesen, die Politiker selbst hätten Hintergrundgespräche sogar vielfach gewünscht. Der beauftragte Journalist habe sich überdies in den Gesprächen als Hochtief-Verbindungsmann geoutet. DPA FLUGHAFEN d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 AP G. MENN / AGENTUR FOCUS ie vergangene Woche bei einem MinenUnfall im Kosovo verwundeten fünf Bundeswehrsoldaten gehörten zu einer Spezialeinheit mit heiklem Auftrag. Die sogenannte Task Force Border (Einsatzgruppe Grenze) der Oldenburger Fallschirmjägerbrigade 31 soll im karstigen Gebirge an der Grenze zu Albanien „illegale Grenzübertritte verhindern“ – und dazu die auf keiner Landkarte verzeichneten Trampelpfade auskundschaften, auf denen Schmuggler und UÇK-Kämpfer heimlich Konterbande und womöglich weiterhin Waffen und Munition ins Land schleusen. Abseits von befestigten und von Minen geräumten Straßen lassen sich die Späher meist von angeworbenen Einheimischen führen. Wegen des hohen Minenrisikos sind sie nur tagsüber unterwegs, stets begleitet von Sicherungskräften, Deutsche Kfor-Soldaten beim Minenräumen im Kosovo einem Arzttrupp und Spezialisten für Minenund Munitionsbeseitigung. Für die Gegend um den Ort Morina nordwestlich von Prizren, in dessen Nähe die Soldaten von kaum entdeckbaren kleinen Plastiktretminen verletzt wurden, gab es weder von den Serben noch von der UÇK Unterlagen über Minensperren. Zwei Soldaten mit schweren Beinverletzungen wurden nach Deutschland ausgeflogen; die drei anderen, darunter der Arzt, kamen mit Splitterschrammen, Beulen und blauen Flecken davon. Abtransport der verletzten Bundeswehrsoldaten TERRORISMUS Spurenvergleich M it Hilfe der österreichischen Behörden hofft das Bundeskriminalamt (BKA), weitere Erkenntnisse zu den bisher unaufgeklärten Mordanschlägen der Roten Armee Fraktion (RAF) zu bekommen. In der vergangenen Woche ersuchte das BKA die Wiener Kollegen um die Herausgabe von Büchern, Aufzeichnungen und Kleidungsstücken, die in der Wohnung von Horst Ludwig Meyer und Andrea Klump sichergestellt worden sind. Meyer wurde in der vorvergangenen Woche bei einem Schusswechsel mit der österreichischen Polizei getötet, seine Begleiterin Klump festgenommen. Die Habe der beiden mutmaßlichen RAF-Mitglieder soll mittels kriminaltechnischer Methoden mit alten Spuren von den Anschlägen gegen Spitzenmanager in den achtziger Jahren verglichen werden. 17 Panorama ERNÄHRUNG F ür die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover soll der englische Thronfolger und Biobauer Prinz Charles gesunde Lebensmittel liefern. Unter dem Markennamen „Duchy Originals“ vertreibt der Prince of Wales bereits Bisquits mit Orangen- oder Zitronengeschmack in deutschen Teeläden. Die Rohstoffe der, so ein Fachverkäufer, „im Biss etwas trockenen“ Prinzenrollen stammen aus rund 140 Hektar biodynamisch bewirtschaftetem Ackerland im westenglischen Gloucestershire. Dort führte der Expo-2000-Umweltbeauftragte Jürgen Resch bereits Gespräche mit Prinz Charles über die Lieferung von Bioprodukten. Nach den Expo-Kriterien verpflichten sich alle gastronomischen Betriebe, den Einsatz von „mindestens zehn Prozent“ Lebensmitteln aus kontrolliertem Anbau „sicherzustellen“. Dies gilt auch für den voraussichtlichen HauptNahrungslieferanten – den amerikanischen Fast-Food-Konzern MacDonald’s. Eingriff in den Markt E kommunalen Stadtwerke mit ihrer teuren, aber umweltfreundlichen Kombination von Fernwärme- und Stromproduktion vor Billigkonkurrenten geschützt werden. Per „Hausverfügung“ setzte er vergangene Woche eine elfköpfige Projektgruppe ein, die bis Dezember eine „Netzzugangsverordnung Strom“ entwerfen soll. Nach einer internen Beratung im Kanzleramt hieß es am vergangenen Donnerstag, es bestehe „Einigkeit darüber“, dass den „betroffenen Stadtwerken faire Wettbewerbsbedingungen zu sichern“ seien. Nachteile der kommunalen Unternehmen könnte eine entsprechend hohe Gebühr ausgleichen, welche die Stadtwerke von den Stromkonzernen für deren Nutzung der Verteilernetze erhalten sollen. Die Verordnung sei „unmittelbar nach Jahreswechsel in das Bundeskabinett einzubringen“. n Europa hergestellte synthetische Drogen würden mittlerweile weltweit verkauft, so Europol-Chef Jürgen Storbek in einem Bericht über die innere Sicherheit in Europa. Alle EU-Mitgliedstaaten meldeten die zunehmende Internationalisierung bei der Organisierten Kriminalität. Täter, die bislang beispielsweise in den Niederlanden oder in Belgien synthetische Drogen für den regionalen Markt hergestellt hätten, ließen inzwischen in Polen oder den baltischen Staaten produzieren und belieferten ganz Europa, Südostasien und Teile Nordamerikas. Entgegen früheren Erwartungen sei die Drogenkriminalität weiter gestiegen. Nach Cannabisprodukten hätten synthetische Drogen nun den größten Marktanteil in Europa. nister, die Parlamentarischen und die beamteten Staatssekretäre einen monatlichen Sonderbeitrag in Höhe von 250 Mark“ zahlen sollten, zusätzlich also 3000 Mark für das ganze Jahr 1999. Obschon „der Beitrag in Zukunft auch monatlich“ gezahlt werden könne, lässt die Zahlungsmoral von Schröder und anderen Spitzengenossen zu wünschen übrig: Die Kontrollkommission des Präsidiums hat die Zahlungen bereits angemahnt. Drogenlabor (bei Bremen) DPA ntgegen seinen bisherigen Absichten muss Bundeswirtschaftsminister Werner Müller die Marktregeln im neuen Stromwettbewerb doch gesetzlich festschreiben lassen. Nur so können die „Duchy“-Kekse, Prinz Charles (l.) Umspannwerk in Freiburg SPD Zuschlag für Schröder W egen der katastrophalen Kassenlage ihrer Partei sorgt sich SPDSchatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier. In einem Bettelbrief an „alle Amtsträger der SPD“ forderte sie, dass „der Bundestagspräsident, die Bundestagsvizepräsidentin, der Bundeskanzler, die Mi18 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 K R I M I N A L I TÄT Exportschlager Rauschgift I DPA STROM FOTOS: DPA (re.); KLEINHEMPEL (li.) Prinzenrolle für die Expo Deutschland Schröder sagt aus D em Europa-Ausschuss des Bundestags muss Bundeskanzler Gerhard Schröder an diesem Mittwoch anderthalb Stunden lang Rede und Antwort zur Hausbau-Affäre des früheren Kanzleramtsministers Bodo Hombach stehen. Die CDU/CSU-Fraktion will wissen, ob der Kanzler die EURegierungschefs vor Hombachs Berufung als Balkan-Koordinator über die Vorwürfe gegen Hombach informiert hat. Die Union wirft Schröder vor, er habe seinen damaligen Hombach ARBEITSMARKT Gewinn mit 630-Mark-Jobs? M it der umstrittenen Neuregelung bei den 630-Mark-Beschäftigungen „richtig zu liegen“, dafür rühmt sich Arbeitsminister Walter Riester. Bestätigt sieht er sich durch zwei vertrauliche Studien. Nach einer vorläufigen Auswertung des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik sind für Kanzleramtschef weggelobt, obwohl er von dessen Verstrickung in eine Affäre wusste. Dass es den sogenannten VIPService der Firma Veba für Hombachs Haus gegeben hat, steht nach Ansicht von Unions-Obmann Ronald Pofalla fest, nachdem Hombachs Bauleiter vor sechs Wochen wegen Meineids verurteilt wurde. Der Mann hatte die Existenz eines solchen Sonderservice für Prominente früher bestritten. Falls Schröder die Fragen nicht zur Zufriedenheit der CDU/CSU beantwortet, bereitet die Union die Initiative zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor. JARDAI / MODUS H O M BAC H - A F FÄ R E die ersten Monate 804 000 Minijobs abgemeldet worden und 560 000 neu hinzugekommen. Zusätzlich entstanden aus Billig-Beschäftigungen jedoch 154 000 reguläre Vollzeitstellen. Die Neuregelung habe, so assistiert die Kienbaum Unternehmensberatung, „nur geringen Einfluss auf Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung“. Die neuen Zwangsmitglieder in der Alters- und Krankenversicherung bringen allein der Rentenkasse dieses Jahr 1,6 Milliarden Mark an Mehreinnahmen statt der veranschlagten 1,2 Milliarden. B. BOSTELMANN / ARGUM von 7 bis 22 Uhr (im Sommer bis 24 Uhr) von den Straßen verbannen. Berlin, Paris und Wien wehren sich dagegen. In Deutschland müssen die Brummis bisher ab Mitternacht von den Autobahnen verschwinden, in Frankreich ab 22 Uhr und in Österreich schon um 15 Uhr am Samstag. Die Verkürzung des Fahrverbots sei ein falsches Signal, argumentieren die Verkehrsminister. Wenn die Fahrer die Nacht durchbrausen dürften, würden die Spediteure am Samstag viel Lkw-Stau auf der A 5 bei Frankfurt am Main mehr Lkw in Gang setzen. Dadurch werde der Lasterverkehr am L A S T WA G E N Samstag-nachmittag dichter – zu Lasten des Pkw-Verkehrs, der Umwelt und der Bahn. Die Einführung eines Fahrverbots in Randstaaten wie Finnm Mittwoch kommender Woche land – wo es derzeit kein Fahrverbot wollen die EU-Verkehrsminister gibt – bringe nicht viel, weil dort am über das Sonntagsfahrverbot für Lkw Wochenende ohnehin kaum Brummis verhandeln. Die EU-Kommission will führen. Laster an Sonntagen europaweit nur Sonntags mehr Brummis A d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande Mit der FDP geht es rapide bergab, dafür wird Berlin immer schöner und sauberer. Wo ist da der Zusammenhang? Gemach, die Antwort findet sich in Zehlendorf, einem besseren Bezirk im Südwesten der Hauptstadt, der von gut betuchten bis vermögenden Bürgern bewohnt wird. Wie überall in der Stadt hat die Verwaltung auch in Zehlendorf öffentliche Toiletten geschlossen, um die Kosten der Wartung einzusparen. Letzte Woche wurde eine der stillgelegten Bedürfnisanstalten wieder in Betrieb genommen. Allerdings nicht als Pinkelbude, sondern als Parteizentrale. Außen knallgelb angestrichen und innen vollständig entkernt und renoviert, dient das Häuschen der FDP als Bezirksgeschäftsstelle. Von hier aus werden die 270 eingetragenen Zehlendorfer Freidemokraten verwaltet. Sie sind der ganze Schatz der Partei, sozusagen die Raison d’être, denn in der Verordnetenversammlung des Bezirks ist die FDP seit 1994 nicht mehr vertreten. Auch für die Zehlendorfer Liberalen gilt seitdem die Parole: Die Basis ist die Grundlage des Fundaments. Wo die Wähler wegbleiben, müssen wenigstens die Mitglieder bei der Stange gehalten werden. 70 000 Mark hat der Umbau des Toilettenhäuschens gekostet, umgerechnet rund 260 Mark pro Kopf, „mehr als wir uns leisten können“, sagte die Bezirksvorsitzende bei der Eröffnung der sanierten Lokalität. Und wenn es bei den nächsten Wahlen wieder schief geht, kann das neue Parteibüro notfalls wieder als öffentliches WC benutzt werden. Gegen eine kleine Gebühr, sagen wir: eine Mark, damit sich diesen Luxus alle Liberalen in Zehlendorf leisten können. 20 JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO Kinkelpause Ehepaar Wehner, Honecker (1987 in Wehners Bonner Haus) ZEITGESCHICHTE Besuche beim kranken Wehner A m Ende seines Lebens fühlte sich Herbert Wehner, bis 1983 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, bei SED-Chef Erich Honecker besser aufgehoben als bei den eigenen Genossen. Das legen Aufzeichnungen des SED-Emissärs Wolfgang Vogel nahe, die jetzt in der Gauck-Behörde lagern. Der von seiner Demenzerkrankung gezeichnete Wehner beklagte sich danach 1986 bei Vogel, dass führende Sozialdemokraten ihm gegenüber „lediglich Pflichtübungen abhalten“. Über die Be- suche Vogels im Auftrag Honeckers zeigte Wehner sich den Aufzeichnungen zufolge „zu Tränen gerührt“ und erklärte, „niemand kümmere sich so um ihn“ wie der Staats- und Parteichef. Über seine eigene Partei äußerte sich Wehner bitter: Er sei „an der Zerstrittenheit der SPD gescheitert“. Langfristig befürchte er „eine Spaltung der SPD“. Dem SED-Chef Honecker hingegen prophezeite der kranke Wehner „noch große Aufgaben“. Ganz uneigennützig waren Vogels Besuche nicht. Der SEDAnwalt wollte Wehners Ehefrau Greta überzeugen, alle Dokumente über den Kontakt zu Honecker aus dem Privatarchiv Wehners zu entfernen – vergebens. Wehner starb im Januar 1990, neun Monate vor dem Ende der DDR. G E H Ä LT E R Der Osten holt auf D as Bundesinnenministerium (BMI) hält die Debatte über die Angleichung von Ost- und West-Gehältern im Öffentlichen Dienst für „irreführend“. Brutto erreichen die Ost-Bezüge zwar nur 86,5 Prozent vom West-Niveau. Nach Berechnungen des Ministeriums, denen die Experten das Nettogehalt zu Grunde gelegt haben, bewegen sich die Ost-Einkünfte tatsächlich aber weit über 90 Prozent, „in Einzelfällen werden sogar 100 Prozent erreicht oder leicht überschritten“, heißt es im BMIReport. Wegen der unterschiedlichen Zusatzversorgung und ihrer Besteuerung bekommt ein West-Referent der Vergütungsgruppe II a, 40 Jahre, verheiratet, 2 Kinder, (Bruttogehalt 7276 Mark) rund 4260 Mark ausgezahlt. Sein Ost-Kollege (Brutto 6295 Mark) erhält dagegen 4058 Mark und damit über 95 Prozent des Netto-West-Gehaltes. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Nachgefragt Teures gutes Gewissen Im Wettbewerb auf dem Strommarkt ist Ökostrom teurer als normaler Strom. Wieviel wären Sie bereit, bei einer Jahresrechnung von 1000 Mark für umweltfreundlichen Strom mehr zu zahlen? Angaben in Prozent GESAMTDEUTSCHLAND WEST OST nichts 35 31 50 50 Mark 19 19 21 100 Mark 25 27 16 200 Mark und mehr 7 8 2 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 21. und 22. September; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht/ist mir egal Werbeseite Werbeseite FOTOS: DPA Koalitionspartner Fischer, Schröder: Mächtige Männer, in ihren Parteien widerwillig akzeptiert REGIERUNG Ein Knochen für den Pitbull Das Angebot von Außenminister Joschka Fischer, als Retter der Grünen einzuspringen, mobilisiert ebenso viel Widerstand wie Zustimmung. Unterwirft sich die Partei dem populärsten Politiker Deutschlands, oder bringt sie sich um ihre Existenz? D ie grünen Youngster saßen über einen Teller Nudeln gebeugt, als der Zeitungsverkäufer im italienischen Restaurant mitten im Berliner Regierungsviertel aufkreuzte. Außenminister Joschka Fischer, so lautete eine Meldung auf der ersten Seite, sehe die Grünen in einer „existenzbedrohenden“ Krise. Und die wolle er jetzt im Alleingang bewältigen. Die Nachwuchspolitiker guckten gequält. Die Supermann-Masche mochte ja in der Öffentlichkeit ankommen. Intern jedoch wirkt sie verheerend. „Sind wir denn alle Idioten?“, fragt einer. Dann wandten sie sich wieder ihrem Thema zu: Haben die Grünen noch eine Zukunft? Zerreibt die Öko-Partei sich am Atomausstieg? Verweigert die Basis die an22 geblich notwendige Parteireform? Und steigt Fischer dann einfach aus? Inzwischen glauben die jungen Grünen so fest an ihre Horrorszenarien, dass sie, natürlich ganz hypothetisch, schon ihre eigene politische Zukunft diskutieren: Einer würde sich ganz aus der Politik verabschieden. Eine andere erwägt den Übertritt zur Union. Nur zur SPD will keiner wechseln. Die kleine vertrauliche Runde illustriert die grassierende Untergangsstimmung in den Reihen der Grünen. Eine Serie von Wahlniederlagen, in Brandenburg und im Saarland, in Thüringen, Nordrhein-Westfalen und zuletzt in Sachsen, hat sie aufs Höchste verunsichert. Ein bis zwei Prozentpunkte verlor die Öko-Partei im Osten und damit praktisch d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 die Hälfte ihres ostdeutschen Marktanteils, der stabil unter der Fünfprozentmarke liegt. Mit einem Minus von 2,9 Prozentpunkten hat ihr der Wähler in NordrheinWestfalen das schlechteste Ergebnis beschert, seit sie dort zum ersten Mal, 1984, antrat. Auf die Bundesebene umgerechnet, droht der Exitus. Ratlosigkeit hat die frisch nach Berlin Zugereisten befallen. Sie rätseln über die Ursachen des Niedergangs, warum Stammwähler, Frauen, und, besonders schmerzlich, die Jungen wegbleiben. Falsche Themen? Keine richtige Führung? Beim Regieren das Profil verloren? Auf Jahrzehnte sei in den neuen Bundesländern kein Milieu wie im Westen aufzubauen, hat Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer intern bilanziert. Deutschland Früher habe er durchaus gewusst, „wie die Grünen aus einer Krise herausfinden“, beschreibt der einstige Parteisprecher Ludger Volmer, jetzt Staatsminister im Auswärtigen Amt, seine trostlose Seelenlage: „Heute weiß ich es nicht.“ Auf dem Flug zur Uno-Vollversammlung nach New York offenbarte auch der Außenminister seine Furcht: „Bis zur Unkenntlichkeit in der Koalition zu verschwinden oder aber die Koalition zu verlassen“, verriet Joschka Fischer der „Zeit“, sei die fatale Alternative. Gefährlichste Bruchstelle: der Atomausstieg. Die Fischer-Partei laboriert an ähnlichen Symptomen wie der Koalitionspartner SPD. In der Regierungsverantwortung scheitern viele Ideen an der Realität, das politische Personal pflegt die seit Jahrzehnten lieb gewonnenen Zwiste, der mächtige Mann – hier Fischer, dort Schröder – wird allenfalls widerwillig akzeptiert. Hinter den mit Verve geführten Strategie- und Strukturdebatten verbirgt sich, dass die Flügel der Partei inhaltlich nicht zueinander finden. Sollen die Grünen nun werden wie die PDS, was manche der wahlkämpfenden Nordrhein-Westfalen mit ihrem Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ ansteuern? Oder sollen sie sich in eine Art Öko-FDP verwandeln, wie es jungen Bundestagsabgeordneten vorschwebt? Die Parteienforscher helfen nicht viel weiter bei der Suche nach Auswegen aus der Krise. Für die meisten Wähler, das hat der Mainzer Politikprofessor Jürgen W. Falter festgestellt, waren seit jeher „ökopazifistische Glaubensgewissheiten und das gesinnungsethische Engagement für nicht materielle Interessen charakteristisch“. Und: „Dies hat sich nicht grundlegend geändert.“ Eine neue Positionierung sei „ein äußerst riskantes Unterfangen“, warnt Falter: „Das könnte den Untergang der Partei zur Folge haben.“ Ganz unvermittelt könnte der Öko-Partei der Untergang auch praktisch, nicht nur theoretisch drohen: wenn im Winter Cas- Grüne Gremien Abbau grüner Wahlplakate (in Dresden): Den halben Marktanteil eingebüßt tor-Transporte rollen, ohne dass ein von der Basis akzeptierter Atomausstieg vorliegt, wenn die rot-grüne Koalition im Februar in Schleswig-Holstein abgewählt wird oder im Mai in Nordrhein-Westfalen. Die grüne Partei steht unvermittelt vor einem Showdown nach Western-Art: Überwindet sie ihre antiautoritären Reflexe und überträgt ihrem Star Fischer quasi die Alleinherrschaft? Oder brechen sie mit ihm, dem populärsten Politiker Deutschlands, was wohl gleichbedeutend wäre mit seiner Vertreibung? Denn Fischer findet, dass es nur eine Lösung geben kann – und die heißt Fischer. Genüsslich zelebrierte der heimliche Vorsitzende bislang seine Abneigung gegen die eigene Partei. Sollten die Grünen doch eine Wahl nach der an- Führungsstruktur von Bündnis 90/Die Grünen AP BUNDESV ORSTAND Röstel Radcke berät den Bundesvorstand zwei gleichberechtigte Sprecherinnen Bundesschatzmeister Antje Radcke und Gunda Röstel Dietmar Strehl Politischer Geschäftsführer Frauenpolitische Sprecherin Reinhard Bütikofer Angelika Albrecht L ÄN D E R R AT wählt den Bundesvorstand PAR TEIRAT BUNDESV ERSAM M LUN G Neu eingerichtetes Gremium: 25 Delegierte koordinieren die Arbeit zwischen den einzelnen Gremien. Entspricht dem Parteitag bei anderen Parteien und entscheidet über Programm, Satzung und politische Richtlinien. d e r Zwischen den Bundesversammlungen entscheidet der Länderrat über die politischen Richtlinien und koordiniert die Arbeit der Gremien auf Bundes- und Landesebene. s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 deren verlieren – irgendwann, rechnete er kühl, werde der Leidensdruck groß genug sein, ihm als Retter die Macht anzutragen, einen Teil erst einmal nur und schließlich auch die ganze. Lästig war ihm die Partei geworden, zuletzt auch zuwider. Seine Berichte aus dem Auswärtigen Amt für die Fraktion bekamen den Charakter einer hoheitlichen Gewährung von Information. Kabinettskollegin Andrea Fischer ließ schon mal sicherheitshalber einen Stuhl zwischen sich und dem Außenminister frei. Andere wagten sich gar nicht erst so nah heran. Missliebige Journalisten schnitt er monatelang, der Rest musste seinen langatmigen Ausführungen lauschen. Er bringt eigentlich keine Lust mehr auf für die mühseligen Sitzungen mit den ideologischen Kleingärtnern aus seiner Partei. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er sich eine klare Arbeitsteilung überlegt: „Die sollten ihre Arbeit machen, und ich mach einen guten Job als Außenminister. Ich war doch froh, dass ich mich da rausziehen konnte.“ Als die Partei in Sachsen am vorletzten Sonntag erwartungsgemäß wieder an der Fünfprozenthürde scheiterte, entschied der Ober-Grüne, dass der Schrei nach Führung nunmehr unüberhörbar sei. Das Szenario dafür hatte er lange schon fertig im Kopf – nun muss er es nur früher als geplant in die Tat umsetzen. Bis Mitte der Legislaturperiode, heißt seine Zielmarke, soll die Partei auf Linie liegen, auf seiner natürlich. Nun lässt Fischer im Auswärtigen Amt nach urgrünen Themen fahnden, weil er die Trennung von Außenpolitik und grüner 23 J. GIRIBAS Deutschland Außenminister Fischer in der Uno: „Ich war doch froh, dass ich mich da rausziehen konnte“ 24 den unaufhaltsamen Niedergang an. Die Parteiführer hatten den mäßigen Bundestagswahlkampf 1998 vorbereitet und den berühmten Magdeburger Parteitagsbeschluss – fünf Mark für den Liter Benzin – zu verantworten. Seither, das belegen die Umfragen, wird die einstige Modepartei vor allem als mäkelige Verbotspartei wahrgenommen. Weil ein weiteres Debakel dieser Güte das Aus bedeutete, müssten die Grünen die Frühjahrswahlen „wie Bundestagswahlen“ organisieren, beschwor Fischer A. SCHOELZEL Politik aufheben will. Wie im KosovoKrieg, als er an die antifaschistischen Wurzeln der Partei appellierte, soll sein außenpolitischer Hoheitsdrall dauerhaft in die Partei hineinwirken. Zuletzt hatte er, ganz Staatsmann, nach eigener Erkenntnis „zunehmend Seifenblasen abgesondert“ und war in blasse „Kommuniqué-Sprache verfallen“. Jetzt tritt hinter dem grauen Grünen wieder die Farbe des angriffslustigen Politikers hervor. „Ein richtiger Pitbull ist nur dem Knochen verpflichtet, der ihm hingehalten wird“, sagt er. Wichtige Entscheidungen der GrünenPartei werden künftig im vornehmen Dahlemer Gästehaus der Bundesregierung an der Pacelli-Allee fallen, wo der Amtschef derzeit nächtigt. Dort trifft sich künftig montags früh der „Wohlfahrtsausschuss“, dem die Spitzen von Partei und Fraktion angehören samt Ministern. Schon die Ortswahl wirkt wie ein Symbol des Wandels, und so soll es auch sein. In der Fraktion, kündigte Fischer an, werde er demnächst, wann immer möglich, präsent sein und das Regiment übernehmen. Wie in Oppositionszeiten will er der Partei über den Bundestag Profil verschaffen, mit harter Hand und nach dem Motto „Führen und wachsen lassen“ – eine Watsche auch für seinen Freund, den Fraktionschef Rezzo Schlauch. Die erwünschte Folge: Die Partei, aus Fischers Sicht die eigentliche Schwachstelle, wird entmachtet. Der Führung – neben Gunda Röstel vor allem Antje Radckes Vorgänger Jürgen Trittin – lastet er Fischer-Kandidat Schulz „Wir schnitzen ein Team“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 seine Truppe. Denn letztlich werde in Kiel und Düsseldorf „über die rot-grüne Koalition in Berlin entschieden“. Im Klartext: Erobert die CDU alleine oder mit der FDP die beiden rot-grünen Bastionen, kann sie mit ihrer Bundesratsmehrheit Rot-Grün in Berlin blockieren. „Dann sind wir stehend k. o.“, beschreibt Schlauch die Konsequenzen. Ob Große Koalition, Neuwahlen oder eine abgehalfterte Schröder-Regierung – ab Mai 2000 wäre die Öko-Partei erst einmal erledigt. Nach dem Vorbild von Franz Münteferings erfolgreicher SPD-Wahlkampfzentrale wird daher, organisatorisch und räumlich getrennt von der Partei, eine grüne „Kampa“ eingerichtet. Dort soll Achim Schmillen, einer von Fischers engsten Vertrauten, die Regie führen – so wie schon im Bundestagswahlkampf 1998 bei Fischers siebenwöchiger Solotour durch die Republik. Wie im letzten Jahr muss Schmillen Sponsoren auftreiben, denn die Kassen sind klamm. Eine Agentur wird noch gesucht, die für professionelle Vermarktung des Stars sorgt. „Damals ist es gelungen, Fischer mit den Grünen zu identifizieren“, meint Schmillen stolz, „jetzt müssen wir seine Popularität für die Partei nutzen.“ Der schwierigste Teil von Fischers Operation wird sein, den Weg an die Parteispitze freizumachen für seine Favoriten Fritz Kuhn und Renate Künast bei gleichzeitiger Abfindung der amtierenden Sprecherinnen Röstel und Radcke. Ein Parteitag müsste dafür einen der Gründungsgrundsätze mit Zweidrittelmehrheit auf- K.-B. KARWASZ Grüne Kuhn, Schlauch: Ende der Trennung von Amt und Mandat? Tatsächlich scheint die Partei noch nicht beglückt vom großen Retter Fischer. Im Parteirat am vergangenen Montag betrachtete kaum jemand eine Strukturreform als Allheilmittel. Insbesondere Vertreter aus NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen übten Kritik an ihrer Fraktion und den Ministern: Das Gesamtbild der Regierung sei desaströs. Bei ihren klassischen Themen hätten die Grünen ihr Profil verloren. Mit Anleihen bei der FDP und Anbiederung an die neue Mitte sei auch kein Erfolg zu erzielen. M. URBAN heben: die Trennung von Amt und Mandat. Fischer kategorisch: „Das muss weg.“ Dann könnte die bei zwölf Prozent gehandelte Berliner Spitzenkandidatin Künast auch gleichzeitig Parteichefin werden und Fraktionsvorsitzende in der Hauptstadt bleiben – so wie Kuhn in Stuttgart. Dann könnte der einstige DDR-Bürgerrechtler und Parlamentarische Geschäftsführer Werner Schulz, wie vorgesehen, Generalsekretär der Grünen werden. „Das ist ein Angebot“, lockt der große Stratege Fischer großmütig, „und dann schnitzen wir ein Team.“ Seit langem schon stöhnt er über den „Dilettantismus“ gerade des derzeitigen Sprecherinnen-Duos. Bislang allerdings begegnete Fischer Röstel und Radcke eher nonchalant. „Niemand sagt den Mädels ins Gesicht: Ihr bringt’s nicht“, klagt ein Fischer-Freund. Fischers Problem: Wie kann er die glücklosen Sprecherinnen, die an der Basis schon wieder Minderheitenschutz-Reflexe auslösen, loswerden, aber gleichzeitig eine Zweidrittelmehrheit auf dem Parteitag gewinnen? Nach zahlreichen Gesprächen mit Parteifreunden dämmert ihm, dass die Aussichten für den Coup nicht unbedingt rosig sind. Da beide Sprecherinnen „an gnadenloser Selbstüberschätzung leiden“, wie ihre Gegner glauben, werden sie freiwillig ihren Platz kaum räumen – oder nur für einen Nachfolger Fischer, der allerdings lieber virtueller Präsident ohne konkrete Ämter bleiben möchte. Eine verzwickte Falle. Dann nämlich müsste er sich einem Parteitag stellen, mit riesigem Restrisiko. Dass sich die Partei einem Alleinherrscher unterwirft, ist ziemlich unwahrscheinlich, der Leidensdruck reicht womöglich erst nach einem Wahl-Debakel in Nordrhein-Westfalen aus. Fischer-Kandidatin Künast: Führen und wachsen lassen d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Gerade der Umgang des Kanzlers mit dem kleinen Partner sorgt nach einem Jahr gemeinsamen Regierens für Unmut. Es herrscht der Eindruck: Gerhard Schröder macht mit den Grünen, was er will – und Fischer macht mit, um die Partei auf seinen Kurs zu zwingen. „Die Grünen stehen am Abgrund“, warnt der grüne hessische Vorstandssprecher Hartmut Bäumer. Sie dürften nicht jeden Preis fürs Regieren zahlen. Fraktionschef Schlauch hat verstanden: „Der Mittelbau mobbt gegen uns.“ Die Unbeweglichkeit seiner Partei bestärkt den einstigen Straßenkämpfer Fischer, der sich zum Staatsmann wandelte, im düsteren Verdacht, die Grünen seien doch nur ein Projekt der 68er, von denen er selbst sich längst abgenabelt hat. Fremd sind ihm die Oldies geworden, die immer noch Kampfeinsätze der Bundeswehr, Großflughäfen wie Autobahnen verbieten und ganz schnell aus der Kernenergie aussteigen wollen: „Wir schleppen noch viel von der Programmatik der siebziger und achtziger Jahre mit uns herum.“ Fischer muss sich nun wieder notgedrungen mit Gunda Röstel statt vorzugsweise mit Madeleine Albright über die Weltlage unterhalten. Und außer mit Hubert Védrine wird er auch mit Hans-Christian Ströbele über Krieg und Frieden reden. Halb ernsthaft, halb selbstironisch barmt er: „Quel malheur.“ Jürgen Hogrefe, Paul Lersch, Hajo Schumacher 25 Deutschland Tief bewegt In Berlin ist deutsche Geschichte immer präsent – unverdächtige Kanzler-Worte bekommen da schnell eine fatale Bedeutung. D PRESSEFOTO BACH & PARTNER ie Götter blickten ungerührt auf die geschäftige Runde. Um an die erste Sitzung des Bundeskabinetts unter Konrad Adenauer zu erinnern, die der Kanzler vor 50 Jahren ins Bonner Naturkunde-Museum Alexander Koenig einberufen hatte, tagte die Regierung Schröder im alten Museum von Berlin. Das sollte eine heitere Erinnerung an das Bonner Provisorium von einst sein – und auch ein Zeichen von Kontinuität. Denn in Berlin bekommt vieles einen bombastischen Stellenwert, was am Rhein politischer Alltag war. Auf Schritt und Tritt mussten Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Minister in der vergangenen Woche erleben, wie ihr Reden und Handeln vom historischen Hintergrund verzerrt und überwältigt zu werden drohte. In Berlin wird einfach allzu vieles unversehens symbolisch – und kann auch schon mal gegen die Handelnden verwendet werden. Der Bundeskanzler scheint sich dieser Situation sogar bewusst zu sein, wie er am vorigen Mittwoch gleich zweimal bewies. Erst verlief der Besuch des israelischen Premiers Ehud Barak in Berlin ziemlich harmonisch – ohne forsche Töne von der neuen Normalität, die Schröder auch gern anschlägt. Und selten äußerte er sich so abgesichert, vorsichtig und politisch korrekt zur Außenpolitik wie wenig später vor den „Schlüsselfiguren des europäischen Journalismus“, die ihm lauschten. „Deutschlands Zukunftsfähigkeit wird sich beweisen an seiner Zuverlässigkeit und seiner Berechenbarkeit“, versicherte der Regierungschef vor dem hochkarätigen Forum der „Frankfurter Allgemeinen“. Was das für ihn bedeute, lieferte er ausführlich in freier Rede nach: dass es zur Nato keine Alternative gebe; dass die EU erweitert werden müsse; dass Deutschland diese Vorhaben in „enger Abstimmung mit Frankreich“ betreiben werde, in Partnerschaft mit den USA und in Hoffnung auf die außenpolitische Stabilität in Russland. Von Adenauer über Willy Brandt und Helmut Schmidt bis Helmut Kohl hätten alle seine Vorgänger zustimmend genickt. Auch der vorsichtige Vorschlag ist nicht anstößig, für ganz Europa Verhältnisse zu schaffen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 50 Jahren zu materiellem Wohlstand, demokratischer Verlässlichkeit und sozialem Frieden geführt hätten. Und Schröder fasste zusammen: „Das Modell Deutschland muss Modell Europa werden.“ Keiner im Publikum stöhnte auf. Es liegt wohl mehr an Berlin als an Schröder, dass sein „Modell Deutschland“- DPA KANZLER Baustelle des Berliner Kanzleramtes, Modell (o.): Bombastischer Alltag 26 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Satz wenig später so artikuliert wurde, als habe er gesagt, am deutschen Wesen solle wieder einmal die Welt genesen. Ein Teilnehmer an einer privaten Gesellschaft hatte – wie die „Süddeutsche Zeitung“ tags darauf vermeldete – die Schröder-Äußerung im schnarrend-anmaßenden Tonfall Adolf Hitlers persifliert. Die Leute passierten da gerade am späten Abend per Boot die von Scheinwerfern erhellte monumentale Baustelle des künftigen Kanzleramtes. Für die Größe des Baus ist Helmut Kohl verantwortlich, nicht der Nachfolger. Aber in dieser Umgebung, in der einst Albert Speer seinem Führer einen gigantischen Germanen-Tempel errichten wollte, sind Emotionen und historische Assoziationen oft stärker als die Realität. Am selben Tag hatte sich der Kanzler schon einmal bemüht, den Verdacht historischer Verantwortungslosigkeit zu widerlegen. Den israelischen Ministerpräsidenten Barak begleitete er ins KZ Sachsenhausen und versicherte dort: „Wir werden gegen alle Formen des Faschismus und des Rassismus angehen.“ Das müsse für die heutige, aber auch für die künftigen Generationen gelten. „Diese tiefe Überzeugung haben wir aus Bonn mitgebracht und werden wir in Berlin bewahren.“ Das ist ziemlich schwer. Der protokollarische Empfang des Staatsgastes Barak durch das Wachbataillon im Hof des Kanzleramtes verwandelte sich bei argwöhnischen Berlin-Skeptikern gleich zur Militärparade. Hatten die Berliner nicht sogar das Brandenburger Tor geschlossen? Ja, sie hatten. Aber nicht die Bundesregierung bat darum, sondern der Verkehrssenator. Und auch nicht wegen des Staatszeremoniells, sondern wegen einer Werbeveranstaltung von VW. Politik in Berlin, das ist, als ob einer in einem Spiegelkabinett von sich ein klares Bild vermitteln wollte. Was allein hilft, ist offenbar verlässliches und unzweideutiges Handeln. So war es an diesem Tag vor allem Bundespräsident Johannes Rau, der verkörperte, was Schröder sagte – eine langjährige persönliche Freundschaft zu Israel und eine enge persönliche Bindung zu Barak. Der bekannte ihm, dass er „tief bewegt“ sei in Berlin. Und es war wohl auch kein Zufall, dass in Raus Amtssitz „Bellevue“ der geschichtsmächtige Tag mit einer weiteren Symbol-Szene zu Ende ging. Marcel Reich-Ranicki, in Polen geborener Jude und deutscher Literaturkritiker, las da ein Kapitel aus seinem Buch „Mein Leben“, das vom Ende des Warschauer Ghettos handelte. Als er vom Podium herabstieg, etwas zittrig nach anstrengendem Vortrag, reichten ihm zwei Männer stützend die Hand: der deutsche Präsident Rau und sein polnischer Kollege Adam Kwaśniewski. Jürgen Leinemann FOTOS: DPA REUTERS Kanzler Schröder mit Rumäniens Premier Vasile, bulgarischen Geistlichen, Albaniens Premier Majko: Lob und Tadel verteilt AU S S E N P O L I T I K Lili Marleen in Tirana Albanien, Bulgarien und Rumänien unterstützten die Nato im Kosovo-Krieg. Gerhard Schröder dankt mit einer Tour de Force durch die Armenhäuser Europas. N achts in Bukarest, und kein Rumäne ist mehr in Sicht außer dem Kellner. Gerhard Schröder nippt im fünften Stock des Hotels Hilton am Rotwein und entlässt eine Pannenmeldung in den Zigarrennebel: „Kündigen die mir hier Rumäniens Arbeitsminister an. Sag ich: Sie sprechen aber vorzügliches Deutsch. Sagt der: Ich bin der deutsche Botschafter.“ Schröders rotblonder Tischgenosse lacht kurz, pafft ebenfalls ein Wölkchen und schaut versonnen in die Ferne. Politik ist nicht sein Job. Themawechsel also, hin zur Liaison Graf/Agassi, zum DaviscupMatch gegen Rumänien, zur Psyche von Siegern; Boris Becker ist als Teamchef in Bukarest, sein Duzfreund Gerhard als Regierungschef. Die Nähe des Tennishelden tut Schröder gut am vergangenen Donnerstag. Frühstück in Tirana, Lunch in Sofia, Abendessen in Bukarest – binnen 14 Stunden sind an seinen müden Augen drei Länder samt Premierministern, dazu zwei Präsidenten, Oppositionelle, singende Popen und leidende Kinder vorbeigezogen. Es war Schröders erklärter Wille, mit einer Tour de Force Dank zu sagen für die Hilfe, die Jugoslawiens Anrainerstaaten der Nato während des Kosovo-Kriegs gewährten. Albanien hat damals über 400 000 Flüchtlinge aufgenommen, Bulgarien die Detonation fehlgeleiteter Raketen auf dem eigenen Staatsgebiet ertragen und dazu, wie auch Rumänien, wirtschaftliche Einbußen in dreistelliger Millionenhöhe. Also durchquert der Kanzler als Zeichen der Solidarität Tirana, in Enver Hodschas altem Mercedes 600; er konferiert in Todor Schiwkows Sofioter Residenz und tafelt in Nicolae Ceau≠escus Bukarester Gästehaus – umgeben vom Protz der untergegangenen Diktatoren, lernt er die Wünsche ihrer demokratischen Erben kennen. Alle wollen sie in die EU, so schnell wie möglich. Keiner hat auf absehbare Zeit eine realistische Chance. Die Berichte der Europäischen Kommission über Reformfortschritte werden im November veröffentlicht. Bulgarien darf mit Lob rechnen, vielleicht sogar mit einer Einladung zu Beitrittsverhandlungen. Rumänien hat Tadel zu gewärtigen und Albanien bestenfalls ein baldiges Assoziierungsabkommen. Trotzdem sind die Erwartungen an Deutschland „zum Teil beunruhigend hoch“, wie es in Schröders Umfeld heißt. Dem größten EU-Staat wird zugetraut, beim Europäischen Rat in Helsinki im Dezember die quälende Prozedur abkürzen zu helfen. Solidarität im Kosovo-Krieg und innere Demokratisierung, so die Hoffnung der Beitrittskandidaten, müssten für Mängel bei den makroökonomischen Basisdaten entschädigen. Schröder dämpft die Erwartungen, wird aber dennoch mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Er ist der erste deutsche Kanzler auf Besuch in Albanien seit dem Zweiten Weltkrieg, der erste in Rumänien seit Helmut Schmidt, und in Bulgarien war seit Kohls Visite 1993 keiner mehr da. In Tirana, wohin deutsche Soldaten ab 1943 kräftig Stiefel gesetzt haben, spielen sie unter vollmondbeschienenen Zypressen nach dem Bankett den Landser-Hit „Lili Marleen“. Höflichkeitshalber fragt der Bundeskanzler den jungen Premier Pandeli Majko: „Do you know this melody?“ Majko verneint. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 In Sofia führt ein Metropolit seinen hohen Gast durch die prachtvolle NewskiKathedrale, erwähnt strahlend, dass die Klimaanlage ein deutsches Produkt sei, und lässt zum Abschied einen Glaubensbruder vor dem Altar mit schwellendem Bass und liturgischer Inbrunst ein Loblied auf den „Kanzler Gerhard Schredder“ anstimmen. Der schreibt ins Gästebuch „Eine wundervolle Stätte der Andacht“ und hetzt weiter nach Bukarest. Dort ist schon Boris Beckers früherer Manager, der Multi-Unternehmer Ion Tiriac, beim Bankett aufgeboten. Er versucht, was Rumäniens Premier vorher durch einen 25 Minuten langen Monolog missraten ist – den Eindruck von Dynamik zu erzeugen. Tiriac kumpelt mit dem Kanzler und wünscht sich über gedünstetem Donau-Stör ein Machtwort: Schröder solle klarstellen, dass Rumänien für deutsche Unternehmer eine sichere Sache sei, nötigenfalls durch Hermes-Bürgschaften. Noch ist Schröders Fähigkeit, sich im Interessengestrüpp des Balkans zurechtzufinden, weniger ausgeprägt als seine Absicht, dort Flagge zu zeigen. Mit dem Führungsanspruch aber wächst die Verantwortung – auf des Kanzlers Kurztrip fehlt es nicht an Warnsignalen. Albaniens Führung tue „nichts, um den Verdacht zu entkräften“, dass ihr ein Anschluss des Kosovo gelegen käme, heißt es im deutschen Tross. Schröder aber scheint das wenig zu beirren. Er denkt in Märkten, weniger in Machtsphären, und lobt deshalb lieber Bulgarien. Das Land hat schon 1997 den Kurs des Lew an die D-Mark gekoppelt und damit neben der Inflation auch seinen wirtschaftspolitischen Spielraum stark eingeschränkt. Rumänien sperrt sich bisher gegen so viel Verzicht auf Souveränität und büßt dafür mit dem Verfall der Staatsfinanzen. „Hier muss noch harte Arbeit geleistet werden“, urteilt der Bundeskanzler ungnädig in Bukarest. Zu seiner Linken steht dabei Rumäniens Premier Radu Vasile, reglos wie ein Schulbub, dem der Klassenlehrer die Versetzung verweigert. Walter Mayr 27 Deutschland H AU P T S TA D T Berliner Chaostage Z wei Kilometer vor dem Ziel gab Bernhard Edler von der Planitz entnervt auf. Der Protokollchef des Auswärtigen Amts verließ fluchtartig sein Auto und winkte verzweifelt einen Streifenwagen herbei. Um die Akkreditierung der ausländischen Botschafter im Bundespräsidialamt nicht zu verpassen, bediente sich der Spitzenbeamte der Ordnungsmacht und entkam gerade noch rechtzeitig dem Verkehrsstau am Brandenburger Tor. Der Metropole droht seit dem Regierungsumzug nahezu täglich der Verkehrskollaps: Die Stadt verwandelt sich dann für mehrere Stunden in einen gigantischen Parkplatz. Am vergangenen Dienstag erwies sich die vielbeschworene Hauptstadtfähigkeit der Berliner endgültig als Schimäre. Der Staatsbesuch des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak, dazu der normale Berufsverkehr auf den maroden Straßen des Regierungsviertels und schließlich auch noch die Fan-Invasion britischer Fußballfreunde zum Champions-League-Spiel Hertha gegen Chelsea London – da ging gar nichts mehr. 1700 Polizeibeamte sicherten die Straßen, die unzähligen Kontrollen und Sperren angesichts der höchsten Sicherheitsstufe nervten selbst stauerprobte Autofahrer. Und die Politiker, von Bonn noch allzeit freie Fahrt gewöhnt, wollten sich mit dem Platz in der Schlange nicht abfinden. Doch die Herren, die so gerne wie Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt e Reichstag Tiergarten 28 Richtung Westen gesperrt Französische Straße aße lmstr Voßstraße Potsdamer Platz Behrenstraße Pariser Platz Wilhe Ebertstraße Straße Brandenburger Tor in Richtung Osten gesperrt Unter den Linden Brandenburger Tor des 17. Juni Ost-WestVerbindungen in Berlin-Mitte Friedrichstr. e Spr weiland das Politbüro ihr Viertel durch- nung: Die Kolonne hatte den Flughafen fahren, sind auch Opfer ihrer Knauserig- noch gar nicht verlassen. keit. Bund und Senat streiten seit Jahren, Die Protokollstrecke, auf der sich zu wer wieviel für die Infrastruktur am Re- Spitzenzeiten bis zu sechs Regierungskongierungssitz zahlt. vois bewegen, führt zu allem Überfluss Deshalb ist das Chaos auch zu einem durch zwei der sensibelsten Verkehrsgroßen Teil hausgemacht. So muss die Po- punkte der Stadt – die Riesenkreisel am lizei in der Verkehrsregelungszentrale, vom Ernst-Reuter-Platz und an der Siegessäule. CDU-Experten Alexander Kaczmarek als Auf den insgesamt zehn Straßen, die sich „Dependance des Verkehrsmuseums“ ver- hier treffen, bildet sich blitzartig eine exspottet, die 1600 Berliner Ampeln mit einer plosive Gemengelage. Noch bevor die PoTechnik aus dem Jahr 1979 steuern. Da lizeieskorten den Ort erreichen, gehen die wird die Freischaltung der Protokollstrecke ersten Beschwerden über Notruf 110 ein. vom Flughafen Tegel ins Regierungsviertel „Die Autofahrer dort drehen schnell jedes Mal zum Abenteuer. durch“, weiß Polizeihauptmeister Jens Lange vor dem geplanten Start der Ba- Radsey. Für einen 34-jährigen Polizeiberak-Kolonne stieg Polizeioberkommissar amten endete der Kampf um die Vorfahrt Volker Galuba in der Kreuzberger Zentra- im Krankenhaus. Der Motorradfahrer des le auf ein knarrendes Blechpodest vor einer riesigen Berlin-Karte. Der Beamte notierte sich jede Ampelnummer entlang der geplanten Fahrstrecke, um sie später selbst in den Computer einzugeben. Um 17.51 Uhr legte Galuba auf Zuruf die Signalanlage 14K14058 lahm, in diesem Moment sprangen an der Einmündung Seidelstraße / Avenue Jean Mermoz alle Ampeln auf Rot. Eher zufällig kam nach zehn Minuten die Entwar- Baustelle im Regierungsviertel: Explosive Lage Geplante Verlängerung zur Ebertstraße Leipziger Straße Mohrenstraße Richtung Westen: Umleitung über Voßstraße d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Barak-Vorauskommandos war trotz Blaulicht und Sondersignal von einem Mercedes 600 SE gerammt worden. Zum Reizklima trägt auch die Chuzpe bei, mit der schon bei kleinsten Anlässen den Autofahrern Rot gezeigt wird.Während die Ampeln für die Barak-Eskorte abgeschaltet wurden, war der Gast längst beim Kanzler angekommen – mit einem Helikopter des Bundesgrenzschutzes. Das Durchschleusen des Konvois war lediglich ein Test für künftige Staatsbesuche. Die Angst vor Blamagen ist nicht unbegründet. So saß im vergangenen Jahr der portugiesische Staatspräsident Jorge Sampaio zwischen Schloss Charlottenburg und Potsdamer Platz 20 Minuten im Stau fest – für Sicherheitsexperten ein Super-GAU. Entsprechend rigoros agieren die Ordnungshüter jetzt, behandeln die neue Po- C. BACH / PRESSEFOTO BACH & PARTNER Die angebliche Hauptstadtfähigkeit der deutschen Metropole wird beinahe täglich widerlegt. Staatsbesuche, Baustellen und Volksfeste machen die Straßen des Regierungsviertels zu einem gigantischen Parkplatz. die Berliner nach dem Fall der Mauer vehement stritten, wird zunehmend für Feste aller Art gesperrt. Der Kanzler gab dort seinen Einstand, VW bejubelte den 100millionsten Volkswagen, und die Unicef feierte hier eine Kinderparty. „Wozu ist ein Tor da, wenn es nicht geöffnet wird“, fragt irritiert ADAC-Vorstand Eberhard Waldau angesichts der Tatsache, dass die wichtigste der wenigen OstWest-Verbindungen im Regierungsviertel in diesem Jahr bereits 19 Tage für jeglichen Autoverkehr gesperrt war. Solange am Potsdamer Platz noch gebaut wird und andere Straßen plötzlich als Sackgasse enden, haben die Berliner kein Verständnis dafür, wenn ausgerechnet das Nadelöhr zum Rummelplatz wird. „Für ein paar Mark Miete die Mitte blockiert“, klagte der „Tagesspiegel“, als jetzt die Veranstalter der Japan-Parade für 6,50 Mark Standgebühr pro Tag und Quadratmeter das Tor mit Genehmigung der Polizei für sieben Tage zumachen durften. Die Verkehrsverwaltung hatte drei Tage zugestanden. Bis zum Jahresende stehen bereits vier weitere Vollsperrungen fest. „Hier herrschen chaotische Verhältnisse“, klagt der Vorsitzende der Berliner Taxifahrer-Innung, Wolfgang Wruck, „selbst Schleichwege gibt es nicht mehr.“ Die Kun- M. EBNER / MELDEPRESS lit-Elite ebenso rau wie Alteingesessene. Abgeordnete und Mitarbeiter verweigern schon mal das Vorzeigen des Ausweises und versuchen, auf dem kleinen Dienstweg Strafzettel, die im Rheinland so schön unverbindlich waren, zu erledigen. Viele West-Berliner fühlen sich inzwischen an die Vopos aus DDR-Tagen erinnert – obwohl nur noch ein knappes Viertel der 14 500 Schutzpolizisten ihre Sozialisation bei der Volkspolizei erfahren haben. „Die Beamten sind inzwischen körperlich völlig überfordert“, klagt Klaus Eisenreich von der Berliner Polizei-Gewerkschaft – insgesamt hätten sich bereits 1,35 Millionen Überstunden angesammelt. Permanent würden Beamte aus den Nachbarbezirken zu Sonderschichten nach Berlin-Mitte abgezogen. Eisenreich: „Rund um das J. BAUER Verkehrsleitstelle Berlin: Jeder Staatsbesuch ein Abenteuer Stau am Brandenburger Tor: „Die Mitte blockiert“ d e r Regierungsviertel gibt es polizeifreie Zonen.“ Ein Ende der Chaostage ist nicht in Sicht. Am zweiten Tag des Besuchs von Barak teilte dieser sich die Aufmerksamkeit der Polizei mit 25 000 demonstrierenden Heilberuflern. Zeitgleich legten vier weitere Protestmärsche die Stadt lahm. Es folgten bis zum Wochenende eine Japan-Parade, der BerlinMarathon und eine ZDFShow am Brandenburger Tor. Der historische Durchgang, für dessen Öffnung für den Fahrzeugverkehr s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 den beschweren sich, sie müssen den Stau teuer bezahlen: 67 Pfennig kostet die Taximinute im Berliner Stau. Ist der doppelte Betrag des Normalpreises erreicht, schalten mitleidige Droschkenkutscher deshalb schon mal die Taxi-Uhr vorzeitig ab. Auf der Homepage des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) monieren Bürger in wütenden Schreiben den „täglichen Wahnsinn des Verkehrskollapses“. Doch der Politiker, der für seine Wiederwahl am 10. Oktober mit dem Schlagwort „Mehr Mobilität“ und demonstrativem Joggen wirbt, ist auf Turnschuhe der Marke „ebi“ umgestiegen. Die Runner, Stückpreis 97,60 Mark, werden nun auch per Internet vertrieben. Zu bestellen unter dem wegweisenden Stichwort: „Ja, auch ich mach mich fit für Berlin.“ Steffen Winter 29 J. DIETRICH / NETZHAUT Wahlkämpfer Clement (in Dortmund): „Wir haben viele Leute am Wegesrand stehen lassen“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Eine krasse Vertrauenskrise“ Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement über die Wahlschlappen der SPD, Modernisierung und die Hoffnung auf eine Stimmungswende SPIEGEL: Herr Clement, im Berliner Wahlkampf soll Bundeskanzler Schröder nicht mehr plakatiert werden. Muss die SPD ihre Modernisierer verstecken? Clement: Unsinn. Wir müssen unser Wirtschafts- und Sozialsystem an die weltwirtschaftliche Lage anpassen. Das wissen unsere Bürgerinnen und Bürger auch. Unsere Nachbarn in Europa haben das längst getan. Eine Mehrheit hält das Zukunftsprogramm der Bundesregierung ja offensichtlich für richtig … SPIEGEL: … aber die SPD nicht mehr für die richtige Partei. Clement: So ist es derzeit wohl. Bei den jetzigen Wahlen, auch bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, sind viele unserer Wählerinnen und Wähler zu Hause geblieben. Wenn im Norden von Essen, wo überwiegend Industriearbeiter wohnen, die Wahlbeteiligung unter 35 Prozent fällt, dann ist das mehr als ein Warnsignal. Aber die Leute sind für uns nicht verloren, auch wenn wir in einer sehr kritischen Phase sind. SPIEGEL: Warum war das erste Regierungsjahr im Bund so erfolglos? Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Horand Knaup, Joachim Preuß und Andrea Stuppe. 30 Clement: Es war kein erfolgloses Jahr, aber ein Jahr mit großen Problemen. Zuerst die 630-Mark-Leute, die Haushilfe, die sich was dazuverdient; ich schätze, mindestens eine Million Leute, die einen Zweitjob gehabt haben, fühlen sich betroffen. Dann kommen die so genannten Scheinselbständigen dazu und schließlich die Rentnerinnen und Rentner, die sich übervorteilt fühlen. Wir haben viele Leute am Wegesrand stehen lassen. SPIEGEL: Schlechtes Handwerk? Clement: Auch – und wir haben zu viel auf einen Schlag verbessern wollen. SPIEGEL: Verstehen Sie die Kritik der Gewerkschaften? Clement: Teilweise. Es ist beispielsweise so, dass wir mit dem niedrigeren Beitrag, der für Empfänger von Arbeitslosenhilfe in die Rentenkasse gezahlt wird, auch Vorruheständler treffen. Die sind guten Gewissens in den Vorruhestand gegangen, haben jetzt aber für ihre Rente eine geringere Bemessungsgrundlage als bisher. Für Stahlkocher, die vor dem 58. Lebensjahr in Vorruhestand gegangen sind, kann das spürbar weniger Rente bedeuten. SPIEGEL: Wenn Sie es ändern wollen, müssen Sie das Sparpaket aufschnüren. Clement: Ja, aber nicht in der Substanz verändern. Zu Korrekturen im Detail wird es d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 auch im Vermittlungsverfahren kommen. Kompromisse, wie sie sich vergangene Woche im Bundesrat abgezeichnet haben, sind denkbar und wünschenswert. SPIEGEL: Wollen Sie die Gesellschaft und ihre Sozialsysteme nun modernisieren oder nicht? Clement: Wir wollen, wir müssen und wir werden unsere Systeme modernisieren. Aber wir müssen es intensiver, besser vermitteln. SPIEGEL: Warum ist der Bundesregierung, deren Kurs Sie ja grundsätzlich unterstützen, der Spagat zwischen Modernisierung und traditioneller Politik bisher nicht gelungen? Clement: Weil wir in der Wahrnehmung der Menschen nicht wirklich an das glauben, was wir tun. Das heißt: In der Gesamtheit, vor allem in der Führung unserer Partei, haben wir nicht das nötige Vertrauen ausgestrahlt, sondern das, was wir tun, ständig selbst angezweifelt. Das kann nicht gut gehen. Stichwort: Sommertheater. SPIEGEL: Haben Sie nicht auch vor der Wahl falsche Erwartungen geweckt? Clement: Wir haben vor der Wahl nicht klar genug gemacht, ob wir – wie Oskar Lafontaine – die Lösung unserer Wirtschafts- Deutschland SPIEGEL: Wie würde der Modernisierer Clement den sozialdemokratischen Urwert Gerechtigkeit definieren? Clement: Chancengleichheit und Schutz vor Ausgrenzung und Armut. SPIEGEL: Bedeutet Umverteilung, die manche Genossen einfordern, in Ihren Augen auch Gerechtigkeit? Clement: Natürlich bleiben alle Versuche einer gerechten Vermögensverteilung richtig, aber der Weg über eine Vermögensteuer ist uns verbaut. Es ist rechtlich problematisch und politisch – im Bundesrat – nicht durchsetzbar. SPIEGEL: Wäre nicht eine Anhebung der Erbschaftsteuer ein solcher Versuch? Clement: Ich kann das nicht empfehlen. Sie treffen damit die Falschen, namentlich den Mittelstand, und wecken bei anderen – wenn auch zumeist unbegründete – Ängste. Ich würde begrüßen, wenn es gelänge, dass die Vermögenden – etwa über Stiftungslösungen – Hochschulen oder Bildung allgemein mitfinanzierten. Darüber lohnt das Nachdenken. SPIEGEL: Das wäre doch so ein Symbol, auf das die Wähler offenbar großen Wert legen. Bürger zu uns Politikern, zu allen Politikern. SPIEGEL: Das ist bei Affären wie der um den Kölner Oberbürgermeister-Kandidaten Heugel auch kein Wunder. Clement: Verfehlungen gibt es überall, übrigens nicht nur in Parteien. Der Verdacht allerdings, dass wir Politiker überwiegend an den eigenen Vorteil dächten, ist schrecklich. Das ist zur Zeit das größte Handicap, das wir im politischen Deutschland haben. SPIEGEL: Haben Sie in Nordrhein-Westfalen zu spät reagiert? Clement: Gemessen an dem, was uns jetzt entgegenschlägt: ja. Aber es nützt ja nichts, wir müssen uns gegen den bösen Schein wehren, den es offensichtlich gibt. SPIEGEL: Und was wollen Sie dagegen unternehmen? Clement: Wir müssen Konsequenzen ziehen und mit bestem Beispiel vorangehen. Wir wollen die Altersversorgung der Ministerinnen und Minister ändern und für mehr Transparenz bei den Einkünften und der privaten Ausstattung der Regierungsmitglieder sorgen. Jedes Kabinettsmitglied soll sein Vermögen offen legen, und zwar gegenüber einer unabhängigen Stelle, die M.-S. UNGER und Finanzprobleme vorwiegend auf dem internationalen Feld suchen sollten oder vor allem in Deutschland. Auch die ersten Handlungen der Regierung Schröder/Lafontaine haben den Eindruck erweckt, als ob wir in Deutschland auf einer Insel der Seligen lebten. Diese Illusion ist erst vor der Sommerpause zerstört und durch das Zukunftsprogramm ersetzt worden. SPIEGEL: Soll das etwa heißen, die SPD hätte sich von Anfang an für mehr Schröder und weniger Lafontaine entscheiden sollen? Clement: Sie hätte sich früher für einen vernünftigen Mix aus Angebots- und Nachfragepolitik entscheiden müssen. Da liegt die Ursache für die Konflikte, die sich über den Sommer hinaus ausgewirkt haben. SPIEGEL: Den 1400 Abgeordneten und Räten der SPD, die gerade in NordrheinWestfalen ihr Mandat verloren haben, nützt das nicht mehr. Clement: Wir haben wirklich eine Klatsche eingesteckt – und das hatte auch, nicht nur, mit dem Bundestrend zu tun. SPIEGEL: Über die Jahrzehnte hat sich offenbar zu viel Filz festgesetzt. Clement: Die Frage ist nicht, ob man 30 oder 40 Jahre regiert, sondern ob man die Fähigkeit zur Erneuerung aus eigener Kraft hat oder nicht. Das ist das Kriterium, und das ist bei uns offensichtlich recht unterschiedlich entwickelt. SPIEGEL: Auch Sie wollten sich an der Arbeitslosenquote messen lassen. Sie ist seit Ihrem Amtsantritt nur um 0,6 Prozentpunkte gefallen. Clement: Das wären in zehn Jahren immerhin rund fünf Prozentpunkte – nicht schlecht! –, aber wir werden noch schneller sein! SPIEGEL: Das reicht aber nicht, um im Mai die Landtagswahl zu bestehen. Clement: Warten Sie’s ab! SPIEGEL: Zweckoptimismus? Clement: Zuversicht! SPIEGEL: Vergangene Woche haben Sie ein Papier vorgelegt, das nach Johannes Rau, nach sozialdemokratischer Seele klingt. Eine Kurskorrektur des Modernisierers Clement? Clement: Ach was. Mein Kurs heißt soziale Marktwirtschaft. Das Ziel unserer Politik ist Gerechtigkeit. Jeder andere Eindruck wäre falsch. Wir dürfen darüber die politische Meinungsführerschaft nicht verlieren. Deshalb kommt die Positionsbestimmung jetzt. SPIEGEL: Ist der neue Wolfgang Clement, der sich in dem Strategiepapier präsentiert, wirklich neu oder ist er nur netter zu SPDLinken und Gewerkschaften? Clement: Natürlich gehe ich ein auf Kritik. Aber wenn mir nachgesagt wird, ich sei ein Modernisierer, dem die soziale Gerechtigkeit gleichgültig sei, so antworte ich: Mein ganzer Lebensweg und meine ganze Lebenshaltung stehen im Widerspruch zu solchen Annahmen. Sozialdemokraten Müntefering, Clement: „Verfehlungen gibt es überall“ Clement: Wir brauchen keine Inflation der Symbole, die haben die konkrete Politik oft zu sehr verdeckt. Wenn Politik und Symbolik nicht mehr zusammenpassen, führt das zu Verwirrung. SPIEGEL: Haben Sie sich als Sozialdemokrat nicht viel zu weit von der Basis entfernt? Clement: Es gibt eine krasse Vertrauenskrise im Verhältnis der Bürgerinnen und d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 darüber wacht, dass unsere Angaben zutreffen. SPIEGEL: Mangelt es führenden Sozialdemokraten nicht auch an Authentizität? Clement: Diese Sorge hab ich nicht. Ich fühle mich im Ruhrgebiet zu Hause wie eh und je. SPIEGEL: Die Popularität von Kanzler Schröder ist spürbar gesunken. Sind seine Auftritte im Wahlkampf noch von Nutzen? 31 Deutschland Clement: Natürlich kommt der Kanzler 32 KIRCHE Tolle Leistung Ein privater katholischer Verein will die Arbeit der kirchlichen Schwangerenberatung übernehmen. Weiterer Ärger mit dem Vatikan ist nicht ausgeschlossen. A. VARNHORN zu uns nach Nordrhein-Westfalen, und das ist gut so. Wir nehmen die Themen und Probleme auf, die den Leuten auf den Nägeln brennen. Kneifen gibt’s nicht! SPIEGEL: Bei den jungen Leuten kommen Sie nicht mehr an. Die laufen scharenweise davon. Clement: Das ist wirklich bedrückend. Es ist sowohl eine Distanz zu den Inhalten, die wir präsentieren, als auch zu der Form, in der wir das tun, zu verspüren. Dabei ist es wohl so, dass wir eher in Konkurrenz zur Freizeitindustrie stehen als zum politischen Gegner. SPIEGEL: So werden Sie junge Leute kaum ködern. Clement: Ortsvereinssitzungen der SPD sind heute nun mal kein Event, sondern für Außenstehende ziemlich strapaziöse Veranstaltungen ohne besondere Anziehungskraft. SPIEGEL: Welche Verbesserungsvorschläge machen Ihre fünf Töchter? Clement: Die sind stärker auf ihre beruflichen Entwicklungen konzentriert. Das ist vermutlich nicht untypisch, aber in den Parteien heute, nicht nur bei uns, ohne großen Widerhall. SPIEGEL: Sie mahnen auffallend oft einen gesellschaftlichen Konsens in den großen Fragen der sozialen Gerechtigkeit an. Das klingt nach jemandem, der einer Großen Koalition zustrebt. Clement: Überhaupt nicht. Ich habe bei allem, was wir in unserem Bundesland diskutieren, das niederländische Beispiel vor Augen. Die haben ihre Erfolge – Senkung der Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, Renten- und Steuerreform – durchweg auf dem Weg des Konsenses erzielt. Sie sind viel pragmatischer als wir und haben politischen Fragen nur selten prinzipielle Bedeutung beigemessen. Dazu haben wir leider eine starke Neigung. SPIEGEL: Welche Funktion hat der Bundesparteitag im kommenden Dezember für Sie? Clement: Das ist der nächste Ankerpunkt für uns. Da müssen wir unsere Kräfte sammeln. SPIEGEL: Welches Motto empfehlen Sie? Clement: Ich würde am liebsten ein riesiges Tuch über unser Parteihaus hängen, auf dem nur zwei Worte stehen: modern und sozial. SPIEGEL: Das gab es schon mal: „Innovation und Gerechtigkeit“. Clement: Damit sind wir gut gefahren. SPIEGEL: Braucht die Partei einen stellvertretenden Vorsitzenden Clement? Clement: Da habe ich eine andere Priorität. Mein Ehrgeiz ist: Ich will bei uns in Nordrhein-Westfalen gewinnen und dieses Land ins neue Jahrtausend führen. SPIEGEL: Herr Clement, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Bischof Lehmann (r.), Amtsbrüder*: Hitzige Debatte über den Ukas aus Rom V on Montag dieser Woche an können die katholischen Bischöfe in den 27 deutschen Bistümern endlich einmal selbst bestimmen – zumindest über den Zeitpunkt, ab wann sie der neuesten Papstorder zur Abtreibung gehorchen wollen. Ein Drittel von ihnen, darunter der Kölner Kardinal Joachim Meisner, will die kirchlichen Beratungsstellen anweisen, ab sofort keine Scheine mehr auszustellen, die nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz für eine Abtreibung erforderlich sind – so wie es Johannes Dyba, der Erzbischof von Fulda, seinen Amtsbrüdern schon seit 1993 vormacht. Mindestens zehn Oberhirten, die Bischöfe von Limburg, Trier, Erfurt, Regensburg, Münster, Magdeburg, Essen, Aachen, Osnabrück und Hamburg dagegen wollen erst einmal alles beim Alten lassen und die Sache verschleppen. In sechs Wochen müssen die deutschen Bischöfe und Kardinäle oh- * Beim Eröffnungsgottesdienst der Deutschen Bischofskonferenz am Montag voriger Woche im Dom zu Fulda. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 nehin zu der alle zwei Jahre fälligen Visitation im Vatikan antanzen, jeder von ihnen wird zum Einzelgespräch vom Papst empfangen. Dann können die Abweichler dem Pontifex, so hoffen sie wenigstens, nochmals eindringlich ihre Not mit dem jüngsten Papstbefehl vortragen. Doch der Heilige Vater dürfte sich nach den Querelen der vergangenen Monate kaum umstimmen lassen. Sein Nuntius in Deutschland, Giovanni Lajolo, revidierte auf der Herbsttagung der Deutschen Bischofskonferenz vergangene Woche in Fulda ausdrücklich seinen Brief vom Juni, in dem er die Zustimmung der römischen Kurie zu dem trickreichen Beschluss der deutschen Oberhirten annonciert hatte, zwar weiterhin den von Rom beanstandeten Schein auszustellen, aber mit dem Zusatz, der könne künftig keinesfalls als Zugang zur Abtreibung benutzt werden. Noch nie hat ein Thema die katholischen Mitra-Träger der Republik so erhitzt wie die Debatte um diesen Ukas aus Rom. Kaum war der Papstbrief zu Beginn der Bischofskonferenz in Fulda verteilt, da ging DPA es unter den Würdenträgern, Durchschnittsalter 67 Jahre, lautstark zur Sache. Der geballte Zorn traf vor allem den Kölner Kardinal, der durch seine heimliche Intervention beim Papst den Mitbrüdern das Verdikt des Vatikan eingebrockt hat. Schnell bildete sich um Meisner eine größere Traube schwarzgewandeter Herren: „Joachim, die Nummer mit Rom war keine tolle Leistung“, empörte sich ein Mitbruder. Ein anderer beklagte sich darüber, dass er von Meisners vatikanischer Extratour erst aus der Presse erfahren habe. Ein dritter schrie Meisner an: „Hast du noch deinen Brief an die Priester in Köln mit dabei, den du gleich nach unserer letzten Konferenz geschrieben hast?“ Darin hatte der Kardinal ausdrücklich für einen Verbleib im staatlichen Beratungssystem plädiert. Als Meisner das verneinte, hielt ihm der Münsteraner Oberhirte Reinhard Lettmann das Schreiben hin: „Lies das mal vor, was du da vor wenigen Wochen geschrieben hast. Da hast du noch unsere gemeinsame Haltung verteidigt.“ Immer wieder kam in den erregten Debatten von Fulda die Besorgnis der Oberhirten durch, wie sie ihren Gläubigen und vor allem den Mitarbeiterinnen in den kirchlichen Familienberatungsstellen den Bannstrahl des Papstes gegen ihre bisherige Arbeit verklaren sollen. Am Ende stand blanke Ratlosigkeit. Die Minderheit, die sich dem Befehl aus Rom nicht ohne weiteres und widerspruchslos fügen will, verhinderte einen Beschluss der Bischofskonferenz, postwendend aus der staatlichen Schwangerenberatung auszusteigen. Laut Lehmann, den die große Mehrheit seiner Amtsbrüder auch aus Trotz für sechs weitere Jahre zum Konferenzvorsitzenden wählte, entscheidet ab sofort jeder Bischof für seine Diözese, wie lange er den Schein noch auszustellen gedenkt. Er gehe davon aus, dass „zumindest in den nächsten Wochen“ noch fast alle Bistumsleiter bei der bisherigen Praxis blieben. Doch auch Lehmann weiß, dass der Ausstieg unvermeidlich ist. Wie er sich selbst verhalten wird, blieb bis Freitag ebenso im Kirchliche Schwangerenberatung 20 000 „Konflikt-Frauen“ pro Jahr d e r Nebel wie die Haltung des restlichen Drittels seiner Konfratres. Beraten wollen die Bistümer, beteuerte Lehmann, auf jeden Fall weiter – auch wenn eine Beratung ohne Schein für eine Frau, die abtreiben lassen will, wertlos ist. Doch sie bringt Geld. Denn der Staat gibt dafür ebenfalls Zuschüsse – nach Paragraf 3 des Schwangerschaftsgesetzes. Dort heißt es, dass die Länder auch für eine allgemeine Ehe- und Familienberatung durch Träger unterschiedlicher Weltanschauung zu sorgen haben. Die sechs Beratungsstellen in Dybas Diözese Fulda etwa, die sich bereits vor sechs Jahren aus der staatlichen Konfliktberatung verabschiedet haben, erhalten 90,32 Mark für jeden Beratungsfall. Rat suchende Schwangere in Notlagen sind kaum darunter. Die wenden sich an die Gesundheitsämter oder Pro Familia. Nach den Berechnungen von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen kommen in die bundesweit 264 katholischen Beratungsstellen Jahr für Jahr etwa 20 000 echte „Konflikt-Frauen“. Von mindestens 5000 weiß man, dass sie sich nach der Beratung für das Kind entschieden haben. Was den – Gewissen hin, Gewissen her – auf strengen Gehorsam gegenüber dem Papst verpflichteten Bischöfen nicht möglich ist, wollen nun prominente Laien versuchen. Am vergangenen Freitag gründete das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in Fulda den Verein „Donum Vitae“ (Geschenk des Lebens), der die Schwangerenkonfliktberatung der offiziellen Kirche übernehmen soll. Donum Vitae würde zwar als „katholisch“ firmieren, unterläge aber nicht der vatikanischen Rechtsgewalt. Zu den Unterstützern zählen prominente katholische Politiker wie die CDUMinisterpräsidenten Bernhard Vogel (Thüringen) und Erwin Teufel (BadenWürttemberg), Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sowie die bayerische Sozialministerin Barbara Stamm (CSU). Ob die Initiative Erfolg hat, muss sich erst noch erweisen. Die katholischen Beratungsstellen arbeiten bislang nach dem so genannten integralen Konzept: Familienberatung, allgemeine Schwangerschaftsund Konfliktberatung greifen ineinander. Wird die Konfliktberatung von einem Verein übernommen, müsste der nicht nur Personal bei den kirchlichen Stellen abwerben, sondern auch eine ganz neue, kostenträchtige Struktur aufbauen. Die einfachste Lösung ist allerdings unrealistisch: Dulden die Bischöfe die Konfliktberatung weiterhin in ihren Kirchenräumen, nur unter privater Regie, bliebe die praktische Arbeit die gleiche – und der Vatikan wäre ein weiteres Mal düpiert. Da aber ist in jedem Fall Joseph Kardinal Ratzinger vor. Peter Wensierski s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 33 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland FINANZEN Einheit ohne Rückgrat Die Südländer wollen nicht mehr für den Rest der Republik zahlen. Per Verfassungsklage stellen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen den Finanzausgleich zwischen den Ländern in Frage. Der Vorstoß trifft Ostdeutschland am härtesten. DPA D Kläger Koch, Stoiber, Teufel*: Aufstand der Zahlmeister Gerechter Ausgleich? Geber- und Nehmerländer im Finanzausgleich 1998 Summe je Einwohner in Mark Zuweisungen des Bundes Finanzausgleich zwischen den Ländern Geberländer Mrd. Mark Hamburg Nordrhein-Westfalen Hessen Baden-Württemberg Bayern 0,61 3,09 3,44 3,47 2,90 — — — — — 361 172 569 333 240 0,91 0,00 0,88 0,79 4,89 1,04 1,21 1,99 1,16 0,43 0,23 2,13 0,32 1,99 1,54 3,76 2,65 2,89 4,53 2,65 1,18 2,02 4506 117 1594 295 2525 1424 1536 1453 1546 400 2078 Nehmerländer Bremen Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Berlin Brandenburg Sachsen-Anhalt Sachsen Thüringen Rheinland-Pfalz Saarland 36 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 reimal musste Jutta Limbach am Mittwoch vergangener Woche neu ansetzen, bis sie endlich alle vor dem Bundesverfassungsgericht erschienenen Ländervertreter im Protokoll hatte. Sie sei von dem Andrang geradezu „überwältigt“, spottete die Präsidentin. Acht Regierungschefs und 13 Minister waren mit einem Tross von Fachbeamten und Rechtsberatern nach Karlsruhe gereist, um in der zweitägigen Anhörung zum Länderfinanzausgleich die heimischen Interessen zu verteidigen. Es geht wieder mal um die Milliarden der Steuerbürger, und es geht um das Kräfteverhältnis zwischen armen und reichen Bundesländern, letztlich geht es um den föderalen Aufbau des Staates. Auf Antrag der Länder Bayern, BadenWürttemberg und Hessen prüft das höchste deutsche Gericht, ob der Länderfinanzausgleich, eine Art Unterstützungskasse für arme Länder, rechtens ist oder ob die reichen Kläger zu sehr geschröpft werden.Von dem Urteil, das erst in einigen Monaten folgen wird, erhoffen sich nicht nur die Kläger eine bessere Kassenlage. Auch Bundesfinanzminister Hans Eichel spekuliert auf einige Milliarden für sein Sparprogramm. Auf dem Prüfstand in Karlsruhe steht ein Stück Selbstverständnis der Bundesrepublik – die Frage, ob der Bund und die reichen Länder auch weiterhin so viel Geld an die armen Provinzen der Republik abgeben müssen, dass diese bei Schulen und Polizeiwachen, bei Straßen und Grünanlagen mithalten können. Oder ob es in Deutschland künftig so etwas wie den Mezzogiorno in Italien geben wird – verarmte Landstriche ohne Entwicklungschancen. Über 50 Milliarden Mark werden derzeit jährlich zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben. Rund 80 Prozent davon gehen nach Berlin und in die neuen Bundesländer – das Programm ist zum Instrument im Aufbau Ost geworden. Im Westen profitieren vor allem noch Bremen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und das Saarland von den Unterstützungsgeldern. Auch das Klageland Bayern hat 38 Jahre lang kassiert. Seit sich der Freistaat jedoch vom Bauernland zum Hightech-Standort entwickelt hat, muss auch er für die Län* Am vergangenen Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht. Werbeseite Werbeseite FOTOS: T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Bundesverfassungsgericht*: Gelegenheit, die Macht zu zeigen dersolidarität zahlen – im vergangenen Jahr 2,9 Milliarden Mark. Nun passt Ministerpräsident Edmund Stoiber die ganze Richtung nicht mehr. Das System, findet der Bayern-Chef, sei „leistungsfeindlich“. Unterstützung bekommen die Bayern von Baden-Württembergs Regierungschef Erwin Teufel (CDU), der 1998 rund 3,5 Milliarden Mark für die föderalen Habenichtse aufbringen musste, und von Hessens neuem CDU-Regierungschef Roland Koch, der mit 3,4 Milliarden Mark dabei war. Wie Stoiber wollen auch sie in Karlsruhe einen Nachlass durchsetzen. Damit der Vorstoß jedoch nicht nur nach kleinlicher Rabattfeilscherei aussieht, begründet Bayern seine Klage mit einem neuen Republikmodell – dem „Wettbewerbsföderalismus“. Nur wenn die Länder untereinander konkurrieren, so die Klageschrift aus München, hätten die Armen überhaupt einen „Anreiz zu eigener Initiative und zur Leistungssteigerung“. Wer sich als nicht konkurrenzfähig erweist, dem raten die Kläger zu möglichst geräuschloser Selbstaufgabe. Von „lebensunfähigen Ländern“ spricht Baden-Württemberg in seiner Vorlage für Karlsruhe. Vielleicht können die kleinen Weststaaten wie Bremen oder das Saarland ihre öffentlichen Defizite tatsächlich senken, wenn sie den Regierungs- und Beamtenapparat mit einem größeren Land teilen würden. Aber Länderneugliederungen durch Aushungern sieht das deutsche Verfassungsrecht nicht vor. Und den Hauptnutznießern des Systems hilft eine Fusion ohnehin wenig: Selbst beim Zusammenschluss der fünf neuen Länder entstünde keine blühende Provinz. Sie sollten sich nicht zum „Hebel“ im innerstaatlichen Verteilungskampf benutzen lassen, beschwor der rheinland-pfälzische Finanzminister Gernot Mittler (SPD) am vergangenen Mittwoch die Richter. Der Appell richtete sich wohl vor allem an Paul Kirchhof. Der konservative Jurist, dem als Berichterstatter eine Schlüsselstellung in dem Verfahren zukommt, greift gern kräftig in die Politik ein. Anfang dieses Jahres schrieb er Parlament und Re* Oben: Paul Kirchhof (3. v. l.), rechts neben ihm Präsidentin Jutta Limbach, am vergangenen Mittwoch; unten: mit Bremens Bürgermeister Henning Scherf während der Anhörung zum Finanzausgleich. 38 gierung penibel vor, wie sie, allen Sparzwängen zum Trotz, mit vielen zusätzlichen Milliarden ihre Familienpolitik zu gestalten haben. Jetzt hat Kirchhof wieder so eine Gelegenheit, seine Macht zu zeigen, und er scheint sie nutzen zu wollen. Der Finanzausgleich sei sehr „kompromissanfällig“, ließ der Jurist mit der Vorliebe für detaillierte gerichtliche Vorgaben die Länderfürsten zu Beginn der Anhörung wissen. Die ärmeren Länder halten den Heidelberger Rechtsprofessor, der Ende des Jahres in Karlsruhe ausscheidet, seit langem für voreingenommen. Kirchhof hatte schon 1981 in einem Gutachten für das Land Baden-Württemberg gefunden, der Finanzausgleich nehme den reichen Ländern zu viel weg. Mitte der achtziger Jahre vertrat er die Stuttgarter Landesregierung sogar vor dem Bundesverfassungsgericht. Damals konnte er sich an seiner späteren Wirkungsstätte nicht durchsetzen. Umso mehr drängt es ihn nun, sich selbst Recht zu geben. Der Versuch Bremens, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins, den Verfassungsrichter deshalb als befangen aus dem Verfahren zu drängen, scheiterte im Juli. Siegesgewiss präsentieren sich seither Stoiber, Teufel und Koch in der Öffentlichkeit. Wenn ein Bundesland eine Million Mark mehr an Steuern einnehme, hätte es nach dem jetzigen Ausgleichssystem am Ende nur noch magere 13 000 Mark zusätzlich in der Kasse, kritisieren sie. Das Finanzsystem ist in der Tat kompliziert bis hin zur Unkenntlichkeit – da bleibt der Bezug zur Leistung wie zur Bedürftigkeit der Beteiligten auf der Strecke. Zudem spielt bei dem großen Verteilungskampf auch noch die Bundesregierung mit. Denn Bund und Länder finanzieren sich weitgehend aus den gleichen Steuerquellen – vor allem aus den Einnahmen der Umsatz-, Einkommen- und der Körperschaftsteuer. Die Steuer-Milliarden werden anschließend zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben – ein für Laien kaum zu durchschauendes Labyrinth. Da geht es um „Einwohnerveredelung“ und „Umsatzsteuervorwegausgleich“, um „Steuerzerlegung“ und „Bundesergänzungszuweisungen“. Das System war von Anfang an umstritten. Seit den Gründerjahren der Bundesrepublik debattieren Bund und Länder, ob arme Länder eher von Bedarfsfall zu Bedarfsfall Milliarden vom Bund zugesteckt bekommen sollen oder ob sich die Länder besser untereinander stützen, um so von der Zentralregierung unabhängiger zu sein. Sechs Jahre dauerten die Verhandlungen, bis schließlich der Finanzminister der Großen Koalition, Franz Josef Strauß, 1969 das in wesentlichen Grundsätzen noch heute geltende Verteilungs- und Ausgleichsverfahren durch alle Parlamentsgremien bugsiert hatte. Seither war der komplizierte Milliarden-Transfer in der Öffentlichkeit nur selten ein Thema. Erst als 1995 auch die hilfebedürftigen Ostländer und Berlin in das System einbezogen wurden und sich die umgewälzte Summe (1994 rund zehn Milliarden Mark) mehr als vervierfachte, wuchs in einigen Staatskanzleien der Groll. Zwar bekennen sich die Kläger-Länder weiter wortreich zur Osthilfe – doch ihre Forderungen und ihre Aktionen zielen genau gegen die Hauptempfänger.Wir sind so fleißig, lautet die unterschwellige Botschaft, und müssen doch so viel an die Faulen abgeben. Bayern, wetterte Stoiber, könne andere Länder „nicht dran hindern, wirtschaftlich den Wagen an die Wand zu Kieler Regierungschefin Simonis* Vermögensteuer für die Länderkasse Werbeseite Werbeseite Deutschland fahren“, aber „die Reparapertenjargon „Einwohnerveredelung“ geturkosten können sie nicht nannt. Diesen Bonus, den Karlsruhe in bei uns abbuchen“. früheren Urteilen bestätigt hat, soll das GeUnd noch einen Trumpf richt diesmal kippen – Richter Kirchhof präsentiert der Bayern-Chef hatte dies 1981 bereits vorgeschlagen. seither gern als Beweis für Die Folge wäre, dass Hamburg, das seit weiß-blaue Tüchtigkeit: Der 1950 Zahlerland ist, künftig 1,5 Milliarden Freistaat sei bisher das einMark mehr für den Finanzausgleich abgezige Bundesland, das sich im ben müsste. Berlin mit seinen chronischen Finanzausgleich vom NehFinanznöten müsste sogar auf 4 Milliarden mer- zum Geberland geMark – knapp zehn Prozent des Haushalts mausert habe. Mit dem glei– verzichten. Das Minus ist nach Einschätchen Argument agitiert er zung des Deutschen Instituts für Wirtallerdings auch gegen den schaftsforschung (DIW) nicht zu verkraften. Länderfinanzausgleich: Ein „Völlig verfehlt“ sei der Vorschlag seiner System, das bisher nur eiParteifreunde, giftete deshalb Berlins nem Land aufgeholfen habe, Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) könne wohl nicht funktiound fügte spitz hinzu, man solle in der Disnieren. Richtig daran ist: Mit kussion doch bitte auch mal berücksichSteuer-Milliarden allein lastigen, woher die bayerischen Firmen so sen sich keine wettbewerbsviele Aufträge bekämen. fähigen Strukturen schaffen. Denn über Bonner Doch ohne ein AusgleichsStaatsaufträge für die Luftsystem wären die neuen fahrt- und Rüstungsindustrie Milliarden Bundesländer in Kürze hätten sich die Bayern seit Mark bankrott. Jahren ihren ganz spezielSelbst der Sozialdemolen Finanzausgleich besorgt. sind zwischen 1995 und krat Eichel, heute BundesfiWütender Protest auch 1998 im Rahmen des nanzminister in Berlin, ver- Baustelle in Ostdeutschland* aus Hamburg: Wenn die Länderfinanzausgleichs suchte als Ministerpräsident Kläger sich durchsetzten, in die neuen Bundeskurz vor den hessischen Landtagswahlen stolz waren. „Die haben empörte sich Finanzsenatoländer und nach Berlin mit dem Finanzausgleich Politik zu ma- geglaubt“, erinnert sich rin Ingrid Nümann-Seidegeflossen. chen und präsentierte publikumswirksam Brandenburgs amtierende winkel, müsse die HanseFinanzministerin Wilma eine eigene Verfassungsklage. stadt pro Kopf sechs bis Dabei hat Hessen dem jetzt gescholte- Simon (SPD), „jetzt wird es ganz irre in sieben Mal mehr in den Finanzausgleich nen Regelwerk Mitte der neunziger Jahre, den Kassen klingeln.“ einzahlen als etwa Baden-Württemberg. Doch der Geldsegen blieb aus. Da mochals die neuen Länder aufgenommen wurMit einer Flut von finanzwissenschaftden, ebenso zugestimmt wie alle übrigen ten einige schon bald nichts mehr von ihrer lichen und juristischen Expertisen verZustimmung zu dem Finanzpaket wissen. suchten die Angegriffenen, sich gegen den Bundesländer – inklusive Bayern. Vorausgegangen war ein heftiger Streit Grimmig registrierten sie, dass manche Ha- Beutezug zur Wehr zu setzen. Die reichen zwischen dem damaligen Bundesfinanz- benichtse pro Einwohner besser dran waren Klageländer, moniert etwa die Verwalminister Theo Waigel (CSU) und den Län- als sie selbst, sobald alle Länder- und Bun- tungswissenschaftlerin Gisela Färber im derregierungschefs. Waigel hatte zunächst deszuschüsse zusammengezählt sind. Auftrag des chronisch klammen Saarlands, Die Konsequenzen hat München dem unterschlügen in ihren Kalkulationen, dass vorgeschlagen, dass Bonn den Osten je Bundesverfassungsgericht in seiner Klage die Nehmerländer wegen ihrer Armut einach Bedarf direkt alimentiert. Doch die Länder fürchteten, bei stritti- vorgerechnet. Danach rutscht Bayern, nen höheren Finanzbedarf haben, etwa gen Gesetzesvorhaben könnte die Bun- nachdem die Zuschuss-Milliarden von weil sie viel mehr für Sozialhilfe und desregierung die von ihr finanziell abhän- Bund und Ländern in Umlauf gesetzt wur- Wohngeld aufzubringen hätten. gigen Ostpolitiker zum Wohlverhalten im den, bei der Finanzkraft pro Einwohner So musste Bayern im vergangenen Jahr vom 4. auf den 15. Platz ab. Baden-Würt- pro Kopf 350 Mark für Sozialhilfe zahlen, Bundesrat erpressen. Der rettende Kompromissvorschlag kam temberg und Hessen präsentierten ähnli- während die Summe für jeden Bremer zur dann ausgerechnet aus Bayern. Seither gilt: che Kalkulationen. gleichen Zeit mehr als dreimal so hoch war. Nach dem Willen der Landesregierungen In „einem Teufelskreis“ sieht deshalb der π Länder mit unterdurchschnittlicher Finanzkraft bekommen von den reichen in München und Stuttgart soll Karlsruhe Magdeburger Politik-Professor Wolfgang Renzsch die armen Länder: „Höhere LasLändern und vom Bund Zuschüsse, bis deshalb sie pro Einwohner fast so viel Geld (99,5 π den größten Teil der Bundeszuschüsse ten, höhere Verschuldung und geringere Infür verfassungswidrig erklären und vestitionen erlauben es ihnen nicht, sich am Prozent) zur Verfügung haben wie der π die Zahlungspflicht der reichen Länder eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.“ Länderdurchschnitt. auf maximal die Hälfte ihrer über- In dem von Stoiber und seinen Mitstreitern π Gleichzeitig zahlt der Bund für besondurchschnittlichen Einnahmen begren- geforderten Wettbewerb wären sie damit dere Belastungen, etwa für die Hauszen – eine Forderung, die sich eng an von vornherein die großen Verlierer. haltssanierung in Bremen und im SaarIdeen von Richter Kirchhof anlehnt. Das gilt ganz besonders für die Ostlänland oder für den Wirtschaftsaufbau in Den Stadtstaaten wollen die Kläger der. Zwar will Bayern ihnen einen BunOstdeutschland, zusätzliche Hilfsgelder. Für ihr Entgegenkommen rangen die ebenfalls Vergünstigungen streichen lassen. deszuschuss von 14 Milliarden Mark jährLänderchefs Waigel noch ein besonderes Nach dem geltenden System wird Ham- lich lassen, aber damit könnten sie ihren Zugeständnis ab. Statt 37 Prozent konnten burg, Bremen und Berlin pro Kopf ein er- Nachholbedarf kaum decken. Denn bisher sie 44 Prozent der Mehrwertsteuereinnah- höhter Finanzbedarf zugebilligt, im Ex- haben die Neuen gerade mal für die Hälfte ihrer Ausgaben Mittel aus eigener Kraft. men kassieren – ein Verhandlungserfolg, Die „endgültige finanzielle und politische auf den die Ministerpräsidenten besonders * Talbrücke bei Gräfenroda in Thüringen. S. THOMAS 42 40 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite VARIO-PRESS mensteuertarif für den eigenen Bedarf um einige Prozentpunkte anheben zu können. Zudem wollen viele Länderfürsten die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern künftig strikter trennen, um die Bundesregierung daran zu hindern, Wohltaten auf Kosten der Länder zu verteilen. „Ziel muss es sein“, sagt der niedersächsische Finanzminister Heinrich Aller (SPD), „wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch.“ Experten wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der GesamtJahre wirtschaftlichen Entwicklang, lung oder die Speyerer Verwaltungswissenschaftzwischen 1950 und 1986 lerin Färber schlagen dessowie 1992, profitierte das halb vor, dass Land Bayern vom Finanzπ der Bund die von ihm ausgleich und kassierte 6,7 initiierten Aufgaben entMilliarden Mark – nach heuBundesrepublik Deutschland weder selbst umsetzt tigem Wert ein Mehrfaches. Aus dem rückständigen oder den Ländern alle nur wenig zu tun. Denn weAgrarland wurde eine dynaKosten erstattet, die der können die Länder über mische Wirtschaftsregion. durch die Ausführung die Höhe ihrer Einnahmen von Bundesgesetzen frei entscheiden – die wichentstehen; tigen Steuersätze bestimmt allein der Bund; noch haben sie große π die Einnahmen aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer ganz in die LänderSpielräume bei der Frage, wie viel sie kassen fließen. wofür ausgeben wollen. Auch die Gesetze Was im Modell vernünftig erscheint, werden überwiegend vom Bund gemacht, und selbst wenn die Länder über den Bun- bringt im Alltag schnell neue Schiefladesrat mitbestimmen können – daran, dass gen. Um beispielsweise die erste Forsie am Ende die Zeche bezahlen müssen, derung zu erfüllen, müsste zunächst mit viel Geld eine eigene Bundesverwaltung ändert sich meist nichts. Beispiele hierfür gibt es genug. Etwa aufgebaut werden – bei der allgemeinen beim Paragrafen 218, als Bonn die Reform Kassenlage ziemlich unrealistisch. Oder mit der Schaffung von Kindergartenplätzen aber die Länder müssten vom Bund die verknüpfte. Oder bei der Aufnahme von Mittel für die Ausführung von GesetBürgerkriegsflüchtlingen, für deren Woh- zen zugewiesen bekommen. Dann allernung und Sozialhilfe die Bundesländer auf- dings könnten sogar die eigensinnigen Bayern schnell zu weisungsgebundezukommen haben. Auch beim Ausgleich zwischen armen nen Vollstreckern der Berliner Zentrale und reichen Ländern sind die Ministerprä- schrumpfen. sidenten keineswegs nur unter sich – die Kaum realistisch ist wohl auch, dass sich „Bundesergänzungszuweisungen“ machen Länder wie das strukturschwache Meckmit 26 Milliarden Mark 45 Prozent der Aus- lenburg-Vorpommern ohne zusätzliche gleichssumme aus. Hilfe über höhere Einkommensteuersätze Diese Abhängigkeit vom Bund möchten sanieren könnten. viele Länder gern verringern und fordern Dennoch ist klar: Der Finanzausgleich, deshalb ein Finanzsystem, das ihnen einen der in seiner jetzigen Fassung nur noch größeren Spielraum garantiert. Eine For- bis zum Jahr 2004 gilt, muss reformiert derung lautet, die Höhe der Erb- werden. Im Dezember 1998 haben die schaftsteuer jeweils in den Ländern fest- Ministerpräsidenten und die Bundessetzen zu lassen. Bisher füllt diese Steuer regierung deshalb eine Arbeitsgruppe zwar auch allein die Länderkassen, deren eingesetzt. Die Fachleute aus Bund und Ländern sollten Vorschläge erarbeiten, Höhe wird jedoch vom Bund bestimmt. Für die 1997 abgeschaffte Vermögensteu- wie das Finanzgeflecht ab 2005 aussehen er, deren Erträge ebenfalls allein den Län- kann. Wie ein Kompromiss lauten könnte, dern zustanden, machte Kanzler Gerhard Schröder den Vorschlag, die Länder sollten ist noch unklar. Im Juli brachten Bayern, über die Wiedereinführung der umstrittenen Baden-Württemberg und Hessen die ArSteuer entscheiden können. Die Resonanz beitsgruppe vorläufig zum Scheitern. Die darauf war allerdings eher verhalten. Le- Forderung von Berlin und anderen Bundiglich Schleswig-Holsteins Regierungsche- desländern, die Verfassungsklagen zurückfin Heide Simonis plädiert für die Abgabe. zunehmen, lehnten die Kläger ab. Statt Weil mit Vermögen- und Nachlass-Steu- sich mit den Länderkollegen am Verhandern allein ohnehin kein Staat zu machen lungstisch herumzuschlagen, setzen sie ist, wollen Stoiber, Teufel und Koch den lieber auf Richter Kirchhof in Karlsruhe. Karen Andresen Ländern das Recht sichern, den Einkom- 38 Hightech-Produktion in Bayern* Handlungsunfähigkeit“ befürchtet Sachsens CDU-Finanzminister Georg Milbradt, und Brandenburgs Finanzministerin Simon glaubt, die Kläger wollten der Einheit „das Rückgrat brechen“. Ganz falsch liegt die Sozialdemokratin damit wohl nicht. Schon seit längerem sind die Zeichen unübersehbar, dass einige unionsgeführte Länder zwar auch Bremen und dem Saarland gern den Geldhahn abdrehen würden. Vor allem aber gilt der Aufstand der Zahlmeister dem kostspieligen Aufbau Ost. Der Wunsch, die Lasten dafür endlich loszuwerden, ist dort besonders heftig, wo Landesteile – etwa der Raum um Hof in Bayern oder das strukturschwache Nordhessen – jahrzehntelang von der Zonenrandförderung profitiert haben und nun neidvoll zusehen müssen, wie Hilfsgelder ins benachbarte Thüringen oder Sachsen gepumpt werden. „Hans Eichel“, erinnert sich eine Sozialdemokratin, „hat uns ständig damit in den Ohren gelegen, dass Betriebe ins benachbarte Thüringen abwandern und er seinen armen Nordhessen deshalb die Osthilfen nicht mehr erklären könne.“ Jetzt, als Bundesfinanzminister, hat der SPD-Politiker wieder mehr Verständnis für den Finanzbedarf in Neu-Fünfland. In Hessen aber fordert nun CDU-Nachfolger Koch „politische Erfolgshaftung“ für die Osthilfen. In der Bayern-Klage klingt das, wenngleich in zurückhaltendes Juristendeutsch verpackt, ganz ähnlich. Politiker, heißt es dort, könnten für ihre Entscheidungen nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn deren Beschlüsse „infolge des Finanzausgleichs deren Wähler nicht mehr belasten“. Professor Kirchhof hatte das vor 18 Jahren so formuliert: „Die Nachteile finanzwirtschaftlicher Fehlentscheidungen“ in einem Land dürften nicht „auf ein anderes Land überwälzt“ werden. Das klingt gut, hatte aber schon damals mit der finanzpolitischen Realität in der * Check eines „Eurofighters“ im Dasa-Werk in Manching. 42 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland POLITISCHES BUCH „Option für Ziel 1“ DPA Walther Leisler Kiep galt als „amerikanischster“ deutscher Politiker. Freimütig verrät der einstige Außenseiter in der CDU, wie er heimliche Kanzler-Träume hegte und scheiterte. Parteifreunde Kiep, Kohl* S M. ZUCHT / DER SPIEGEL eit mehr als einem halWenig fromme Wünsche ben Jahrhundert pflegt er ein Hobby, das an sich man-Politikers? So verhielt er zwar nicht ungewöhnlich ist, sich jedenfalls; doch den öfaber in dieser Dauerhaftigkeit fentlich fast immer verbindlich enormes Beharrungsvermöauftretenden Hanseaten muss gen verrät: Nahezu Abend für im stillen Kämmerlein ein Abend schreibt sich der in gewaltiger Rochus gepackt Kronberg lebende Versichehaben. rungsmakler Walther Leisler Bisweilen sitzt er da tief Kiep, 73, die jeweiligen Tagesbetroffen über die „im Gesereignisse von der Seele. Seitrigen“ verhaftete Union, um ne in 52 ledergebundenen ihr düstere Erkenntnisse ins Kladden festgehaltenen NotiStammbuch zu schreiben: zen füllen mittlerweile zigtauZornig registriert der Chrosende von Blättern im DINnist, der auf Grund seiner A4-Format. Funktion dem CDU-PräsidiDarf es da verwundern, um angehört, in den beiden Schwesterparteien haarsträudass den Verfasser, der ab Mitbende „Methoden“: Die erinte der Sechziger in der Politik nern ihn zunehmend „an die von sich reden machte, solche Cosa Nostra“. Aufzeichnungen zur „WeiterDie wachsende Distanz des verarbeitung“ reizten? Die betuchten und damit weit„günstige Materiallage“ nutgehend unabhängigen Unterzend, legt der ehemalige nehmers resultiert aus einer Schatzmeister der CDU und Erfahrung vom 17. Mai 1972. in seiner Partei einer der weAn diesem Tag wird in Bonn nigen eigenwilligen Köpfe nun über die Ostpolitik der regieeinen umfänglichen Extrakt renden Sozial-Liberalen, den aus dem Fundus vor**. Grundvertrag, entschieden – Kiep selbst bezeichnet den und der eindeutige BefürworBand, der im Kern die Zeit seiter Kiep sieht sich von seinem nes Aufstiegs bis zum abrupPartei- und Fraktionschef Raiten Niedergang 1982 umfasst, ner Barzel zu einem Sündenfreimütig als „Experiment“ – Tagebuch-Autor Kiep: „Aus einer Kampfsituation frisch formuliert“ fall gezwungen. und das ist es wohl auch: Die Man möge es „Opportunismus, Feigheit „aus einer Kampfsituation heraus frisch nem furiosen, auf zahllose Hausbesuche formulierte Textmasse“, die mit Brief- fußenden „Canvassing“-Wahlkampf in den oder wie auch immer nennen“, notiert er wechseln und in sich geschlossenen bio- Bonner Bundestag einzog, einen erstaun- am Abend, aber er habe den schwankenden Freund, der ja vorher selbst seine Zugrafischen Abhandlungen angereichert lich harschen Ton an. Wirklich respektiert werden von ihm un- stimmung signalisiert hatte, nicht bloßstelwird, bietet selbstverständlich Angriffster den damaligen Granden der CDU nur len wollen. Freilich von jenem Augenblick flächen. Ein Tagebuch bewahrt seinen Wert ja die Kollegen Gerhard Stoltenberg und Ri- an ist der glücklose Herausforderer Willy nur dann, wenn der Autor die in der Re- chard von Weizsäcker. Dem „chauvinis- Brandts für ihn „erledigt“. Kiep geht in der Folgezeit, was die Nortrospektive schwächer erscheinenden Pas- tischen“ Hessen Alfred Dregger begegnet sagen nicht nachträglich glättet – dieser der oberste Kassenwart ebenso misstrauisch malisierung des Verhältnisses zu den WarVersuchung hat er mutig widerstanden. Für wie dem „kleinkarierten“ Karl Carstens. schauer-Pakt-Staaten anbelangt, strikt sei„ganz schön arrogant“ hält der Christ- Im Sommer ’79 schmäht er Kurt Bieden- nen eigenen Weg. Er hält es insofern mit demokrat heute, dass er etwa unter dem kopf nach dessen Votum zu Gunsten des dem amtierenden US-Präsidenten Richard 16. September 1974 zu Papier bringt, in der künftigen, erstmals von der CSU gestellten Nixon, der sich bereits 1968 Moskau und Führung seiner Fraktion versammele sich Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß er- Peking zu öffnen begann – eine nach Aufausschließlich „geballte Mittelmäßigkeit“; grimmt als „Drahtzieher“. Hatte Kiep – häufig „Kiep-smiling“ ge- * Mit dem CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Philipp aber so empfand er das eben. Und überhaupt schlägt der gebürtige nannt –, der sportive Nonkonformist mit Jenninger am 16. September 1981 im Bundestag. Walther Leisler Kiep: „Was bleibt ist große Zuversicht. Hamburger, der erst nach dem Bau der dem Faible für schnelle Motorräder und ** Erfahrungen eines Unabhängigen. Ein politisches TageMauer den Konservativen beitrat und schnittige Autos, nicht das Image eines all- buch“. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 446 Seiten; schon vier Jahre später im Taunus mit ei- zeit distinguierten, weltläufigen Gentle- 42 Mark. 44 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kiep-Gegner Barzel, Strauß (1972) „An die Cosa Nostra erinnert“ Strauß mit Helmut Schmidt), sprießen die Gelüste. Für die immer noch aus der Regierung ausgesperrten Unionsparteien stellt sich drängender denn je die Frage, welche ihrer Führungskräfte die FDP endlich herüberziehen könne, und der liberale Kiep weiß Rat. Immerhin ist er ja „nicht nur zum höheren Ruhme Ernst Albrechts“ – des damaligen Ministerpräsidenten – in ein Landeskabinett eingetreten, sondern hat in Hannover die nach 1966 erste BürgerblockKoalition vorangetrieben. Also fasst er die eigene Kanzlerkandidatur („Option für Ziel 1“) ins Auge. Mit Sorgfalt vermerkt der ehrgeizige Christdemokrat alle sich ergebenden Anzeichen, die ihn in seiner Hoffnung bestärken. Mal entdeckt er sich in einer von „Bild“ publizierten Reihe der „2o interessantesten Deutschen“ – oder er zitiert den Historiker Golo Mann, der „mich neben Kohl genannt und im Übrigen den baldigen Abschluss der Ära Schmidt angekündigt hat“. Die Prognose vom bevorstehenden Ende des Bonner Bündnisses erweist sich als richtig; bloß wer redet da noch von Kiep? Der Schatzmeister der CDU sieht sich im Herbst ’82 längst in die unselige Parteispenden-Affäre verstrickt. Sie wird ihn ein volles Jahrzehnt belasten, ehe der Bundesgerichtshof einen zwischenzeitlich ergangenen Schuldspruch wegen schwerer Rechts- und Verfahrensmängel wieder kassiert. Aber der Weltbürger aus Kronberg und Nachfahr jenes berühmten Jakob Leisler, der anno 1691 im Kampf um die Unabhängigkeit New Yorks gehängt wurde, hätte auch sonst kaum „Ziel 1“ erreicht. Seine einzige Chance lag – wenn denn überhaupt – in einer bis 1984 von den Freien Demokraten durchgehaltenen sozialliberalen Koalition. Darauf setzt er, und um sich in Stellung zu bringen, sucht Kiep das „Modell Niedersachsen“ mit einem persönlichen Tri- fassung des überzeugten „Atlantikers“ unerlässliche Neuorientierung westlicher Strategie. Denn was für die USA gut ist, muss der Bundesrepublik erst recht wichtig sein, analysiert der viel zitierte „amerikanischste“ aller deutschen Politiker. Dass er darüber in der Union zusehends an den Rand gedrängt wird – „dummes Geschwätz“, poltert der Intimfeind FJS –, untergräbt zwar seine Chancen, aber es bestätigt ihn auch. Er leidet an den stagnierenden Christparteien, und er sieht sich zugleich in der Rolle des schärfsten Kritikers, der seinen Tagebüchern mitunter selbst das im Grunde Undenkbare anvertraut. „Man mag es kaum schreiben …“ (Notiz vom 23. November 1972 nach der Niederlage Barzels gegen Brandt), doch es erscheint ihm „fast besser“, die Bundestagswahlen nicht gewonnen zu haben. Und auch im Sommer ’76, als Helmut Kohl die Union führt, treiben den inzwischen zum niedersächsischen Finanzminister gekürten Walter Leisler Kiep wenig fromme Wünsche um: Sollte eine Mehrheit der deut- Privatmann Kiep (1976): „Ohne eine Spur im Schnee“ schen Bevölkerung tatsächlich dem neuen Kanzlerkandidaten folgen, solange der von Dregger und FJS dominiert werde? Man müsse „fast hoffen“, dass sie sich dem verweigere. So grübelt ein Mann, dem es sicher unbezweifelbar um den „Anschluss Deutschlands an eine der Zeit gemäße, die Realitäten respektierende Politik“ geht. In diese „sachlichen Erwägungen“ fließt nun allerdings öfter auch der Spaß an der eigenen Macht ein. Schon als Rainer Barzel kippt, in Sonderheit aber in den Jahren 198o/81 (vor und nach dem schließlich erfolglosen Kräftemessen des Franz Josef 46 umph zu bekräftigen. Als CDU-Spitzenbewerber schlägt er im Sommer 1982 in seiner Heimatstadt Hamburg die sieggewohnten Sozialdemokraten, doch die FDP bleibt hängen. Und dann kommt der kalte Winter. In Bonn regiert der „merkwürdige Kohl“, der seinen bar jeder Hausmacht kämpfenden Rivalen leichterhand abgeschüttelt hat, während der desillusionierte Konkurrent an der Waterkant die fälligen Neuwahlen versiebt. „15 Jahre Politik“, heißt danach sein bitteres Fazit, „ohne eine Spur im Schnee zu hinterlassen.“ Warum so ein Buch, in dem der Verfasser auf mehr als 400 Seiten spannend zu lesende Details anbietet, das sich andererseits aber auch in mancherlei Klein-Klein verfieselt? „Freitag, 11. 1. 198o … Massage. Gegen 1/ 1o Uhr per Porsche nach Kreuth …“. Das 2 Kiepsche Genrebild einer eh ziemlich komplizierten christlichen Parteien-Familie wirkt mitunter etwas überladen. Doch sein Werk, das „den Nachgeborenen im Jahr 5o der Bundesrepublik ein Stück ihrer Geschichte erzählen will“, ist im Großen und Ganzen zu loben. Anstatt einen der üblichen, häufig genug wohlfeilen Memoirenbände zu fabrizieren, steht der Autor zu seinen zwangsläufig nicht immer verfertigten Gedanken – auch wenn er dabei selbst weniger gut aussieht. Dass ein Mensch vom Typus Kiep einen vom Schlage Straußens für gefährlich hält, lässt sich leicht erklären – nur wie kam es dann zu jener eigenartigen Liaison im Bundestagswahlkampf 198o? Da rückt der Hanseat als eine Art unerklärter SchattenAußenminister in die Kernmannschaft des bulligen Bayern auf, distanziert sich aber zugleich von ihm. „Ich sage Dir ganz offen, dass ich Deine politischen Absichten und Intentionen immer weniger verstehe“, beschwert sich brieflich der vor Wut kochende Parteichef Helmut Kohl, und der Adressat nimmt die Rüge hin. Zumindest in dieser Phase ist er mit sich selbst nicht im Reinen. Er möchte halt „irgendwie dem Staate dienen“ – ein Motiv, das den hoch engagiert seinen vielfältigen Ämtern und Ehrenämtern nachgehenden Macher und Mäzen noch heute beseelt. Als Aufsichtsrat bei VW lernte Kiep, der ursprünglich der FDP zuneigte und in der CDU scheiterte, den Sozialdemokraten Gerhard Schröder schätzen. Dem Kanzler arbeitet er nun als „Persönlicher Beauftragter für internationale Sondermissionen“ zu. Und Schröder wird dafür am Dienstag dieser Woche in Berlin Kieps Buch präsentieren. DPA WEDO PRESS Deutschland Hans-Joachim Noack Werbeseite Werbeseite F. HORVAT / SABA Psychologin Maier-Witt*: „In besonderer Weise geeignet, Menschen zu helfen“ Verhinderte Friedenstaube Die ehemalige RAF-Aktivistin Silke Maier-Witt als „Friedensfachkraft“ im Kosovo? Einige Ministerien haben Angst vor dem öffentlichen Echo. S iebzig Frauen und Männer meldeten sich auf die kleine Anzeige in der „Zeit“. Sie reizte derselbe heikle Job: Frieden schaffen ohne Waffen in der derzeit unfriedlichsten Region des europäischen Kontinents. Nach fünfmonatigem Training sollen die Bewerber den verfeindeten Volksgruppen im Kosovo als „Friedensfachkräfte“ bei der Suche nach einem Zusammenleben jenseits von Terror und Mord helfen. Unter den drei ausgewählten Bewerbern beeindruckte die Friedensarbeiter eine schmale, nicht mehr ganz junge Frau. Sie, lobte ein Kommissionsmitglied, erscheine „in besonderer Weise geeignet, Menschen zu helfen, von Hass und Gewalt abzulassen und neue gewaltfreie Wege zu gehen“. Die Gelobte heißt Silke Maier-Witt und ist 49 Jahre alt. Die „eigenen Erfahrungen“, die die Diplompsychologin in den Augen der Tester für den Friedensdienst qualifizierten, sammelte sie in den siebziger Jahren in einem ausgesprochen unfriedlichen Umfeld – als Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ (RAF). Ein Vierteljahrhundert später lässt sie nun der Staat zu einer von zunächst 16 Friedensfachkräften für den Balkaneinsatz ausbilden – just jener Staat, den Maier* Am vorletzten Sonntag mit serbischen Flüchtlingen, die in ihr Dorf in der Krajina zurückkehren. 48 Witt und ihre Genossen seinerzeit mit der Waffe in der Hand bekämpften. Der Kurs, in dem die Teilnehmer Konflikte auch in extremen Stress-Situationen mit friedlichen Mitteln einzudämmen lernen, wird mitfinanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul („Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik“) kommt damit einer alten Forderung aus der Friedensbewegung nach. Neben den Soldaten der Bundeswehr soll künftig ein kleines Kontingent ausgebildeter Konflikthelfer beim Aufbau „zivilgesellschaftlicher Strukturen“ helfen. Geschaltet hatte die Anzeige für den Kurs in „gewaltfreier Konfliktbearbeitung“ Ende Juni das Forum Ziviler Friedensdienst. Der Zusammenschluss aus 30 kirchlichen und anderen nichtstaatlichen Friedensgruppen streitet seit seiner Gründung im Jahre 1994 mit wenig Geld und viel Engagement für eine zivile Alternative zu militärischen Einsätzen auf dem Balkan und in anderen Krisenregionen. Die zur Friedenskämpferin gewandelte frühere RAF-Frau Maier-Witt wirkte auf das Ministerium indes alles andere als friedensstiftend. Im Gegenteil: Panik kam auf im Haus der einstmals „roten Heidi“. Zwar ist die Ministerin, in den siebziger Jahren Juso-Bundesvorsitzende, über jeden Verdacht erhaben, jemals mit den RAF-Desperados sympathisiert zu haben. Die BMZ-Spitze aber fürchtet Schlagzeilen der Boulevardpresse wie etwa: „Bundesregierung schickt Terroristin auf Friedensmission ins Kosovo“. Obschon RAF-Anwälte es in der rotgrünen Bundesregierung zum Kanzler oder Innenminister gebracht haben und ein einstiger Straßenkämpfer nun Chefdiplomat ist, schrillten auch im Justizressort von Herta Däubler-Gmelin (SPD) die Alarmglocken. Zweifel kamen auf, „ob wir das in der Öffentlichkeit durchhalten können“. Wie eine geheime Kommandosache behandelte man den Vorgang im BMZ wod e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 chenlang. Nur die Ministerin, der zuständige Referatsleiter und der beamtete Staatssekretär Erich Stather waren eingeweiht. Der stoppte schließlich die ganze Aktion. Ende Juli, wenige Tage vor dem Start des Ausbildungskurses im regierungseigenen Bonner „Haus Venusberg“, ließ das Ministerium wissen, Maier-Witt sei als Teilnehmerin unerwünscht. Die erfuhr davon, als sie im fernen Oldenburg schon die Koffer packte. Ihren Job hatte sie gekündigt, den Ausbildungsvertrag mit dem Forum Ziviler Friedensdienst ordnungsgemäß unterzeichnet. Nun musste das Forum die verhinderte Friedenstaube auf eigene Kosten beschäftigen. Nach weiteren Krisengesprächen durfte Maier-Witt mit einer Woche Verspätung immerhin als „Hospitantin“ in den Kurs einsteigen. Derzeit sammelt die konvertierte RAF-Frau bei einem Praktikum in der Krajina erste Eindrücke. „Der Hass in den Köpfen“, sagt sie, „ist auch nach vier Jahren noch frisch.“ F. RUCH KARRIEREN Maier-Witt auf RAF-Fahndungsplakat (1979) „In glaubhafter Weise distanziert“ Deutschland Ob Maier-Witt jedoch, wie geplant, ab Anfang nächsten Jahres in ähnlichen Projekten im Kosovo zum Einsatz kommen darf, steht in den Sternen. Zwar suchte sie nach ihrer vorzeitigen Haftentlassung 1995 wie kaum eine zweite frühere Militante den Weg „zurück in die Gesellschaft“. Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ bescheinigte ihr, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit „mit großer Offenheit und auch öffentlich“ zu führen, was ihr „den Eindruck von Stärke“ verleihe. Maier-Witt hatte sich der RAF angeschlossen, kurz bevor 1977 die Gewalt im Deutschen Herbst kulminierte. Nach drei Jahren im Untergrund setzte sie sich, mit anderen Aussteigern, ins DDR-Exil ab. Nach ihrer Festnahme 1990 gab sie umfassend Auskunft über ihre Zeit im Untergrund und wurde dank der Kronzeugenregelung nur zu einer zehnjährigen Haftstrafe vor allem wegen ihrer Beteiligung an der SchleyerEntführung verurteilt. Schon als Freigängerin arbeitete sie als Nachtwache in einem Altersheim, schloss später das in der Haft begonnene Psychologie-Studium ab und ließ sich zur Familientherapeutin ausbilden – allerdings verliefen die Jobs selten ohne Probleme. Die Anstellung im Altersheim erhielt sie nach eigenem Bekunden erst durch Intervention bei der damaligen niedersächsischen Justizministerin Heidi Alm-Merk (SPD). Selbst Bewerbungen für unentgeltliche Praktika oder ehrenamtliche Tätigkeiten lösten Vorbehalte aus. Weil an der freundlichen Frau so gar nichts Angsteinflößendes zu entdecken war, kam es immer wieder zu absurden Situationen. Absagen wurden mit Entschuldigungen („Ich hoffe, dass andere mutiger sind als wir“) garniert. Umso erfreuter reagierte Maier-Witt, als im Juli die Zusage des Forums Ziviler Friedensdienst eintraf. Ein „wirklicher Glücksfall“ sei das gewesen, nach vielen vergeblichen Bewerbungen endlich „etwas, was mich reizt und wofür ich qualifiziert bin“. Mittlerweile hat sich die Situation wie gewohnt kompliziert. Beistand erbat MaierWitt ausgerechnet von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die in den siebziger Jahren mehrfach Ziel von RAF-Anschlägen gewesen war. Es werde sicherlich „nicht ohne Wirkung bleiben“, schrieb Maier-Witt an Generalbundesanwalt Kay Nehm, wenn er dem Ministerium deutlich mache, dass „von meiner Person keine Bedrohung ausgeht“. Der Karlsruher Oberankläger reagierte prompt. Seit Ende 1979 habe sich MaierWitt „in glaubhafter Weise von der Gewaltideologie der RAF distanziert“, bestätigte er der Bittstellerin. Dem Bundesjustizministerium habe er mitgeteilt, dass es gegen die Tätigkeit als Friedensfachkraft „keine Bedenken“ gebe, fügte Nehm hinzu und wünschte der Ex-Terroristin „viel Erfolg für Ihr Vorhaben“. Gerd Rosenkranz d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Öffnung der Berliner Mauer 1989: „Eine der phantastischsten administrativen Fehlleistungen in der langen, wechselvollen Historie der Die un(v)erhoffte Einheit Politik und Medien feiern den 10. Jahrestag des Volksaufstandes von 1989, der binnen weniger Monate die DDR hinwegfegte. Inzwischen umranken Mythen den Herbst der Helden und der Wunder – Thema einer neuen, 13-teiligen SPIEGEL-Serie, die in diesem Heft beginnt. Von Jochen Bölsche Ost-Berlins Außenminister war außer sich vor Empörung: „Aber das ist ja Erpressung!“, zürnte Oskar Fischer , „ja sogar Verrat!“ Der Wutausbruch des SED-Politikers zielte am 31. August 1989 auf dessen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn. Der Außenminister war nach Ost-Berlin geflogen, um die DDR-Regierung über die wohl folgenschwerste Entscheidung des Budapester Reformkabinetts zu informieren. Bereits Anfang Mai hatte der westlich orientierte Ministerpräsident Miklós Németh im Einvernehmen mit Kremlchef Michail Gorbatschow den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich geöffnet, den er als „grausamen Anachronismus“ empfand. Nun erklärte Horn, Budapest fühle sich nicht länger verpflich52 tet, in Ungarn urlaubende DDR-Bürger davon abzuhalten, die offene Grenze gen Westen zu passieren. Fischer war fassungslos. „Wissen Sie denn, dass Sie damit die DDR im Stich lassen und zur anderen Seite überwechseln?“, schimpfte er. Ost-Berliner Spione hatten zuvor gemeldet, Bonn habe den Ungarn als Gegenleistung einen 500-Millionen-MarkKredit versprochen. Drohend prophezeite Fischer dem Abweichler: „Das wird schwerwiegende Folgen für Sie haben!“ Dramatischer hätte der Minister nicht irren können. Die Entscheidung der ungarischen Regierung entfesselte politische Kräfte, die noch im selben Herbst den SED-Staat hinwegfegen sollten und im Folgejahr die Landkarte Europas veränderten wie ein Weltkrieg. Keine andere Phase der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts birgt mehr Dramatik als die d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 rund 100 Tage, die zwischen der Grenzöffnung am 10. September und der Öffnung des Brandenburger Tores zu Weihnachten liegen – Thema der 13teiligen SPIEGELSerie „100 Tage im Herbst“ (siehe Seite 61). Erst allmählich hebt sich der Nebel, der über den Hintergründen der damaligen Geschehnisse liegt. Im Lichte jüngerer Erkenntnisse muss die Geschichte der Einigung zwar nicht neu geschrieben werden. Aber manch eine Geschichte hinter der Geschichte lässt sich erst jetzt erzählen. Das Wirken der Geheimdiplomatie haben die US-Politologen Philip Zelikow und Condoleezza Rice bereits weitgehend rekonstruiert. Zur Rolle der Geheimdienste wiederum hat Stasi-Experte Walter Süß unlängst neues Material präsentiert*. * Philip Zelikow/Condoleezza Rice: „Sternstunde der Diplomatie“. Propyläen Verlag, Berlin; 632 Seiten; 29,90 Mark. – Walter Süß: „Staatssicherheit am Ende“. Ch. Links Verlag, Berlin; 816 Seiten; 58 Mark. 100 TAGE IM HERBST DDR-Geheimplan für Hightech-„Mauer 2000“ A. SCHOELZEL Mikrowellen statt Tretminen staatlichen Bürokratie“ Wenngleich die Gesamtschau der 89er Ereignisse noch immer nicht vorliegt – manches Mysterium, das Millionen von Menschen Rätsel aufgab, ist mittlerweile aufklärbar. Schlüssig erklären lässt sich beispielsweise, warum die DDR-Ökonomie, jahrelang als Dynamo des Ostens überschätzt, binnen kurzem implodierte; warum der hochgerüstete Staat, in dem eine Million Mann unter Waffen standen, vor der Revolution der Kerzenträger kapitulierte; warum am 9. November 1989 die Mauer zerbrach, ohne dass der Westen irgendeine Gegenleistung erbringen musste. Widerlegen lassen sich auf Grund der mittlerweile aufgetauchten Dokumente aber auch viele jener Mythen, die sich um den Herbst der Helden und der Wunder ranken – und die in den Jubiläumswochen vermutlich aufs Neue belebt werden. Die SPD, so steht zu befürchten, wird einmal mehr das „Wunder von Schwante“ beschwören – die zehnte Wiederkehr jenes Tages, an dem Untergrund-Sozis laut Parteilegende die Stasi pfiffig ausgetrickst und die Ost-SPD gegründet haben. Dass Mitgründer Ibrahim Böhme – an dem die Partei lange nach seiner Enttarnung als Stasi-Spitzel festhielt – von Anfang an im Dienste der Geheimpolizei stand, passt nicht so recht in den feierlichen Rahmen. Und kein Sozialdemokrat lässt sich heute gern daran erinnern, dass viele Spitzenleute noch kurz vor dem Mauerfall auf Distanz zu den Dissidenten bedacht waren. Die CDU wiederum wird die Jahrestage nutzen, um die Staatskunst ihres Einheitskanzlers Helmut Kohl zu preisen und die Sozialdemokraten als Wiedervereinigungsskeptiker zu denunzieren. Das freilich ist nur die halbe Wahrheit. In der politischen Klasse Ost- wie Westdeutschlands hat bis in den Spätherbst 1989 kaum jemand eine baldige Wiedervereinigung für möglich gehalten und gewollt. Trotz aller Sonntagsreden – den Deutschen, resümiert der Publizist Peter Bender, war es „seit 1955 nicht mehr um die Einheit, sondern nur noch um die Milderung der Teilung“ gegangen. Das gilt auch für die Union, unter deren Erzkanzler Konrad Adenauer sich die Bundesdeutschen bald nach dem Krieg im westlichen Bündnis eingerichtet hatten. Noch im Mai 1989, bei einem DeutschlandBesuch von George Bush, fragte dessen Sicherheitsberater Brent Scowcroft den damaligen Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg: „Soll sich der Präsident auch zum Thema deutsche Wiedervereinigung äußern?“ Stoltenberg, so erinnert sich Scowcroft, zog eine Grimasse. Bush strich den geplanten Redepassus. Zur Jahreswende 1989/90 jedoch veränderte sich alles. Insgeheim steuerten die Supermächte einen Deal von globalen Dimensionen an: den Freikauf der DDR. Gorbatschow, der dringend Devisen brauchte, betrachtete die DDR mehr und mehr als Verhandlungsgegenstand, um mit dem Westen ins Geschäft zu kommen. George Bush war darauf bedacht, die Bundesrepublik, seinen wichtigsten Verbündeten in Europa, zu stärken und die NatoGrenze nach Osten zu verschieben. Die politische Konstellation Ende 1989 hätte absurder nicht sein können: In Geheimgesprächen mussten Abgesandte der Supermächte ihre deutschen Verbündeten in Bonn und Ost-Berlin ermutigen, den Widerstand gegen eine aktive Wiedervereinigungspolitik aufzugeben. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 US-Präsident Bush warb im Frühjahr 1989 bereits öffentlich für seine Vision von einem „ungeteilten und freien“ Europa. Die Deutschen indes wollten „das Thema zu diesem Zeitpunkt nicht weiter in den Vordergrund rücken“, wie es in einem USRegierungspapier (NSR-5) heißt. Entsprechend verblüfft war Kohl, als am 21. November der Gorbatschow-Abgesandte Nikolai Portugalow dem Kanzlerberater Horst Teltschik signalisierte, Moskau sei unter Umständen bereit, einer wie auch immer gearteten Wiedervereinigung zuzustimmen. „Wie elektrisiert“ erkannte Teltschik, dass es nun „höchste Zeit“ war, „in die Offensive“ zu gehen. Völlig überrascht reagierte auch Egon Krenz, als ihm drei Tage später Gorbatschow-Berater Walentin Falin „unter fast konspirativen Bedingungen“ bedeutete, wenn Bonn bereit sei, „Wiedergutmachung“ zu leisten, „könnte man über eine ,Neuvereinigung‘ nachdenken“. Krenz schwante an diesem Tag: „Um die DDR wird gefeilscht.“ Was aber hat im Herbst 1989 die unbändige politische Dynamik freigesetzt, die den SED-Staat wenig später kollabieren ließ? Im Sommer hatte sich in der DDR ein massiver Stimmungswandel vollzogen. Nach der Öffnung der ungarischen Grenze wuchs der Perma-Frust über Reiseverbote und Reformunfähigkeit, Versorgungsmängel und Wahlfälschungen. Die Borniertheit, mit der die regierenden Marxisten-Senilisten auf die Flucht- und Ausreisewelle reagierten, weckte Wut und Widerstandswillen. Zugute kam der Unmut den schwachen – maximal 3000 Mitglieder starken – Bürgerrechtsgruppen. Dass diese Minderheit, schlecht organisiert und politisch zerstritten, nahezu unbeschadet den Schutzraum Kirche verlassen und Millionen von Mitstreitern mobilisieren konnte, verdankt sie dem strategischen Geschick ihrer Vor- Die Geschichte der Einigung muß nicht neu geschrieben werden. Aber manch eine Geschichte dahinter lässt sich erst jetzt erzählen. kämpfer: Die Initiatoren verzichteten auf Forderungen nach Abschaffung des Sozialismus und ließen zunächst nur linke Hymnen aus dem Liedschatz der DDRSingebewegung anstimmen wie etwa die „Internationale“ („... erkämpft das Menschenrecht“). Dazu riefen sie anzügliche, aber unangreifbare Parolen – Musterbeispiel: „Wir sind das Volk.“ Dieses Vorgehen ermöglichte es auch SED-Genossen, die sich nach Perestroika sehnten, Reformgruppierungen wie das 53 100 TAGE IM HERBST Staatsgast Krenz (l.) in Peking 1989* „Kampfgemeinschaft“ mit der KP Chinas Neue Forum zu unterstützen. Zugleich erschwerte die Taktik den Versuch, die Protestler pauschal als „Konterrevolutionäre“ oder „Kriminelle“ hinzustellen. Militärischen Beistand aus Moskau gegen einen Volksaufstand konnten die DDRMachthaber kaum noch erwarten. Gorbatschow habe, schreibt der Historiker und Osteuropa-Wissenschaftler Ekkehard Kuhn, die Herbstrevolte „bewusst nicht unterbunden“**: „Sie eröffnete Moskau über den Zusammenbruch der DDR und über die Wiederherstellung der deutschen Einheit den Weg nach Europa.“ Auch die DDR-eigenen Kräfte waren nur noch begrenzt einsatzbereit. StasiDokumente belegen, dass Mitglieder von Betriebskampfgruppen reihenweise den Prügeldienst verweigerten. Selbst im StasiWachregiment „Feliks Dzierzyński“ kam es zur Meuterei. Kampfwert der Truppe, laut Geheimdienst-Urteil: „Null.“ Völlig unkalkulierbar war dennoch das Risiko, das jene Leipziger eingingen, die am 9. Oktober für den wichtigsten Wen- Trotz aller Sonntagsreden – den Deutschen war es nicht mehr um die Einheit, sondern nur noch um die Milderung der Teilung gegangen. depunkt innerhalb des Wendeherbstes sorgten. An jenem Tag ereignete sich, so Historiker Kuhn, „ein Politkrimi, wie ihn Deutschland noch nie erlebte“. Erich Honecker hatte befohlen, Aufmärsche „im Keim zu ersticken“, Krenz demonstrativ die „Kampfgemeinschaft“ mit der KP Chinas gerühmt, die am 4. Juni 54 F. ANDERSON / GAMMA / STUDIO X JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO DDR-Führung die Befehlsgewalt überlassen hatte. Krenz, der sich immer wieder brüstet, ein Blutbad verhindert zu haben, war für die örtliche Einsatzleitung zur kritischen Zeit nicht erreichbar. Immerhin aber hatte er – just im Begriff, auf Gegenkurs zu Honecker zu gehen – am Vortag mäßigend auf die verantwortlichen Minister eingewirkt. Krenz wusste: „Auch nur ein Tropfen Blut würde jeden Gedanken an eine reformierte DDR begraben“ – und den SED-Staat für jeden Nachfolger Honeckers unregierbar machen. Daher sollten die nach Leipzig beorderten 8000 Mann starken „Sicherheitsorgane“ nur eingreifen, wenn sie angegriffen würden – eine denkbar schwache Sicherung: „In der aufgeheizten Atmosphäre konnte diese einschränkende Bedingung wenig Sicherheiten bieten“, urteilt HarvardHistoriker Charles S. Maier***. Dass in Leipzig Angriffe auf Vopo und Stasi – mit unkontrollierbaren Folgen – unterblieben, ist nicht dem Zauderer Krenz zu verdanken. Den Ausschlag für den friedlichen Ausgang gaben die verzweifelten Deeskalationsbemühungen von Prominenten wie Kurt Masur, diversen Studentenprotest in Peking 1989: 2600 Menschen starben Kirchenleuten und subalternen SED-Funktionären. auf dem Platz des Himmlischen Friedens Wenig später, nachdem er sich in Moseinen Studentenaufstand mit Panzern hat- kau rückversichert hatte, putschte Krenz te niederwalzen lassen; 2600 Menschen gegen Honecker – zu spät, um die Erosion starben, rund 7000 wurden verletzt. der SED-Macht aufzuhalten: Mittlerweile Am 6. Oktober drohten Betriebskampf- hatte der Marsch der 70 000 von Leipzig gruppen öffentlich, sie würden gegen De- vielen Millionen Menschen im ganzen monstranten „mit der Waffe in der Hand“ Land die Angst vor Vopo-Knüppeln und vorgehen. Von den 70 000 Leipzigern, die Stasi-Knast genommen. sich trotzdem auf die Straße wagten, fürchVergebens mühten sich der unpopuläre teten viele um ihr Leben. Krenz, SED-Spitzenmann für 47 Tage, Dass es in der „Heldenstadt“ zum und später der Übergangspremier Hans „Wunder von Leipzig“ (Dirigent Kurt Ma- Modrow, die Erwartungen des Volkes zu sur) und nicht zum Blutvergießen kam, lag erfüllen. Die aber stiegen von Woche zu vor allem an der großen Zahl der Demon- Woche, wie der Wandel der Demo-Parolen stranten und an ihrer Disziplin. In einer belegt – von „Visafrei bis Hawaii“ über Dienstbesprechung klagte Innenminister „SED ade“ bis hin zu „Deutschland einig Friedrich Dickel wenig später: Vaterland“. War der Untergang der DDR unverWas sollen wir machen? Ich stelle mal diemeidlich? Nach Offenlegung vieler einst se rhetorische Frage. Sollen wir dazwigeheimer Dokumente ist heute sicher: Der schengehen bei 20 000, 30 000, 40 000 BürSED-Staat, der 20 Jahre lang über seine gern? ... Natürlich ist das in dem AugenVerhältnisse gelebt hatte, stand im Herbst blick ein Zurückweichen, aber ich sage 1989 unmittelbar vor der Zahlungsuneuch noch einmal, bei Größenordnungen fähigkeit. Anfang November 1989 verfügte von 20000, 30 000, 80000 oder gar 100000 ist die DDR nur noch über eine einzige gar nichts anderes möglich. Trumpfkarte, mit der sich möglicherweise In Leipzig oblag die Verantwortung am Bonner Kredite hätten erpressen lassen Tag der Entscheidung lokalen Funk- können: die Berliner Mauer. tionären, denen die gelähmte Ost-Berliner Um auf den Schusswaffeneinsatz verzichten zu können und das Erscheinungsbild der Grenze zu verbessern, hatte die DDR * Mit Chinas KP-Chef Jiang Zemin (r.). ** Ekkehard Kuhn: „Wir sind das Volk“. Ullstein Verinsgeheim eine Art Hightech-„Mauer 2000“ lag, Berlin; 190 Seiten; 14,90 Mark. planen lassen – mit „Infrarotlichtschran*** Charles S. Maier: „Das Verschwinden der DDR ken“ und „Mikrowellenschranken“ statt und der Untergang des Kommunismus“. S. Fischer Stacheldraht und Tretminen. Ein zweiter Verlag, Frankfurt am Main; 592 Seiten; 58 Mark. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST Geheimplan sah im Herbst 1989 vor: Für das Versprechen, die Grenze humaner zu machen, sollten der Bonner Regierung Milliardenkredite abgepresst werden. Doch am 9. November war Ost-Berlins letztes Faustpfand plötzlich perdu – die Mauer fiel durch „eine der phantastischsten administrativen Fehlleistungen in der langen, wechselvollen Historie der staatlichen Bürokratie“, wie das Politologen-Duo Zelikow/Rice urteilt. Die irrtümliche Mitteilung von SED-Sprecher Günter Schabowski, Westreisen seien „unverzüg- „Revolutionen haben dann Erfolg, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die unten wollen nicht mehr, und die oben können nicht mehr.“ lich“ möglich, führte dazu, dass zehntausende die Grenze stürmten und die Posten überrannten. Allein in der ersten Woche nach dem „Wunder von Berlin“ (ZDF) nutzten neun Millionen Menschen – weit mehr als die Hälfte der DDR-Bevölkerung – die neue Freiheit, um den lockenden Westen zu erkunden. Bald darauf übertönte den Ruf „Wir sind ein Volk“ die Parole „Wir sind das Volk“. Schon immer war die D-Mark-Republik für eine Mehrheit der Ostdeutschen das Traumstaatsmodell gewesen. Nun wurde der D-Mark-Kanzler Helmut Kohl für viele zum Traumstaatsmann. Einstige DDRMachthaber und einstige DDR-Oppositionelle stimmen heute in einem Punkt überein: Vor allem die Magnetkraft der Mark hat den Einheitsdrang der Ostdeutschen forciert. „Wenn wir als Nachbarland Portugal gehabt hätten, hätten wir viel- leicht die Schlacht gewonnen“, sinniert ExGeldbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski. Allein im Laufe des Jahres 1989 emigrierten eine drittel Million DDR-Bürger in die Bundesrepublik, zum Verdruss einer wachsenden Zahl von Westdeutschen. Das Grummeln draußen im Lande beflügelte den um Wiederwahl bangenden Kohl, die kurz zuvor noch ungewollte Einheit nun mit aller Macht anzusteuern. Den Todesstoß für den SED-Staat sehen Wissenschaftler wie der Münchner Politologe Karl-Rudolf Korte in einem damals vollzogenen „konzeptionellen Wandel“ der Bonner Politik: in der Entschlossenheit Kohls, den Kurs der Nichteinmischung in DDR-Angelegenheiten zu verlassen. Ende 1989 machte die Bundesregierung jede weitere Finanzhilfe für die Ost-Berliner Bankrotteure vom Fortschritt systemüberwindender Reformen abhängig. Wenn die DDR – so Kohls Kalkül laut Zelikow und Rice – „den Sozialismus über Bord warf, würde sie die Hauptrechtfertigung für ihre Existenz als eigenständiger Staat verlieren“. Getragen vom anschwellenden Einheitswillen in der DDR-Bevölkerung, wagte Kohl 1989/90 eine der riskantesten Pokerpartien in der Geschichte der Diplomatie. Das Ziel mutet auch im Nachhinein noch tollkühn an. Zunächst galt es, den westlichen Siegermächten von einst – vor allem den Einheitsgegnern in London und Paris – die Zustimmung zur Wiedervereinigung abzuringen. Wie das glückte, liegt mittlerweile offen zu Tage: π durch Kohls Bereitschaft, die OderNeiße-Grenze zu Gunsten Polens festzuschreiben (was sämtliche Alliierten zur Vorbedingung gemacht hatten), π durch Kohls Versprechen, Deutschland auf Euro- und EU-Kurs zu trimmen (wo- durch vor allem französische Bedenken ausgeräumt werden sollten), und π durch Kohls Zusage, das neue Gesamtdeutschland komplett in die Nato einzubringen (wovon Bush seine Zustimmung zur Einheit abhängig gemacht hatte). Geklärt ist inzwischen auch, wie dem Westen das wohl größte politische Kunststück jener Jahre gelang: zu erreichen, dass Moskau nicht nur ein wiedervereinigtes, kapitalistisches Deutschland akzeptierte, sondern auch die Verschiebung der NatoGrenze gen Osten. Wiederum gab die harte Deutsche Mark den Ausschlag. Gorbatschow stand Anfang 1990 innenpolitisch unter gewaltigem Druck. Er war insgeheim bereit, auf nahezu jede Bedingung einzugehen, um an Devisen für sein marodes rotes Reich zu kommen. Nachdem Bush ihm ein Handelsabkommen sowie eine Nato-Reform in Aussicht gestellt und Kohl drei Milliarden Mark an zinslosen Krediten plus zwölf Milliarden Mark Beihilfe für den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR zugesagt hatte, gab Gorbatschow den Weg frei. Dass der Kreml die Kontrolle über die DDR der Bundesrepublik überließ, führt auch US-Historiker Maier auf Bonns „Schlüsselrolle bei der Vermittlung von westlicher Finanzhilfe“ zurück. Uneins sind sich Wissenschaftler noch immer über die passende Bezeichnung für jenen Prozess, der am 3. Oktober 1990 zur un(v)erhofften Einheit führte: Hat sich in der DDR ein Volksaufstand vollzogen? Ein Zusammenbruch? Eine Konterrevolution? Eine Revolution? Die schlichteste Antwort gab, mit einem Lenin-Zitat, eine Leipziger Demonstrantin. „Ich habe mal gelernt“, sprach sie einem TV-Reporter ins Mikrofon, „Revolutionen haben immer dann Erfolg, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die unten wollen nicht mehr, und die oben können nicht mehr.“ Genau so war’s im Herbst 1989. P. LANGROCK / ZENIT Einheitsfeier am Vorabend des 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagsgebäude Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (1) Die Woche vom 25. 9. bis 1. 10. 1989 »Wir wollen raus« ULLSTEIN BILDERDIENST Im September 1989 – zwei Wochen vor dem 40. Jahrestag der DDR – naht die jämmerlichste Stunde des SED-Regimes: Im Lande formiert sich Opposition, dem Staat läuft das Volk davon. DDR-Bürger suchen Zuflucht in der Prager Botschaft der Bundesrepublik d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 61 100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS« CHRONIK »Wir haben euch satt« Seit zehn Jahren träumen der Kraftfahrer Volkmar Stellmach und seine Frau Carola, beide 31, vom goldenen Westen. Gurken kaufen, ohne anzustehen, gute Medizin für den lungenkranken Sohn besorgen und auch mal an die Adria fahren – das ist ihre Vision vom besseren Leben. Das Glück scheint für das Ehepaar aus Spremberg bei Cottbus und die Kinder Doreen, 9, und Oliver, 5, zum Greifen nahe. Schon 60 000 DDR-Bürger durften seit Jahresbeginn – wenn auch häufig erst nach üblen bürokratischen Schikanen – legal in den Westen ausreisen. Am 19. August gelang 668 DDR-Urlaubern in Ungarn die Massenflucht nach Österreich. Und vor 14 Tagen hat die liberale Budapester KPRegierung überraschend die Westgrenze geöffnet. Seither drängen durch das Loch im einstmals Eisernen Vorhang mehr und mehr Ungarn-Urlauber aus der DDR, allein in den letzten acht Wochen über 20 000. „Honecker hat im ,Neuen Deutschland‘ eine Anzeige aufgegeben“, beginnt einer der Flüsterwitze, die in den Kneipen und Kantinen des Arbeiter-und-Bauern-Staates kursieren: „Biete Staat, suche Arbeiter und Bauern.“ Noch’n Witz: „Weißt du schon, dass nächstes Jahr die Personalausweise abge- schafft werden?“ – „Wieso?“ – „Na ja, die paar Leutchen, die dann noch da sind, kennt Honecker persönlich.“ Die Stellmachs wollen nicht zu den Letzten zählen. Sie glauben nicht mehr an die Reformfähigkeit der überalterten Führungsspitze um den 77-jährigen SEDGeneralsekretär, der, gerade an der Gallenblase operiert, von Gerüchtemachern totgesagt und von Spaßvögeln verspottet wird: „Was ist der Unterschied zwischen einer Kaffeemaschine und dem Politbüro?“ Antwort: „Eine Kaffeemaschine kann man wenigstens entkalken.“ Die Stellmachs haben vor Wochen ein Visum für eine Ungarn-Reise beantragt, um in den Westen entwischen zu können. Der cremefarbene Trabi ist frisch überholt, die Koffer stehen gepackt im Schlafzimmer der engen Plattenbauwohnung, die im Volksmund „Arbeiterschließfach“ heißt. Was den Stellmachs noch fehlt, ist der Bewilligungsbescheid der Volkspolizei. Leipzig Freigebig kredenzt der Zahnmedizinstudent Michael Arnold, 25, seinen Freunden in dieser fröhlichen Nacht ein ganz besonderes Getränk: „Brotwein“, gebraut aus Zucker, Wasser, Backwerk und vergorenen Früchten. Denn es gibt Anlass zu feiern in Arnolds Küche im Leipziger Osten: Mit dem ArmeLeute-Gesöff stößt die junge Runde auf den Erfolg der bislang größten oppositio- D. EISERMANN / DAS FOTOARCHIV Montag, 25. September 1989 Spremberg nellen Demonstration in der sächsischen Metropole an. Wie an jedem Montag seit der Messe am Monatsbeginn sind am Nachmittag nach dem traditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche Christenmenschen zu unangemeldetem Protest zusammengekommen. Doch diesmal waren es nicht 1000 Demonstranten (wie beim ersten Treffen am 4. September) und auch nicht 3000 (wie vor einer Woche), sondern – ei guggemol do! – an die 8000 Leipziger. Sie lassen sich nicht einschüchtern von den grün uniformierten „Schnittlauchen“ mit ihren wütend kläffenden Schäferhunden und auch nicht von den Greiftrupps, die noch am Montag zuvor auf einen Schlag 128 Demonstranten festgenommen und auf Lastwagen abtransportiert haben – wegen „Zusammenrottung“, wie Demonstrationen im DDR-Deutsch heißen. Doch je härter die Staatssicherheit zupackt, desto beherzter singen die Protestler „We shall overcome“, die Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, desto häufiger strecken sie den Arm zum „Victory“-Zeichen empor, desto lauter rufen sie ihre Parolen, die – Leipziger Allerlei – kein Komitee koordiniert. Die Minderheit der „Ausreiser“, einige mit Gorbatschow-Stickern, schmettert auch an diesem Montag „Wir wollen raus“. Die Mehrheit der „Bleiber“ dagegen – „Wir bleiben hier“ – schreit nach besseren Lebensbedingungen: „Reisefreiheit statt Massenflucht“. Die Bleiber scheuen den Sprung in den glitzernden Westen. Doch sie wollen nicht ewig „DDR“ sein, „Der Doofe Rest“. Alle Demonstranten eint der kaum verhüllte Zorn auf die Ost-Berliner Führung. Noch frisch ist der Ärger über die Kommunalwahl am 7. Mai, als die Regierenden behaupteten, 98,85 Prozent der Stimmen kassiert zu haben. Doch die Bürgerrechtler haben erstmals mitgezählt – und vielfach mehr als 20 Prozent Ablehnung registriert. Ebenso wie über die dreiste Wahlfälschung empören sich die Leipziger über den jüngsten Streich der Herrschenden: Gerade erst, rechtzeitig zur vierten Montagsdemonstration, ist publik geworden, dass die Regierung den Antrag abgelehnt hat, erstmals eine landesweite, von Staat Massenflucht aus Ungarn am 19. August 1989 „Biete Staat, suche Arbeiter und Bauern“ PUNCTUM / DER SPIEGEL / XXP Leipziger Montagsdemonstration am 25. September: „Wir bleiben hier“ J. H. DARCHINGER „Weitermachen mit und Kirche unabhängige den MontagsdemonstraOppositionsbewegung zutionen“, „Unterschriften zulassen. sammeln für die Zulas„Neu-es Fo-rum, Neusung des Neuen Forums“: es Fo-rum“, rufen die Über die nächsten EtapLeipziger den Namen der penziele sind sich die BürGruppe, die vor 14 Tagen gerrechtler einig. Dabei um die Malerin Bärbel weiß auch von ihnen nieBohley entstanden ist mand, wie die starrsinni(siehe Porträt Seite 78). gen Greise im SED-Polit„Reisefreiheit ja, Wiederbüro reagieren werden, vereinigung nein“, umwenn der Druck weiter reißt die Initiatorin ihre Bürgerrechtler Arnold wächst. Vorstellungen – was die Chinas KP-Führung hat erst am 4. Juni Regierung nicht hindert, das Neue Forum (NF) als „staatsfeindliche Plattform“ auf dem Platz des Himmlischen Friedens in zu kriminalisieren und jede Aktion zu Peking demonstrierende Studenten erihrer Unterstützung als „illegal“ zu be- schießen lassen. Jeder in Arnolds Leipziger Küche weiß, dass die deutschen Kommuniswerten. Geradezu verhöhnt fühlen sich die NF- ten der Bruderpartei gleich nach dem MasUnterstützer durch das „Neue Deutsch- saker ihre Solidarität bekundet haben. Und ihnen allen ist bewusst, dass die land (ND)“. Das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Popelinejackenträger von der Staatsdie plötzlich um ihre Monopolstellung sicherheit auch die Leipziger Opposition bangt, hat soeben erklärt, das Neue Forum genau im Visier haben. Vergangene Woche erst ist Arnold, eisei überflüssig. Begründung: In der DDR gebe es bereits „mehr als 200 gesellschaft- ner der Sprecher des Neuen Forums, „den liche Organisationen“ – und damit genü- Sicherheitskräften zugeführt“ worden. Die Polizei beschuldigt den schlaksigen jungen gend „Vielheit“. Namentlich aufgeführt sind „Briefmar- Mann, „polizeiliche Maßnahmen“ fotokensammler, Hundehalter, Bücherfreunde, grafiert zu haben; dabei hatte er weder eine Kamera noch Filme bei sich gehabt. Rosenfreunde“. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Gegenüber von Arnolds Wohnung, im Stadtteil Anger-Crottendorf, hat die Stasi vor einigen Monaten eigens ein Ladenlokal angemietet, um ihn und seine Gäste rund um die Uhr abhören und observieren zu können. Um die Oppositionellen einzuschüchtern, ziehen die Dunkelmänner von „Horch und Guck“ häufig demonstrativ die Gardinen auseinander und postieren sich sichtbar am Fenster. Doch an diesem Abend scheint trotz alledem die Zuversicht stärker als die Angst. Schließlich gilt es zu feiern – den größten Leipziger Protestzug seit dem blutigen 17. Juni 1953. Amen, Venceremos, Prost Brotwein. Dienstag, 26. September 1989 Ost-Berlin Im dem düster marmorierten ZK-Gebäude am Werderschen Markt beginnt das Ritual der Machtausübung wie an jedem Dienstag um 10 Uhr,Woche für Woche, Jahr um Jahr. Die 26 Mitglieder und Kandidaten des SED-Politbüros betreten den 300 Quadratmeter großen Sitzungssaal im „Großen Haus“ und machen es sich bequem auf ihren roten Polsterstühlen. Schläfrig lassen sie die obligatorischen Monologe über sich ergehen – mal zum Stand der Weizen63 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS« gruppen aus der gesamten DDR, von Demokratie Jetzt bis zum Demokratischen Aufbruch, in einem Gemeindehaus in Leipzig darauf geeinigt, das Neue Forum als „gemeinsame Plattform“ anzuerkennen. Schlimmer noch: Der Gründungsaufruf des NF, dessen Initiatorin Bohley den „Alleinvertretungsanspruch der führenden SED brechen“ will, sei auch von SEDMitgliedern unterzeichnet worden. Der Berliner Bezirkssekretär Günter Schabowski, 60, berichtet von einer Diskussion im Deutschen Theater, bei der die Künstler dem SED-Funktionär unisono bedeutet hatten: „Wir haben euch satt.“ Günter Mittag, 62, der DDR-Wirtschaftslenker, bringt die Provokationen in der Leipziger Nikolaikirche zur Sprache: Es hätte „erste Tote geben können“. Der Runde ist klar, was eigentlich Not täte. Bereits vor vier Tagen hat Honecker ein chiffriertes Fernschreiben an die Ersten Bezirkssekretäre der SED herausgejagt: „Feindliche Aktionen“ müssten „im Keim erstickt“, alle Rädelsführer „isoliert“ werden. Die Leipziger Kirchenleute, erklärt Mielke nun im Politbüro, seien ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Doch fürs Erste sieht sich der Führungszirkel am Durchgreifen und Draufhauen gehindert. Denn der 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober steht unmittelbar bevor. Und vor ihrem Jubelfest, das wissen die Polit- bürokraten, können sie sich die Kirchenmänner und die Konterrevolutionäre kaum vorknöpfen, ohne weltweit unliebsame Aufmerksamkeit zu erregen. Auch der wendige Bezirkschef Schabowski, der „komplexe Antworten“ auf die Fragen der unruhigen Massen fordert und im Ruf steht, gelegentlich mit Gorbatschow-Ideen zu liebäugeln, plädiert für Aufschub: „Den 40. Jahrestag dürfen wir uns nicht verhageln lassen.“ Ungelegen kommt das Jubiläum den DDR-Herrschern auch deshalb, weil es harte Reaktionen auf die anhaltende Fluchtund Ausreisebewegung unmöglich macht. Die SED-Führung sieht sich in der Zwickmühle: Schon das bloße Gerücht, sie plane ein Verbot von Ungarn-Reisen, würde die Fluchtwelle anschwellen lassen – ausgerechnet zum Jahrestag. Ohnmächtig bejammern PolitbüroMitglieder die ungarische Grenzöffnung, von der Budapests Außenminister Gyula Horn seinen DDR-Kollegen Oskar Fischer am 31. August unterrichtet hat, als „Verrat am sozialistischen Lager“. Alle Versuche, „das Loch zuzumachen in Ungarn“ (Mittag), sind gescheitert: Gorbatschow weigert sich schlicht, Budapest zur Lagertreue zurückzuzwingen. Auch diverse Ost-Berliner Vorstöße an der Donau sind folgenlos geblieben. „Die sind gekauft“, sagt einer im Politbüro – Helmut Kohl habe dem sozialistischen ULLSTEIN BILDERDIENST ernte, mal zu den Perspektiven der volkseigenen Kaliproduktion. Gegen die Ängste und Hoffnungen des gemeinen Volkes haben sich die hoch betagten Diktatoren des Proletariats, in dunkelblauen Volvo-Limousinen herangekarrt aus dem Prominentenghetto Wandlitz, sorgsam abgeschottet. 5 von ihnen sind Greise (75 bis 81 Jahre alt), 6 Rentner (65 bis 74 Jahre alt), 14 Frührentner (55 bis 64 Jahre alt). Der einzige Jüngere, der berufsjugendliche Ex-FDJ-Chef Egon Krenz, 52, hat sich gerade für eine Woche verabschiedet, um mit den chinesischen Blutsfreunden das 40-jährige Bestehen der roten Volksrepublik zu feiern. Seit Jahren sorgt der auf Linientreue getrimmte Partei- und Regierungsapparat dafür, dass in den inneren Zirkel der Macht nur frisierte Statistiken und geschönte Lageberichte gelangen. Denkbar ist daher, dass der kränkelnde Honecker, bereits seit 1971 erster Mann der DDR, selbst glaubt, was er mit gelegentlich umkippender Fistelstimme verkündet: „Ich habe nie geirrt“ oder, vor wenigen Wochen erst im Gespräch mit Erfurter Mikroelektronikern: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ An diesem Dienstag aber bricht die verdrängte Wirklichkeit geradezu sturzbachartig über die Seniorenriege herein. StasiChef Erich Mielke meldet, zwei Tage zuvor hätten sich 80 Vertreter von Oppositions- Genscher (l.) bei seiner Balkon-Rede am 30. September in Prag: Überglückliche Menschen rufen „Danke, danke, danke“ 66 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS« „Was passiert mit meinem Trabi, der jetzt auf einem Prager Parkplatz steht?“ Vogel verspricht, dass die Autos später in den Westen nachgeholt werden dürfen. Außenminister Fischer (2. v. l.), Horn (3. v. r.) in Ost-Berlin: „Verrat am sozialistischen Lager“ Bruderland 500 Millionen Mark versprochen. Nun wächst das Problem mit jeder Stunde. Zunehmende Telefonate und anschwellende Paketströme in den Westen, warnt Mielke, ließen auf Fluchtvorbereitungen zehntausender weiterer Bürgerinnen und Bürger schließen. Zur Zeit urlauben 120 000 DDRler in Ungarn, daheim beantragen pro Tag weitere 2000 Familien eine Ungarn-Reise. Mittag empfiehlt verstärkte „Konterpropaganda“ gegen den Drang in den Westen. Doch damit lässt sich kaum noch jemand von Flucht oder Ausreise abhalten – die gleichgeschaltete DDR-Presse hat längst jegliche Glaubwürdigkeit eingebüßt. Nicht etwa verängstigt, sondern belustigt haben Leser jüngst auf eine Gruselstory im „Neuen Deutschland“ reagiert: Ein Reichsbahn-Koch namens Hartmut Ferworn behauptete auf Seite 1, er sei am 11. September während einer Dienstpause in Budapest von einem Westdeutschen mit Hilfe einer Mentholzigarette betäubt und nach Wien verschleppt worden – klarer Beweis laut „ND“ für verbrecherische Methoden „kaltblütiger berufsmäßiger Menschenhändler“, für die Leser eine Lachnummer. Den Politbüro-Mitgliedern bleibt an diesem Dienstag nur eines – die Hoffnung, vor dem Parteifest wenigstens das allerpeinlichste unter den aktuellen Problemen rechtzeitig aus der Welt schaffen zu können: In der Bonner Botschaft in der ∏SSR, die DDR-Bürger ohne Visum besuchen können, haben so viele Ausreisewillige Zuflucht gefunden, dass die Vertretung wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Dicht gedrängt, kampieren die Ausreisewilligen im Botschaftsgarten. Seit Wochen bietet das Flüchtlingselend Kamerafutter für Fernsehjournalisten aus aller Welt – zum Schaden des, gerade jetzt, so sehr aufs Renommee bedachten SED-Staates. Nur einer, glaubt der greise Generalsekretär, kann die verfahrene Situation in Prag noch retten: Wolfgang Vogel, 63, 68 Rechtsanwalt und seit Jahren Erich Honeckers Spezialist fürs Heikle. Prag Als Wolfgang Vogel samt Ehefrau Helga im Prager Palais Lobkowitz eintrifft, wo Bonns ∏SSR-Botschaft residiert, hat sich die Lage weiter zugespitzt: Tausende Zeltbewohner hausen mittlerweile im Garten der Vertretung, den der Regen der vergangenen Tage in eine Schlammwüste verwandelt hat. Manche vegetieren schon seit Wochen auf Gummimatten, Luftmatratzen und nassen Lattenrosten. Es stinkt nach Müll und Urin, obschon Campingduschen und Chemietoiletten aufgestellt worden sind. Stündlich hangeln sich dutzende von Asylsuchenden über den Botschaftszaun auf das exterritoriale Gelände. Kleinkinder werden über das Eisengitter gehoben. Immer wieder versucht Honeckers „persönlicher Beauftragter für humanitäre Fragen“, so Vogels offizieller Titel, im Konferenzsaal der Botschaft, den Flüchtlingen eine Offerte aus Ost-Berlin schmackhaft zu machen: Die Regierung garantiere jedem der Prager Botschaftsbesetzer, binnen maximal sechs Monaten legal in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen, sofern er zuvor freiwillig in die DDR zurückkehre. Niemand müsse Angst vor Repressalien haben, versichert der Advokat. Vier hochrangige Bonner Abgesandte mühen sich, die ungebetenen Gäste zur Annahme des Vogel-Vorschlags zu bewegen: die Spitzenbeamten Walter Priesnitz (Innerdeutsches Ministerium), Dieter Castrup und Jürgen Sudhoff (Auswärtiges Amt) sowie der Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin, Franz Bertele. Doch die große Mehrheit der Umworbenen weigert sich strikt. Die Menschen geben nichts mehr auf Versprechen – sie wollen, einmal der DDR entkommen, auf dem kürzesten Weg in den Westen. Die wenigen, die eine vorläufige Rückkehr überhaupt nur erwägen, verlangen Antworten auf praktische Fragen – etwa: d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 DDR-Außenminister Oskar Fischer, 66, erlebt am Rande der Uno-Vollversammlung unangenehme Begegnungen mit zwei Kollegen, auf die seine Regierung derzeit gar nicht gut zu sprechen ist. Zuerst bittet ihn Ungarns Außenminister Gyula Horn, 57, zu einem Gespräch, in dem dieser sich – wie der Ostdeutsche per Telex nach Hause berichtet – bitter darüber beklagt, dass sein Land „sehr von Kommentaren der DDR-Nachrichtenagentur mit völlig unbegründeten Anspielungen und beleidigender Wortwahl betroffen“ sei. Verdattert behauptet Fischer, die Medien der DDR würden „ihre Tätigkeit selbst verantworten“ – als gäbe es in der DDR eine freie Presse. Dann muss Fischer ein frostiges Gespräch mit seinem Bonner Kollegen HansDietrich Genscher hinter sich bringen, der ihn bisher immer respektvoll behandelt hat. Auf die prekäre Lage der Botschafts- REUTERS BUNDESARCHIV Mittwoch, 27. September 1989 New York Außenminister Horn, Genscher in New York Präsent aus Samt und Stacheldraht flüchtlinge angesprochen, verfällt der schmächtige Einheitssozialist in inhaltsleere Floskeln über die angebliche innere Stabilität der DDR. Herzlichkeit hingegen prägt das Treffen zweier ehemaliger Gegner. Horn überreicht Genscher in New York ein Stück Stacheldraht auf einem Band in den ungarischen Nationalfarben Rot-Weiß-Grün, drapiert auf rotem Samt. Ein Messingtäfelchen erläutert die Bedeutung des Präsents: Der Stacheldraht war noch vor kurzem an der österreichischungarischen Grenze Teil jenes Eisernen Vorhangs, der nun gelüftet wird. Donnerstag, 28. September 1989 Prag Bonns Botschafter in Prag, Hermann Huber, übergibt dem Honecker-Beauftragten Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Vogel einen dicken Stapel Papier: „Personalbögen“, die der Diplomat an die 4000 Besetzer seiner Residenz verteilt hatte. Mittlerweile haben die Flüchtlinge die Zettel ausgefüllt. Mit einem „roten V“, erläutert Huber, seien die Fragebögen derjenigen Ausreisewilligen markiert, die „bereit wären, auf der Basis der von Ihnen in der Botschaft gemachten Zusagen … die Botschaft zu verlassen“. Mit den Namenslisten fährt Vogel in die Prager DDR-Botschaft. Dort soll Gerhard Niebling, Generalmajor der Stasi, den Rücktransport organisieren. Beim gemeinsamen Frühstück eröffnet der Geheimdienstler dem Anwalt, er wolle Mielke anrufen und ihm vorschlagen, die Abtrünnigen mit Sonderzügen heimzuholen. Doch der MfS-Mann täuscht sich über die Zahl der Rückkehrwilligen. „Gerhard“, gesteht Vogel seinem Gesprächspartner, „sag dem Minister, wir sind am Ende.“ Nicht einmal 200 wollen auf Vogels Offerte eingehen – für die genügen ein paar Busse. Niebling gibt die Personalien der Rückkehrwilligen, von denen viele ohne Ausweis in die ∏SSR aufgebrochen waren, an die Grenzkontrollstellen weiter. Abends bei einem Essen in der BonnBotschaft gesteht Vogel auch den westdeutschen Beamten ein: „Wir müssen erkennen, da läuft nichts mehr.“ Nach Prag werde er nicht mehr zurückkommen: „Das hat keinen Zweck.“ Wenig später fliegt Vogel nach Warschau, um sich einem weiteren Problemfall zuzuwenden: Auch in der dortigen westdeutschen Botschaft und in Zelten, die von der freien polnischen Gewerkschaft Solidarność am Stadtrand aufgeschlagen wurden, haben hunderte von DDR-Bürgern Zuflucht gesucht. Warschau In der engen Ulica Dabrowiecka, vor der Bonner Vertretung, drängen sich DDRFlüchtlinge, die westlichen Reportern von ihrer Odyssee berichten. Weil DDR-Bürger Polen seit Jahren nur mit Pass und Visum besuchen dürfen, haben einige ihre Kinder und ihre Plastetüten huckepack genommen und sind durch die Neiße ins sozialistische Nachbarland geschwommen. Andere sind übers Riesengebirge nach Polen gekommen; von der Grenze aus brauchten sie, zu Fuß und per Anhalter, fünf Tage, um sich nach Warschau durchzuschlagen. Vor diesen Menschen wiederholt Vogel sein Angebot: Ausreiseerlaubnis binnen sechs Monaten, zunächst jedoch Rückkehr in die DDR. Doch in Warschau kann Vogel noch weniger ausrichten als in Prag. Die neue Koalitionsregierung, von der prowestlichen Solidarność-Bewegung angeführt, hegt – d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS« Kinder dabei?“, will Moskaus Außenminister wissen. Genscher antwortet: „Viele.“ Daraufhin verspricht Schewardnadse: „Ich helfe Ihnen.“ G. CLAUSSEN Freitag, 29. September 1989 Ost-Berlin Vermittler Vogel, Ehefrau Helga in Warschau: „Sag dem Minister, wir sind am Ende“ von denen noch vor wenigen Tagen niemand zu träumen gewagt hätte. New York In einem Streifenwagen der New Yorker Polizei, mit eingeschaltetem Blaulicht, lässt sich Hans-Dietrich Genscher zur sowjetischen Botschaft bringen. Während der Uno-Vollversammlung haben den Außenminister neue alarmierende Berichte über die Lage in der Prager Botschaft erreicht: Nunmehr drohe nicht nur der Ausbruch von Seuchen, es bestehe auch Einsturz- und Feuergefahr. In einem kurzfristig organisierten Gespräch bittet Genscher seinen Kollegen Eduard Schewardnadse um Hilfe. „Sind JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO anders als die Kommunisten, die in der ∏SSR am Ruder sind – keine brüderlichen Gefühle für die roten Preußen. Die rund 800 DDR-Bürger, die in der westdeutschen Botschaft Schutz gesucht haben, können ohne Furcht vor Abschiebung auf eine politische Lösung warten. Der neue Premier Tadeusz Mazowiecki hat bereits verkündet: „Keiner wird gegen seinen Willen in die DDR zurückgeschickt.“ Vogel, abermals gescheitert, verlässt die Verhandlungsstätte. Vor der Tür verweigert er jeden Kommentar: „Ich möchte nichts sagen.“ Er weiß: Die Situation ist jetzt, so kurz vor dem 40. Jahrestag, nur noch zu retten, wenn Honecker Zugeständnisse macht, Gegen 17 Uhr endet die Festversammlung „40 Jahre Volksrepublik China“ in der Staatsoper zu Ost-Berlin. Nach dem Absingen der „Internationale“ eilen die 1400 Jubelgäste zu den Garderoben. Die Politbüro-Mitglieder müssen noch bleiben. Honecker hat die Genossen angewiesen, sich nach dem Festakt im Apollosaal, dem prachtvollen Kammermusik- und Empfangsraum des Hauses, einzufinden – zwecks „Information über einen Sachverhalt höchster Dringlichkeit“. Bei Kronleuchterschein, an kahlen Tischen zwischen Stuckmarmorsäulen, beginnt die wohl ungewöhnlichste Sitzung der Geschichte des DDR-Politbüros. Mit starrer Miene teilt der Generalsekretär den Gralshütern des Arbeiter-undBauern-Staates Ungeheuerliches mit: Morgen Abend sollen vier Reichsbahn-Züge die Botschaftsbesetzer vom Bahnhof PragLiben aus über Dresden ins bayerische Hof bringen. Auch die in Warschau Wartenden, so Honecker, „muss man in den Westen entlassen“. Wohl jedem der Anwesenden ist bewusst: An diesem Tag – 28 Jahre nach dem Bau der Mauer, 8 Monate nach den letzten Todesschüssen an der deutsch-deutschen Grenze – geht eine Epoche zu Ende: Jahr- DDR-Führung in der Ost-Berliner Staatsoper: Nach dem Festakt mit den chinesischen Blutsfreunden eine Krisensitzung unter Kronleuchtern d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 73 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite AP zehntelang hatte der SED-Staat Republikflüchtige einsperren oder auf dem Todes- Prag streifen an der Grenze erschießen lassen. Wegen der Ost-Berliner Entscheidung, die Nun plötzlich sieht sich die DDR genötigt, Züge durch die DDR zu leiten, haben GenAusreisewillige auf Regierungskosten, in scher und Seiters in Absprache mit Kanzvolkseigenen Zügen, vor aller Welt, zum ler Helmut Kohl beschlossen, umgehend Klassenfeind zu transportieren – nur, nach Prag zu fliegen – sie wollen den Ausum die bombastische 40-Jahr-Feier der reisewilligen im Botschaftsgarten durch „Tätärä“ zu retten, wie der renommier- ihre Anwesenheit das Misstrauen gegenüber den DDR-Behörden nehmen. süchtige Staat verspottet wird. Der Außenminister, der im Juli einen Wohl um die Jämmerlichkeit der Aktion zu bemänteln, betont Honecker, Prag habe Herzinfarkt erlitten hat, ist so aufgewühlt, um die Räumung der Botschaft gebeten. dass er während des Flugs „sehr starke Die Genossen fürchteten, die Unruhe kön- Herzrhythmusstörungen“ verspürt. Um ne auf das ganze Land ausstrahlen und die 18.52 Uhr treten Genscher und Seiters auf den Balkon der Botschaft. tschechische Opposition ermutigen. „Liebe Landsleute“, beginnt der AußenWeil es im Kreis der Politbüro-Mitglieder wie üblich weder Fragen noch Wider- minister sichtlich ergriffen, „wir sind geworte gibt, legt der Chef eilig das Pro- kommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heugramm für die nächsten 24 Stunden fest. te Ihre Ausreise …“ Der Rest geht in Hermann Axen soll Horst Neubauer, den ohrenbetäubendem Jubel unter. Leiter der Ständigen Vertretung in Bonn, unterrichten, dem es wiederum obliegt, „die Regierung der BRD über die Entscheidung zu informieren“. Bevor Honecker nach 20 Minuten seinen Stab entlässt, wird Chefpropagandist Joachim Hermann beauftragt, einen „Kommentar in der Presse, in Rundfunk und Fernsehen zu veröffentlichen“ – Tenor: „humanitärer Akt“. Im „Neuen Deutschland“ wird zwei Tage Prag-Besucher Genscher: „Starke Herzrhythmusstörungen“ später zu lesen sein, die Botschaftsflüchtlinge seien in den Westen Überglückliche Menschen stimmen „Eientlassen worden, weil in Prag der „Aus- nigkeit und Recht und Freiheit“ an, dann bruch von Seuchen“ gedroht habe. hallen Sprechchöre durch den Botschaftspark: „Danke, danke, danke.“ Als Genscher den Balkon verlässt, hat Sonnabend, 30. September 1989 er den „bewegendsten Augenblick“ seiner politischen Laufbahn erlebt. Bonn In der „Aktuellen Kamera“, der TagesHorst Neubauer, 53, Honeckers Mann in schau des DDR-Fernsehens, verliest eine Bonn, trifft mit Kanzleramtsminister Ru- Nachrichtensprecherin kurz darauf die dolf Seiters und Außenminister Genscher amtliche Ost-Berliner Erklärung: zusammen. Der Diplomat hat um einen In Übereinkunft mit der Regierung der ∏SSR dringenden Gesprächstermin ersucht. Neubauer überbringt den Bonnern die hat die Regierung der DDR entschieden, die Entscheidung Honeckers: Den Botschafts- Personen, die sich widerrechtlich in der Botbesetzern wird die Ausreise in die Bun- schaft der BRD in Prag aufhalten, über das desrepublik gestattet – allerdings nur Territorium der DDR in die BRD auszuweisen. durch das Gebiet der DDR, wo ihnen of- Dabei ließ sie sich vor allem von der Lage fiziell die Staatsbürgerschaft aberkannt der Kinder leiten, die von ihren Eltern in eine Notsituation gebracht worden sind und werden soll. Genscher zeigt sich darüber erstaunt, die für deren gewissenloses Handeln nicht dass die DDR-Führung darauf beharrt, ihre verantwortlich gemacht werden können. republikmüden Bürger vor ihrem endgültigen Abschied symbolisch noch einmal Spremberg heimzuholen. Es sei doch „voraussehbar, Carola Stellmach sitzt in der Badewanne, dass die Züge bei der Fahrt durch die DDR als die sensationelle Nachricht von der Ausgroßes Aufsehen und große Emotionen er- reise der Botschaftsflüchtlinge über die regen würden“. Sender geht. Sofort beschließen sie und ihr 76 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 P. PIEL / GAMMA / STUDIO X 100 TAGE IM HERBST: »WIR WOLLEN RAUS« Flüchtlingszug an der DDR-Grenze Endlich, gegen 4 Uhr, fährt ein Zug im Bahnhof ein. Im engen Abteil „Praha“ kommt in Sicht. bekämpft Tochter Do„Wie der Teufel“ sind sie reen ihre Aufregung mit durch die nächtliche einer Hühnerkeule, der Tschechoslowakei geandere Broiler wird bei knattert – mit SpitzenAbteilnachbarn gegen tempo 105. Obstkonserven eingeIn Prag lotst ein Stellmach, Tochter Doreen (1989) tauscht. freundlicher Taxifahrer Bevor sich der Zug in Bewegung setzt, („Jedte za mnou“ = fahr mir hinterher) die umherirrenden Fremden zum hell er- verriegeln Schaffner mit Vierkantschlüsleuchteten Gebäude der westdeutschen seln die Türen. Im vogtländischen Reichenbach komBotschaft in der Vlasská. Dort werden sie men beschlipste DDR-Bedienstete in den unbürokratisch rasch registriert. Die nahezu menschenleere Residenz Zug, nehmen – letzter, absurder Hoheitssieht so wüst aus wie ein verlassenes Heer- akt des Honecker-Staates – den Passagielager. Stundenlang, erfahren die Neu- ren die Ausweise ab und lassen die blauen ankömmlinge, sind die Ausreisewilligen mit Heftchen in einem schwarzen Aktenkoffer Bussen zum Bahnhof gekarrt worden. Den verschwinden. Keine Minute dauert die letzten Transport haben die Stellmachs ver- Prozedur. Kaum haben die Kontrolleure den Zug passt. Die Familie zwängt sich noch einmal in verlassen, da prasselt aus den Abteilfenihre „Pappe“, rast zum Bahnhof Liben, stern ein Alu-Münzregen auf sie hernieparkt das Auto in einer Nebenstraße und der: Pfennige, Groschen und Markstücke und schlängelt sich durch eine Milizkette in klirren auf den Asphalt des Bahnsteigs, die Vorhalle. Dort warten tausende auf die Papierflieger aus DDR-Geldscheinen, den angekündigten Sonderzüge, beruhigen ihre sogenannten Kosakendollars, segeln hinkreischenden Kinder und tauschen Pro- terher. Bevor sich der Zug in Richtung Westen viant und Befürchtungen aus. Viele haben wie die Stellmachs nach in Bewegung setzt, trennt sich auch Volkden Fernseh-Nachrichten daheim alles ste- mar Stellmach übermütig von den letzten hen und liegen lassen – in Torschlusspanik: Münzen. Dann schwirrt auch noch sein TrabiSie fürchten, die DDR könnte schon bald nach dem „einmaligen humanitären Akt“ Schlüssel durch die Luft. (so die Ost-Berliner Nachrichtenagentur J OCH E N B ÖLSCH E , P ET RA B ORN HÖFT, N ORBE RT F. P ÖTZL , I RI NA R E PKE , ADN) den Zugang zur Tschechoslowakei C ORDT S CH N I BBE N sperren. Ehemann: „Wir müssen nach Prag, jetzt oder nie, noch heute Nacht.“ Sie fürchten: Nun ist nicht mehr damit zu rechnen, dass ihnen das beantragte Ungarn-Visum genehmigt wird – ihnen bleibt nur die Flucht über die ∏SSR. Carola Stellmach springt aus der Wanne, weckt die Kinder und rafft in aller Eile das Nötigste zusammen: Wäsche, zwei Broiler, zwei Flaschen Brause sowie eine Kanne Kaffee. Unter Tränen verabschieden sich die vier von den engsten Nachbarn. Während sie in ihrem Trabi über die bucklige F 96 in Richtung ∏SSR-Grenze holpern, schärfen die Stellmachs ihren Kindern ein, sich an der Grenze nicht zu verplappern: Sie besuchten die Tschechoslowakei nur übers Wochenende, wollen sie angeben. Doch die DDR-Grenzer am Übergang Seifhennersdorf sind misstrauisch. Sie lassen die Eltern und die müden, fröstelnden Kinder aussteigen, filzen eine halbe Stunde lang den Wagen, leuchten mit der Taschenlampe unter die Sitze – und überlassen die Reisenden schließlich den Tschechen. Die winken kurz nach Mitternacht die Familie durch. Sonntag, 1. Oktober 1989 Prag Um 1.35 Uhr sehen die Stellmachs die Lichter des Hradschin, das erste Ortsschild von HÖFL Aus den Abteilfenstern segeln Papierflieger aus „Kosakendollars“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 77 100 TAGE IM HERBST: „WIR WOLLEN RAUS“ Allein gegen alle Bärbel Bohley: Warum die Symbolfigur des Herbstes 1989 nicht zur Volksheldin taugte O ruhig. Leichtigkeit liegt in ihren Gesichtszügen. Die Angst der Leute, das spürt sie, ist weg. Und wenn die Angst erst mal verflogen ist, hat das System von Stasi und SED schon seinen Schrecken verloren – das weiß sie aus eigener Erfahrung. Würden die kleine Frau und der schlanke, hoch gewachsene Mann am Podium jetzt aufstehen und dazu aufrufen, ihnen zu folgen, die meisten Besucher täten es sicher. Aber die Pose eines Lech Walesa, der in Danzig die Arbeiter anführte, liegt den Rebellen im Osten Deutschlands nicht. Fertige Antworten haben sie nicht, Führer wollen sie nicht sein. „Ich will eine total veränderte DDR, in der jeder Bürger sich endlich selbst in die Mündigkeit entlässt“, ist Bärbel Bohleys Credo. Ihre Antworten sind Aufforderungen zum Selberdenken. Massenweise treffen in diesen Tagen Briefe in dem maroden Haus in der Fehrbelliner Straße im Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ein, in dem sie wohnt. „Bitte helfen Sie uns, Frau Bohley“, heißt es in vielen Schreiben. „Von der Volkskammer bis zur Versorgung mit Apfelsinen“, stöhnt die Empfängerin der Bittschriften, „reicht unsere vermeintliche Anwaltschaft.“ Aufbauhelferin Bohley (in Bosnien 1997) Eingeholt von der Erinnerung Das Vertrauen des Volkes in die zierliche Frau ist in diesen Wochen schier unbegrenzt. Bald gilt sie als „Mutter der Revolution“, als „Jeanne d’Arc vom Prenzlauer Berg“. Doch zur Volksheldin taugt Bärbel Bohley nicht. Nur ein paar Wochen lang hat sie ein inniges Verhältnis zu diesem DDR-Volk – bis zum Fall der Mauer. Als die Leute plötzlich nach West-Berlin strömen, sieht sie ihren Traum von den selbstbewussten und mündigen Mitbürgern in den Einkaufspassagen des Ku’damms verenden. „Die Leute sind verrückt, und die Regierung hat den Verstand verloren“, kommentiert sie den Mauerfall. Von diesem Satz bis zur Niederlage der Oppositionsgruppen bei den Volkskammerwahlen im März 1990 ist es nur ein kurzer Weg. Monate später ist die Heldin des Herbstes 1989 politisch wieder fast so isoliert wie in den Jahren der Dissidenz. Doch auf einsamem Posten zu kämpfen stört sie nicht, GAMMA / STUDIO X ktober 1989, in einer Kirche in Ost-Berlin: In dem protestantisch schmucklosen Altarraum sitzen Bärbel Bohley und Jens Reich an einem kargen Holztisch. Bis auf den letzten Platz sind die Kirchenbänke gefüllt, doch immer mehr Menschen drängen in das dunkle, kühle Gotteshaus. Bisher haben sie die beiden Protagonisten des Neuen Forums nur im West-Radio gehört, manche haben Flugblätter in die Hand bekommen, aus denen sie nicht ganz schlau wurden: Will das Neue Forum nun den Sozialismus verbessern? Oder Marktwirtschaft und West-Geld einführen? An den Mikrofonen in den evangelischen Gotteshäusern, ob in der Erlöserkirche in Ost-Berlin oder in der Leipziger Nikolaikirche, finden die Menschen ihre Sprache wieder. An den Mikrofonen erzählen sie ganz alltägliche Geschichten: von fiesen Handwerkern, dummen Staatsbürgerkundelehrern oder miesen Bonzen. Auch in der Kirche, in der Bärbel Bohley sitzt, melden sich die Menschen zu Wort. Die Malerin genießt es. Wie lange hat sie solche Augenblicke herbeigesehnt! Plötzlich ist die Frau, die in diesen Tagen noch öfter als sonst zur Zigarette greift, ganz T. SANDBERG / OSTKREUZ PORTRÄT Bürgerrechtlerin Bohley (in ihrem Ost-Berliner Atelier): „Mein Oppositionsgeist ist immer ganz persönlich“ 78 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 dort ist ihr Stammplatz. Bärbel Bohley, Jahrgang 1945, ist das Gegenbild zum Erziehungsziel der DDR-Volksbildung. Dem verordneten Kollektivgeist hat sie einen Individualismus entgegengesetzt, dessen Unberechenbarkeit die Herrschenden nervte, dessen latenter Autismus es auch Freunden nicht immer leicht machte. „Mein Oppositionsgeist“, hat sie einmal gesagt, „ist immer ganz persönlich.“ Anfang der Achtziger, als in Ost wie West der Widerstand gegen die Hochrüstung wuchs, geriet die Malerin, die in der DDR Grafik studieren durfte und es sogar zum Mitglied der Sektionsleitung des Berliner Bezirksverbandes Bildender Künstler brachte, ins Visier der Staatsorgane. Eine Eingabe gegen ein neues Wehrgesetz, nach dem im Ernstfall auch Frauen hätten eingezogen werden können, führte zum Rausschmiss aus der Sektionsleitung. Weil sie mit englischen Frauen über Krieg und Frieden diskutierte, nahm sie der Staatssicherheitsdienst zum Jahreswechsel 1983/84 für sechs Wochen in Untersuchungshaft, wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“. Damals gehörte sie Als Gregor Gysi ihr per Gericht verbieten ließ, ihn einen „Stasi-Spitzel“ zu nennen, nannte sie ihn eben „Stasi-Spritzel“. schon zum Kern der DDR-Opposition, zur Gruppe „Frauen für den Frieden“. Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern gründete Bohley 1986 die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ (IFM), die anders sein wollte als die zahlreichen kirchlichen Friedenskreise im Land – eine Oppositionsgruppe nach dem Vorbild der tschechischen Charta ’77. Damals lernte sie die westdeutsche Grünen-Gründerin Petra Kelly kennen und schätzen, die im Unterschied zu anderen West-Politikern Kontakt nicht nur zu den Mächtigen in der DDR suchte. Regelmäßig traf sich die Bundestagsabgeordnete Kelly mit DDR-Oppositionellen, die sie mit Büchern und Druckmaterialien versorgte, „kofferraumweise“, wie sich das einstige IFM-Mitglied Ralf Hirsch erinnert. Als Erich Honecker 1987 Bonn besuchte, schenkte die Grünen-Politikerin dem SEDBoss einen Bildband der DDR-Malerin – ein in den Jahren der Teilung einmaliger Akt der Solidarität. Die Chance, die Querulantin endlich loszuwerden, sah die DDR-Regierung 1988. Oppositionelle und Ausreisewillige störten einen SED-Gedenkmarsch für die ermordeten Arbeiterführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit eigenen Transparenten; Opfer der darauf folgenden d e r Verhaftungswelle wurde auch Bärbel Bohley. Reihenweise wurden Dissidenten damals gen Westen abgeschoben. Doch wieder gelang ihr das eigentlich Unmögliche: Mit ihrem damaligen Lebensgefährten Werner Fischer erstritt sie sich im Gefängnis das Recht auf Rückkehr in die DDR. So war sie, anders als andere, zur Stelle, als der Traum vom Aufbruch wahr wurde. Am 9. September 1989 verfasste Bärbel Bohley mit zwei Dutzend weiteren Oppositionellen den Gründungsaufruf für das Neue Forum. Später trieb sie konsequent, mitunter gnadenlos, die Aufdeckung der Stasi-Machenschaften voran. Sie machte Manfred Stolpe und Gregor Gysi das Leben schwer, die sich der eigenen Vergangenheit nicht stellen wollten. Und als Gysi ihr per Gericht verbieten ließ, ihn einen „Stasi-Spitzel“ zu nennen, nannte sie ihn, typisch Bohley, eben „Stasi-Spritzel“. Ihr Versuch jedoch, die Bürgerbewegung in die neue Zeit zu retten, scheiterte – nicht zuletzt an der Mitgründerin selbst. Ihr Individualismus wurde der Organisation zum Verhängnis. Ohne oder gegen sie, das ließ sie die Mitstreiter oft genug spüren, sei das Neue Forum undenkbar. Im August 1995 brach sie noch einmal spektakulär ein Tabu: In ihrer Wohnung empfing sie Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich 1990 über die Bedenken und Ratschläge der einheitsskeptischen Bürgerbewegten hinweggesetzt hatte. Die Begegnung mit Kohl, die den Eintritt einiger Bürgerrechtler in die CDU einleitete, markierte zugleich den Endpunkt der DDRBürgerbewegung. Doch bis heute zählt Bärbel Bohley mit Jens Reich und Richard Schröder zu den wenigen politischen Figuren des Herbstes 1989, die weder Amt noch Mandat brauchen, um Debatten zu entfachen – wenn es sein muss, allein gegen alle. Im Jahre 1996 besetzte sie wieder einen vermeintlich aussichtslosen Posten: Sie ging als Aufbauhelferin nach Bosnien – und wurde von der DDR eingeholt. Die „stumpfen, grauen, müden Gesichter, das stumme Gehetze der Laufenden, die Lethargie der Wartenden“, schreibt sie, seien ihr vertraut vorgekommen – „aus der DDR der sechziger und siebziger Jahre“. Bärbel Bohley auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit? Fotos aus Bosnien, die sie vor halb zerschossenen Häusern zeigen, erinnern verblüffend an alte Bilder mit ihr aus den Hinterhöfen am Prenzlauer Berg. S T E FAN B E RG Im nächsten Heft „Gorbi, hilf uns“ – Prügelorgien zum Jubiläum – Mielke: „Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus“ – „Maximilian“ verrät die SPD s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 79 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Essay D ig i ta l e r K a p i ta l i s m u s peter glotz 82 d e r rikanisierung der europäischen Gesellschaften, sei es eine Erneuerung neokooperatistischer Mechanismen (Bündnis für Arbeit) – die Vollbeschäftigung wiederherstellen kann? Die Antwort ist nein. Was entstehen dürfte, ist eine Zweidrittelgesellschaft mit Lagern, die sich bekämpfen werden. Der Kampf zwischen dem Zweidrittelblock, der die Beschleunigung mitmacht, und dem „dritten Drittel“, das ausgegrenzt wird oder die neue Lebensform zurückweist, wird sich im Kern nicht um technokratische und ökonomische Einzelkonzepte, sondern um die gefühlsbeladene Grundsatzfrage der Lebensführung drehen. Die Ideologie der Mehrheitsgesellschaft hat sich nicht so schrecklich verändert, seit Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert sein berühmtes „Zeit ist Geld“ in die Welt setzte, das Max Weber dann Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt seiner Analyse des „Geistes des Kapitalismus“ machte: Der Mensch berechnet und antizipiert, was der andere, der Konkurrent, der Markt tut. Dieser Philosophie kann man „soziale Kälte“ vorwerfen. Sie beruht auf Gewinnstreben, Egoismus und Konkurrenzdenken, belohnt die Stärkeren und bestraft die Schwächeren, schafft natürlich ganz und gar ungleiche, unter vielen Aspekten auch ungerechte Gesellschaften. Wer anpassungsfähig, beweglich und rastlos ist, wird ein gutes Stück nach oben kommen. Das entscheidende Argument aber ist: Man kann von einem schnell dahingleitenden Zug nur abspringen, wenn man bereit ist, das Leben zu riskieren. Kapitalismus ohne Wachstum funktioniert nicht; und die politischen Steuerungsmöglichkeiten („Was soll wachsen?“) sind im Zeichen der Medienwende am Ende des 20. Jahrhunderts geringer geworden. So hat die auf Marktwirtschaft erpichte Mehrheitsgesellschaft den „Realismus“ auf ihrer Seite. Wer den Übergang zum digitalen Kapitalismus mit seiner hohen Rate der Geschwindigkeitsänderung bewusst verzögern wollte, müsste schmerzhafte Wohlstandsverluste in Kauf nehmen. Die Minderheit ist gerade dabei, wieder einmal eine eigene neue Welt von Werten und Normen zu entwickeln. Das ist ein legitimer Vorgang. Man muss sich wehren dürfen. Denn diesen Leuten wird ja entgegengehalten, sie seien faul und untüchtig und hätten die „Tugenden“ des Industrialismus verraten. Dabei wird nicht gefragt, was man im digitalen Kapitalismus mit den Tugenden des Industriekapitalismus eigentlich anfangen kann, wenn man keinen der begehrten Arbeitsplätze der Informationsverarbeitung ergattern kann. Erklärlich, dass Leute, die lange genug sowohl nach einer ernährenden als auch befriedigenden Tätig- s p i e g e l S. WARTER / AGENTUR FOCUS D er Streit in der europäischen Sozialdemokratie, zum Beispiel zwischen Tony Blair und Gerhard Schröder auf der einen und Lionel Jospin auf der anderen Seite, in Deutschland gespiegelt in der Auseinandersetzung zwischen Gerhard Schröder und Reinhard Klimmt, ist die Reaktion auf die neuen Kommunikationsverhältnisse der Informationsökonomie. Bisher redete man verhüllend über Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, telematische Gesellschaft. Kürzlich hat die Deutsche Bank den Befreiungsschlag versucht und (für eine große Tagung) erneut den Kapitalismus-Begriff benutzt. In der Tat ist es verrückt zu verstecken, dass der Kapitalismus gesiegt hat und dass Kapitalverhältnisse das Leben der Menschen entscheidend bestimmen. Die Wahrheit ist: Der Industriekapitalismus wandelt sich zum digitalen Kapitalismus. Das ändert die Lage. Schon der Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre zeigt das Problem: „jobless growth“. ABB hat durch Umstrukturierung seit Anfang der neunziger Jahre 34 600 Beschäftigte freigesetzt und gleichzeitig den Umsatz um 18 Prozent gesteigert. Siemens steigerte zwar seine Mitarbeiter im Ausland zwischen 1993 und 1997 von 153 000 auf 189000; in Deutschland aber wurde der Personalstand in der gleichen Zeit von 238 000 Zentrale einer Telefongesellschaft auf 197 000 verringert. Der VATM, der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. in Deutschland, weist stolz darauf hin, dass die neuen privaten Telefongesellschaften in Deutschland schon 25 000 Arbeitsplätze geschaffen hätten. Weitere 25 000 seien darüber hinaus im Umfeld der Telekommunikation bei Online-Firmen, Software-Unternehmen und HardwareProduzenten entstanden. Die Deutsche Telekom AG musste allerdings zwischen 1992 und 1998 44 781 Arbeitsplätze abbauen. Mit derartigen Daten könnte man unendlich lang fortfahren. Soweit die Entwicklung derzeit prognostizierbar ist, ist die Arbeitsplatzbilanz des digitalen Kapitalismus in den hoch entwickelten Gesellschaften negativ. Dabei muss man sich klarmachen, dass sich diese reifen Industriegesellschaften gerade erst im Übergang zum digitalen Kapitalismus befinden. Die meisten neuen Entwicklungen – zum Beispiel Electronic Commerce, die Ausdünnung der Filialstruktur der Banken und der Wegfall des durchschnittlichen Sekretariats – haben uns noch gar nicht erreicht. Aber schon für 1997 nahm der Sachverständigenrat für Deutschland de facto eine Arbeitslosenrate von 15,9 Prozent an. Ist es angesichts dieser Zahlen wahrscheinlich, dass die Politik mit ihren traditionellen Instrumenten – sei es eine weitere Ame- 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Essay verteidigen, bis die Wirklichkeit sie endgültig ad absurdum geführt hat. Eduard Bernstein sagte, was zu Marx und Engels zu sagen war, 1899. Die SPD akzeptierte diese Erkenntnisse in ihrem Godesberger Programm, also 1959. Warum sollte ein Politiker einräumen, dass Vollbeschäftigung nicht erreichbar ist, wenn doch gerade alle Anhänger sie von ihm ie Antwort auf die Beschleunigung, die der digitale Ka- verlangen? Um den Gesundbetern nicht ins Messer zu laufen, fasse ich die pitalismus hervorbringt, lautet „Entschleunigung“. Daraus entwickelt sich gerade eine regelrechte Philosophie. Perspektiven für mein Land noch einmal nüchtern ins Auge. Diese derzeit – im Vergleich zu anderen – reiche Gesellschaft hat Ihre Schlüsselworte heißen „Nachdenklichkeit“, „Sinn“, „Leben jenseits der Ökonomie“, „Ökologie“, „Gemeinsinn“ und eben in der Spätzeit des Industrialismus ein paar schwierige Probleme. Sie ist fabelhaft im Kraftfahrzeugbau, der Chemie, dem Maschi„Entschleunigung“. Die neue Ideologie greift um sich wie ein Ölfleck. Wer in der nenbau und der Elektrotechnik, aber schwach bei den schnellen Arbeitswelt zurückgestoßen wird, wird begründen, warum „Ar- Branchen der Zukunft, also der Mikroelektronik, bei Computern, beit“ im überlieferten Sinne, Erwerbsarbeit, fragwürdig sei. Es Computerperipherie, Software, Medien. Dieser Rückstand ist in eiwerden Millionen darauf verfallen, dass Eltern sich viele Stun- nigen Bereichen vermutlich aufholbar, wie das Beispiel erfolgreiden täglich ihrem Säugling widmen müssen, dass Menschen me- cher Neugründungen – die Software-Firma SAP aus Walldorf zum ditieren sollten, dass ein gesunder Körper viel Pflege braucht, dass Beispiel – zeigt. Ein Durchbruch auf breiter Front verlangt aber einur ein sparsamer Lebensstil ökologisch sei oder dass das Welt- nen Kulturwandel. Die deutsche Tradition kollektiver Regulationsmechanismen gericht so unmittelbar bevorstehe, dass es keinen Sinn mache, neue Teilchenbeschleuniger zu bauen oder neuartige Zahn- wird dem Individualismus in der Computer-Galaxis nicht mehr gerecht. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die vor allem in jungen zwischenraumbürsten zu vermarkten. Eine neue Welle der antirationalistischen Kulturkritik wird auf- Unternehmen oder unabhängigen Product-Divisions aufgelockersteigen: pathosgeladene Proteste gegen die „Vergletscherung der ter Konzerne entstehen werden, sind von Arbeitgeberverbänden nicht zu garantieren. Die Systemanalytiker sind an Seele“, neue Familienwerte, eine Dosis neuer Gewinnbeteiligungen sehr, an Betriebsräten dageReligiosität, aber auch politisch, mystisch oder ARUM SOLL gen nur mäßig interessiert. Die Gewinnmargen in apokalyptisch auftretende, widerständige Zirkel. den Betrieben der gleichen Branche entwickeln Inzwischen dröhnt uns der Streit dieser WertMAN ÜBER sich extrem unterschiedlich, was Flächentarifsysteme in den Ohren. Noch ist die Ideologie des STRUKTURELLE verträge erschwert. Die Arbeitszeitinteressen Zweidrittelblocks dominant, die des dritten Dritunterschiedlicher Arbeitnehmergruppen streben tels unterlegen. Aber wie lange? RBEITSLOSIG auseinander. Schon ziehen sich Manager in abgelegene KlösAll diese Entwicklungen erzwingen einen printer zurück, um sich von teuer bezahlten Gurus AuKEIT REDEN zipiellen Einstellungswechsel. gustinus, Konfuzius oder Teilhard de Chardin ausUND UTLOSE Der kann durchaus gelingen. Deutschland legen zu lassen. In den Ecken vieler Parks vermehrt hat einen unschätzbaren Vorteil: ein bis in die letzsich die Zahl ganz normal aussehender Leute – eiNOCH ten Winkel reichendes, solides, in den Spitzen gentlich denkt man, das sind „Arbeitnehmer“ –, die MUTLOSER allerdings dringend reformbedürftiges Bildungslangsam seltsame Verrenkungen machen und dabei wesen. Mag also sein, dass hungrige, flexible, arirgendwelche Laute ausstoßen. Wenn man sich inMACHEN beitswütige und gewinnsüchtige junge Leute mit formiert, hört man, diese Übung heiße Tai Chi und Computer- und Media-Literacy die starren, von werde von Yin- und Yang-Formeln begleitet. Die Sehnsucht nach dem interpretativen Mehrwert von Religion Seilschaften organisierten, kompliziert verästelten Superstruktuwächst; allerdings richtet sie sich immer weniger auf die Volks- ren einfach unterlaufen und jenen Kulturwandel erzwingen. Sie kirchen. Die Tochter dreht dem Vater das Wasser ab, das er beim werden dazu das System in die Krise stürzen. Rasieren laufen lässt, im Hinblick auf das Wasserproblem auf der südlichen Halbkugel. Unter den Mischehen zwischen den beiden ur bedeutet das durchaus erreichbare Wachstum von ProKlassen explodieren die Konflikte. duktivität und Sozialprodukt nicht mehr, dass auch die „Ich bin nicht dazu da, darauf aufzupassen, dass sich unser Kind Zahl der angemessen bezahlten Arbeitsplätze wächst. In beim Herumkrabbeln nicht den Kopf anstößt, das kann auch ein der Industrie wird der Prozess ähnlich verlaufen wie in der Landnettes, kinderliebes Mädchen mit qualifiziertem Hauptschulab- wirtschaft, nur langsamer und weniger radikal: Immer weniger schluss“, brüllt der aufsteigende Enddreißiger, der in einer Bera- Leute werden immer mehr produzieren. tungsfirma gerade „Partner“ geworden ist. „Ich habe dich nicht Die Informationswirtschaft setzt von vornherein auf die geheiratet, um ständig allein und in dieser Scheißvilla begraben schlanke Organisation, die kleine Form, die lockere Assozu sein“, antwortet ihm seine Frau. Es fliegen die Fetzen, und das, ziation. Fraglich ist also nicht die Entstehung oder Verfestigung was wir heute erleben, ist nur der Anfang. einer neuen „Underclass“; die politischen Klassen sind längst Ich verstehe durchaus, dass diese Analyse des digitalen Kapi- nicht mehr mächtig genug, diese Entwicklung zu verhintalismus die Aktivisten verärgert; ich war schließlich lang genug dern. Fraglich ist, ob die jeweilige politische Führung noch verselber Aktivist. sucht, das untere Drittel (oder Viertel) kommunikativ und sozial Das Unternehmerlager muss „ins Gelingen verliebt sein“; Sug- in die Gesellschaft einzubinden oder ob es von vornherein ausgestion und Selbstsuggestion sind Vehikel des Erfolgs. Warum soll gegrenzt wird. man über strukturelle Arbeitslosigkeit reden und die sowieso Die Alternative heißt Einschluss oder Ausschluss. Alles andere Mutlosen noch mutloser machen? Eine realistische Nebenbe- ist edle Illusion oder blanker Betrug, oft genug eine Mischung merkung in der Aufsichtsratspause über die Bohnensuppe hinweg von beidem. – in Ordnung. Aber keine öffentlichen Bekenntnisse. Und Politiker neigen, von wenigen Churchills abgesehen, habituell zu ab- Glotz, 60, war Bundesgeschäftsführer der SPD und amtiert wiegelnder Allgemeinheit. derzeit als Gründungsrektor der Universität Erfurt. Sein BeiDie liberal-konservative Seite denkt, sie müsse die Invisible trag ist seinem neuen Buch „Die beschleunigte Gesellschaft“ Hand verteidigen, und in der Sozialdemokratie gibt es eine alte entnommen, das Anfang Oktober im Kindler-Verlag erscheint Tradition, Programmsätze und moralische Postulate so lange zu (288 Seiten; 44,90 Mark). keit gesucht haben, schließlich und endlich auf Paul Lafargues „Recht auf Faulheit“ zurückgreifen und sich gegen den seine Arbeitszeit genau einteilenden und voll ausbeutenden Manager als lebenskluge, nachdenkliche, Ressourcen schonende und menschlich einfühlsame Ökologen profilieren. D W A – M ? N 86 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Demonstration in Stuttgart*: „Der Sozialdienst steht nicht außerhalb des Strafrechts“ STRAFJUSTIZ Musste Jenny sterben? Ein Kleinkind in Stuttgart wurde misshandelt, bis es starb. Auch die Fahrlässigkeit eines Sozialarbeiters, so das Landgericht Stuttgart, trug dazu bei. Von Gisela Friedrichsen * Am Tag des Urteils vor dem Landgericht. 90 BILD ZEITUNG A ls Säugling erkrankte sie an Hirnhautentzündung. Seitdem ist sie geistig zurückgeblieben. Auf jede Kleinigkeit des Alltags, etwa dass sie baden soll oder die Haare waschen, muss sie hingewiesen werden. Was jeder Erwachsene von sich aus tut, bei Rita, heute 27, bedarf es mühsamer Einübung. Dabei ist sie lernwillig. Doch immer wieder lässt der Eifer nach, und sie vergisst das Geübte. Die Behinderung sieht man ihr nicht an. Sie kann lesen, schreiben und an einem normalen Gespräch teilnehmen. Aber Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, Zusammenhänge erfassen, Argumente abwägen, eine neue Situation bewältigen, Schlussfolgerungen ziehen, eine Entscheidung treffen – das kann sie nicht. Rita ist das jüngste von drei Geschwistern, aufgewachsen in der ehemaligen DDR. Sie besuchte dort die Sonderschule und arbeitete als Küchenhilfe. Ende 1992 wird sie schwanger. Von wem? Zwei Männer, die sie später als mögliche Väter nennt, kommen dafür nicht in Frage. Am 30. September 1993 wird das Mädchen Jennifer in Lüneburg geboren, wo Rita inzwischen lebt. Die junge Mutter ist auf die Geburt nicht vorbereitet, obwohl sich schon während der Schwangerschaft das Diakonische Werk um sie kümmert. Sie weiß nicht, wie man ein Neugeborenes füttert, wie man es anfasst und was man tut, wenn es schreit. Gefahren erkennt sie nicht. nerinnen gilt Rita als zuverlässig und konstant. Nach Weihnachten 1995 zieht sie aus dem Heim aus und nimmt das Kind mit. Die Rechtslage erlaubt ihr das: Sie hat das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. Rita will mit einem neuen Freund zusammenleben.Wer passt nun auf Jenny auf, wenn sie ausgehen will? Wer sagt ihr, wie sie Jenny versorgen soll? Sie stellt das Kind, so muss man das nennen, bei einem ihr bekannten Babysitter-Paar ab. Selbst als Misshandlungsspuren unübersehbar sind, wenn die Mutter das Kind abholt, wird Jenny diesen Leuten immer wieder überlassen. Es kommt zu entsetzlichen Szenen: Rita, völlig hilflos ohne Hilfe, wirft ihr Kind gegen die Wand und auf den Boden; sie tritt es. Auch ihr neuer Freund schlägt zu. Und das Babysitter-Paar – das will „erziehen“, mit Gewalt, mit Schütteln. Am 15. März 1996 stirbt Jenny, zweieinhalb Jahre alt, zu Tode geschüttelt, weil sie nicht einschlief. Der Mann, der Jenny getötet hat, wird 1997 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, seine Gefährtin zu drei Jahren verurteilt. Jennys Mutter erhält zwei Jahre und zwei Monate wegen Misshandlung, ihr neuer Freund wegen Körperverletzung sieben Monate auf Bewährung. Der Staatsanwaltschaft Stuttgart genügt das nicht. Sie ist der Auffassung, Jennys Tod hätte verhindert werden können. Sie klagt einen Sozialarbeiter des Jugendamts Lüneburg wegen fahrlässiger Tötung und einen Sozialpädagogen aus Stuttgart wegen fahrlässiger Körperverletzung an. Der Lüneburger, so die Staatsanwaltschaft, hätte anlässlich Ritas Umzug seine Kollegen in Stuttgart detailliert über die Gefährdung des Kindes informieren und in die Wege leiten müssen, dass Rita wenigstens das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jenny entzogen wird. Der Stuttgarter Betreuer wiederum hätte nach Ritas Auszug aus dem Weraheim den Fall nicht als „Normalfall“ dem Jugendamt übergeben dürfen. „Er hätte nämlich in Rechnung stellen müssen, dass die eingetretene Beruhigung in der Misshandlungsproblematik der Mutter dem festen Rahmen des Weraheims und nicht einer Läuterung der Mutter, zu der diese bei ihren Geisteskräften nicht dauerhaft im Stande war, zuzuschreiben war und dass deshalb alsbald nach dem Auszug der Mutter erneut massive Misshandlungen des Kindes drohten“, so die Argumentation der Staatsanwaltschaft. Ihr geht es um eine Präzedenzentscheidung für alle Jugendämter und Sozialarbeiter. Doch sie erleidet bei der zuständigen Strafkammer eine Niederlage. Diese lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, unter anderem, weil es zweifelhaft er- Opfer Jenny: Falscher Mut zum Wagnis Die Klinik alarmiert: Intensivbetreuung sei unumgänglich. Das Jugendamt beschafft eine Kinderpflegerin, die jeden Handgriff Ritas überwacht. Zweimal steht die Helferin nicht zur Verfügung, mit der Folge, dass Jenny zweimal Blutergüsse am ganzen Körper erleidet und auch Bisswunden. Der Säugling kommt sofort in eine Pflegefamilie. Dann findet das Jugendamt einen Platz für Mutter und Kind im Stuttgarter Weraheim, einer kirchlichen Einrichtung, wo rund um die Uhr Versorgung, Überwachung und Anleitung gewährleistet sind. Eine längere Trennung von Mutter und Kind möchte man vermeiden. Zwei Jahre verbringt Rita mit Jenny im Heim. Ihre Defizite fallen zwar auch dort auf, doch im Vergleich zu den Mitbewohd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland T. BARTH / ZEITENSPIEGEL scheine, ob der Lüneburger verpflichtet Beide Angeklagte sagen vor Gericht, ein war, Rita das Aufenthaltsbestimmungsrecht Versuch, Rita unter diesen Umständen das für Jenny entziehen zu lassen: „Eine solche Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen Trennungsmaßnahme ist der schwerste zu lassen, wäre in Lüneburg wie in Stuttstaatliche Eingriff in das Elternrecht, der gart von vornherein zum Scheitern verurgrundsätzlich nur dann zur Anwendung teilt gewesen. Dem stimmt der Vorsitzenkommen kann, wenn andere weniger ein- de in der Urteilsbegründung zu: „So masschneidende Hilfs- oder Schutzmaßnah- siv ins Elternrecht einzugreifen – diese men versagen oder von vornherein aus- Pflicht bestand für Sie beide nicht.“ scheiden.“ Und das war ja nicht der Fall. Gegen die Trennung von Mutter und Die Staatsanwaltschaft hat mit ihrer so- Kind, die einschneidendste Maßnahme, dafortigen Beschwerde beim OLG Stuttgart gegen sind alle, auch die VormundschaftsErfolg. In der Entscheidung heißt es: „Der richter. Das Ziel ist ehrenwert, es hat einen Senat verkennt nicht, dass durch die Zu- guten Sinn. Aber guter Sinn um jeden Preis schreibung einer strafrechtlichen Verant- kann teuer werden, er kann das Leben eiwortlichkeit … Mitarbeiter von Jugend- nes Kindes kosten – dann nämlich, wenn ämtern, Sozialdiensten und Trägern der man auf eine Lösung setzt, die sich als unfreien Jugendhilfe in erhöhtem Maße der erreichbar herausstellt. Dass Ritas BehinGefahr einer Bestrafung ausgesetzt wer- derung „nicht ursächlich behandelbar“ ist, den. Dies stellt jedoch keine Schlechter- darauf kommt unmissverständlich ein Gutstellung gegenüber anderen, achter erst nach Jennys Tod. mit vergleichbaren Pflichten Es gibt natürlich Beispiele belasteten Berufsgruppen – dafür, dass Geduld selbst in beispielsweise Ärzten oder heillos scheinenden Fällen Polizeibeamten – dar, sonlohnt. Einer der Angeklagdern nur eine Gleichstellung ten schilderte seine Erfahmit diesen. Auch der Sozialrung mit einer jungen Mutdienst steht nicht außerhalb ter, die vom Rauschgift nur des Strafrechts.“ loskam, weil man ihr das Nach der Entscheidung Kind nicht wegnahm. Doch des OLG musste die das Wagnis hätte auch enden 1. Große Strafkammer des können wie bei Jenny. Landgerichts Stuttgart mit Die Jugendämter wollen dem Vorsitzenden Klaus nicht durch ein Übermaß an Teichmann, 62, nun also Verurteilter Sozialarbeiter Kontrolle und Misstrauen doch gegen die beiden Soeine möglicherweise positizialarbeiter verhandeln. Ergebnis: eine ve Entwicklung stören. Sie wollen auch Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 70 Mark über eine Frau, deren geistige Behinderung für den Lüneburger Angeklagten wegen das Verhältnis zu ihrem Kind beschwert, fahrlässiger Körperverletzung; Freispruch nicht einfach verfügen. Man hilft, man refür den Stuttgarter. Der Lüneburger, so das spektiert, man denkt positiv, wie es das Gericht, hätte die Stuttgarter Kollegen über neue Betreuungsgesetz 1992 auf den Weg die Brisanz der Situation, die Behinderung gebracht hat. Ritas und die Gefahr für Jenny, informieWar Jennys Tod nicht zu verhindern, ren müssen. Für den Stuttgarter Ange- weil sich die mit dem Fall befassten Persoklagten sei bei seinem Kenntnisstand die nen in einem Konflikt befanden, der das RiKatastrophe nicht vorhersehbar gewesen. siko einer Katastrophe nun einmal nicht Wirklich nicht? Das Urteil macht das Di- ausschloss? Das Stuttgarter Gericht nannlemma der Sozialarbeiter sichtbar, in das te die Betreuung behinderter Frauen und sie beim Umgang mit Müttern geraten, die ihrer Kinder ein „Vabanquespiel“. Gegen den Mut zu einem Zuwarten, zu eine Risikobeziehung zu ihrem Kind haben. In Lüneburg hatte der Amtsarzt vor einem Wagnis steht allerdings die jähe, Ritas Umzug nach Stuttgart eine Stellung- blindwütige Gewalt, zu der Jugendämter nahme abzugeben. Es ging wie immer vor sehr wohl in der Lage sind, wenn es nicht allem um die Kosten. Er stellte zwar eine um Misshandlung, sondern um den Ver„Grenzdebilität“ fest, einen Intelligenz- dacht sexuellen Missbrauchs geht. Gewiss quotienten von 55, aber auch „vergleichs- gibt es auch da Fälle, in denen eine soforweise günstige Förderaussichten“. Die Pro- tige Unterbringung des Kindes angezeigt gnose sei dann günstig, sagte er, wenn die ist. Doch das Schicksal der Wormser KinFörderung in einer Mutter-Kind-Einrich- der und vieler anderer, die ihren nichts ahnenden Eltern buchstäblich aus dem Arm tung stattfinde. Die hatte man im Weraheim ja nun ge- gerissen – und selbst nach einem Freifunden. Rita ließ sich helfen, die Prognose spruch nicht zurückgegeben – wurden, ist war gut. Der Sozialarbeiter in Lüneburg nicht vergessen. legte die Akte beiseite. Hätte der StuttgarJennys Tod geht auch die Vormundter Angeklagte mit Ritas Hilflosigkeit schaftsrichter an. Wenn es als aussichtslos außerhalb des Heims nicht ebenso rech- gilt, sie anzurufen wie in Lüneburg, wie in nen müssen, wie der Lüneburger auf die Stuttgart, unterbleiben Maßnahmen, die ärztliche Prognose vertrauen durfte? das Leben Jennys wohl gerettet hätten. ™ 92 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite SENIOREN Chip am Kleid Weil viele Altenheime zu wenig Personal haben, werden immer mehr geistig verwirrte Bewohner mit elektronischen Fußfesseln überwacht. M anchmal übernimmt die Erinnerung die Herrschaft über die alte Frau. Dann glaubt sie, dass sie noch immer an die 20 Leute versorgen muss. Also am besten erst zur Bank gehen und anschließend einkaufen. „Komm, Kleine“, sagt Rosalie Krause, 79, dann zu Gertrud Liebisch, 82, „die Oma nimmt dich mit.“ Die Hand von Frau Liebisch legt sich in die von Frau Krause, und so ziehen sie los. Doch der Weg zur Bank ist nicht weit, der Weg zum Einkauf auch nicht, kein Weg mehr: Alle enden an derselben Stelle, am Ausgang des Alten- und Pflegeheims St. Marien im hessischen Homberg (Efze). Ein schrilles Piepen wie bei einem ertappten Kaufhausdieb alarmiert die Betreuer im Haus, sobald die beiden alten Damen durch die Tür gehen. Meist ist Schwester Helenata, die Leiterin des Heimes, dann als Erste bei ihnen und versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Denn Rosalie Krause, die ehemalige Wirtschafterin, und Gertrud Liebisch, die als Fabrikantin Herrenhemden produzierte, leiden unter Altersdemenz: Sie leben in ihrer eigenen Welt. Und damit die reale Welt mit ihnen zurechtkommt, werden sie elektronisch überwacht. Am linken Arm trägt Rosalie Krause ein schmales Band, das aussieht wie eine etwas zu groß geratene Armbanduhr und in dem ein Sender versteckt ist. Im Rahmen der Ausgangstür verbirgt sich der Empfänger, der den Alarm auslöst. Gertrud Liebisch braucht kein Bändchen mehr, seit sie als KindErsatz ohnehin nur noch mit Frau Krause auf Tour ist. Während Rechtsgelehrte über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit elektronischer Fußfesseln für Häftlinge diskutieren, wird die technische Überwachung in immer mehr Altenheimen leise zum Standard. Armbänder, aber auch Chips in den Schuhen oder in der Kleidung ersetzen den Pförtner und fehlendes Pflegepersonal. Allein die niedersächsische Firma Witec in Buchholz in der Nordheide verkauft jährlich 20 bis 30 komplette Systeme. „Eine humane Alternative zur Fixierung oder zur geschlossenen Unterbringung“ der Alten, meint Geschäftsführer Klaus Wiechers. An die 20 weitere Anbieter tummeln sich inzwischen auf dem Markt, denn die Nach- B. BOSTELMANN / ARGUM O. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL Altengymnastik in Schönaich, elektronisch kontrollierte Seniorin Krause: Schrilles Piepen frage steigt, weil die Heime personell ausgepowert sind. „Bis zum letzten Jahr saß eine Schwester an unserer Pforte“, sagt Heimleiterin Helenata, „jetzt ist die alte weg, und eine neue konnten wir nicht einstellen.“ Das Haus St. Marien liegt aber direkt an einer Hauptverkehrsstraße. Die 6000 Mark teure Anlage soll verhindern, dass die alten Frauen geistesabwesend unter Autos geraten: „Wir sind heilfroh über die Sender“, sagt Katholikin Helenata, „sonst müssten wir Menschen wie Frau Krause einsperren.“ Kritiker dagegen wie der Neurologe und Geronto-Psychiater Jan Wojnar, der in Hamburg den psychiatrischen Dienst des Projekts „Pflegen und Wohnen“ leitet, halten die Sender für „nichts anderes als eine verkappte geschlossene Unterbringung“. Die sei sogar noch der geringere Eingriff, „weil man feststellen kann, die Tür ist zu. Hier denken die Alten, sie können raus, und schon legt sich eine Hand in den Nacken“. Ähnlich argumentierte das Amtsgericht Hannover, als Anfang der neunziger Jahre derartige Systeme zum erstenmal in Deutschland auftauchten. Die Undurchschaubarkeit könne bei den Bewohnern psychische Krankheiten verstärken. Die Juristen verboten die Anwendung. Zwar hob die nächste Instanz den Beschluss auf, weil ihr der Aufwand für einen Zaun oder für mehr Personal „unverhältnismäßig hoch“ erschien. Doch immerhin wägte das Landgericht die Vor- und Nachteile eines Senders noch seitenlang ab. Derart bedacht wird in der Praxis freilich nur selten entschieden. Der Vormundschaftsrichter Erhard Spanknebel in Homberg riet Schwester Helenata, das System einfach zu installieren, eine Genehmigung sei nicht erforderlich. Der Richter irrt. Immerhin handelt es sich bei der Chip-Überwachung um eine soge- Deutschland nannte freiheitsentziehende Maßnahme. Und die muss laut Verfassungsgericht wie etwa Fixierungen oder die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung auch vom jeweiligen Vormundschaftsgericht genehmigt werden. „Ich halte es nicht für genehmigungspflichtig, weil ich es gar nicht für eine unterbringungsähnliche Maßnahme halte“, sagt Spanknebel. Natürlich stoße auch ihn die Technisierung ab, doch sehe er keine Alternative. Damit trifft der Jurist die Stimmung in den Heimen. „Von unseren 75 Bewohnern stehen mehr als die Hälfte am Anfang einer Demenz, oder sie ist bereits fortgeschritten“, sagt Diakon Karl-Heinz Pastoors, Leiter des Hauses Laurentius im schwäbischen Schönaich. Alte Menschen, körperlich oft noch fit, bräuchten eigentlich besondere Zuwendung, ihr Bewegungsdrang sei immens. Manche müssten bei ihren Spaziergängen begleitet werden, doch wer soll das bezahlen? Also tragen Bewohner im Haus Laurentius bei Bedarf einen Sender in der Kleidung. Zwar möchte Pastoors die Technik möglichst selten einsetzen, sagt er, „doch unser Personalbudget reicht nicht aus, in allen Fällen eine menschenwürdige Betreuung zu gewährleisten“. Rolf Theurer, Direktor des Amtsgerichts in Böblingen, hat die Überwachungsanlage genehmigt: „Sie können wählen zwischen Pest und Cholera. Fixierung, Unterbringung oder Überwachung. Natürlich wäre mehr Personal am besten. Aber die Wirklichkeit ist anders.“ Andere Vormundschaftsrichter sträuben sich gegen die Elektronik. Die Bremer Amtsrichterin Birgit Lange plädiert dafür, alten Menschen mehr zuzutrauen: „Wer stürzt, der stürzt auch im Heim“, sagt sie. „Es ist beispielsweise gerade für Alzheimer-Patienten wichtig zu laufen. Irgendwie kommen alte Menschen immer zurück, und sei es durch die Polizei.“ Als jüngst das Elisabethenstift in Darmstadt erweitert wurde, verzichtete die Heimleitung bewusst auf den Einbau einer Anlage. „Natürlich läuft uns jetzt manchmal jemand weg, auch auf die Straße“, so Heide Bittner, Leiterin der Pflegeabteilung, „aber es passiert nichts.“ Meist seien Demente zwar örtlich orientierungslos, sagt Heinz Jürgen Kaiser vom Institut für Psychogerontologie an der Universität Erlangen, könnten aber reale Gefahren noch gut erkennen. Verwirrte Bewohnerinnen einfach losziehen zu lassen, erschien der Heimleitung in Homberg aber zu riskant. Und so laufen Rosalie Krause und Gertrud Liebisch jetzt nur noch den Flur entlang, hin und her. „Ja, so ist das“, murmelt Frau Krause zwischendurch. Am Ende des Gangs bleibt sie vor den Pflanzenkübeln stehen. „Mehr kannste nicht erwarten“, sagt sie. Gunda Wöbken-Ekert d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland AIDS Nachhilfe für den Doktor nen müssten – „ansonsten gehören die Mediziner verknackt“. Selbst wenn der sich bereits angesteckt habe, würde ihm der Arzt sonst die Chance nehmen, sich frühzeitig therapieren zu lassen. Die Geheimhaltung könne 10 bis 20 Jahre Lebenszeit kosten. Stefan Etgeton, Geschäftsführer der Deutschen Aids-Hilfe, dagegen hält es für „bedenklich“, wenn Ärzte jetzt gezwungen würden, sich in „Beziehungsprobleme einzumischen“, die offenkundig seien, wenn ein Partner dem anderen eine HIV-Infektion verschweige. Auch gesundheitspolitisch sei das Signal fatal: Wenn erst einmal die Schweigepflicht aufgeweicht sei, stelle sich die Frage, ob nicht bald auch anderen Personen oder Institutionen die HIV-Infektionen mitgeteilt werden müssten. Zudem werde die Bereitschaft, sich einem HIV-Test zu unterziehen, nachlassen, glaubt Etgeton, wenn sich die Getesteten nicht darauf verlassen könnten, dass ihre Ergebnisse geheim blieben. „Katastrophale epidemiologische Folgen“, befürchtet Christoph Kremer aus Frankfurt, der Anwalt des beklagten Arztes. Die Aufhebung der ärztlichen Verschwiegenheit werde infektiöse Risikopatienten davon abhalten, sich behandeln zu lassen. Deshalb habe sich sein Mandant nicht über den Wunsch des selbstmordgefährdeten Patienten hinwegsetzen dürfen, zumal der verschwiegene Grieche „kein Monster“ (Kremer) gewesen sei. Der Mann sei vielmehr „gewissenhaft“ mit seiner Krankheit umgegangen, habe niemanden anstecken und Kondome benutzen wollen. Der OLG-Senat sieht das anders: Das Vertrauen in den Patienten und dessen Versprechen, beim Geschlechtsverkehr Kondome zu benutzen, entlaste den Arzt nicht. Der Mediziner habe erkennen müssen, dass für die Freundin „höchste Gefahr bestand“. Deshalb hätte der Arzt seine Schweigepflicht brechen müssen. Offiziell ergeht das Berufungsurteil erst am 5. Oktober, doch seine Sicht der Dinge hat das Gericht bereits jetzt in einer Fachpublikation veröffentlicht. Schmerzensgeld darf die infizierte Frau indes nicht erwarten. Die Richter halten dem Arzt lediglich ein „mittelschweres Fehlverhalten“ vor: In einem solchen Fall müsse die Freundin schon nachweisen, dass sie heute nicht HIV-positiv wäre, wenn der Arzt sie sofort vor ihrem Freund gewarnt hätte. Udo Ludwig P. FRISCHMUTH / ARGUS Eine Frau verklagt einen Arzt, der ihr die Infektion ihres Freundes verschwiegen hatte. Richter wollen nun die ärztliche Schweigepflicht einschränken. schäftigung mit einem tragischen Fall. Anfang 1993 kam ein gebürtiger Grieche in die Praxis eines Wiesbadener Mediziners und berichtete diesem, er habe sich mit dem Aidsvirus infiziert. Das sei ihm kurz zuvor bei der Diagnose eines Lymphknotenkrebses mitgeteilt worden. Der todkranke Mann verbot seinem Hausarzt, irgendjemandem etwas über den positiven HIV-Test zu sagen. Auch seine Lebensgefährtin, mit der er seit vielen Jahren zusammenlebe und mit der er zwei Kinder habe, dürfe nichts erfahren. Zwei Jahre lang pflegte die ahnungslose Frau ihren krebs- HIV-Beratungsstelle (in Hamburg): „Mittelschweres Fehlverhalten“ D er Fall war für die Frankfurter Richter so ungewöhnlich, dass sie sich selbst als Ermittler betätigten. Er habe sich unter den Ärzten in seinem Bekanntenkreis umgehört, wie die es mit der Schweigepflicht hielten, wenn aidskranke Patienten zu ihnen kämen, berichtete der stellvertretende Senatsvorsitzende Horst Schneidmüller. Er habe dabei feststellen müssen, dass sich die Mediziner zwar Gedanken darüber gemacht hätten, aber „wohl die falschen“. Die Justiz müsse ihnen nun „eine gewisse Nachhilfe erteilen“. Die Belehrung der Ärzteschaft durch das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main fällt deutlich aus: Die Pflicht des Doktors zu schweigen, so die Juristen, gelte nicht mehr, sobald Menschenleben akut gefährdet seien. Selbst wenn der Patient seine Aidserkrankung ausdrücklich geheim halten wolle, müsse der Arzt dessen Lebensgefährtin über die Infektion aufklären. Der 8. OLG-Zivilsenat formulierte seinen „Leitsatz“ zur Arzthaftung nach Be98 kranken Freund. Erst nach dessen Tod informierte der Arzt die 26-Jährige. Sie machte einen HIV-Test – und war positiv. Daraufhin zeigte die Frau den Mediziner an. Sie verlangt ein Schmerzensgeld von mindestens 100 000 Mark. Weil sie nichts von der HIV-Infektion ihres Partners gewusst habe, hätte sie bis zu seinem Tod ohne Kondom mit ihm geschlafen. Anfang des Jahres wies das Wiesbadener Landgericht die Klage mit der Begründung ab, der Arzt habe korrekt gehandelt. Aidsinfizierte müssten sich auf die Verschwiegenheit der Doktoren verlassen können. Für die Ärzteschaft hat nun die ganz andere Einschätzung des OLG Frankfurt in der nächsten Instanz weitreichende Folgen: Wann dürfen Mediziner noch schweigen, wann müssen sie in übergeordnetem Gemeinwohl-Interesse über eine HIVInfektion informieren? Brigitte Helm, Infektiologin von der Universitätsklinik Frankfurt, fordert, dass Ärzte zumindest den Sexualpartner ward e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland der Agrarindustrie eine Gesundheitsgefahr für die Anwohner bedeuten könnten. „Die Behörden haben die vielen ernsthaften Warnungen bisher einfach ignoriert“, so lautet das Fazit der Autorin Jutta Altmann-Brewe, die unlängst alle verfügbaren Studien zur Intensivtierhaltung in einem Buch zusammengefasst hat. Doch trotz der Fülle an Material fehlt nach wie vor der letzte Beweis dafür, dass tausende auf engstem Raum gehaltene Legehennen, Puten oder Schweine ihre menschliche Nachbarschaft krank machen können. „Eindeutige Zusammenhänge wurden nie nachgewiesen“, wiegelt Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) ab. U M W E LT Landluft macht krank B. BEHNKE Aus Geflügelfabriken entweichen giftige Keime. In der Umgebung der Massentierställe leiden deshalb ungewöhnlich viele Kinder an Allergien und Asthma. Geflügelfarm in Ostfriesland: „Ställe mit zehntausenden Tieren sind kein Hühnerhof“ 100 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 FORUM B Neurodermitis-Kranker Thorben, Mutter „Von Schimmelpilzen bekommt er Schübe“ ACTION PRESS ei Westwind wird es ungemütlich im friesischen Nordseeheilbad Horumersiel. Zwei Hähnchenställe, in denen 80 000 Tiere ihr Dasein fristen, reichern die vom Meer her kommende Brise mit einer staubgeladenen Giftwolke aus Bakterien, Pilzen, Viren und Kotpartikeln an. Auf einem nur rund 300 Meter von der Mastfarm entfernten Bauernhof beginnt dann das große Schniefen. Dem Landwirt und seinen beiden Töchtern treibt die reizende Fracht sofort Schleim und Tränen in die Lunge und in die Augen. Der Jungbauer greift zu Inhalationsgeräten und Asthmasprays. Seinen Namen will er auf keinen Fall in der Zeitung lesen: „Sonst schmeißt uns die Hühnermafia die Scheiben ein.“ Immer mehr Asthmatiker und Putenmast*: Milliarden Mikroben pro Stunde erzeugt Allergiker husten und schniefen, weil sie Landluft einatmen müssen. „Stäl- „goldenen Gülledreieck“ zwischen Clople mit zehntausenden von Tieren sind kein penburg und Vechta, der Region mit Hühnerhof mehr“, schimpft Karl-Heinrich der größten Viehdichte Deutschlands, erEngesser, Mikrobiologe an der Universität kranken Kinder etwa doppelt so häufig an den Atemwegen wie in anderen Teilen Stuttgart. Engesser hat festgestellt, dass hühner- des Bezirks Weser-Ems. Auch die Stadtstalltypische Mikroben, wie Aspergillen kinder aus Hannover und Braunschweig und Actinomyceten, auch bei Nichtallergi- leiden wesentlich seltener an Asthma und kern die Produktion der Allergie-Antikör- Allergien als ihre Altersgenossen vom per IgE auslösen. „Allein das hätte für die Lande. In zahlreichen Studien warnen ForRegierung Anlass genug sein müssen, etwas scher seither davor, dass die Tierfabriken zu unternehmen.“ Vor allem Kinder leiden unter den Emissionen der Massentierhaltung: Im * In Tweel bei Garrel (Oldenburg). Unterstützte Funke noch im vergangenen Jahr die niedersächsischen Bürger, die ihre Gesundheit durch den Bau von Riesenstallungen gefährdet sehen, so ruht er sich heute auf den bestehenden Gesetzen aus. „Mit unseren Hygieneverordnungen liegen wir an vorderster Front, das ist doch ein Fortschritt“, lobt sich Funke mittlerweile. Doch Hygiene im Hühnerstall ist relativ: Denn sicher ist, dass 40 000 Hähnchen die Luft jede Stunde mit 75 Milliarden Keimen belasten. Zwar sterben Bakterien außerhalb der feuchtwarmen Stallluft schnell ab. Ihre Toxine aber werden erst beim Zerfall der Mikroben frei und werden ebenso wie Viren, Pilze und deren Giftstoffe bis zu 50 Kilometer weit vom Wind getragen. Der Durchmesser dieser Partikel Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland und Schlegelfabriken im „Viehstall der Nation“ wehrt. Die Gemeinden hingegen berufen sich auf den Paragrafen 35 des Baugesetzbuchs, dem zufolge Bauvorhaben der Landwirtschaft und der gewerblichen Tierhaltung privilegiert zu behandeln sind: Wenn nicht „besondere Gründe“ gegen das Vorhaben sprechen, müssen die Gemeinden zustimmen. Dabei gelten Betriebe mit weniger als 40 000 Hähnchen immer noch als bäuerliches Anwesen, nur bei größeren Anlagen gelten Vorschriften für den Immissionsschutz. Entsprechend häufig sind Anträge für Ställe, die nur knapp unter dieser Zahl liegen. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres gingen im Landkreis Cloppenburg 268 Anträge auf den Neubau oder die Erweiterung von Geflügelmästereien ein. Nicht einmal die Sicherheitsabstände zwischen Wohnhäusern und Stallanlagen sind bisher hinlänglich erforscht. In einer Pilotuntersuchung hatte Hygieniker Hartung noch in einem Radius von 500 Metern um die Ställe mehrere Millionen Keime pro Kubikmeter Luft gefunden. Um diese Zahlen genauer zu prüfen, stellte er seit 1993 immer wieder Forschungsanträge – vergeblich. Ähnlich erging es dem Epidemiologen Martin Schlaud von der Medizinischen Hochschule in Hannover, der die erhöhte Asthmahäufigkeit in Cloppenburg und Vechta mitentdeckt hatte. Jetzt endlich meldet das nieSchimmelpilze*: Vom Wind kilometerweit getragen dersächsische Sozialministerium, terialien, „werden sie erst recht zur gründlich untersuchen zu wollen, ob die Abluft aus Massengeflügelställen die GeBakterienschleuder“. Was ein Leben in Keim- und Giftschwa- sundheit von Menschen gefährdet. Forden bedeuten kann, zeigt sich an den ein- schungsprojekte für insgesamt 2,2 Millionen gestallten Tieren selbst: 10 bis 15 Prozent Mark will das Land bewilligen – falls das der Schweine aus Mastbetrieben verenden Kabinett in Hannover zustimmt. In den an einer Lungenkrankheit. Bei fast jedem mehrjährigen Projekten sollen tausende dritten Hähnchen sind die Atemwege von Schulanfängern auf Atemwegserkranschwer geschädigt. Auch Arbeiter in den kungen untersucht und die Resultate von Stallanlagen leiden häufig unter chronischer Kindern aus wenig belasteten Regionen mit Bronchitis und Asthma – Krankheiten, die solchen aus Gebieten mit Massentierhalals „Farmer-“ oder „Vogelzüchterlunge“ tung verglichen werden. Die ungeklärte Sachlage kommt indeszum Begriff geworden sind. Obwohl sich Bernhard Behrends, Leiter sen manchem Kommunalpolitiker gelegen. des Gesundheitsamtes in Hannover, über Einer Bürgerinitiative, die den Bau von die „Dauerexposition“ der Ostfriesen Sor- zehn Zuchtanlagen mit insgesamt 37 000 gen macht, wird weitergebaut: Hunderte Puten in der ostfriesischen Samtgemeinde von Anträgen liegen den Gemeinderäten in Dornum verhindern möchte, eröffnete Ostfriesland, dem Emsland und Südolden- kürzlich Kreisbaudezernent Johann Aeils: burg vor. Beliebt ist bei den Agrarindustri- „Wir werden die Genehmigung auch ohne ellen auch Mecklenburg-Vorpommern, das Gutachten erteilen.“ Auch Waltraut Aswegen-Gerdes kämpft mit seinen ausgedienten LPG-Betrieben den modernen Fleischvermehrungsanstal- gegen die Putenfabriken. Einer der zehn geplanten Ställe soll nur 300 Meter von ihrem ten viel Platz bietet. „Bei uns hier in Vechta wird einfach al- Haus entfernt errichtet werden. Sohn Thorles genehmigt“, klagt Marrie Powell, die ben, 8, leidet schon heute unter schwerer sich als Mitglied einer Bürgerinitiative ge- Neurodermitis. „Bei Schimmelpilzen begen eine weitere Zunahme an Kotelett- kommt er Schübe à la carte“, sagt seine Mutter. „Wenn der Stall gebaut wird, kön* Elektronenmikroskopische Aufnahme. nen wir hier einpacken.“ Christina Berndt SPL / AGENTUR FOCUS ist so winzig, dass sie – ähnlich wie Asbestfasern – bis in die kleinsten Lungenzipfel vordringen können. Aufgehalten werden sie selten. „Meist sind die Ställe seitlich sogar offen“, klagt Engesser. „Und die Abluftanlagen sind reine Notanlagen, die nur angeschaltet werden, wenn die Tiere im Sommer vor Überhitzung umzukippen drohen.“ Ohnehin lasse sich gegen den höchst vitalen Staub kaum etwas ausrichten, meint der Tierhygieniker Jörg Hartung von der Tierärztlichen Hochschule Hannover: „Filtermatten sind in solchen Ställen gar nicht einsetzbar. Die sind nach zwei Tagen zugestaubt.“ Dann, so bestätigt Heinz-Werner Stockmann von der DMT, einer GmbH zur Prüfung von Filteranlagen und -ma- d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 103 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite S. DOERING / VISUM / PLUS 49 Je unpopulärer Kohl im Osten wurde, umso mehr liebten die Sachsen ihren Ministerpräsidenten. Als Stimmenfänger war Kohl in den Wahlkämpfen der letzten Jahre im Freistaat nicht mehr willkommen. Seinen Nachfolger Schröder mögen die Sachsen derzeit noch weniger. Bei einer Wahlkundgebung in ihrer Metropole empfingen sie den eisernen Sparkanzler mit dem Schmähplakat „Dresden grüßt Dr. Kohl“. Hans-Reinhard Günther vom Leipziger Institut für Marktforschung: „Sie haben in Schröder eine Art Messias gesehen und sind nun maßlos enttäuscht.“ Schröders Sparpolitik haftet Sachsen-Chef Biedenkopf: „Er gibt den Menschen das Gefühl, ganz dicht an ihnen dran zu sein“ im Osten, wie schon die Wahlergebnisse in Brandenburg (15 Prozent VerWA H L E N lust für die SPD) und Thüringen (minus 11 Prozent) gezeigt haben, der vernichtende Ruch der Ungerechtigkeit an. Das zählt umso mehr, als die Masse der östlichen Bundesbürger seit DDR-Zeiten in Gleichheitsfragen sensibel reagiert. Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat sich Gleichheit stand zu Honecker-Zeiten die PDS als führende Oppositionspartei vor die dafür, dass wenigstens im Mangel Gerechtigkeit herrschen sollte. Sie steht noch jetzt SPD geschoben. Jetzt liebäugeln ihre Vordenker mit der CDU. für die Solidarität, die DDR-Bewohner im chon nach der Landtagswahl in können, macht einstweilen mangels Masse Betrieb und in ihrer Nachbarschaft erlebt Thüringen vor zwei Wochen hatten keinen Sinn mehr. „Uns fehlt im Osten“, haben, die sie heute womöglich über GePostkommunisten Anlass zum Jubeln. klagt Roland Claus, Geschäftsführer der bühr verklären, jedenfalls aber stark ver„Wie oft hat man uns totgesagt“, trium- PDS-Bundestagsfraktion, „zum Regieren missen. Jetzt rangiert bei Umfragen in den Ostphierte PDS-Spitzenmann Bodo Ramelow, der Partner.“ Da sei Gerhard Schröder vor. Die säch- ländern Gleichheit an der Spitze der Ver43, „die These vom Auslaufmodell ist jetzt sischen SPD-Strategen müssen sich über- fassungswerte, während im Westen Freiendgültig widerlegt.“ Zum ersten Mal hatte die SED-Nachfol- legen, wie sie den Kanzler-Malus loswer- heit dominiert. So wirkte das von der PDS gepartei bei Landtagswahlen die SPD auf den. Wie das geht, hat der Christdemokrat verstärkte Greinen über soziale Kälte und Platz drei verwiesen, um fast drei Prozent Kurt Biedenkopf erfolgreich vorgemacht. Ungerechtigkeit der Berliner Sparmaßüberflügelt. „Ein historischer Tag für die Der Widerpart des Einheitskanzlers Hel- nahmen vor allem in Thüringen und in Partei“, schwärmte Gregor Gysi, Chef der mut Kohl, in Dresden einst als politisch ge- Sachsen als Quotenkiller zu Lasten der scheiterter Wessi mit Argwohn beäugt, hat SPD. Und dass die Landesparteichefs RiPDS-Bundestagsfraktion. Am vorvergangenen Sonntag gab es von seine Reputation geradezu auf Bundesfer- chard Dewes und Karl-Heinz Kunckel auch in diesem Punkt wacker ihrem Kanzler zur der Sorte gleich noch einen. Bei der Land- ne aufgebaut. Seite standen, rundete das Bild: tagswahl in Sachsen drängte die PDS mit Westpolitiker, Westprojekt, West22,2 Prozent die SPD mit 10,7 Prozent an paket – da lehnten viele dankend den Rand der Bedeutungslosigkeit. Die Bonab und gaben ihre Stimme aus sai-SPD im Freistaat – mit 5410 Mitgliedern Protest der sozialistischen Konnicht größer als ein mittlerer westfälischer kurrenz. Ortsverband – hat nun im Parlament nicht Dabei haben Honeckers Erben einmal mehr genug Sitze, um einen Unternicht einmal das Vertrauen all ihsuchungsausschuss zu veranlassen oder das rer Wähler. Bei KompetenzumfraLandesverfassungsgericht anzurufen. gen, die das Leipziger Institut für Auch Bundesgrüne und FDP wurden Marktforschung zwei Wochen vor brutal entsorgt – die Liberalen bekamen der Dresden-Wahl herausgab, ranmit 1,1 Prozent gerade mal halb so viel gierte die SPD im Urteil der Bürwie die Exzentriker-Partei „Pro DM“. ger auf allen wichtigen Feldern – Die siegreichen SED-Nachfolger macht Arbeitsplätze, Soziales, Bildungsder Niedergang der Sozialdemokraten nur politik, Wirtschaftsentwicklung – bedingt froh: Die PDS steht zwar erfolgdeutlich vor der PDS. reich, eben deshalb aber auch allein da. Doch da im Osten die ParteiDie Idee, in Sachsen und Thüringen ähnlich bindung noch kaum gefestigt ist, wie in Sachsen-Anhalt oder MecklenburgVorpommern mit der SPD kooperieren zu „Uns fehlt der Partner“ R. SEYBOLDT S PDS-Kundgebung* * Am 28. August im sächsischen Hoyerswerda. 106 Gleichheit vor Freiheit Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite DPA Deutschland gruppe in der Berliner PDSZentrale, „neue Optionen prüfen.“ Die Partei müsse „raus aus dem SPD-Ghetto“. Ganz offen werben Parteichef Lothar Bisky und der Fraktionschef im Bundestag Gregor Gysi dafür, die Frontstellung zur CDU aufzugeben. Im Siegestaumel philosophierte Bisky gar schon über inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der Christenunion: „Vielleicht gibt es ja inzwischen in der CDU mehr sozialdemokratische TraditioPDS-Chef Bisky (l.)*: Historischer Tag für die Partei nen als in der SPD.“ Nachflossen viele Stimmen, die der SPD noch dem sich die „Modernisierer“ um Schröder bei der jüngsten Bundestagswahl in Sach- der SPD bemächtigt hätten, könne man sen (29,1 Prozent) und Thüringen (34,5 Pro- möglicherweise „mit der CDU für eine sozent) zugekommen waren, nun schnell wie- zialere Politik eintreten“. Eine PDS-CDU-Koalition in ferner Zuder ab – eindeutiges Misstrauensvotum an kunft? „Mein Vorstellungsvermögen“, die Berliner Adresse. Besonders krass fiel die SPD in der Re- meint Bisky, „ist unbegrenzt.“ Der auf den ersten Blick vollkommen sidenz Dresden, auf unter 9 Prozent; in Leipzig, traditionell weltoffener, schmolz illusionär wirkende Vorstoß, für die eigene Anhängerschaft ein Tabubruch, kommt sie immerhin auch auf rund 15 ab. Dabei hat die CDU zumindest in Sach- doch nicht von ungefähr. Zwar liegen „zwisen außer Biedenkopf selbst wenig zu bie- schen PDS- und CDU-Programm Welten“, ten. Aus einer grauen Parteitruppe nebst wie PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar glanzloser Landtagsfraktion hat sich kaum Bartsch rasch beteuert, dennoch sind es ein Leistungsträger neben dem weißschöp- gleich eine Reihe von Erfahrungen, die gefigen Ministerpäsidenten profilieren kön- rade Funktionäre der Bundespartei dazu nen. Demoskopen erfuhren, dass unter den bringen, in der CDU nicht mehr den KlasMöchtegern-Erben selbst Favoriten wie senfeind per se zu sehen. Fast wortgleich warnten PDS und CDU Kultusminister Matthias Rößler oder Landesparteichef Fritz Hähle lediglich bei fünf im Bundestag vor einem Bodenkrieg im beziehungsweise zwei Prozent der Befrag- Kosovo. Eine wahre Kohl-Nostalgie brach in den Kriegswochen unter PDS-Politikern ten als geeignete Nachfolger gelten. Als Ostfachmann genießt Biedenkopf aus. So glaubt Gysi bis heute, der Altauch beim politischen Gegner hohes An- kanzler hätte den Kriegseintritt der Deutsehen. Mit seiner sächsisch-bayerischen schen abwenden können – mit einem Zukunftskommission ist er dem holpern- Großeinsatz an Deutscher Mark. Viele PDS-Politiker haben zudem den den Regierungsgeschäft weit voraus. Was Biedenkopf über die Konstruktion eines nicht ganz falschen Eindruck, westdeutkünftigen Systems zur Altersversorgung sche Sozialdemokraten hätten für den seit Jahren schreibt, hat jetzt erst die Ber- Osten wesentlich weniger Verständnis als liner Koalition in Ansätzen aufgenommen. westdeutsche Christdemokraten. „Kohl „Seine Schriften sind es wert, gelesen hatte ein väterliches Verhältnis zum zu werden“, lobt sogar die sächsische PDS- Osten“, so Bartsch, „Schröder hat keins.“ Auch ist im Osten die Kooperation zwiBundestagsabgeordnete Christine Ostrowski, „in solchen Händen glauben viele ihr schen PDS und CDU in den Kommunen Geschick gut aufgehoben.“ Die Ostfrau Normalität. Selbst im Regierungsbezirk kennt die Sehnsucht ihrer Landsleute nach Berlin-Mitte regiert CDU-Bürgermeister vertrauenswürdigem Führungspersonal. Joachim Zeller mit drei PDS-Stadträten – Die bedient Biedenkopf souverän. Und ohne dass der Sozialismus ausgebrochen „im Gegensatz zu den früheren Führungs- wäre. „Jeden Dienstag, wenn in Berlin die kadern ist seine Sprache verständlich. Er Bezirksamtssitzungen stattfinden, können gibt ihnen das Gefühl, ganz dicht an ihnen sich CDU- und PDS-Politiker verständidran zu sein“. gen“, meint die Berliner PDS-LandescheMit dieser Wertschätzung eines Unions- fin Petra Pau, „warum nicht auch im Lanmannes steht Ostrowski in der PDS nicht desparlament?“ allein. Der Absturz Ost der SPD veranlasst „Wenn SED und CDU tragende Kräfte die Realos an der Parteispitze derzeit zu im Kalten Krieg waren“, orakelt Gysi, den kühnsten Überlegungen. „Wir müs- „dann müssen PDS und CDU jetzt die treisen“, meint ein Mitarbeiter der Strategie- benden Kräfte bei seiner Überwindung und der Vereinigung sein.“ * Mit dem sächsischen PDS-Spitzenkandidaten Peter Porsch am Montag vergangener Woche. d e r s p i e g e l Stefan Berg, Christian Habbe, Almut Hielscher, Andreas Wassermann 3 9 / 1 9 9 9 109 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland buster“, Sprengkörper, wie der jetzt im Hafen entdeckte, fegten Dächer von den Häusern, Brandbomben entfachten Feuer, die sich wie eine Flammenwalze durch die Stadt zogen. Etwa 40000 Menschen kamen in den HamDer Fund einer Monsterbombe burger Brandnächten um. versetzte Hamburg in Schrecken. Aus dieser Zeit, 54 Jahre nach Kriegsende glaubt Hamburgs oberster Feuerwerker Schulauern in deutschen Städten noch bert, liegen noch etwa Gefahren durch Blindgänger. 1500 Blindgänger im Boden. Für Berlin, auf das er Buddy-Holly-Darsteller Hans im Zweiten Weltkrieg Hisleiter schonte Gitarrensaiten mehr Bomben fielen als und Stimmbänder, sein Musicalauf jede andere deutAuftritt fiel aus. Hafenrundfahrt-Barkassche Stadt, rechnet die sen dümpelten menschenleer am Kai, das Senatsverwaltung mit Revier war weiträumig gesperrt, auch die noch 3000 zündfähigen Herbertstraße, wo sich sonst nackte HuSprengkörpern. ren im Fenster räkeln, wurde zur „verSchlummernde Bomkehrsberuhigten Zone“ („Bild“). ben fanden sich in den Zwischen 17 und 19 Uhr am Mittwoch vergangenen Monaten in vergangener Woche ging in Hamburg Göttingen und Ludwigsnichts mehr. Dann hatten vier Experten hafen, in Berlin und des Kampfmittelräumdienstes mitten im Mannheim. Auch nach Hafengebiet eine Superbombe entschärft: mehr als einem halben gut 2 Meter lang, 1,8 Tonnen schwer, davon Jahrhundert nach dem 1,3 Tonnen tückischer Sprengstoff. „Großladungsbombe“ im Hamburger Hafen: Eisernes Erbe Krieg gibt es keine deutBei dem Monstrum handelte es sich um eine brititen sich als Blindgänger oft sche Großstadt, in deren Boden Bagger unsche „Großladungsbombe“ viele Meter tief in den beschwert buddeln könnten. Dabei nutzen alle Städte die Luftbilder vom Typ HC 4000 – die größGrund: Entweder versagten te, die nach Angaben der Inihre Zünder oder die Bom- alliierter Aufklärungsflugzeuge, um nach nenbehörde je in der Hanseben schlugen so flach in den Blindgängern zu suchen. Die Aufklärer hatstadt entdeckt worden ist. Da Grund, dass eine Detonation ten nach jeder Angriffswelle eine fotografische Schadensbestandsaufnahme der hatte die Stadt einen weiteausblieb. ren Superlativ, war doch, bei Die stählerne Ummante- Bombenangriffe erstellt. Als besonders aufArbeiten in der Elbe unweit lung der Teufelseier korro- schlussreich erwiesen sich Originalluftbilder Bombe, nur zwei Tage diert im Boden sehr langsam. der britischer Aufklärer, die der Hamburzuvor ein Trumm von einem Der Sprengstoff ruht also ger Senat 1985 beschaffte. Auf Bildern von Granitbrocken, „der größte auch nach Jahrzehnten noch teils exzellenter Qualität konnten neben Findling Europas“, aufgewohlgeschützt in seiner Hül- Bombenkratern auch Einschlaglöcher von spürt worden. le; die Zünder, aus Messing Blindgängern bestimmt werden. Die Möglichkeiten des Bildabgleichs sind Den fieseren Fund hielt am oder veredeltem Stahl, bleiweitgehend erschöpft. Feuerwerker SchuDienstag der Führer eines ben ohnehin intakt. Schwimmbaggers in den Hamburger „Michel“ (1943) Blindgänger, so der Ham- bert, der die Luftbilder aus England beSchaufeln, der Schlick aus burger Bombenspezialist schafft hatte, weiß, dass es „immer schwedem Hafengrund räumte. Nachdem Ham- Peter Voß, werden mit den Jahren sogar rer wird, Blindgänger zu finden“. Es sind mehr und mehr Zufallsfunde, die burgs Chef-Feuerwerker Manfred Schubert gefährlicher. Das liege daran, dass den gewaltigen Sprengzylinder begutachtet „der Sprengstoff Nitroglyzerin-Anteile Schubert und seinen Kollegen Voß behatte, riet er vom Transport der Bombe ab. ausschwitzt und dadurch zusätzlich schäftigen. Das dicke Ding vom Mittwoch Eine Sprengung der monströsen Ladung berührungsempfindlich wird“. Gealtertes hätten er und seine drei Mitstreiter beim war ebenfalls ausgeschlossen, hätte die Dynamit reagiert also bei einer Erschütte- Himmelfahrtskommando „mit List, Kraft, Druckwelle doch große Teile des Hafens rung wie etwa durch die Greifarme eines Öl und viel Flucherei geschafft“. Die Größe zerstört. So blieb nur die Entschärfung. Baggers empfindlicher als frischer Bom- der Bombe habe keine Rolle gespielt, „denn wenn’s schief geht, ist die KonseEvakuierung und weiträumige Absper- benstoff. rung des Hamburger Hafens gemahnten Auch würden Sicherungen, die Schlag- quenz für mich in allen Fällen gleich“. Schubert hat das Schicksal eines seieinmal mehr an das eiserne Erbe, das alle bolzen von Zündern blockieren, über die großen deutschen Städte in ihrem Boden Jahre instabil – eine Selbstzündung der ner Vorgänger, Wilhelm Westermann, vor tragen: In den Bombennächten des Bombe mithin wahrscheinlicher. Durch- Augen. Westermann und drei Helfern Zweiten Weltkriegs sind hunderttausen- schnittlich explodieren ein bis zwei Blind- misslang kurz nach Kriegsende die Entde von Spreng- und Brandbomben auf gänger pro Jahr ohne äußere Einwirkung. schärfung eines Blindgängers. Die vier Deutschlands Ballungszentren niedergeEs waren vor allem die schweren An- Männer seien, wie es in einer Mitteilung gangen. griffswellen der „Operation Gomorrha“ im der Stadt heißt, „auf dem Ohlsdorfer FriedEtwa zwölf Prozent dieser immensen Juli und August 1943, die Hamburg in eine hof nur noch symbolisch beigesetzt“ Bombenfracht, so schätzen Experten, bohr- brennende Stadt verwandelten. „Block- worden. Ulrich Jaeger BLINDGÄNGER Mit List und Flüchen BILD ZEITUNG D 112 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends MANNESMANN Fusion mit Thyssen/Krupp? D DPA W. v. BRAUCHITSCH ie Aufspaltung des Mannesmann-Konzerns in zwei Aktiengesellschaften könnte den Weg für einen weiteren gewaltigen Zusammenschluss zweier Konzerne an Rhein und Ruhr frei machen. Dies zumindest ist eine der Überlegungen, die Mannesmann-Chef Klaus Esser vergangene Woche zu dem spektakulären Schritt bewog, den Düsseldorfer Traditionskonzern mit seinen 116 000 Mitarbeitern in die beiden Bereiche Telekommunikation und Autotechnik/Maschinenbau aufzuteilen. Während sich Esser und seine Düsseldorfer Holding künftig um den Zukunftsbereich Telekommunikation mit den Töchtern Arcor, D2, Omnitel und Infostrada kümmern wollen, könnte der Autobereich mit Firmen wie VDO und Sachs nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft mit dem rheinischen Nachbarn Thyssen/Krupp verschmolzen werden. Dessen Chefs, Gerhard Cromme und Ekkehard Schulz, suchen bereits seit langem nach einer Verstärkung für ihre Automotiv-Sparte, um sie in die Weltspitze zu katapultieren. Die auf Auto-Elektronik spezialisierten Mannesmann-Töchter passen dabei ins Konzept. Allerdings kam ein Milliarden-schwerer Kauf für den seit einigen Monaten schwächelnden Stahlriesen bisher nicht in Frage. Mit der von Esser vorangetriebenen Umwandlung in eine Aktiengesellschaft hat sich dies geändert. Der Zusammenschluss könnte nun per Aktientausch finanziert werden. Konkrete Gespräche, heißt es bei Thyssen/Krupp, habe es noch nicht gegeben. Das Interesse an einem solchen Geschäft sei jedoch „sehr groß“. Mannesmann-Zentrale, Thyssen/Krupp-Chef Cromme S AT E L L I T E N - H A N DY Kurze Liste ie Geschäftszahlen des Telefonanbieters Iridium, der seit November 1998 Kunden für seine Satelliten-Handys sucht, sind dramatisch schlechter als bislang bekannt. Während das Konsortium noch bis vor kurzem von einem Milliarden-Geschäft schwärmte, war das Geschäft in großen Teilen Europas und Asiens, das von der Iridium Communications Germany (ICG) betreut wird, fast zum Erliegen gekommen. So kassierte die ICG laut einer internen Handelsbilanz vom 20. September in den ersten vier Monaten des Jahres („Ber.Zeitraum 01.1999–16.1999“) von ihren Kunden nur 123 540,91 Mark an Gebühren, dazu kamen noch zwei Mark „Lieferantenskonti“. Die Kundenzahl der mit 50 Millionen Mark verschuldeten ICG ist so überschaubar, dass die Bilanz eine Liste aller Handy-Telefonierer enthält, die für Europa und Asien gerade mal 226 Namen enthält; 69 davon wurden nur als „Testkunden oder VIP“ geführt, darunter das Bundeskriminalamt, Manager von Daimler und Aral sowie zahlreiche Telefonfirmen. Sie durften das Satelliten-Handy kostenlos benutzen. DPA D Plakataktion der Deutschen Bank DEUTSCHE BANK Modellprojekt „Potsdamer Platz“ B ewegung in die Öffnungszeiten kommt nun auch bei den Banken, die ihre Schalterstunden bislang meistens nach Behördenart regelten. Als erste Geschäftsbank plant jetzt die Deutsche Bank 24, Filialen auch am Samstag zu öffnen. Am 2. Oktober startet ein Pilotversuch in der neuen Niederlassung am Potsdamer Platz in Berlin. Proteste der Arbeitnehmer – für die Samstagsarbeit sollen keine Zuschläge d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 gezahlt werden – will die Frankfurter Bank mit einem Trick umgehen. Laut Tarifvertrag dürfen die Mitarbeiter der Bank immer dann zur Samstagsarbeit verpflichtet werden, wenn andere Institute ebenfalls geöffnet sind. „Die Postbank ist am Potsdamer Platz auch offen“, sagt Deutsche-Bank-Sprecher Walter Schumacher, der nicht ausschließen will, dass demnächst weitere Filialen samstags ebenfalls öffnen. Voraussetzung: In der Nähe befindet sich ein Schalter der Postbank. Die Deutsche Bank drängt schon seit längerem auf eine Änderung des Manteltarifvertrags und will so die zuschlagsfreie Samstagsarbeit für alle Filialen möglich machen. 115 Trends RENTE Riesters Schnellschuss DPA ie jüngsten Rentenpläne von Arbeitsminister Walter Riester stoßen innerhalb der Bundesregierung auf Kritik. Riester will die private Eigenvorsorge künftig durch einen jährlichen Zuschuss von bis zu 250 Mark fördern; Arbeitgeber, Gewerkschaften und selbst die Opposition hatten dies als „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet. Hochrangige RegieRiester rungsmitglieder indes bezeichnen Riesters Pläne intern als „unausgegorenen Schnellschuss“. Sie sind irritiert darüber, dass der Arbeitsminister schon jetzt „ein paar BröckE-plus-Zentrale Zweite Säule VEBA/VIAG Was Riesters Sparzulage zur Altersvorsorge bringt Modellrechnung für einen Arbeitnehmer, der 500 Mark jährlich in eine Lebensversicherung einzahlt; der Staat gibt 250 Mark dazu Vertragsabschluß im Alter von Rentenbeginn im Alter von 30 Jahren 60 Jahren 30 Jahren 65 Jahren 40 Jahren 60 Jahren 40 Jahren 65 Jahren Monatliche Rente in Mark 355 583 158 276 Quelle: Axa Colonia chen hinwirft“, anstatt wie angekündigt im Herbst ein Gesamtkonzept für eine große Rentenreform vorzulegen. Riesters Vertraute erklären die Präsentation erster Details mit dem Zeitdruck, den Gewerkschaften und Arbeitgeber im Bündnis für Arbeit ausüben. Für seine Sparzulage will der Arbeitsminister das Vermögensbildungsgesetz für verschiedenste Anlagen der Altersvorsorge öffnen und dabei all jene fördern, die bis zu 60 000 Mark brutto verdienen (bisherige Grenze: rund 41 000 Mark). Durch die neue Zulage, so bemängeln hochrangige Regierungsbeamte, werde die Vermögensbildung aber kaum attraktiver; schließlich garantiere das komplizierte Gesetz schon jetzt jenen, die alle Förderwege zu nutzen wissen, einen staatlichen Zuschuss von bis zu 254 Mark in Westdeutschland und von sogar 294 Mark in Ostdeutschland. 116 Neue Telefon-Holding V eba und Viag haben im Zuge ihrer Fusion eine Lösung für ihr Telekommunikationsgeschäft gefunden. Nach dem geplanten Verkauf der Veba-Anteile an E-plus sollen die Viag-Telekommunikationsfirmen unter dem Dach einer gemeinsamen Holding zusammengefasst werden. In den Vorstand der Dachgesellschaft sollen die Viag-Manager Georg von Waldenfels und Maximilian Ardelt einziehen. Mit der Berufung seines ehemaligen Finanzministers Waldenfels will Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber sicherstellen, dass die neue Führung sich an ihre Zusagen zum Ausbau der wichtigen Sparte am Standort München hält. Um die Hightech-Tochter für einen eventuellen Börsengang fit zu machen, soll der Vorstand demnächst noch weiter verstärkt werden. Neben einem Vertreter des Viag-Partners British Telecom könnte auch RWE-Vorstand Thomas Geitner in das Spitzengremium einziehen. Geitner leitete bis vor kurzem die Veba/RWE-Tochter Otelo und wird von Veba-Chef Ulrich Hartmann hoch geschätzt. D E U T S C H E BA H N AG Verärgerte Vorstände E igentlich wollte die Deutsche Bahn mit attraktiven Verträgen hoch qualifizierte Topmanager anwerben. Jetzt macht sie das Gegenteil. Nahezu alle rund 20 bereits ernannten Vorstände in den fünf Bereichs-Aktiengesellschaften der Deutschen Bahn mögen die ihnen vom bisherigen Chef Johannes Ludewig überreichten Verträge nicht unterzeichnen. Der Grund: Laut Vertragsklausel „vier“ kann die Bestellung aus wichtigem Grund widerrufen werden, die Kündigungsfrist liegt nach dem Gesetz zunächst bei vier Wochen. Die Bahn habe das Recht, heißt es weiter, die Vorstände „bis zur endgültigen Beendigung d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 H.-G. OED H.-G. OED D ICE-Zug des Vertragsverhältnisses und unter Anrechnung des offenen Urlaubsanspruchs freizustellen“. Die Klausel ist eine Novität auf deutschen Chefetagen. Die Vorstände können danach ohne Abfindungen entlassen werden. In einem Abschiedsbrief wünscht Ludewig den Kollegen im Vorstand „Gottes Segen und allzeit Gute Fahrt“. Geld Weltbörsen im Jahresvergleich 140 140 Januar = 100 Dax Nikkei 1998 130 130 130 Dow Jones 1999 130 1999 120 120 120 1998 Dax 1999 110 110 100 90 110 Dow Jones 100 FRANKF URT Jan. Quelle: Datastream 120 FTSE Sept. 90 Dez. 110 1998 NEW YORK Jan. Sept. 90 Dez. W E LT B Ö R S E N Zittern vor dem Crash I mmer wieder im Oktober zittern die Börsianer. Zu tief steckt die Erinnerung an den großen Börsenkrach von 1929. Kurskorrekturen „bis zu 20 Prozent“ an den Weltbörsen seien auch in diesem Jahr wohl denkbar, meint Chefvolkswirt Norbert Walter von der Deutschen Bank, doch „einen Crash wird es Nikkei FTSE 100 1998 100 1999 LONDON Jan. TOKIO 90 Sept. Dez. Jan. Sept. Dez. nicht geben“. Auch Gottfried Heller von der Münchner Vermögensverwaltung Fiduka erwartet zunächst noch „größere Turbulenzen“ an den Aktienmärkten, aber er schließt ebenfalls einen Börsenkrach aus. Die gestiegenen Zinsen hätten zunächst zwar die Stimmung verhagelt, sagen beide Experten, doch für die Anleger gebe es weiterhin keine sinnvolle Alternative – weder bei Anleihen noch bei Immobilien. Denn die Weltkonjunktur laufe „überraschend günstig“, sagt der Ökonom Walter. „Schon im Jahr 2000“, so Heller, „werden wir wieder freundliche Börsen haben – vielleicht schon im Januar.“ BAU S T O F FA K T I E N Weltweit auf Tour T. WEGNER A Bürostadt Frankfurt-Niederrad IMMOBILIEN Langsam aufwärts D er Preisverfall bei Immobilien ist offenbar zu Ende: Eigentumswohnungen, die seit 1995 im Durchschnitt zwölf Prozent an Wert verloren hatten, werden nicht mehr billiger, die Preise für Einfamilienhäuser gehen in diesem Jahr um rund vier Prozent nach oben, und auch die Leerstände bei Bürogebäuden verringern sich. Die Büromieten, die seit 1993 von Jahr zu Jahr gesunken waren, ziehen in westdeutschen Großstädten an, besonders kräftig in Frankfurt, wo derzeit für Spitzenlagen bis zu 20 Prozent mehr gezahlt wird als noch vor zwölf Monaten. In Ostdeutschland allerdings drückt das Überangebot weiterhin die Preise: In Leipzig etwa ist die Spitzenmiete für Top-Lagen inzwischen auf 20 Mark pro Quadratmeter gefallen. n ihren Papieren hatten die Aktionäre der deutschen Baustoffkonzerne Heidelberger Zement und Dyckerhoff lange Zeit keine rechte Freude. Das ist jetzt anders. Von ihren Tiefständen im Januar zogen die Kurse um rund 60 Prozent an. Der Grund: Weil der Zementverbrauch in Deutschland stagniert, gehen die Konzerne weltweit auf Einkaufstour. Die Heidelberger kauften bereits für 4,6 Milliarden Mark die schwedische Scancem-Gruppe auf, die indonesische Indocement soll folgen. Dyckerhoff steckt 2,2 Milliarden Mark in die 150 140 140 Heidelberger Heidelberger Zement Zement 130 Stammaktie 130 120 120 110 Dyckerhoff Dyckerhoff Stammaktie 110 100 Dax Dax 90 100 Dax Dax 90 80 70 Lone Star Industries, das ertragreichste Zementunternehmen in den USA. Wie die Konkurrenz möchte Dyckerhoff aber baldmöglichst auch in die asiatischen Märkte einsteigen. Die Zukäufe wurden zwar teuer bezahlt, doch sie machen die Deutschen unabhängiger von regionalen Konjunkturschwankungen, stärken Umsätze wie Renditen. Analysten der BHF-Bank sehen bei Dyckerhoff nun „bessere Perspektiven“, ihre Kollegen von der HypoVereinsbank erwarten für Heidelberger Zement sogar „überdurchschnittliche Kurschancen“. Quelle: Datastream Jan. d e r März s p i e g e l Mai Juli 3 9 / 1 9 9 9 Sept. 80 Jan. März Mai Juli Sept. 117 Wirtschaft A F FÄ R E N Die Steuertricks der WestLB FOTOS: BUSINESS PICTURE / VISUM ( li.); S. SPIEGL ( re.) Steuerkünstler in der Chefetage: Die öffentlich-rechtliche Westdeutsche Landesbank (WestLB) organisiert im großen Stil seit Jahren das diskrete Steuersparen. Milliarden wurden und werden noch immer am deutschen Fiskus vorbeigeschleust. WestLB-Zentrale in Düsseldorf, Chef Neuber Kein Kommentar D as Gemeinwohl liegt Friedel Neuber, SPD-Mitglied und Chef der Westdeutschen Landesbank (West LB) sehr am Herzen. Geht es um den Staat und seine Steuern, dann müssen auch die Lobbyinteressen des Geldgewerbes vornehm zurückstehen. Selbst als die Großbanken einhellig einen Steuernachlass beim Verkauf ihrer milliardenschweren Industriebeteiligungen forderten, hielt Neuber tapfer dagegen. „Gewinne“, so der Genosse, der es vom Buchhalter zum Bankchef gebracht hat, „müssen nun mal versteuert werden. Eine steuerrechtliche Sonderregel halte ich nicht für sinnvoll.“ Im Geschäftsalltag gelten seine Worte nicht viel. Neuber steht an der Spitze eines Instituts, das den Staat und die Steuergesetze nicht sonderlich ernst nimmt. Bei der Verschiebung von privaten Kundengeldern nach Luxemburg war das Geldhaus kräftig dabei. Erst in der vergangenen Woche sollen Ermittler unter anderem Neubers Wohnhaus durchsucht haben. Auch sonst interpretiert die WestLB die Steuergesetze äußerst flexibel. Bisher unbekannt ist: Die WestLB organisierte für viele Sparkassen im großen Stil das diskrete Steuersparen. In London hat sie mehrere Unternehmen installiert, allesamt mit Phantasienamen ausgestattet, dank deren Lockende Insel Musterrechnung einer Geldanlage der WestLB für Sparkassen im Jahr 1993 INVESTITION: 100 Millionen Mark RENDITE: 7,50% jährlich Geldanlage in Deutschland C. GRAY Hilfe deutsche Milliarden am deutschen Fiskus vorbeigeschleust werden. Durch die gewählte Konstruktion lassen sich die in Deutschland auf Zinsgewinne fälligen Steuern – Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer beispielsweise – komplett sparen. Nur die deutlich niedrigeren britischen Steuern fallen an – allerdings in London. Das lukrative Sparmodell zielt vor allem auf die öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Die griffen das Angebot zum Steuersparen gern auf. Sie transferierten seit 1993 viele Milliarden Mark in die von der WestLB gemanagten Fonds. Verwaltet wird das Geld in der sechsstöckigen WestLB-Filiale im Londoner Finanzdistrikt. In der Lobby sind zwei Dutzend Unternehmen mit seltsamen Namen wie Abinger Ltd., Falco Ltd. oder Hastings Trading Ltd. auf einer Tafel vermerkt, deren Gesellschaftsanteile vor allem die nordrhein-westfälischen Sparkassen halten. Die WestLB hat das Modell konzipiert, sie vermarktet es und managt das Tagesgeschäft. Die Firmenbezeichnungen sollen offenbar an eine Handels- oder Verkaufsaktivität erinnern, die es in Wahrheit nicht gibt. Diese Firmen sind allesamt Fondsgesellschaften, die von wenigen Managern betreut werden. Viel zu tun haben die nicht, denn das Geld wird konservativ in internationalen Rentenpapieren angelegt. Die Vorteile dieser von der WestLB verwalteten Fonds sind klar: In Großbritannien werden die Firmen weniger hart besteuert. In ihren Broschüren weist die Neuber-Bank im Detail nach, was sich alles sparen lässt. Unterm Strich könne jeder Investor die Rendite kräftig steigern – „nach Steuern um 83 %“. Denn bei der Verwaltung ihrer Vermögen in London, so hieß es 1993 in Werbeunterlagen, falle nur die niedrige britische Körperschaftsteuer in Höhe von 33 Pro- WestLB-Filiale in London: In der Lobby zwei Dutzend Firmen mit seltsamen Namen zent an. In Deutschland waren 1993 immerhin 46 Prozent der Standard, Gewerbesteuer und Gewerbeertragsteuer kamen noch hinzu. Damals wurde auch noch eine Vermögensteuer fällig. So ergebe sich in London bei einer Investition von 100 Millionen Mark eine Nachsteuerrendite von 4,69 Prozent, so die WestLB-Berechnung. Die gleiche Investition bringe in Deutschland nur eine Rendite von 2,56 Prozent. Das Steuersparmodell funktioniert wegen des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen Großbritannien und Deutschland, das eine zweifache Besteuerung verhindern soll. Dass auch öffentlich-rechtliche Institute davon profitieren, regelte der NRW-Finanzminister Friedrich Halstenberg sehr zuvorkommend in einem Schriftstück vom 16. Dezember 1977 (Aktenzeichen S 1301). Darin heißt es: „Art. XVIII Abs. 2 des Doppelbesteuerungsabkommen Großbritannien (körperschaftsteuerliches und vermögensteuerliches Schachtelprivileg) gilt auch für deutsche öffentlich-rechtliche Kreditinstitute.“ in Millionen Zinseinnahmen +7,5 Geldanlage in Großbritannien Gewerbekapitalsteuer –0,8 +7,5 Gewerbeertragsteuer –1,12 Einnahmen der britischen Firma Betriebskosten* –0,5 Körperschaftsteuer (46 %) –2,57 Vermögensteuer ERTRAG nach Steuern –0,45 +2,56 Quelle: Werbeprospekt der WestLB Millionen in Millionen Britische Körperschaftsteuer (33 %) ERTRAG nach Steuern –2,31 +4,69 Millionen *geschätzt d e r Durch diesen Zusatz, der selbst Steuerexperten oft nicht geläufig ist, müssen deutsche Investoren britische Zinserträge nicht mehr in Deutschland versteuern. Die WestLB ließ sich 1993 durch ein Gutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG bestätigen, „dass die hier zu beurteilenden Erträge als Dividenden zu beurteilen und beim Investor als steuerfrei zu behandeln sind. Eine entgegenstehende Auffassung ist im Übrigen von der Finanzverwaltung bisher nicht veröffentlicht“. Von dem Steuersparkonzept der WestLB angelockt, griffen die Sparkassen reihenweise die Offerte aus Düsseldorf auf. So haben die Sparkassen Detmold, Coesfeld und die Kreissparkasse Herford insgesamt 150 Millionen britische Pfund in die Hedeco Ltd. gesteckt. Die Sparkasse Aachen ließ sich offensichtlich vom Förderer der Stadt, Karl dem Großen, inspirieren und legte viele Millionen in einer Carolus Magnus Ltd. an. „Im Rahmen der Globalisierung und Diversifizierung müssen auch wir unsere Anlagepolitik international ausrichten“, sagt ihr Sprecher Walter Franzen. Dass auch steuerliche Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, bestreitet er nicht. d n a l sch Millionen Vorzeigeobjekt der WestDeut r e b nü Mark LB ist die Abinger Limited, in gege 150 die zehn Sparkassen 1993 Wertentwicklung eine Milliarde Mark transfe140 Rendite: 7,5% jährlich; Körperrierten. Die Sparkasse Bonn schaftsteuer in Deutschland: war mit 100 Millionen Mark 46%; keine Wiederanlage 130 der Ausschüttungen dabei. Das ist viel Geld für eine Sparkasse, die damals 120 GROSSnur einen Gewinn von 14,1 BRITANNIEN 110 Millionen Mark erzielte. DEUTSCHLAND „Großbritannien ist ein Land, 100 in dem Anlagen aus sparnach 10 nach 1 kassen- und steuerrechtliJahren Jahr cher Sicht völlig normal und legitim sind“, sagt Michael s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 119 Wirtschaft 120 STEUERN „Alle müssen ran“ Die Erbschaftsteuer gerät ins Visier der Finanzpolitiker – und zwar mit Recht. Noch nie wurden so gewaltige Vermögen weitergereicht, der deutsche Staat profitiert bisher kaum. W ieder einmal machte sich der Vorsitzende der größten Regierungsfraktion Gedanken über den radikalen Umbau des Steuersystems. „Wir sollten weniger die Arbeitsleistung zur Grundlage von Steuern machen“, sagte der Fraktionschef. Stattdessen solle der Staat mehr „im Bereich privater Vermögen bei Erbschaften und Schenkungen steuerlich eingreifen“. Mehr als vier Jahre sind die Thesen alt, vertreten hat sie – die Regierung Kohl er* Vor der Frankfurter Börse. lebte gerade ihr letztes Stimmungshoch – Wolfgang Schäuble, damals wie heute Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Als Oppositionsführer vertritt Schäuble mittlerweile eine andere Meinung, dafür findet eine höhere Erbschaftsteuer im gegenwärtigen Regierungslager immer neue Anhänger. So könnte ein sozialpolitischer Kontrapunkt zum Sparprogramm der Bundesregierung gesetzt werden, meinen die Befürworter. Mal ist es, wie vergangene Woche, Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Unternehmerin Thurn und Taxis*: Not macht erfinderisch, macht Wohlstand träge? DPA Kranz, der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Bonn. Doch das Steuersparmodell entfaltete für ihn zunächst nicht die gewünschte Wirkung. Abinger erzielte im ersten Geschäftsjahr, das am 30. Juni 1994 endete, einen Verlust von gut 25 Millionen Mark, weil die WestLB-Experten die Kapitalmärkte falsch eingeschätzt hatten. Erst in den folgenden Jahren lief es besser. Abinger machte Vorsteuergewinne von über 260 Millionen Mark und schüttete die entsprechenden Überschüsse vertragsgemäß an die Sparkassen aus. Mit dem Geld stärkten die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute ihre Rücklagen. Der britische Fiskus kassierte Körperschaftsteuern in Höhe von mehr als 75 Millionen Mark, die deutschen Finanzbehörden gingen komplett leer aus. Andere Landesbanken haben sich das Steuersparmodell der WestLB in London angeschaut – und anders entschieden. „Man muss immer damit rechnen, dass der Fiskus irgendwann das Loch zumacht“, sagt ein Landesbanker, der die Konstruktion für zumindest „sehr aggressiv“ hält. Für die WestLB ist die Idee höchst lukrativ. Transaktions- und Umsatzgebühren für jede Gesellschaft bringen der Zentrale jedes Jahr etliche Millionen. Einwände gegen das fragwürdige Modell mag das Institut nicht akzeptieren. Die Kunden würden nun mal, heißt es in einer Stellungnahme, „eine Steigerung der Rendite“ erwarten. Das Risiko, dass der Fiskus das schöne Steuersparmodell kippt, tragen allein die Sparkassen. Ein Steuerexperte wundert sich, „mit welcher verblüffenden Sicherheit gerade öffentlich-rechtliche Institute davon ausgehen, dass sie bei der Politik Rückendeckung haben“. Doch die Rechtsprechung in Steuerfragen ist in Bewegung. Das mussten gerade jene Industrieunternehmen und Privatbanken erfahren, die einen Teil ihrer Steuerzahlungen nach Irland verlagert hatten. Wer in den Docks von Dublin siedelt und von dort sein Kapital managt, muss nur zehn Prozent Körperschaftsteuer abführen. Dieser Niedrigsteuersatz lockte Anfang der neunziger Jahre viele Konzerne, die ihre liquiden Mittel plötzlich in Dublin verwalteten. Nun gibt es erste Urteile, die den Unternehmen Gestaltungsmissbrauch vorwerfen. Einzelne Unternehmen mussten erhebliche Steuernachzahlungen leisten. Nur das Modell der WestLB blüht weiter. „Die Geschäftspolitik der Landesbanken und Sparkassen enthält eine Gemeinwohl-orientierte und strukturpolitische Dimension“, sagt Neuber gern bei seinen Vorträgen. Wie sich das mit dem Steuersparen in London verträgt, wollte er persönlich dem SPIEGEL nicht erklären. Sein Sprecher: „Herr Neuber ist derzeit nicht zu sprechen.“ Christoph Pauly * Bei der Hochzeit seiner Tochter Elisabeth in Salzburg im Juni. das der Erbe zur Erbschaft beiträgt, ist, nicht enterbt zu werden“, lautet der StandardSpott von Steuerprofessoren in deutschen Hörsälen. Die soziale Schieflage beim Erben lässt sich auch statistisch nachweisen. Denn meist erben Leute, die ohnehin schon besitzen. 42 Prozent aller Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 5000 Mark traten 1997 ein Erbe an, hat die Gesellschaft für Konsumforschung festgestellt. Haushalte mit Einkommen zwischen 2000 und 5000 Mark wurden dagegen nur zu 25 Prozent bedacht, solche mit noch weniger Einkommen nur zu 17 Prozent. Erben funktioniert also nach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben. Selbst nach Einschätzung der Urväter der Marktwirtschaft dürfte es bei der Erbschaftsteuer ruhig ein bisschen Industrieller Flick*: Wer hat, dem wird gegeben mehr sein. Schon einer der 0,7 Prozent und in Frankreich immerhin Ahnherren der Zunft, der Brite John Stuart 1,8 Prozent. Mill, plädierte in seinem 1848 erschienenen Die Zurückhaltung der Politik gegenüber Hauptwerk „Grundsätze der politischen dem Steuertatbestand Erben ist verwun- Ökonomie“ für eine rabiate Erbschaftsbederlich. Denn nichts erfüllt den Vorwurf so- steuerung. zialer Ungerechtigkeit mehr als der unverDas Erbrecht sollte erheblich eingediente Zuwachs an Vermögen durch den schränkt werden, forderte Mill. Was denTod eines anderen. „Das einzige Verdienst, noch an die nachfolgende Generation weitergegeben werde, sei vor allem bei großen Erbschaften Grobe Ungleichheit drastisch zu besteuern. Besteuerung von Vermögen im Erbfall Schon Mill argumentierte in Deutschland; Angaben in Mark sozialpolitisch. Die Verteilung von Vermögen in einer BEISPIEL FIRMENANTEIL Gesellschaft sei nur Ein Vater erwirbt 26% am Nennkapital einer GmbH. dann gerecht, wenn ERDer steuerliche Wert dieses Anteils liegt bei 1,6 Millionen Mark SPARNIS Chancengleichheit beVergleich: Die Tochter erbt den Unternehstanden habe, wenn mensanteil Geldvermögen 88 % also niemand einen Startvorteil hatte, nur VERMÖGENSWERT 1 600 000 1 600 000 weil seine Eltern ihm etwas Freibetrag auf Betriebsvermögen – 500 000 mitgeben konnten. Die Konse1 100 000 quenz: Der Staat solle von der Bewertungsabschlag von 40% bei Hinterlassenschaft möglichst nennenswerten Beteiligungen – 440 000 viel konfiszieren, auf dass jeder – 400 000 abzüglich Freibetrag der Tochter – 400 000 von vorn anfangen müsse. 1 200 000 zu versteuerndes Erbe 260 000 Auch die frühen Vertreter der sozialen Marktwirtschaft 228 000 28 600 STEUERLAST in Deutschland, Walter BEISPIEL GRUNDSTÜCK Eucken und Alexander Rüstow, forderten Vergleich: ERDie Tochter erbt vom Vater ein GrundGeldvermögen SPARNIS hohe Erbschaftsteustück ern. Ihr überraschenVERMÖGENSWERT 1 200 000 1 200 000 71% des Plädoyer begründeten die beiden ökoBewertung nach Bodenrichtwert nomisch: In einer Ge(im Schnitt 60%) 720 000 sellschaft mit großen Erb– 400 000 abzüglich Freibetrag der Tochter – 400 000 schaften erlahme die wirt800 000 zu versteuerndes Erbe 320 000 schaftliche Dynamik. Auf gut Deutsch: Not macht erfinde120 000 35200 STEUERLAST risch, unverdienter Wohlstand M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE Heide Simonis, mal Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde, die gern miterben möchten. „Alle müssen ran. Alt und Jung, die weniger Verdienenden und die gut Betuchten“, begründet Simonis ihren Wunsch nach höheren Lasten für Wohlhabende. Seit dem Wegfall der Vermögensteuer vor zwei Jahren bleibt allein die Erbschaftsteuer, um ein Symbol für mehr Umverteilung von Vermögen zu setzen. Noch versucht Bundeskanzler Gerhard Schröder die Debatte mit einem seiner Machtworte zu beenden: „Wir führen keine Steuererhöhungsdiskussion.“ Doch trotz Kanzler-Veto ist die Erbschaftsteuer ins Visier der Finanzpolitiker geraten. Das Objekt der Begierde erscheint lohnend, denn seit einigen Jahren tritt die Aufbaugeneration der Republik ab und hinterlässt den Nachkommen Werte in bisher nicht gekanntem Ausmaß. 50 Jahre lang konnten die Deutschen, durch Kriege, Weltwirtschaftskrisen und Hyperinflationen ungehindert, Vermögen anhäufen. Zum ersten Mal seit Generationen gibt es in Deutschland wahre Reichtümer zu vererben. Der Besitzstand der Republik ist beachtlich. Nicht nur die Vermögen der Flicks oder der Thurn und Taxis sind gewachsen: Auf über 14 Billionen Mark, fast das Vierfache des Bruttoinlandsprodukts, summiert sich der Wert an Häusern, Fabriken, Sparkonten oder Automobilen bei den privaten Haushalten. Ein großer Teil davon gehört Menschen, die den Zenit ihres Lebens schon überschritten haben. Die über 55jährigen besitzen ein Vermögen von fast sechs Billionen Mark. Experten erwarten, dass allein bis zum Jahr 2003 mehr als zwei Billionen Mark vererbt werden. Bislang hält sich der Staat, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, bei der Besteuerung von Erbschaften auffallend zurück. Mehr als 270 Milliarden Mark wurden im vergangenen Jahr vererbt, nur knapp fünf Milliarden Mark an Erbschaftsteuer flossen in die öffentlichen Kassen. Der durchschnittliche Steuersatz betrug also nicht einmal zwei Prozent. Tatsächlich gelten viel höhere Tarife, für direkte Nachkommen liegt der Höchstsatz zum Beispiel bei 30 Prozent. Doch ähnlich wie bei der Einkommensteuer bewirken zahlreiche Freibeträge und Sonderregelungen, dass die hohen Sätze de facto nie erreicht werden. Nicht nur in Deutschland hält sich Vater Staat bei der Testamentseröffnung zurück. Auch in anderen Industrieländern trägt die Erbschaftsteuer nur in sehr geringem Ausmaß zum Steueraufkommen bei. In Deutschland stammte 1997 nur ein halbes Prozent der Steuereinnahmen aus der Erbschaftsteuer, in Großbritannien waren es d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 121 122 Fachleute in einem Zwischenbericht ein klares Urteil zu der Bewertungsfrage gefällt und im Ministerium abgeliefert. Unverhohlen plädieren die Beamten aus Bund und Ländern darin für einen höheren Wertansatz bei Immobilien. „Die Teilnehmer vertreten einstimmig die Auffassung, dass für das Grundvermögen zum gemeinen Wert als Richtschnur der Wertermittlung zurückzukehren ist. Er entspricht dem Verkehrswert“, heißt es in dem neunseitigen Zwischenbericht. Bislang werden Immobilien nach dem sogenannten Ertragswert taxiert. Der liegt meist deutlich unter dem von den Steuerexperten favorisierten Verkehrswert, der dem Familie Schumacher: Startvorteil durch reiche Eltern Marktpreis entspricht. Wie groß in Wirklichkeit die Unterpital zuführen. „Die Befreiung von der Erbschaftsteuer bei der Weiterleitung ererbten schiede sind, belegen die Ergebnisse der Vermögens an eine Stiftung wird auf alle „Kaufpreisuntersuchung 1998“, die das gemeinnützigen Zwecke ausgedehnt“, for- Bundesfinanzministerium ebenfalls unter Verschluss hält. 7036 bebaute und unbedern die Grünen in einem Thesenpapier. Noch leistet der Kanzler Widerstand ge- baute Grundstücke verschiedener Preisgen die Erhöhungsdebatte, auch Finanz- klassen ließ das Ministerium erfassen. minister Eichel sperrt sich – zumindest ein Dann verglich es die tatsächlichen Kaufbisschen. Er müsste die Gesetzesänderung preise mit der steuerlichen Bewertung. Das durch Bundestag und Bundesrat drücken, Ergebnis: Einfamilienhäuser, Zweifamilibekäme aber nichts für den eigenen Etat. enhäuser und Eigentumswohnungen werDer Grund: Die Erbschaftsteuer steht al- den im Schnitt nur mit gut der Hälfte ihres lein den Ländern zu, die klamme Kasse tatsächlichen Wertes veranschlagt. Die Folge: Erbt eine Tochter von ihren verstordes Bundes sähe keinen Pfennig. Deswegen spielt Eichel auf Zeit und hält benen Eltern Geldvermögen, bleiben ihr die Drängler aus den eigenen Reihen erst 400000 Mark steuerfrei, erbt sie ein Grundeinmal hin. Bevor über die Erhöhung der stück, können es leicht 880 000 Mark sein Erbschaftsteuer debattiert werden könne, (siehe Grafik Seite 121). Diesen Zustand hält der rheinland-pfälmüsse zunächst das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Bund und zische Finanzminister Gernot Mittler für verfassungswidrig. „Wer nicht will, dass Ländern abgewartet werden, sagt er. Die Experten sollen im Auftrag der rot- auch die Erbschaftsteuer vom Bundesvergrünen Koalition klären, wie Immobilien- fassungsgericht für nichtig erklärt wird, besitz künftig steuerlich bewertet werden muss das Gleichheitsgebot für die versoll. Der wird, einem Urteil des Bundes- schiedenen Vermögensarten beachten.“ Schon basteln Eichels Finanzministeverfassungsgerichts zum Trotz, bei der Erbschaftsteuer noch immer besser gestellt als riale an einer verfassungskonformen LöGeldvermögen oder kleine Aktiendepots. sung. Zu 80 Prozent ihres tatsächlichen Das Ergebnis kennt Eichel längst, auch Wertes sollen Grundstücke und Häuser wenn die Arbeitsgruppe ihr Werk erst im künftig angesetzt werden, so der bisheriFrühjahr beendet. Ende August haben die ge Stand der Reformarbeit. Mit dem Abschlag soll auf etwaige Preisschwankungen Rücksicht genommen werden, heißt Nachlass für den Staat es im Ministerium. So brächte die NeubeAnteil der Erbschaft- und Schenkungsteuer wertung nur 1,5 Milliarden Mark mehr in am Gesamtsteueraufkommen 1997 die öffentlichen Kassen. Deutschland Hans Eichel weiß, dass er um eine hit0,5% zig geführte Debatte nicht herumkommt. Großbritannien 0,7% Zu niedrig ist die bisherige ErbschaftsteuUSA 1,0% er, zu stark ist das Drängen von WirtNiederlande 1,1% schafts- und Sozialpolitikern: „Wir werFrankreich den da“, so der Finanzminister in kleiner 1,8% Japan* 2,7% Runde, „ein Ventil öffnen müssen.“ ASA träge. Die Erbengesellschaft, so die Befürchtung, verlege sich mehr und mehr auf die Verteidigung des Besitzstandes. Alte Strukturen würden zementiert, Wagemut und unternehmerische Risikobereitschaft lohnten sich immer weniger. Plastisch drückte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter seine Besorgnis aus: Der unternehmerische Antrieb werde gehemmt, wenn die Hinterbliebenen „mit der Beute nicht auch die Klauen geerbt haben“. Doch wie stets in Sachen Besteuerung bewegen sich die Finanzpolitiker auf schmalem Grat. Einerseits leitet sie das hehre Bestreben, einen sozialen Ausgleich herzustellen, andererseits laufen sie Gefahr, wirtschaftlichen Leistungswillen zu unterdrücken. Denn auch eine allzu hohe Besteuerung der Hinterlassenschaft kann sich fatal auswirken. Viele Menschen handeln nach der Maxime, dass es ihren Kindern einmal besser gehen solle. Ihnen würde ein Leistungsanreiz genommen, wenn vom Erarbeiteten nichts mehr für die Nachkommenschaft übrig bliebe. Den verteilungspolitischen Balanceakt vollführen die USA mit einigem Erfolg. Tatsächlich langt die amerikanische Steuerbehörde bei Erbschaften viel schärfer hin als deutsche Finanzämter. Schon bei einem vergleichsweise bescheidenen Reichtum von drei Millionen Dollar greift der Spitzensatz von 55 Prozent. Einen Rabatt für Kinder wie in Deutschland kennen die Amerikaner nicht. Auch in den Bundesstaaten werden Erbschaftsteuern fällig. Die Folge: In den USA trägt die Erbschaftsteuer doppelt so viel zum Steueraufkommen bei wie in Deutschland. Bemerkenswerter aber sind die segensreichen Wirkungen des harten Zugriffs. Denn der amerikanische Fiskus gewährt den Reichen des Landes ein attraktives Schlupfloch. Erben und Vererbende können die Steuer sparen, wenn sie ihr Vermögen in eine Stiftung einbringen. Als Konsequenz blühen in den USA das Stiftungswesen und das Mäzenatentum. Jeder Wohlhabende, der auf sich hält, krönt sein Lebenswerk schon zu Lebzeiten mit einer gemeinnützigen Einrichtung. Gleichgültig, ob die Stiftungen Stipendien für Minderheiten ausschreiben, Geld für Forschungsprojekte spenden oder sich der Integration ehemaliger Strafgefangener widmen, das Vermögen, das vor dem Fiskus in Sicherheit gebracht werden sollte, kommt dennoch der Allgemeinheit zugute. So privatisiert der amerikanische Staat Aufgaben, für die in Deutschland der Steuerzahler aufkommt. Das Vorbild Amerika treibt auch die Finanzpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen um. Damit die Deutschen endlich stiften gehen, hat die Ökopartei gegen eine höhere Erbschaftsteuer nichts einzuwenden. Ihr Kalkül: Der steuerliche Druck würde den wohltätigen Einrichtungen ordentlich Ka- *1996 Christian Reiermann d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite F. STOCKMEIER / ARGUM Wirtschaft DaimlerChrysler-Chefs Schrempp, Eaton: Schlechtes Zeugnis von der Börse AU T O I N D U S T R I E „Das gibt Ärger“ DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp hat den ersten Machtkampf im fusionierten Konzern für sich entschieden. Der widerspenstige US-Vorstand Tom Stallkamp wurde gefeuert. G eküsst haben sie sich nicht. Aber ansonsten präsentierten sich Jürgen Schrempp und Bob Eaton, die beiden Chefs des DaimlerChrysler-Konzerns, auf der Internationalen Automobilausstellung wie ein Paar, das sich besser gar nicht verstehen könnte. Nachdem Eaton das Unternehmen als „innovativsten Autohersteller der Welt“ gelobt hatte, übergab er mit strahlendem Lächeln das Wort an „my good friend Jürgen“. Und der gute Freund legte noch ein paar Superlative nach, pries den Konzern als einen der profitabelsten Hersteller, den „Bob and I“ zu neuen Umsatz- und Gewinnrekorden führen wollen. Gäbe es einen Oscar für die besten Schauspieler unter den Unternehmenschefs, Schrempp und Eaton hätten ihn verdient. Ihr Auftritt ließ nicht einmal erahnen, dass im zweitgrößten Autokonzern der Welt ein heftiger Machtkampf tobt. Spätestens nach der Aufsichtsratssitzung vom vergangenen Freitag ist er entschieden: Die Deutschen haben die Macht übernommen. Chrysler wird wohl bald wie die amerikanische Tochter einer deutschen Aktiengesellschaft geführt. Bei der Verkleinerung des 17-köpfigen Vorstands müssen zwar schön paritätisch zwei deutsche und zwei amerikanische Manager ihre Posten verlassen. Der wahre Aufreger: Mit Tom Stallkamp muss auch der einflussreichste Amerikaner gehen, der für die Chrysler-Führungsmannschaft als letzter Garant dafür galt, nicht von den Deutschen dominiert zu werden. Der Rausschmiss von Stallkamp kam für die meisten Chrysler-Führungskräfte völlig überraschend. Eaton gilt in den USA als Manager ohne Macht, weil er bereits angekündigt hat, in zwei Jahren oder noch früher Schrempp die alleinige Führung des Konzerns zu überlassen. Verunsicherte US-Manager setzten deshalb auf Stallkamp, dem Eaton DaimlerChrysler abgehängt 140 Aktienkurse seit der Fusion* 130 120 110 100 90 * Erste Notierung: 17. Nov. 1998 = 100 auf Euro-Basis 80 1998 70 Nov. 126 Dez. 1999 Jan. Febr. März April Mai Juni Juli d e r Aug. Sept. s p i e g e l Quelle: Datastream 3 9 / 1 9 9 9 einst sogar bescheinigte, er sei „sicher hervorragend geeignet, eines Tages Jürgen zu ersetzen“. Stallkamps Abgang, kommentierte die „Detroit News“, kann die Glaubwürdigkeit des Konzerns bei seinen US-Investoren, den Wall-Street-Analysten und den ChryslerBeschäftigten schwer schädigen. Schon das Gerücht über das mögliche Ausscheiden des Vorstands, der für die Integration des Automobilgeschäfts verantwortlich war, beschleunigte vergangene Woche den Absturz der DaimlerChrysler-Aktie. Die Börse, für Schrempp der einzig wahre Gradmesser für den Unternehmenserfolg, stellt DaimlerChrysler ein schlechtes Zeugnis aus. Der Konzern wurde am Tag der Fusion noch mit 140 Milliarden Mark bewertet, am Freitag vergangener Woche waren es nur noch 127 Milliarden. Schrempp, der seinem Vorgänger Edzard Reuter einst vorwarf, Milliarden an Unternehmenswert vernichtet zu haben, ist entsetzt über den Kurssturz. Der Shareholder-Value-Fan kann die Aktienentwicklung nicht verstehen. Der Umsatz steigt um zwölf Prozent, der Gewinn mindestens um den gleichen Satz, und die versprochenen Einsparungen durch die Fusion von mindestens 1,4 Milliarden Dollar werden in diesem Jahr erreicht. Die Marke Mercedes-Benz hat wieder eindeutig die Führung in der Oberklasse übernommen und fährt Rekordgewinne ein. Der Gesamtkonzern ist einer der profitabelsten Autohersteller der Welt. Doch die Börse bewertet nicht so sehr die Gegenwart, sondern vor allem die künftigen Aussichten. Der Smart und die Bahntochter Adtranz werden auf absehbare Zeit Verluste einfahren. Chryslers hohe Gewinne stammen größtenteils aus dem Geschäft mit Pick-ups, Minivans und Geländewagen (Jeep), bei dem der Wettbewerb härter wird und der Konzern inzwischen hohe Rabatte gewähren muss. Zudem verspricht der geplante Einstieg von Chrysler in die Kompaktklasse ebenfalls keine großen Profite. Stallkamp hat Verlustbringer wie den Smart und die Adtranz stets heftig kritisiert und war einer der wenigen, die Schrempp widersprachen. Den Kollegen bei Mercedes-Benz hielt der Chrysler-Manager of- Werbeseite Werbeseite Wirtschaft fen vor, dass Chrysler mehr Autos verkauft und höhere Profite erwirtschaftet: „Diesen Unterschied müssen wir überbrücken.“ Der grauhaarige Einkaufsexperte, der wesentlich zur Verwandlung des fast konkursreifen Chrysler-Konzerns in einen hoch profitablen Autohersteller beigetragen hatte, glaubte sich diese Haltung leisten zu können. Schrempp forderte den Widerspruch zudem oft ein, weil man dadurch zu besseren Entscheidungen komme. Tatsächlich aber will der DaimlerChrysler-Chef seit längerem schon, so ein enger Mitarbeiter, „kein kritisches Wort mehr hören“. Doch auch bei der geplanten Neuordnung des Vorstands widersprach Stallkamp seinem deutschen Boss. Langsam und behutsam sollte man die beiden Unternehmen zusammenführen und nicht mit einem Kraftakt, wie Schrempp es vorhatte. Das sei viel zu gefährlich, kritisierte Stallkamp, geradezu so, „als würden zwei Kinder Säuren in ein Reagenzglas schütten“. Bei Schrempp wuchs der Widerwille gegen den selbstbewussten Stallkamp. Entlassen aber konnte er den Amerikaner kaum, ohne ein größeres Beben in der Chrysler-Zentrale auszulösen. Da passte es wunderbar, dass Schrempps Partner Eaton ebenfalls verärgert auf Stallkamp reagierte, weil der sich bei Chrysler-Führungskräften despektierlich über Eatons Rolle innerhalb des Führungsduos geäußert haben soll. Eaton war es, der Stallkamp schließlich feuerte, und zwar, wie Schrempp sagt, „auf die amerikanische Art“. Eaton ging mit Stallkamp essen und fragte seinen Kollegen, ob der sich auch vorstellen könnte, mal etwas anderes zu machen. Zwei Sätze später war Stallkamp klar, dass er entlassen wird. Über die Folgen dieses Rausschmisses in den USA macht sich Schrempp keine Illusionen: „Das gibt Ärger“, prophezeite er seinen Aufsichtsräten. Mit einer Abfindung von 5 487 445 Dollar und einem Sonderstatus als Vice Chairman von DaimlerChrysler in den USA bis zu seinem Ausscheiden am 31. Dezember will der Konzern verhindern, dass Stallkamp öffentlich mit Schrempp und Eaton abrechnet. Der Frust unter den übrigen ChryslerManagern wird dadurch kaum geringer ausfallen. Dass bei der Fusion von Chrysler und Daimler-Benz nicht wie sonst üblich ein schwächelndes Unternehmen von einem starken übernommen wurde, sondern zwei gleich starke zusammenfanden, erweist sich jetzt als Nachteil. Beide Seiten treten entsprechend selbstbewusst auf, keine will sich der anderen beugen. Lieber wechseln Chrysler-Manager, wie bereits kurz nach der Fusion, zur Konkurrenz. Nach Stallkamps Abgang wird sich die Absetzbewegung wohl noch verstärken. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 AP Für den Konzern kann dies schon bald schlimme Folgen haben. Chryslers Aufstieg ist nicht vorstellbar ohne die beispielhafte Motivation seiner Mitarbeiter, den Konzern zu retten und es den beiden übermächtigen US-Rivalen General Motors und Ford zu zeigen. Aber auch unter den deutschen Führungskräften gibt es kaum noch einen, der wie einst Schrempp die Fusion als „Hochzeit im Himmel“ bezeichnen würde. Viele sind frustriert über ihre US-Kollegen, die nach Abzug der Steuern oft das Vierfache verdienen, sich dafür aber wesentlich kürzere Arbeitszeiten genehmigen. An einem Montag werden kaum noch gemeinsame Sitzungen mit den amerikanischen Managern in Stuttgart anberaumt, weil sich die US-Kollegen weigern, bereits am Sonntag anzureisen. Die Vorstandssitzungen finden fast ausschließlich in New York statt, damit die Chrysler-Manager eine kürzere Anreise haben. Deutsche Vorstände fliegen morgens mit der Concorde nach New York und abends Stallkamp wieder zurück, um am nächsten Morgen wieder an ihrem Stuttgarter Schreibtisch zu sitzen. „Das würde“, sagt ein deutscher Vorstand, „keiner von denen auf sich nehmen.“ Knapp ein Jahr nach der Fusion zeigt sich, dass auch die Vereinigung zweier Konzerne, die sich mit ihren Modellpaletten und auf den meisten Märkten hervorragend ergänzen, auf gewaltige Probleme stoßen kann: Über Erfolg oder Scheitern des DaimlerChrysler-Konzerns entscheidet auch der schwer kalkulierbare Faktor Mensch. Schrempp versprach seinen Aufsichtsräten zwar immer wieder, dass er die beiden Führungsmannschaften „mit hoher Sensibilität“ zusammenführen wolle. Doch stärker als seine Sensibilität ist sein Machtinstinkt. Und den nutzt Schrempp, um den Konzern nach seinem Gusto umzubauen. Auf Eaton, offiziell noch immer gleichberechtigter Chef des Konzerns, nimmt Schrempp dabei kaum noch Rücksicht. Auf der Sitzung des Aufsichtsrats am vergangenen Freitag, an der Eaton nicht teilnahm, rechnete Schrempp ganz kühl mit seinem Partner ab. Dass Eaton einen möglichen vorzeitigen Rücktritt bereits ankündigte, war „der erste Fehler, den er seit dem Merger gemacht hat“, so Schrempp zu seinen Kontrolleuren. Bei vielen Chrysler-Mitarbeitern gelte Eaton seitdem als „lame duck“, als lahme Ente, sagte Schrempp und blickte unschuldig lächelnd in die Runde. Dietmar Hawranek d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Wirtschaft SCHULDEN Absolution für Abzocker Kommerzielle Berater erobern das Geschäft mit den hoch Verschuldeten – nicht immer zu deren Vorteil. 130 In der Schuldenfalle 1455,0 Bankkredite* der privaten Haushalte in Milliarden Mark 1400 1200 1092,5 1000 892,4 800 1990 *inklusive Hypothekenkredite 92 94 96 Quelle: Deutsche Bundesbank 98 sich die Verbraucherzentralen deshalb zu einem Arbeitskreis „Geschäfte mit der Armut“ zusammengeschlossen. „Wir spiegeln nichts vor“, sagt dagegen Axel Westphal, Geschäftsführer von Dr. Meyer’s, „wir helfen.“ Seit Einführung des Privatkonkurses habe er bei seinen Klienten eine Erfolgsquote von immerhin 15 bis 20 Prozent. Die Erfahrung zeige, dass ehemalige Kunden „den Verbraucherschützern falsche Sachlagen schildern“. Überdies seien mit seiner Firma „Gewinne auch in absehbarer Zeit nicht zu erzielen“. Dass die Aussichten auf einen erfolgreichen Verbraucherkonkurs gering seien, sagt indes auch Rainer Eckert, Insolvenzanwalt in Hannover und Rechtsvertreter von Dr. Meyer’s: „Das neue Insolvenzrecht funktioniert nicht.“ Private wie öffentliche Berater hätten Probleme, mit den Gläubigern eine Einigung zu erzielen. Für Eckert stellt sich deshalb nur eine Frage: „Ist die Höhe der Beratungsgebühren angemessen, oder ist sie verwerflich?“ In einem anderen Fall stufte das Oberlandesgericht München die erbrachte Be* Verbraucherzentrale Düsseldorf. d e r Seriöse Schuldnerberatung in NRW* Viele hoffen auf eine zweite Chance 1279,3 763,3 U. BAATZ / LAIF S chuldenreduzierung bis zu 90 Prozent“ stellt die Dr. Meyer’s Schuldenverwaltungsgesellschaft Bürgern in Finanznot in Aussicht. „Der Weg aus dem Schuldensumpf“, heißt es auf der Internet-Seite der Firma, „ist leichter, als Sie denken.“ Doch wer den Lockungen folgt, steckt häufig zunächst viel tiefer im Schlamassel. „Kompetent. hilfsbereit. professionell“ (Eigenwerbung) ist die Firma nämlich vor allem bei der Eintreibung ihrer Gebühren: Gleich zu Beginn kassieren die Schuldensanierer oftmals mehrere tausend Mark – und dann Monat für Monat bis zu zehn Prozent der gezahlten Tilgungsraten. Unternehmen wie Dr. Meyer’s haben sich auf ein neues Geschäftsfeld spezialisiert – die kommerzielle Schuldnerberatung. Seit Jahresanfang können Verbraucher den Privatkonkurs beantragen und so darauf setzen, binnen sieben Jahren von ihrer Schuldenlast befreit zu werden. 2,7 Millionen überschuldete Haushalte hoffen nun auf eine zweite Chance. Das Interesse ist groß, öffentliche Schuldnerberatungen sind überlastet und führen Wartelisten von vielen Monaten. In Dortmund nehmen anerkannte Beratungsstellen kaum noch neue Fälle an. In ihrer Verzweiflung wenden sich viele Verbraucher an kommerzielle Schuldenberater, die ihnen schnelle Hilfe versprechen. Tatsächlich aber streichen die meisten privaten Finanzberater „in nahezu allen Fällen immense Gebühren ein“, sagt Schuldnerberater Christian Maltry vom Landratsamt Main-Spessart. Die dafür erbrachten Leistungen müsse man hingegen „mit der Lupe suchen“. Der 30jährige Axel S. etwa beauftragte Dr. Meyer’s in diesem Frühjahr, seine Schulden von knapp 100 000 Mark zu verwalten. Doch statt weniger Miese hatte der Arbeiter aus dem Ruhrgebiet erst mal mehr: 3085,60 Mark berechnete ihm die Firma aus Gehrden, unter anderem für „Aktenanlage und Portokosten“. Ein typischer Fall, sagt Pamela Wellmann von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Unter „Vorspiegelung einer angeblichen Hilfeleistung“ betrieben solche Firmen „einträgliche Geschäfte“. Um die Aktivitäten der gewerblichen Schuldenberater zu untersuchen, haben s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 ratung als „unbedeutend und ohne nennenswerten Geldwert“ ein. Der Rosenheimer Firma SDV Vermögensverwaltung GmbH haben die Richter den „geschäftlichen Endverkehr“ mit verschuldeten Verbrauchern deshalb schon einmal verboten. Begründung: Die Firma erbringe nichts, was man einem Dritten gegen Bezahlung übertragen muss, wenn man ohnehin verschuldet sei. Sie sei zu verurteilen, so die Richter abschließend, „weil sie die Kunden schlichtweg ausbeutet“. Und so geht es häufig in der ganzen Branche zu. „Fast ausschließlich als rechtswidrig und kriminell“ bezeichnet HansHeiner Kühne, Strafrechtler der Universität Trier, in einem Gutachten die Tätigkeit gewerblicher Schuldenberater. Doch den Behörden gelingt es nur selten, konkrete Rechtsverstöße nachzuweisen. „Wir wehren uns dagegen“, sagt Dr.- Meyer’s-Chef Westphal, „mit solchen kriminellen Machenschaften in einen Topf geworfen zu werden.“ Tatsächlich gehört sein Unternehmen zu den ersten, die bereits als „staatlich anerkannte Schuldenberatungsstelle“ firmieren dürfen. Dr. Meyer’s Schuldenverwaltung erhielt das Gütesiegel in Nordrhein-Westfalen. Erst 1998 war gegen Westphal ein Bußgeldbescheid der Staatsanwaltschaft Hannover ergangen – wegen unerlaubter Rechtsberatung in 114 Fällen. Ein Delikt „vergleichbar mit falschem Parken“, sagt Westphal. „Absolution für Abzocker“ nennt Verbraucherschützerin Pamela Wellmann die Politik mancher Bundesländer. Die staatliche Anerkennung ebne „vormals illegalen Schuldenregulierern“, sagt Strafrechtler Kühne, „den Weg zu einem zurzeit offensichtlich ebenso legalen wie lukrativen Markt“. Frank Hornig Werbeseite Werbeseite Das Kartell lebt Die Opec ist wieder da: Mit erstaunlicher Disziplin hat sie die Förderung gedrosselt und so den Ölpreis verdoppelt. L ange hatte der saudi-arabische Thronfolger, Prinz Abdullah Ibn Abd alAsis, mit sich gerungen. Er sah, wie sich Anfang des Jahres sein Königreich maßlos verschuldete, die Öleinnahmen flossen nur noch spärlich. Sollte er jetzt die Opec-Länder beschwören, gemeinsam mit ihm die Förderung zu drosseln? Würden dann die Preise endlich steigen? Seine Berater warnten ihn. Einige Förderländer würden solche Vereinbarungen immer wieder brechen, gaben sie zu Bedenken; sie drehten heimlich den Ölhahn wieder auf, um schnelles Geld zu kassieren – und dann stehe Saudi-Arabien noch schlechter da als zuvor. Der Prinz ging das Risiko ein. „Eine eitrige Entzündung kann erst geheilt werden, wenn man sie mit starkem Feuer behandelt“, entschied Abdullah. Das Feuer zeigte Wirkung. Der Preis für Rohöl hat sich von rund 10 Dollar pro Barrel (159 Liter) zu Jahresbeginn auf inzwischen 24,41 Dollar mehr als verdoppelt, der Rohstoff ist so teuer wie seit 33 Monaten nicht mehr. Sämtliche Opec-Länder haben strikt wie selten zuvor die Förderquoten eingehalten, die die elf Ölminister im März in Wien vereinbart hatten, und damit die Fachwelt verblüfft – auch den ehemaligen saudi-arabischen Ölminister Ahmed Saki al-Jamani: „Die Vereinbarung ist für die Katz, kein Land wird sich daran halten“, polterte er damals. Jamani hatte den Leidensdruck der klammen Förderstaaten unterschätzt. Die Öleinnahmen der Golfanrainer waren 1998 um ein Drittel gesunken, die fetten Jahre schienen ein für alle Mal vorbei. Saudi-Arabien sah sich sogar gezwungen, die Preise 24 22 20 Treibstoff für die Preise (RWI). So werden manche Auausgerechnet für Benzin zu ertofahrer am Neujahrsmorgen höhen: von 0,16 Dollar auf 0,24 an der Tankstelle eine böse Dollar pro Liter. Überraschung erleben: Weil Die Not hat das Kartell geam 1. Januar auf Kraftstoff eint, das viele schon totgesagt erneut sechs Pfennige Ökohatten. Seit die Petrodollars steuer aufgeschlagen werden, wieder fließen, sind die Golf„könnten wir die Zwei-Markkooperationsstaaten dabei, ihr Prinz Abdullah Grenze streifen“, vermutet Haushaltsdefizit von 23 MilHillebrand. liarden auf 12 Milliarden fast Verbraucherpreise Der RWI-Forscher rechnet zu halbieren. Den Förderlän- pro Liter in Mark Sept. damit, dass Deutschland insdern kommt zugute, dass die 1999 gesamt in diesem Jahr gut Nachfrage in Asien wieder Sept. 0,61 zehn Milliarden Mark mehr wächst: In Südkorea stieg der 1998 für Rohölimporte ausgeben Ölverbrauch in den ersten vier HEIZÖL muss als im Vorjahr: „Das wird Monaten um gut 20 Prozent. 0,43 einen inflationären Impuls zur Grundlage für die unerwarFolge haben.“ tete Geschlossenheit ist der Erinnerungen werden wach neue Geist zwischen Saudi1,76 an die Ölkrisen der siebziger Arabien und Iran, den HauptNORMALBENZIN Jahre, als die Opec die Ölwafakteuren im Kartell. Die fe entdeckte. Damals stieg der Nachbarn sind wieder näher 1,54 Preis so drastisch, dass die Inzusammengerückt, seit der dustriestaaten in die Rezession vergleichsweise liberale Staats1,35 schlitterten. präsident Mohammed ChaDIESELMit solch dramatischen Foltami Iran führt. Gemeinsam KRAFTgen rechnet heute allerdings wollen sie sich aus der „HegeSTOFF 1,14 kaum jemand. Das teure Öl monie der USA auf dem Ölwird zwar den Preisauftrieb sektor befreien“, heißt es in Quelle: EID etwas beschleunigen, Heizöl einem internen Gesprächsund Kraftstoffe haben in eiprotokoll. So versuchen sie, die Schrauben weiter nem Jahr immerhin um 14,3 Prozent zuanzuziehen. Vorige Woche bei der jüngsten gelegt. Doch gleichzeitig sind die TelefonKonferenz in Wien beschlossen die Öl- tarife um 12,6 Prozent gefallen, die Inflaminister, die niedrigen Förderquoten bis tionsrate verharrt weiter bei 0,7 Prozent. März kommenden Jahres beizubehalten – „Und bald kommen die Preisvorteile aus dem liberalisierten Strommarkt dazu“, erwenn nicht sogar noch länger. Längst spüren die Verbraucher auch in wartet Wolfgang Nierhaus, KonjunkturforDeutschland die Folgen der Quoten- scher am Münchner Ifo-Institut. Noch ist ohnehin nicht klar, ob die Opec disziplin. Wer vor einem Jahr 3000 Liter Heizöl einkellerte, zahlte etwa 1300 das Preisniveau auch nach dem Winter halMark. Heute kostet dieselbe Menge 1840 ten kann. Der Irak will nach dem GolfMark. Dass die Preise in den nächsten kriegsembargo wieder zur Nummer zwei Monaten wieder fallen, ist unwahrschein- der Ölexporteure hinter Saudi-Arabien lich – schließlich steht der Winter noch aufsteigen; schon jetzt bringt er seine Förderung auf Hochtouren. bevor. Zudem macht ein Preis jenseits der 20 Eher dürfte die kalte Saison den Preis pro Barrel auf 25 bis 28 Dollar hoch- Dollar die Exploration auch in schwierigen schrauben, erwartet Bernhard Hillebrand, Weltregionen wie der Nordsee wieder renEnergieexperte des Rheinisch-Westfäli- tabel – und schon schwimmt die Welt wieschen Instituts für Wirtschaftsforschung der in Öl. Adel S. Elias, Alexander Jung REUTERS ERDÖL Ölraffinerie in Saudi-Arabien: „Eitrige Entzündung mit starkem Feuer behandeln“ 23. Sept. 24,41 Rohölpreis in Dollar pro Barrel 18 16 14 10 Sept. 132 9,55 1998 1999 Sept. Quelle: Datastream GAMMA / STUDIO X 12 Werbeseite Werbeseite M. DARCHINGER Spekulanten Zandmann, Behrens*, Steinich (in Berlin): „Was ist daran unseriös?“ tion drin, sondern 5 Sekunden. Das macht er mehrere Male am Tag. SPIEGEL: Herr Steinich, Sie sitzen seit März in einem Berliner Tradingsaal. Wie ist Ihre Bilanz? Steinich: Positiv. SPIEGEL: Was war Ihr schlechtester, was Ihr Die Daytrader Wieland Steinich, 39, Eugen Zandmann, 30, bester Tag? und Frank Behrens, 23, über Börse und Gier Steinich: Einmal 2500 Mark Verlust, einmal 7000 Mark Gewinn. SPIEGEL: Herr Steinich, die Stimmung an Monaten nur guckt, wo der kurzfristige Behrens: Ich handele seit drei Monaten nur den Weltbörsen ist gedrückt, der Dax sinkt Indikator hinzeigt. Der nimmt drei, vier, auf dem Papier. Ich gucke mir den Markt fast täglich, und einige Experten warnen fünf Punkte mit … an, um später wieder einzusteigen. sogar vor einem Crash im Oktober – SPIEGEL: … 150 bis 250 Mark … SPIEGEL: Sie üben jetzt, weil Sie beim Einschlechte Zeiten für gute Geschäfte. Wie Zandmann: … und geht gleich raus. Er ist stieg ins Daytrading eine Menge Geld verlief es gestern bei Ihnen? noch nicht einmal 15 Sekunden in der Posi- loren haben. Wie viel? Steinich: Gut. Das Schöne am Daytrading Behrens: Nach zwei Monaist eben, dass man Kursbewegungen in alle ten waren 25 000 Mark weg. So funktioniert Daytrading Richtungen nutzen kann. Ich habe gleich SPIEGEL: Daytrader müssen erkannt, dass der Dax-Future nach unten 50 000 Mark als Sicherheit geht, und habe die Gewinne laufen lassen. hinterlegen. Hat bei Ihnen Bank die Bank die Notbremse geSPIEGEL: Was haben Sie verdient? Kauf oder Verkauf zogen? Steinich: Knapp 2000 Mark. werden daraufhin im Zandmann: Ich habe gestern wenig gehanBehrens: Die Bank und eigeWertpapierdepot des delt. Zunächst habe ich darauf spekuliert, ne Einsicht. Daytraders verbucht. SPIEGEL: Wie haben Sie readass der Dax hochgeht, aber das war nicht giert, als die Verluste einder Fall. Das habe ich aber frühzeitig erÜber ein angemietetes BörsenEin Handelsprogramm setzten? kannt und bin mit 250 Mark Gewinn nach informationssystem unterrichtet schickt die Order per Internet Behrens: Man wird panisch, Hause gegangen. sich der private Händler via Inter- direkt an die internationalen hektisch, man handelt viel. SPIEGEL: Werden Sie nervös, wenn Sie vor net ohne Zeitverzögerung (realBörsen, wo sie sekundenIch war eine Zeit lang unter dem Bildschirm sitzen und der Kurs sich time) über weltweite Marktdaten. schnell ausgeführt werden. psychischem Druck, weil ich anders entwickelt als erwartet? überlegt habe, wie es weiSteinich: In dem Moment, wo ich im Markt tergehen und ob ich aufbin, stehe ich unter Stress. hören soll. SPIEGEL: Wie schnell reagieren Sie? Steinich: Ich habe schon in fünf bis zehn SeSPIEGEL: Warum hören Sie kunden entschieden: Hey, jetzt liegst du nicht auf? Warum glauben völlig falsch. Sie, dass Sie es beim nächsten Mal schaffen werden? Zandmann: Wir haben in unserem DüsselBehrens: Ich mache jetzt seit dorfer Trading-Center einen, der seit sechs drei Monaten Probetraining, * Name von der Redaktion geändert. versuche den Markt kennen S P E K U L AT I O N „Wie Motorrad fahren“ 134 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft P. FRISCHMUTH / ARGUS deshalb verloren, Herr Behrens? Behrens: Ja. Ich habe zum Beispiel zu lange gewartet, Verluste zu lange gegen mich laufen lassen, Gewinne nie mitgenommen. SPIEGEL: Herr Steinich, Sie waren zwölf Jahre lang Immobilienmakler und haben im März den Beruf gewechselt. Verdienen Sie jetzt mehr? Steinich: Ja, und ich muss nicht mehr klagen, um an meine Provisionen zu kommen. In der Immobilienbranche läuft man bis zu zwei Jahre seinem Geld hinterher. Jetzt wird das Geld gleich auf dem Konto gebucht. SPIEGEL: Nach amerikanischen Untersuchungen machen 70 Prozent der Daytrader Verluste. Warum sollten ausgerechnet Sie zu den Gewinnern zählen? Steinich: Warum nicht? Ich analysiere vorher die Prognose, ich verhalte mich diszipliniert und sage: Mehr Geld wechselt an dem Tag nicht zu mir. Weil beim Daytrading Emotionen eine Rolle spielen, muss ich mir vorher ein klares Limit setzen: bis dahin und nicht weiter. SPIEGEL: Meinen Sie mit Emotionen Gier? Steinich: Gier ist eine Form der Angst, zu wenig zu bekommen. Angst ist ein schlechter Ratgeber an der Börse. Bevor ich überhaupt in die emotionale Phase komme, muss ich Entscheidungen treffen: Wo gehe ich in den Markt, wo gehe ich aus dem Markt? Was kann ich an Verlusten akzeptieren, bei wie viel Prozent Gewinn steige ich aus? Zandmann: Wer schlecht mit Verlusten fertig werden kann, sollte die Finger vom Daytrading lassen. SPIEGEL: Sie arbeiten weiterhin nebenbei noch in Ihrem alten Job als Vermögensverwalter bei einer kleineren Gesellschaft. Ist Ihnen bei Ihrem Arbeitgeber der Aktienhandel nicht aufregend genug? Zandmann: Das sind zwei verschiedene Dinge wie Auto und Motorrad. Ich spekuliere mit Aktien, das ist wie Auto fahren; Daytrading ist Motorrad fahren. SPIEGEL: Motorradfahrer holen sich eher eine blutige Nase. Zandmann: Daytrading sollte man als einen Bereich der Anlagestrategie betrachten und nur einen Teil des Depots hoch spekulativ anlegen. SPIEGEL: Wie viel Prozent? Zandmann: Nicht mehr als 20 bis 30 Prozent. SPIEGEL: Woher nehmen Daytrader ihren Optimismus, dass sie das System beherrschen? Steinich: Ich halte mich für beherrschbar. Ich will nicht den Markt und auch nicht das System beherrschen, ich will es nutzen. Interview: Hermann Bott, Daytrader vor dem Bildschirm*: „Das ist harte Arbeit“ zu lernen und bereite mich auf die Börsenhändlerprüfung vor. SPIEGEL: Sie waren Angestellter im Öffentlichen Dienst. War Ihnen der Job zu langweilig? Behrens: Ja. Ich möchte auf jeden Fall in der Börsenbranche bleiben. SPIEGEL: Was sagen Sie, wenn Sie heute jemand nach Ihrem Beruf fragt? Behrens: Dass ich an der Börse handele. SPIEGEL: Ein bisschen vage. Warum sagen Daytrader nicht einfach, dass sie Berufsspieler sind? Steinich: Das ist kein Spiel, das ist harte Arbeit, weil man sich mit Informationen auseinander setzen muss und da sehr vorsichtig, sehr achtsam und sehr genau arbeiten muss. Daytrading ist Präzisionsarbeit, weil man innerhalb von Sekunden die Kursbewegung ausnutzen kann. Da darf man sich keine Fehler erlauben. SPIEGEL: Sie handeln hier alle mit dem Dax Future, das heißt, Sie schließen Wetten darüber ab, wie der Deutsche Aktienindex in ein paar Wochen oder Monaten steht. Die einen setzen darauf, dass der Dax steigt, die anderen, dass er fällt. Zandmann: Das ist keine Wette, das ist eine Prognose. Man hat sich eine Meinung gebildet, die kann richtig oder falsch sein. Diese Meinung ist Ergebnis einer sorgfältigen Analyse. Steinich: Es gibt Indikatoren. Die sagen mir, welche Erwartungen die anderen Marktteilnehmer haben. Die Regeln funktionieren mit einer Wahrscheinlichkeit von Risiko und Chance. Wenn mein RisikoChance-Verhältnis 10 zu 90 ist, heißt das, dass 10 Prozent Risiko da sind. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die 90 eintreten, ist höher als die 10. Also werde ich mich entsprechend positionieren und für den Fall, dass die 10 Prozent eintreten, vorher Maßnahmen treffen. * Im Hamburger Actior Trading Center. 136 SPIEGEL: Stört es Sie, wenn man Ihre Tätigkeit als Zocken bezeichnet? Steinich: Ja. Zandmann: Ich bin kein Zocker. Ein Zocker ist derjenige, der glaubt, leicht und schnell Geld verdienen zu können. SPIEGEL: Beim Daytrading ist relativ leicht und schnell Geld zu verdienen. Steinich: Eben nicht. Es ist zwar schnell, aber nicht leicht. SPIEGEL: In der Öffentlichkeit gilt Daytrading als unseriös. Steinich: Wer beeinflusst die Öffentlichkeit? Die Medien. SPIEGEL: Das Image ergibt sich durch die Tätigkeit. Da sitzen Menschen vor dem Bildschirm, drücken ein paar Tasten und haben in wenigen Sekunden 2000 Mark gewonnen oder verloren. Zandmann: Was ist daran unseriös? Fragen Sie mal die Deutsche Bank, ob die etwas anderes macht. Steinich: Die Banken machen im Eigengeschäft dasselbe wie wir. SPIEGEL: Der Papst beklagte kürzlich, dass Reichtum heute ohne Bezug zu einer konkreten Arbeit angehäuft wird. Steinich: Da frage ich die Kirche: Können wir uns mal die Anlagestrategien für euer Vermögen anschauen? Spekulation ist der Motor der Wirtschaft, das ist eine Grundregel. SPIEGEL: War jemand von Ihnen schon mal im Spielcasino? Zandmann: Ich. SPIEGEL: Wo sehen Sie den Unterschied? Zandmann: Daytrading ist eine Form der Börsenspekulation. An der Börse zu spekulieren heißt generell, viele Informationen beherrschen und verarbeiten zu können. Zum Daytrading gehört auch viel Disziplin. Das ist ein Unterschied zum Casino, der Kugel können Sie keinen Stopp setzen. SPIEGEL: Also sind Gewinn und Verlust nur eine Frage der Disziplin? Haben Sie d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Frank Hornig Werbeseite Werbeseite SIPA ZDF / AUSLANDSJOURNAL Vermittler Holzer, Villa „Soussou“ in Golfe-Juan: Vergangenheit beim Geheimdienst? „Auf höchster Ebene“ Neue Erkenntnisse in der Leuna-Affäre: Der Geschäftsmann und Ex-Strauß-Freund Dieter Holzer soll vom französischen Ölmulti Elf 50 Millionen Mark kassiert haben. Aber wofür? D er Brief, der am 11. November 1993 aus dem Faxgerät im Vorzimmer des Kanzlers kam, trug die Aufschrift „Persönlich – Vertraulich“. Absender war ein Dieter Holzer aus Monaco. „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Helmut Kohl“, schrieb der in CDUKreisen bekannte Geschäftsmann, „Sie haben mich gebeten, Ihnen kurz darzustellen, warum meiner Meinung nach Elf Aquitaine die Raffinerie in Leuna nicht bauen wird.“ Der neue Chef des französischen Ölkonzerns, Philippe Jaffré, sei beauftragt, den Ölmulti zu privatisieren, und wolle deshalb die riskante Investition in Ostdeutschland unterlassen. Um das deutschfranzösische Prestigeprojekt zu retten, „würde ich eine Intervention auf höchster Ebene in Paris für geboten erachten, andernfalls ist die Katastrophe perfekt“. Der Kanzler nahm die Angelegenheit ernst. Er wollte im deutschen Osten schließlich ein Milliarden-Investitionsprojekt verwirklicht sehen. In schwungvoller Handschrift vermerkte er auf dem Brief: „Ludewig prüfen u. R.“ Das sollte wohl heißen, sein damaliger Wirtschaftsabteilungsleiter Johannes Ludewig, ein Kohl-Vertrauter, möge sich der Sache annehmen und dann, „R.“ steht für Rücksprache, den Kanzler unterrichten. Erstmals belegt damit ein Dokument, dass Holzer selbst zum Kanzler Kontakt hatte. Der Geschäftsmann gilt seit längerem schon als Schlüsselfigur in der 138 Leuna-Affäre. Der französische Mineralölkonzern Elf Aquitaine hat im Zusammenhang mit der Privatisierung der ostdeutschen Raffinerie Leuna viele Millionen dubioser Provisionen gezahlt. Der Verdacht: Ehemalige Elf-Manager, Berater und französische Politiker hätten kassiert. Aber auch nach Deutschland könnte Geld geflossen sein – womöglich an Politiker (SPIEGEL 44/1998). 1992 hatte sich ein Konsortium unter Führung von Elf Aquitaine verpflichtet, eine neue Raffinerie in Leuna zu bauen. Im Gegenzug erhielten die Franzosen das damals begehrte Ost-Tankstellennetz Minol. Fest steht mittlerweile: Das Projekt wurde auf Seiten der Franzosen von ehemaligen Managern und zwielichtigen Vermittlern betreut, die über hunderte von Millionen offenbar frei verfügen konnten. Bei Ermittlungen gegen ehemalige Elf-Manager stieß die Pariser Richterin Eva Joly bereits 1997 auf Zahlungen von mindestens 100 Millionen Mark im Zusammenhang mit dem Leuna-Projekt. Das Geld floß über Mittelsmänner und Briefkastenfirmen nach Liechtenstein und in die Schweiz. Dort verlor sich die Spur des Geldes. Gerüchte traten an die Stelle von Fakten: Nach Deutschland, so wusste die französische Presse ohne Quellenangabe zu berichten, seien Gelder gelangt – bis in die Kassen der CDU. Und Holzer mit seinen Unionskontakten soll einer der Hauptakteure in dem undurchsichtigen System von Briefkastenfirmen gewesen sein. Frühzeitig dementierte die Union die Gerüchte als „üble Erfindung“. Doch neue Ermittlungsergebnisse aus der Schweiz förderten vergangene Woche weitere Spuren zu Tage. Nach den Erkenntnissen der Genfer Ermittler soll Holzer, laut „Le Monde“, vom Elf-Konzern rund 50 Millionen Mark erhalten haben. Er habe nur Provision für sich bekommen, sagte er gegenüber der Schweizer Justiz. Aber wie glaubhaft ist Holzers Aussage, der sich öffentlich nicht zu den Vorwürfen äußert? Klar ist: Der Multimillionär Holzer ist ein Mann mit besten Beziehungen in die Politik, vor allem zu Politikern von CDU und CSU. Er gehörte zum Freundeskreis von Franz Josef Strauß. Der Saarländer, mit Wohnsitz in Monaco, besitzt Wohnungen in aller Welt. Gerade erst musste Bayerns CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber eingestehen, in Holzers „Villa Soussou“ im südfranzösischen Golfe-Juan während der achtziger Jahre mehrfach seinen Urlaub verbracht zu haben. In der Leuna-Affäre spielte Holzer von Anfang an eine tragende Rolle. In den vergangenen Monaten förderte ein Genfer Untersuchungsrichter, der im Auftrag der französischen Justiz aktiv wurde, neue Details zu Tage. Richter Paul Perraudin beschäftigt sich damit, die illegalen DPA E L F AQ U I TA I N E Raffinerie in Leuna „Hier gibt es Probleme“ Werbeseite Werbeseite Wirtschaft AP Geldströme des französischen Ölkonzerns Doch wofür bekam Holzer das fürstliche in die Schweiz zu rekonstruieren. An wen Honorar? War wirklich alles für ihn befloss wie viel? Und warum? stimmt? Oder funktionierte er auch als Im Fall Leuna vereinbarten die Franzo- Durchlaufstation für das Geld? sen über einen angeblichen BeratungsverNoch drängender stellen sich die Fragen trag mit der Liechtensteiner Briefkasten- im Fall Lethier: Sein Wirken ist mehr als firma Nobleplac die Zahlung von 256 Mil- rätselhaft. Der ehemalige Geheimdienstlionen Francs. Tatsächlich wurde am mann ist so diskret vorgegangen, wenn er 24. Dezember 1992 das Geld in zwei Tran- überhaupt tätig wurde, dass sein Name bis chen aufgeteilt: 220 Millionen Francs gin- heute in keinem Dokument rund um die gen an eine Stand-By Establishment und 36 Verhandlungen des Leuna-Projektes aufMillionen Francs an eine Showfast Limited. taucht. Auch den offiziellen Akteuren von Nach Perraudins Erkenntnissen wurden damals ist der Name nicht geläufig. über 150 Millionen Francs von der StandFür Holzer gilt das nicht. Zwar findet By auf ein Konto in Luxemburg überwie- sich sein Name bisher nur in einem Versen. Als Nutznießer machte er den Ge- handlungsprotokoll vom 15. Juli 1992. Doch schäftsmann Holzer aus. der Saarländer war zwischen 1992 und 1994 Weitere 60 Millionen Francs für den Ölkonzern in Bonn der Stand-By landeten, daimmer dann zur Stelle, wenn von ist Perraudin überzeugt, die Verhandlungen nicht reinach komplizierten Transakbungslos liefen. tionen schließlich auf einem Der Brief an Kohl belegt, Konto der Stiftung „Internadass Holzer Zugang bis in tional Finanzanstalt“ in Vahöchste Regierungskreise beduz. Auch die 36 Millionen saß. Als „Betreff“ notierte er: Francs der Showfast sollen auf „Gespräch am Rande des verschlungenen Pfaden dort CDU-Landesparteitages in angekommen sein. Hinter der Saarlouis-Roden/Meine AkStiftung, so die Ermittlungsertennotiz an Sie übergeben gebnisse, stehe Pierre Lethier, durch Herrn BM Prof. Dr. ein französischer Geschäfts- Ex-Minister Krause Klaus Töpfer“. Immer wieder mann mit Wohnsitz Genf. intervenierte er zu Gunsten Holzer und Lethier kennen sich seit Jah- der Franzosen. Mal meldete er sich briefren. Bis Ende der achtziger Jahre leitete lich, so im Juni 1992 beim damaligen BonLethier das Direktorenbüro des französi- ner Finanzstaatssekretär Manfred Carstens schen Geheimdienstes DSGE. Als die Justiz („Hier gibt es Probleme“), den er seit Jahihn im Frühjahr vernahm, erklärte Lethier ren gut kennt. Ein anderes Mal arrangierlaut „Le Monde“, Holzer sei für ihn „über te er in seinem Anwesen in Golfe-Juan ein viele Jahre einer der Kontakte in Deutsch- Treffen zwischen dem Elf-Verhandlungsland gewesen“. Er habe den Deutschen führer und dem ehemaligen Verkehrsspäter als Vermittler für Elf geworben. minister Günther Krause, wie am 30. Mai Auch Holzer soll eine Vergangenheit als 1992. Damals wurde in dessen Ministerium Geheimdienst-Mann haben. Unter dem an der „Lex Minol“ gearbeitet, einer karDecknamen „Baumholder“, schreibt Wil- tellrechtlichen Ausnahmeregelung für die helm Dietl in seinem Buch „Staatsaffäre“, Minol-Tankstellen im Osten. sei der Geschäftsmann „dem BND verDer Kontakt zu Holzer galt im Kanzlerpflichtet“ gewesen. amt als sensibel. Ein Brief des Vermittlers Ehemalige Geheimdienstler sind in der erhielt im November 1993 gar die AufLeuna-Affäre allgegenwärtig: Lethier er- schrift „Quellenschutz für Herrn Holzer – klärte in der Vernehmung, dass er von nicht zu den Akten“. Der jetzt aufgetauchte Holzer-Brief erAlfred Sirven beauftragt wurde. Der ElfManager, bis 1993 die gefürchtete graue härtet den Verdacht, dass dem parlamentaEminenz des Konzerns, wird heute von In- rischen Untersuchungsausschuss „DDRterpol gesucht, er verfügt ebenfalls über Vermögen“ in der vergangenen Legislaturperiode wichtige Unterlagen vorenthalten eine Geheimdienst-Vergangenheit. Holzer und Lethier behaupteten ge- wurden. Der Ausschuss beschäftigte sich damals genüber dem Ermittler fast gleich lautend, dass sie keine Schmiergelder gezahlt hät- auch mit den Vorgängen um den Leunaten. Vor dem Untersuchungsrichter sagte Deal. Die Parlamentarier forderten schließHolzer, wie zuvor schon der Franzose, von lich die Akten des Bundeskanzleramts an. dem Geld – rund 50 Millionen Mark Pro- In den VS-gestempelten Dokumenten, die vision für den Deutschen und 30 Millionen das Kanzleramt dem Ausschuss übergab, Mark Provision für den Franzosen – sei fehlte das Holzer-Schreiben. keine Mark weitergereicht worden. Zumindest ist dem SPD-Abgeordneten Es habe sich um Provisionen für die Ver- Friedhelm Julius Beucher, damals Obmann mittlertätigkeit gehandelt. „Ohne provo- im Ausschuss, das Dokument nicht aufzieren zu wollen“, so Holzer laut „Le gefallen. Beucher kategorisch: „Einen Brief Monde“, „darf ich Ihnen sagen, es war eine von Holzer an Kohl hätte ich niemals schlechte Entlohnung.“ übersehen.“ Markus Dettmer 140 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite F. BOXLER / TANDEM Forscher Brandenburg mit MP3-Player, Internet-Seite der Musikgruppe „Vengaboys“: „Reich geworden sind wir nicht“ INTERNET Armer Erfinder Ein Forscher aus Erlangen hat das revolutionäre OnlineVerfahren MP3 entwickelt – das große Geschäft machen andere. M anchmal beschleichen den Wissenschaftler leise Zweifel, ob er nicht doch die Chance seines Lebens verpasst hat. Dann fragt sich Karlheinz Brandenburg, 45: „Was wäre gewesen, wenn … ?“ Wenn er seinen Job am FraunhoferInstitut in Erlangen einfach an den Nagel gehängt hätte. Wenn er das Verfahren MP3, mit dem Musikdaten so zu komprimieren sind, dass jeder sie aus dem Internet laden kann, nicht nur erfunden, sondern auch vermarktet hätte. Wenn er also etwas riskiert hätte. Dann wäre Brandenburg heute vermutlich reich und berühmt und würde gefeiert als der deutsche Bill Gates. So aber steht noch immer „Abteilungsleiter“ auf seiner Visitenkarte, so tüftelt er weiter an Algorithmen in seinem schmucklosen Büro im Institutsparterre. Bezahlt wird er nach dem Bundesangestelltentarif. „Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit“, versichert er trotz allem. Nette Kollegen seien ihm wichtiger als dicke Kontoauszüge: „Mich interessiert es nicht besonders, wie viele Nullen vor dem Komma stehen“, beruhigt er sich. Andere machen mit seiner Erfindung jetzt Milliarden-Geschäfte. Leute wie der Amerikaner Michael Robertson zum Beispiel, der mit „MP3.com“ eine Plattform für Online-Musik ins Netz gestellt hat – der Börsenwert seiner Firma beträgt rund zwei Milliarden Dollar, er selbst besitzt davon Anteile im Wert von gut 900 Millionen. Oder das US-Unternehmen Diamond Multimedia Systems, das schon mehr als eine 142 Million Stück seines Abspielgeräts „Rio Player“ verkauft hat. Solche Gründerfirmen schwimmen ganz oben auf der Welle, die MP3 ausgelöst hat. Es ist derzeit das heißeste Kürzel im Internet, das von Surfern sogar öfter gesucht wird als „Sex“. Rund 17 Millionen InternetNutzer laden sich bereits Musik auf ihre Rechner oder Abspielgeräte – fast immer vorbei an der Musikindustrie. Mit Hilfe von MP3 werden Werke etablierter Künstler illegal verbreitet, eine ganze Branche hat der Tüftler Brandenburg erschüttert. Die Basisidee ist schon gut zwei Jahrzehnte alt. 1977 kam dem Erlanger Professor Dieter Seitzer der Einfall, Musik über das Telefonkabel zu übertragen. „Das kann nicht gehen“, bekam er jahrelang vom Patentamt zu hören. Seitzer blieb beharrlich und schaute sich nach jungen Wissenschaftlern um, die ihm helfen könnten. Jemand musste den Leuten vom Patentamt doch zeigen, dass es funktioniert, „und dieser jemand war ich“, sagt Brandenburg nicht ohne Stolz. Vor zehn Jahren veröffentlichte der Wissenschaftler, der Mathematik und Elektrotechnik studiert hat, seine Dissertation, die er bescheiden einen „Beitrag zu den Verfahren und der Qualitätsbeurteilung für hochwertige Musikkodierung“ überschrieb. Ihm war allerdings sehr früh klar: Entweder die Doktorarbeit verstaubt im Regal wie so viele andere – oder sie wird den Standard setzen. Bis es so weit war, vergingen noch Jahre. Brandenburg und sein Team feilten beharrlich an der Technik der Datenkompression. Immer wieder spielten sie sich den Song „Tom’s Diner“ von Suzanne Vega vor; der A-cappella-Gesang verrät am besten den feinen Unterschied zwischen Wiedergabe von rauschender und berauschender Qualität. 1995 verglichen sie ihr Verfahren mit denen anderer Labors: „Wir waren verblüfft“, erinnert sich Brandenburg, „niemand war weiter als wir.“ Von nun an ging es rasant voran. Die Erlanger stellten das Programm als „Shareware“ ins Internet: Jeder, der sich registrieren ließ, konnte die Software d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 von der Fraunhofer-Seite kostenlos herunterladen. In Windeseile sprach sich bis nach Amerika herum, welch wissenswerte Erfindung aus Erlangen kommt. Das Internet, damals gerade an der Schwelle zum Massenmedium, lieferte die ideale Infrastruktur, damit sich die neue Technik ausbreiten konnte. „Da konnten wir so richtig schön die Exponentialkurve beobachten“, schwärmt Brandenburg. Damals wurde er gefragt, ob ihm bewusst sei, dass er gerade die Musikindustrie vernichte. „Wir zerstören sie nicht“, verteidigte Brandenburg seine Erfindung, „wir verändern sie.“ Die Branche müsse nur die Chancen im digitalen Vertrieb erkennen. Nach Faxgerät, Videorecorder und Autofokuskamera kommt mit MP3 nun wieder eine Entwicklung aus Deutschland, die ihren kommerziellen Siegeszug im Ausland beginnt, vor allem in den USA. Das Unternehmertum sei dort eben „in der Seele fest verankert“, sagt Brandenburg. Außerdem seien die Colleges schon lange bis in die Wohnheime am Netz; kein Wunder, dass von dort die ersten Gründer mit MP3 durchgestartet sind. An den Erlangern aber fließen die Geldströme vorbei. Zwar bekommt das Institut von den gewerblichen Nutzern Lizenzgebühren aus den Patenten. Doch das reicht gerade dazu, die Budgets der Audiolabore inzwischen auszugleichen. „Reich geworden sind wir nicht“, räumt Brandenburg ein. Er selbst besitzt nicht mal eine Aktie einer MP3-Firma. Bestätigung erfährt der Wissenschaftler woanders. Zum Beispiel wenn er von der Audio Engineering Society ausgezeichnet wird für eine Pionierleistung wie die von Thomas Edison. Oder wenn sich auf MP3Konferenzen in Los Angeles oder Florenz die Menschen um ihn scharen wie um einen Propheten, was ihm eher peinlich ist. Oder wenn ihn, wie jetzt geschehen, die Technische Universität Ilmenau als C4-Professor verpflichten will. Eigentlich aber genügt es ihm, morgens den Rechner anzustellen und jeden Tag neue MP3-Web-Seiten zu entdecken: „Das ist ein gutes Gefühl.“ Alexander Jung Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Trends Medien seine Leute hat, mit denen man auch mal reden kann. SPIEGEL: Sie wollen einen eigenen Musikverlag? Bohlen: Dafür bräuchte ich kein fremdes Geld. Für eine Entertainment AG mit zusätzlicher TVProduktion, Casting-Agentur und Verwertungsgesellschaft schon. Das Musikproduzent Dieter Bohlen, 45, wäre alles bei einem Börsengang über seinen Traum vom eigenen dabei. Entertainment-Konzern SPIEGEL: Ab wann kann man die Bohlen-Aktie kaufen? SPIEGEL: Ihre Freundinnen lächeln fast täglich aus der „Bild“-Zeitung, Bohlen: Wenn, dann ungefähr in eiIhre Songs stehen in den Hitparaden nem Jahr. Ich habe mich neulich meist ganz oben. Warum ist das Einmit Managern von RTL 2 und Pro mann-Medienunternehmen Bohlen Sieben getroffen. Die haben alle einicht längst an der Börse? nen unheimlichen Glauben in meine Kreativität. So etwas Ähnliches wie Bohlen: Wenn man der erfolgreichste Schreinemakers fehlt zum Beispiel Komponist ist, fragen die Banken öfheute im Fernsehen. Dass also eine ter mal an. Aber bisher hatte ich einglaubhafte Moderatorin die fünf fach keine Zeit, mich darum zu kümgroßen „Bild“-Geschichten der Womern. Wenn man tagsüber einen Hit che gut durchschüttelt und dann nach dem anderen produziert, will Bohlen mit Freundin ab del Farrag schön verkauft. man abends nur noch seine Ruhe. SPIEGEL: Dabei soll es angeblich bleiben. SPIEGEL: Und später gründen Sie noch eine eigene Zeitung und einen neuen „Stern“, wie Sie der „Zeit“ anvertrauten? Bohlen: Komponieren und Texten ist ein verdammt einsamer Bohlen: Das sind natürlich nur Träumereien. Job. Inzwischen sehne ich mich nach einem Laden, in dem man MUSIKINDUSTRIE ZEITUNG Lesefreudige Huren D M. HORACEK / BILDERBERG eutschlands einzige mehrsprachige Prostituiertenzeitung „La Muchacha“ erscheint seit vergangener Woche in Frankfurt. Das Blatt ist so international wie die Zielgruppe: Artikel erscheinen auf Deutsch, Spanisch, Englisch und Thailändisch. Leserinnen sind die etwa 1000 Huren, die in den 26 Frankfurter Bordellen arbeiten. Für eine Mark erhalten die Prostituierten nutz- Prostituierte (in einem Frankfurter Bordell) wertige Informationen über wichtige Termine: Informationstage von SAP, Buchmesse und der Deutsche Marketing-Tag etwa lassen offensichtlich besonders viel Verkehr erwarten. Sorgen über womöglich illegale Geschäfte mit den Einnahmen aus der Prostitution zerstreut das Interview mit dem Bordellbetreiber „G. S.“, der sich gegen den Verdacht wehrt, Prostitutionsgelder würden in Drogen oder Waffen investiert: „Ja also Drogen...“, wird G. S. zitiert, „wenn Kaffee eine Droge ist, dann ist das richtig.“ Neben Alltagsthemen wie Verhütung („Was bedeutet das Kondom für Dich?“) oder Polizeirazzien („Wie die Wilden“) setzt „La Muchacha“ aber auch Seiten lang auf eher schwere Kost: Tagungsberichte (über die „Gesundheit von Migrantinnen“) und abgehobene Debatten („politisch motivierte Ausgrenzung in der Hurenbewegung“) lassen erahnen, dass dem Trägerverein der Zeitschrift vor allem nur Vertreter fachfremder Berufsgruppen angehören: Soziologen, Germanisten und ein promovierter Philosoph. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 REUTERS ULLSTEIN BILDERDIENST „Verdammt einsam“ Nato-Pressesprecher Shea (r.) P R O PA G A N DA Lehren aus dem Krieg E ine Nato-Studie zu Lehren aus dem Kosovo-Krieg fordert Verbesserungen bei der Medienarbeit. Auf „Propaganda“ des Serben-Führers Slobodan Milo∆eviƒ hätte die Allianz „besser reagieren können“, so die Selbstkritik, wenn Medienbetreuer der Brüsseler Zentrale wie Nato-Sprecher Jamie Shea „mehr Informationen der Nachrichtendienste“ besessen hätten. Pannen, wie der verwirrende Auftritt eines nur mit holprigem Englisch gewappneten italienischen Generals nach der versehentlichen Bombardierung eines Fahrzeugkonvois, müssten künftig vermieden werden. Das Nato-Hauptquartier im belgischen Mons möge zudem „erwägen“, so ein interner Vorschlag, für Krisenfälle fortan einen ranghohen und „speziell ausgebildeten Sprecher bereitzuhalten“. 145 Medien Laue Eminenzen vorn fui-TV, der Kanzler tobt, Naddel am Pranger von „Bild“ – die Aufregung um die RTL-2-Show „Peep!“ und deren puppenlüsterne Angriffe auf den Unterleib von Gerhard Schröder ist schnell verraucht. Die Principeepa Nadja ab del Farrag ackert wieder harmlos und rührend unbeholfen im Schrebergarten des Schmuddelfernsehens zwischen strammen norddeutschen Amateurstripperinnen und neckisch knapp behosten Dienern. Den Gummizahn der Satire haben ihr die Aufpasser erfolgreich gezogen, das Abendland ist gerettet. Der Lärm um Naddel übertönte für einen Moment die neuen, leiseren Töne des Fernsehens. Die Zeiten, da sich das Medium selbstsicher und siegesbewusst selbst überbot, sind vorbei. Das Genre Talk ist ausgereizt, Neulinge wie Ricky auf Sat 1 reißen quotenmäßig nichts mehr gegenüber den lauen Eminenzen des Gewerbes, Bärbel und Meiser. Die Comedysierung des Programms rund um die Uhr stößt mit der „MorningShow“ an Grenzen. Optische Orgien mit Spielfilmanspruch, wie sie Pro Sieben liebt, ändern nichts daran, dass geschicktes Traditionsrecycling à la „Stahlnetz“ an der Quotenkasse siegen. Das Soap-Boot – gutes Zeichen? Schlechtes Zeichen? – ist voll: Für „Mallorca“ und „CityExpress“ bleibt kein Platz. Ein noch so aufgepopptes Magazin wie Springers „Newsmaker“ kommt gegen die bewährte Ulrich-Meyer-Sendung „Akte 99“ nicht an. Fußball bleibt, trotz inflationärer Ausweitung, oben in den Charts. Neue Shows wie „Die Stunde der Wahrheit“ mit Ex-„Herzblatt“ Christian Clerici überzeugen durch Schlichtheit – der martialische Gladiatoren-Aufwand einer „100 000Mark-Show“ ist Weh von gestern. Und Satire kann so schnell keine neuen Pferde, Verzeihung, naddeln: Da reitet seit eh und je dirty Harald Schmidt. 146 SAT 1 P TV-Richterin Salesch GERICHTSFERNSEHEN Echt und billig D as gab’s noch nie“, müsste eigentlich im Vorspann zur neuen Sat-1Serie „Richterin Barbara Salesch“ stehen. Aber auch so lassen die Einblendungen keine Zweifel über das aufkommen, was die Fernseh-Öffentlichkeit von dieser Woche an von Montag bis Freitag zur besten Werbezeit um 18 Uhr erwartet: „Die Personen sind keine Schauspieler“, „Die Fälle sind echt“ und „Ihr Urteil ist rechtskräftig“. Dank eines Kniffs gelingt Sat 1 erstmals, was eigentlich verboten ist: Dass das Fernsehen die Verhandlungen eines deutschen Gerichts überträgt. Sat 1 präsentiert zwar nicht die erste Gerichtsshow, aber die erste mit Echtheitszertifikat. Seit das ZDF für seinen Daily Court „Streit um Drei“ reale Fälle fernsehgerecht umschreiben und von Darstellern nachspielen lässt und damit zweistellige Quoten einfährt, gilt JustizTV als Fortsetzung des Nachmittagstalks QUOTEN Müde Scherzkekse C omedy am Morgen bringt Spaß, aber kaum Quote: Die tägliche Ladung Humor auf Pro Sieben, die „MorningShow“ mit Wiegald Boning, pendelt sich bei mageren sieben Prozent Marktanteil ein. Nur durchschnittlich 130 000 Menschen sind in der Frühe vor dem Bildschirm zum Scherzen aufgelegt. Kritiker bemängeln, dass sich die Show zwar bemühe, trendy zu sein, sich aber leider (so die „SZ“) „im Niemandsland zwischen Nonchalance und Nonsens“ verhaspele. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 mit besseren Mitteln. Erfolglos blieb allerdings „Klarer Fall?! – Entscheidung bei Radka“, mit ähnlichen Erwartungen im August gestartet: Nach nur 15 Folgen fällte Vox eine klare Entscheidung und erklärte den Versuch, eine Talkshow mit einer Laien-Jury zu überhöhen, für beendet. Statt „Court TV“ à la O. J. Simpson ist aber auch bei Sat 1 nur ein „TV Court“ zu sehen: Denn Salesch, 49, eigentlich Vorsitzende Richterin am Landgericht Hamburg, hat sich für zwei Jahre beurlauben lassen und für Sat 1 ein Schiedsgericht gegründet. Ein privates Schiedsgericht darf anstelle der staatlichen Gerichte Recht sprechen, wenn sich die Streitparteien darauf einigen, ihren Streit dort auszutragen. Das Schöne daran: Für ein Schiedsgericht gilt das gesetzliche Fernseh-Verbot nicht. Bewerber für das Fernsehgericht gibt es offenbar genug, ob es um Streit unter Nachbarn, Zank unter Freunden oder Rechthaberei in der Familie geht. Denn bei Richterin Salesch ist das Recht billig: Kläger und Beklagte erhalten eine rechtskräftige Entscheidung, die Kosten der Verhandlung trägt Sat 1 und kommt dabei noch günstig weg. Ein bisschen Etikettenschwindel ist dafür erlaubt, denn eigentlich fällt Richterin Salesch kein „Urteil“, sondern nur einen „Schiedsspruch“ – aber wer wird schon so pingelig sein. Bereits im ersten Fall von Richterin Salesch kommt das Fernsehgericht auf den Hund: Eine Mutter verklagt ihren Sohn, weil sie ihm angeblich für 700 Mark einen Golden Retriever verkauft hat, der Sohn aber behauptet, sie habe ihm den Hund geschenkt. Dass das unterlegene Familienmitglied am Ende lauthals gegen den Spruch protestiert, fällt dabei leider dem Schnitt zum Opfer. Richterin Salesch jedenfalls verspricht: „Ich mache keine inhaltlich anderen Sachen, nur weil es Fernsehen ist.“ Marktanteil der „MorningShow“ auf Pro Sieben montags bis freitags, jeweils 6.30 Uhr, in Prozent 12 11 10 9 8 7 6 5 4 6. Sept. 13. Sept. 20. Sept. Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Amerika Montag, 20.15 Uhr, ZDF Ein schwungvolles Roadmovie, das den Zuschauer nicht nach Übersee entführt, sondern in ein 80-Seelen-Nest zwischen Chemnitz und Leipzig. Dieses sächsische „Amerika“ soll für einen Gewerbepark platt gemacht werden. Viele haben schon an den fetten Grundstücksspekulanten verkauft, nur der „Alte Krug“, mehr Bruchbude als Kneipe, ist noch nicht in den Fängen des Nabobs. Da schlägt das Märchen zu: Den vergammelten Laden, in dem verstockte Einheimische mit der nämlichen Pomadigkeit herumhängen wie die allgegenwärtigen Stubenfliegen, hat die junge Gastwirtstochter Lillian (Sophie von Kessel) geerbt, und die Schöne mit dem Schmollmund und der zornumwölkten Stirn bringt das Lotterlokal samt Crew (Hagen MuellerStahl, Gudrun Okras, Weijian Liu) auf Vorderfrau. Das Regiedebüt des österreichischen Werbefilmers Ronald Eichhorn versucht keine Sekunde, realistisch zu sein, sondern schwelgt in der Bildsprache der Reklame-Western, in denen flotte Jungs und scharfe Mädchen für Whiskey und Jeans durch die Hölle der Saloons gehen. Vater-Aspirant rechnet nicht mit den Hindernissen, die eine gute Komödie (Buch: Ulrich Limmer, Regie: Uwe Janson) ihren Helden in den Weg stellt: eine Schwiegermutter (Monica Bleibtreu) und die wirkliche Liebe (Ina Weisse). Tatort: Das Glockenbachgeheimnis Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Unter dem Pflaster liegt nicht der Strand der großen weiten Ferne, sondern Bäche fließen dort, die in die Heimat führen, zu deren Verheißungen und schrecklichen Geheimnissen. Dem Bayerischen Rundfunk ist mit diesem Stück (Drehbuch: Friedrich Ani, Regie: Martin Enlen) ein vorbildlicher „Tatort“ gelungen, der alle Anforderun- gen an den ARD-Klassiker erfüllt: die Verbindung von Milieugenauigkeit, Thrill, Humor und melancholischer Poesie. Die Hauptkommissare Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) suchen im Münchner Glockenbach-Viertel, einem proletarischen Quartier, das von zubetonierten Bächen unterminiert ist, den Mörder eines Hausbesitzers. Überall stoßen sie auf Schweigen, zunächst auch bei den Betreiberinnen eines Cafés (Iris Berben, Barbara-Magdalena Ahren) und deren schrulligem Freund (beeindruckend: Michael Tregor). Dass das Trio im wahrsten Sinne des Wortes seit der Jugendzeit eine gemeinsame Leiche im Keller hat, zeigt sich später. Single sucht Nachwuchs Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Umkehrung des feministischen Traums von der vaterlosen Mutterschaft: Der Single, Herzensbrecher und Unternehmensberater Breuer (Heino Ferch) möchte was Kleines ohne Eheweib. Der Traum bleibt Schaum, denn der kesse „Tatort“-Darsteller Berben, Nemec Ausschalten Schlafes Bruder Donnerstag, 23.05 Uhr, Südwest III „Koemm, o Kitsch“ – solche und ähnlich ironisch gemeinte Niederstoßgebete standen über den Rezensionen zu dieser Literaturverfilmung von Joseph Vilsmaier. Der hatte 1995 Robert Schneiders elegant-verschnörkelten Roman über einen musikalischen Wunderknaben (André Eisermann), der im frühen 19. Jahrhundert in einem abgelegenen Bergdorf zu genialischer Größe aufläuft, mit einer Orgie kinematografischen Aufwands förmlich erschlagen. Der Film wirkt wie das Neuschwanstein des Heimatfilms. Racheengel – Stimme aus dem Dunkeln Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Der Kalte Krieg ist längst vorbei, aber seine Wiedergänger wandeln noch immer durch das Fernsehprogramm. In Thorsten Näters Psycho-Thriller, einer Eigenproduktion von Pro Sieben, geht es um hypnotisch programmierte Mörder, die ohne Bewusstsein für ihre schrecklichen Befehle ihre grausamen Aufträge erledigen – der HollywoodAgentenschocker „Telefon“ (1977) mit Charles Bronson, in dem unerkannte Maulwürfe nach einem Codewort vom KGB zu Killern erwachen, funktionierd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 te nach der gleichen Idee. Die Bibelsprüche, die über den Leichen mit Blut an der Wand stehen, hat der „Racheengel“ auch dem Kino entlehnt. Die Wirklichkeit musste sich bei so viel Filmimport fügen: Das Treiben in der Psychiatrie, wo die Verwirrten mit den Augen rollen und sich gespenstische Verliese auftun, wirkt komplett irreal und überzogen, der Psychiater (Götz George) wie aus dem Horrorkabinett. Wenigstens Tim Bergmann als sensibler BKA-Mann und seine Freundin (Chiara Schoras) können etwas Glaubwürdigkeit in dieser Geisterbahn des Grusels bewahren. 147 Schönheitswettbewerb im brasilianischen Fernsehen, Strandleben in Rio de Janeiro: Unter dem Druck der Einschaltquoten sind in dem streng FERNSEHEN Der Kult um den Bumbum Morgens, mittags, abends: In Brasilien boomt das Sex-TV. Kinder treten zum Flaschentanz an, Dominas züchtigen Quizgäste, die Fernsehserien kommen nicht ohne Beischlafszenen aus. Die Erfahrungen der Networks sind eindeutig: Sinkt die Schamgrenze, steigt die Quote. W ie heißt die Hauptstadt von Australien? „Sydney“, antwortet der Kandidat und grinst. „Falsch“, triumphiert die maskierte Domina und berührt ihr Opfer mit der Peitsche. Behaglich drückt sich der nur mit einer Unterhose bekleidete Mann tief in den blauen Plastiksessel. Der Gedanke an die bevorstehende Strafe bereitet ihm ganz offensichtlich Freude. „Enthaar ihn, enthaar ihn!“, grölt das Publikum. Die Domina klebt ein handgroßes Heftpflaster auf den Oberschenkel ihres Opfers und reißt es mit einem Ruck wieder ab. Der junge Mann stöhnt vor Wonne und Schmerz. Jetzt kennt die Begeisterung im Studio kein Halten mehr. Männer schleudern ihre T-Shirts auf die Bühne, Teenager kreischen 148 und grapschen nach den Strapsen der „Tiazinha“. Das stets leicht bekleidete „Tantchen“ ist der derzeit erfolgreichste Fernsehstar in Brasilien. Ein TV-Moderator hatte Susana Alves, so ihr richtiger Name, auf dem Flur des Fernsehsenders Bandeirantes in São Paulo entdeckt und als Assistentin angeheuert. In einem Quiz für Jugendliche „bestrafte“ sie die Verlierer. Rasch wurde die Leder-Barbarella zur Hauptattraktion. Nun bekommt sie im Oktober sogar eine eigene Fernsehserie. In den USA oder Europa würden derartige Sado-Maso-Spielchen vermutlich ins Nachtprogramm verbannt. In Brasilien geht das Sex-TV dagegen am Nachmittag auf Sendung. Ein regelrechter Kult um die d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 diversen Erotikshows ist in dem ansonsten streng katholischen Land entstanden. Unter dem Druck der Einschaltquoten sind in Brasilien fast alle Tabus gefallen. Die großen Fernsehsender setzen allesamt auf nackte Haut und erotische Spielchen, die Schamgrenze sinkt, die Quoten steigen. Die beliebtesten Sex-Stars bringen es auf bis zu 30 Prozent Marktanteil, durchschnittlich schauen rund zehn Millionen Brasilianer hin, wenn die Leder-Domina zulangt. Auch die Sex-Einlagen bei den großen Liveshows der Konkurrenzsender Globo und SBT locken regelmäßig Millionen Brasilianer vor die Mattscheibe. Alle großen Networks in Brasilien melden Rekorde bei den Zuschauerzahlen und verbuchen einen neuen Spitzenwert von insgesamt vier Milliarden Dollar bei den FOTOS: A. ASSUDA (li.); ZEFA (re.) Medien J. ANTUNES katholischen Land fast alle Tabus gefallen Fernseh-Domina „Tiazinha“ „Enthaar ihn, enthaar ihn!“ Werbeerlösen. Brasilianische FernsehseZehntausende Teenager bewarben sich rien sind in ganz Lateinamerika wegen für die Fernseh-Nachfolge des Sexsymbols ihrer Freizügigkeit beliebt. In den Seifen- Carla Perez. Bei dem Wettbewerb, der live opern vergeht kaum eine Folge ohne übertragen wurde, zählte vor allem die Beischlafszene. Auch die Familienshows Kunst des erotischen Hüftschwungs, „ream Wochenende kommen nicht ohne bolado“ genannt. Sex aus. Niemand lässt das Becken so gekonnt Der Entertainer Faustão würzt sein kreisen wie Carla Perez. Auch seriöse ZeiSonntagnachmittags-Programm mit einem tungen vermerken hinter ihrem Namen re„Erotik-Sushi“, bei dem nackte spektvoll den Umfang ihres Frauen als lebendes Tablett die„Bumbums“, wie das Hinterteil nen. Keine Geschmacklosigkeit Das Motto der liebevoll genannt wird (103 cm). ist den TV-Machern geschmack- neuen TV-Stars Das Fernsehen machte die Tochlautet: los genug: Moderator „Ratinho“ ter eines Straßenhändlers inpräsentierte sogar eine Frau, die Schnell Kasse nerhalb von Monaten zur Milmit der Vagina Zigaretten raucht. machen, bevor lionärin. Ungehemmt geht es auch in Als die kunstblonde Tänzerin der Boom den Werbepausen zu: Selbst für ihren Bumbum auf dem Festival Zahnbürsten wird mit kopulie- wieder abflaut von Montreux rotieren ließ, gerenden Paaren Reklame gerieten selbst die bedächtigen macht. Ein US-Fernsehsender bat jüngst Schweizer in Wallung. Nur Brasiliens koneine der renommiertesten Werbeagentu- servative Elite erregte sich über die Köniren in São Paulo um Dokumentationsma- gin des Rebolado: Ihre Auftritte schädigten terial für erotische Werbung, „weil es bei das Brasilien-Bild im Ausland, klagte die uns so was nicht gibt“. Kulturministerin von Rio de Janeiro. Für Fernsehauftritte werden schon VierSeit den fünfziger Jahren regen „chacrejährige von ihren Eltern mit Lippenstift tes“, knapp bekleidete Tänzerinnen mit und Mini-Röcken herausgeputzt. Entertai- Künstlernamen wie Virginia Lane, Gretchen ner Gugu Liberato ließ sechsjährige und Rita Cadillac, die Phantasie der brasiMädchen zum „Flaschentanz“ antreten. lianischen Männer an. Nur die Macht der Die Kleinen mussten den Unterleib in ein- Fernsehsender ist heute größer als damals. deutigen Bewegungen über einer BierflaDie Karriere der TV-Damen beginnt sche kreisen lassen. meist in der Provinz. Hat das Fernsehen sie d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 149 O. CABRAL / ABRIL IMAGENS Medien TV-Star Perez: Überzählige Fingerbreiten sind in die einzig richtige Position gewachsen erst einmal entdeckt, gilt es, schnell Kasse ersten Ausgabe zierte ein Riesenhintern zu machen, ehe der Boom wieder abflaut. mit Tiazinha-Maske. Carla Perez und Tiazinha vermarkten Der Kult um den Po wurzelt in der Kosich, wo es nur geht. Ihr Name ziert lonialgeschichte. Der Soziologe Gilberto Dessous ebenso wie Kaugummis, Schuhe Freyre, Autor des Klassikers „Herrenhaus und Tütensuppen. In den vergangenen und Sklavenhütte“, macht die Portugiesen Jahren ist so eine ganze Klasse neureicher für die Sexualisierung der brasilianischen TV-Stars entstanden. Kultur verantwortlich. Ihr „überreiztes seTiazinha verdient heute alxuelles Verlangen“, so Freyre, lein mit ihren Fernsehauftritten mischte sich mit dem Körperkult 100 000 Mark im Monat. Ihre Ein besonders der Afrikaner. Die meisten Kogelungenes Sado-Maso-Masche ist so erfolglonialherren heirateten zwar Exemplar reich, dass Stundenhotels in Rio eine Weiße, aber als Geliebte eigene „Tiazinha-Suites“ mit hielten sie sich schwarze Sklawird in Käfig, Ketten und Peitschen einvinnen. lyrischen gerichtet haben. wurde der Kult um Lobgesängen denBanalisiert Die Karriere der TV-SchönPo erst durch die Massengefeiert medien. Rund um den Bumbum heiten gipfelt gewöhnlich in eihat sich eine florierende Inner mehrseitigen Farbstrecke im brasilianischen „Playboy“. Als Tiazinha dustrie entwickelt. Für Mädchen, die von sich für die Zeitschrift auszog, schnellte einer Karriere als Tänzerin und Fernsehstar die Auflage auf 1,5 Millionen hoch; inner- träumen, sei ein schöner Hintern „Mittel halb weniger Tage war die Ausgabe ver- zum sozialen Aufstieg“, so der Gesellschaftskritiker Arnaldo Jabor. griffen. Auch die knappen brasilianischen BikiEines verbindet alle brasilianischen Sexsymbole: der Kult um den Bumbum. Auch nis, „Zahnseide“ genannt, sind so geseriöse Zeitschriften versteigen sich zu schnitten, dass sie vor allem den Unterleib lyrischen Lobgesängen, wenn sie Form und betonen. Fotomodelle und SchauspielerinGröße eines besonders gelungenen Exem- nen lassen sich bevorzugt von schräg hinten aufnehmen. Von dem Sex-Symbol Rita plars begutachten. „Ein üppiger, gewagter Hintern, dessen Cadillac ist überliefert, sie wolle nach überzählige Fingerbreiten in die einzig ihrem Tode auf dem Bauch liegend aufgerichtige Position gewachsen sind: nach bahrt werden, „sonst erkennen mich die hinten und nach oben“, schwelgte das an- Leute ja nicht“. Selbst TV-Domina Tiazinha wäre ohne gesehene brasilianische Nachrichtenmagazin „Veja“ über den Hintern von TV- ihr wohlgeformtes Hinterteil wahrscheinlich nie berühmt geworden. So wichtig ist Star Perez. In keinem anderen Land wird der Po so ihr das gute Stück, dass sie es jüngst für verehrt. Der in Südamerika bekannte zwei Millionen Mark versichern ließ. Eine Dichter Carlos Drummond de Andrade be- Prämie braucht sie nicht zu zahlen. Die sang ihn in seinen Gedichten. „Bundas“, Versicherungsgesellschaft darf dafür mit auf Deutsch etwa „Ärsche“, heißt eine an- ihrem Bumbum Werbung machen. gesehene Satirezeitschrift. Das Cover der Jens Glüsing 150 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Viva-Star Mola, Ko-Moderatorin Judith: Kreativflieger in Großraumaquarien MUSIK-TV Clip, Clip, Hurra Viva-Chef Gorny auf dem Vormarsch: Ermuntert durch seinen Quotenerfolg, plant er den Börsengang. Ärger macht ihm nur die Gewerkschaft. W H. GALUSCHKA / ACTION PRESS ie groß sein „Laden“ geworden Programm und war ohne Dekoder nur ist, merkt Dieter Gorny, 46, für noch im Kabel zu sehen. Statt sich ein teugewöhnlich im Fahrstuhl. „Da res Zusatzgerät anzuschaffen, verzichteten steht immer öfter jemand vor mir, den viele Kids lieber auf MTV und zappten zu ich fragen muss: Sag mal, wer bist du ei- Gornys Viva. Doch seit Anfang des Jahres ist auch gentlich?“ Gorny ist für jeden im Sender „der MTV unverschlüsselt über Satellit zu empDieter“. Klare Sache, auch wenn seine ein- fangen, die Zuschauerzahlen wachsen, und stige Musikkanal-Klitsche dank Stars wie beide Sender beanspruchen nun lautstark Moderator Mola wächst und wächst. für sich die Marktführerschaft – gestützt Angefangen hat es vor sechs Jahren mit auf unterschiedliche Umfrageergebnisse, „20 Irren, die Fernsehen machen wollten“. auch wenn die offiziellen Zahlen nach wie Heute hat er etliche Irre mehr: Rund vor Viva vorne sehen. „Die Zeiten von 30 Prozent Wachstum 400 Leute arbeiten nun für den Kölner Sender. Da verliert Gorny – zu seiner pro Jahr sind auch bei uns erst einmal vorgroßen Freude – schon mal den Überblick. bei“, kommentiert Gorny die veränderte Lage und drängt jetzt darauf, Innerhalb kürzester Zeit seinem Sender mit viel Geld hatte der studierte Kontra„aggressiv und unternehmebassist seinen Kanal zum risch“ neue Märkte zu erMarktführer unter Deutschschließen. lands Musiksendern gemacht Der Sender, an dem die – unfreiwillig unterstützt Plattenkonzerne Sony, Wardurch die Konkurrenz von ner, Polygram und EMI zuMTV. sammen 95 Prozent der AnDer deutsche Ableger des teile halten, will in den nächamerikanischen Clip-Kanals sten zwei Jahren über 100 beschleunigte den Aufstieg Millionen Mark investieren des umtriebigen Gorny durch und die „führende europäieinen schweren strategischen sche Jugendmarke“ (Gorny) Fehler: Zwei Jahre nach Vivas werden. Spätestens im NoStart verschlüsselte MTV sein Viva-Gründer Gorny 154 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Medien vember soll eine entsprechende Entscheidung fallen. Viva wird zunächst in die Schweiz, nach Polen und Ungarn expandieren. Mittelfristig sollen auch Italien, Spanien, Frankreich und England Rendite steigernd mit dem Kanal beglückt werden. Auch die Internet-Aktivitäten sollen mit zweistelligen Millionen-Beträgen ausgebaut werden. Unklar ist bisher, woher das Geld kommen wird. Gorny selbst – so heißt es – drängt auf einen Börsengang, der ihm als Vorstandsvorsitzenden mehr Gestaltungsspielraum verschaffen würde und einen angenehmen Nebeneffekt hätte: Entsprechende Beteiligungsmodelle würden seinen und den Wohlstand der Mitarbeiter vermutlich mehren. Doch Gornys Gesellschafter haben zunächst andere Sorgen. Partner Sony kündigte vor wenigen Wochen intern an, aus der illustren Runde aussteigen zu wollen. Der japanische Konzern will seine internationalen Fernsehaktivitäten strategisch neu ausrichten und hat seine Viva-Anteile den Mitgesellschaftern zum Kauf angeboten. Die müssen jetzt zunächst darüber entscheiden, ob sie das Geschäft mit einem neuen Partner teilen, und dann, ob sie tatsächlich ihr geplantes Investitionsprogramm mit einem Börsengang finanzieren wollen. Gorny tut schon jetzt alles, um potenziellen Investoren zu imponieren. Glücklose Sendungen wie „deep“, „virus“ oder „move“ wurden aus dem Programm des Schwesterkanals Viva 2 gekippt, die Werbeindustrie soll noch enger umgarnt werden. Ständig wird Nachwuchs rekrutiert für die schon jetzt berstende Zentrale im Kölner Mediapark, wo die hippen Kreativflieger in Großraumaquarien sitzen, zwischen Türmen von Videokassetten, CDs und Tonnen von Zeitgeist-Accessoires. In jeder anderen Firma würde der Betriebsrat kreischen, bei so viel Chaos auf so engem Raum. Nicht hier. Cool bleiben! Bei Viva wird Enge nicht mit „Unfall- und Gesundheitsgefahren“ übersetzt, wie in Paragraf 89 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes. Bei Viva heißt das Chaos „Spirit“. Und Spirit verträgt sich schwer mit Gerichtsverfahren. Den größten Ärger hat Gorny mit dem ehemaligen Viva-Mitarbeiter Volker Michels. Das aktive Mitglied der Gewerkschaft IG Medien hatte im März 1996 den Betriebsrat mitgegründet. Im vergangenen Jahr wurde sein Vertrag als Cutter nicht verlängert. „Weil ich mich für die Einführung des Manteltarifvertrags zu weit aus dem Fenster gehängt habe“, mutmaßt der 33-Jährige. Er zog vors Arbeitsgericht und bekam im April Recht: Viva muss Michels wieder einstellen, der sich sicher ist, dass Gorny die nächste Instanz bereits anvisiert hat: 156 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 U. BAATZ / LAIF Gorny-Gegner Michels „Die haben alle Schiss vor Dieter“ „Doch da werden die auch wieder eins auf den Sack kriegen.“ Die Gewerkschaft habe ihn gut beraten. Wenn er in den Schoß der Viva-Family zurückkehrt, „wird es zwar mit Sicherheit Mobbing ohne Ende geben“. Doch Michels will es darauf ankommen lassen. Es gebe viel zu tun, denn der jetzige Betriebsrat zeichne sich lediglich durch kumpelhafte Ahnungslosigkeit aus: „Die haben alle Schiss vor Dieter.“ Der renitente Cutter will da weitermachen, wo er vor dem Rausschmiss aufgehört hat: „Der Manteltarifvertrag muss eingeführt werden. Seit ich weg bin, liegt dieses Projekt auf Eis.“ Nur mit Hilfe des Manteltarifs könnten in dem Trendkanal die Grundpfeiler des Arbeitsrechts eingezogen werden: vernünftige Arbeitszeiten und angemessener Lohn. Jungredakteure verdienten, so Michels, zu wenig und „arbeiten sich dafür den Arsch ab“. Den Leuten reiche es, sagen zu können: „Hey, ich arbeite bei Viva.“ Viel Rückhalt hat der Ex-Cutter im Sender nicht. Den Betriebsratsvorsitzenden Axel Braukmann weiß der Viva-Boss fest an seiner Seite. Braukmann hat zum Betriebsverfassungsgesetz das gleiche Verhältnis wie ein überzeugter Atheist zur Bibel: „Klar guckt man da ab und zu mal rein. Aber es gibt wirklich spannendere Bücher. Paragrafenreiterei ist eben nicht mein Ding.“ Gorny lächelt väterlich. Ähnlich wie sein Kanzler Gerhard Schröder ist er längst in der neuen Mitte angekommen. „Wir versuchen das hier alles intern mit Gesprächen zu regeln“, sagt der Chef und streicht sich über die neue Kurzhaarfrisur. Prozesse seien wirklich die letzte aller Lösungen: „Arbeitsgerichte sind uncool.“ So uncool, dass Gorny das wachsende Branchenproblem der Scheinselbständigkeit von vornherein vermeidet. Interne Probleme regelt er mit Braukmann gern „beim gemeinsamen Bier“, wo die beiden sich einig sind: „Wenn man das Betriebsverfassungsgesetz ausleben würde, gäb’s Viva gar nicht mehr.“ Konstantin von Hammerstein, Oliver Link, Thomas Tuma d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 157 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien WERBUNG Dolmetscher der Träume E igentlich ist es ganz einfach. Der Ossi ist durchschnittlich einen Zentimeter kleiner, dicker und stirbt zwei Jahre früher als der herkömmliche Wessi. Er spricht langsamer, rückt dafür aber gern seinem Nächsten auf den Pelz: Im Schnitt halten die Angehörigen der östlichen Spezies in der Warteschlange 30 Zentimeter weniger Abstand als Wessis. Ossis gehen eine Stunde eher ins Bett, stehen eine Stunde früher auf, aber was das Wichtigste ist: Sie haben mehr Spaß am Sex. Die Botschaft solcher Erhebungen ist eindeutig: Der Glaube, zehn Jahre nach dem Mauerfall gebe es nur noch gesamtdeutschen Durchschnitt, trügt. Als Erste hatten das die Soziologen begriffen, jetzt sind auch die Manager deutscher Konzer- Weil die Westmanager also immer noch verzweifelt auf der Suche nach einer Gebrauchsanleitung für den Osten sind, haben Fritzsch, 29, und sein Partner Alexander Mackat, 29, derzeit Konjunktur. Ihre Werbeagentur „Fritzsch & Mackat“ hat sich auf Kampagnen in den neuen Bundesländern spezialisiert. Die beiden Jungunternehmer brüten in einer alten Fabriketage am Prenzlauer Berg über Bildern und Slogans, die das ostdeutsche Lebensgefühl in westdeutsche Werbung verpacken. Das Dilemma der westdeutschen Marketing-Experten beschreibt die in der Zeitschrift „media & marketing“ veröffentlichte Verbraucheranalyse. Danach liegen Westmarken auf dem ostdeutschen Markt nach wie vor weit hinter ihren Möglich- Fritzsch & Mackat-Werbung: Ostdeutsches Lebensgefühl in Westreklame verpackt ne und ihre Werbetexter überzeugt: „Der Osten tickt anders.“ Vor allem beim Konsum, auf den die kapitalistischen Strategen angesichts des ausgehungerten Ostmarkts gesetzt hatten, verweigern sich die neuen Deutschländer den westlichen Verlockungen. „Die großen Werbeagenturen hatten geglaubt, mit ihrem Hamburger Charme, mit ihrem Hamburger Lebenskonzept holen sie den Ossi hinterm Ofen vor“, sagt Conrad Fritzsch, „aber so läuft das eben nicht.“ 160 keiten zurück. Ostprodukte dagegen erhalten einen großen Vertrauensbonus. Das Institut für Marktforschung Leipzig ermittelte gar: „Westprodukte gelten als verfälscht und künstlich. Sie symbolisieren einen aufgebauschten, hohlen Lebensstil, dem jede Tiefe, Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit abgeht.“ Dementsprechend wird gekauft. Nach der ersten blinden Kaufrausch-Euphorie im Jahr 1990 trauen die Ostdeutschen inzwischen längst wieder der Reinid e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 W. BAUER Eine Ost-Berliner Werbeagentur hat sich darauf spezialisiert, westdeutschen Unternehmern zu erklären, „wie der Osten tickt“. Werber Fritzsch, Mackat Den Heimvorteil genutzt gungskraft ihres alten „Spee“-Waschmittels, statt zu „Persil“ zu greifen, feiern mit „Rotkäppchen“- statt mit „Mumm“-Sekt, spülen mit „fit“ statt „Pril“ und rauchen „f6“ und nicht „Marlboro“. Für die Verkaufschefs westdeutscher Produkte bedeutet dies eine Verschwendung ihrer Werbeetats: Dabei ist das Käuferpotenzial des ostdeutschen Markts so groß wie das der Länder Schweiz und Österreich zusammen. Fritzsch und Mackat helfen den westdeutschen Marketing-Experten, eine Sprache zu finden, die im Osten ankommt. Die Ostdeutschen nutzen dabei den Heimvorteil: Sie wissen, wie Club-Cola schmeckt, wie ein Trabi stinkt, sie wissen, wie es war, sich nicht zu engagieren, sondern sich zu arrangieren. Sie bewegen sich unter den Wendeverlierern in den Plattenbauten genauso selbstsicher wie unter den Managern in den Chefetagen der Konzerne. Sie haben von der untergegangenen DDR so viel erlebt, dass sie sich daran bewusst erinnern, und waren zugleich beim Fall der Mauer so jung, dass sie den Sprung schaffen konnten. Er sei, sagt Fritzsch, „ein Glücks-Ossi“. Zunächst hatte er die Freiheit erst einmal verschlafen. Am 9. November 1989 abends war er früh ins Bett gegangen, am nächsten Morgen ging der Ost-Berliner Volontär beim Staatsfernsehen der DDR wie gewöhnlich in seine Redaktion. Aber da war keiner. Fritzsch, der glaubte, er habe wohl „irgendeine Party verpasst, von der sich alle anderen noch erholen müssen“, wurde vom Hausmeister zum Grenzübergang Checkpoint Charlie geschickt, über den sich schon seit der Nacht hunderttausende drängelten. Mackat stand am 9. November 1989 hinter der Kamera, als Bass Gunther Emmerlich in der Dresdner Semperoper die Vorstellung unterbrach und die historische Nachricht vom Fall der Mauer verlas. Die ersten drei Reihen, erinnert sich Mackat, blieben wie versteinert sitzen, der Rest des Saals verwandelte sich schlagartig in ein Tollhaus. „Vorn saßen die Funktionäre und Bonzen – die hatten keinen Grund zur Freude. Die anderen stürzten raus.“ Inzwischen sind die beiden Werber wie gute Diplomaten zweisprachige Grenzgänger geworden, die zwischen den deut- lysieren deshalb zuerst die Ideale und Werte der potenziellen Kunden. Das Ergebnis lassen sie dann in ihre Kampagnen einfließen: Nach wie vor schätzen die Ostdeutschen altruistische Verhaltensweisen, ignorieren westliche Statussymbole und goutieren es, wenn in den Spots lebensnahe, realistische Ziele dargestellt werden. „Wenn ich die Hausfrauen in der westdeutschen Werbung mit ihren lackierten Fingernägeln sehe, kriege ich so einen Hals“, empört sich Fritzsch, „dieses Rollenbild funktioniert bei den Ossis überhaupt nicht.“ Also verzichten er und Mackat in ihren Kampagnen vollständig auf alle westtypischen Lifestyle-Überhöhungen („Für das Beste im Mann“). Stattdessen gibt es rationale Kaufargumente. Schließlich belegen Untersuchungen, dass der Ossi Qualität genau prüft, Preise vergleicht und eine größere Bereitschaft zum Markenwechsel mitbringt als der Wessi. Immerhin ließen sich namhafte Westfirmen wie Henkel (Persil), Reemtsma (Cabinet), Spreequell Mineralbrunnen oder auch 1994 die brandenburgische SPD im Landtagswahlkampf so auf Ostkurs bringen. Allein in diesem Jahr gewann die Agentur mit inzwischen 18 Mitarbeitern schon drei Wettbewerbe, der Umsatz erreichte den „siebenstelligen Bereich“ (Mackat). Wenn die beiden in dem Bemühen, „etwas Neues zu schaffen, bei dem die ostdeutsche Befindlichkeit auch vorkommt“, durch die westdeutschen Unternehmen tingeln, machen sie überall ihren „Ossi-Test“. Dann holen sie ihre Charts raus und referieren die Erkenntnisse zum Profil der Ostdeutschen (kleiner, dicker, distanzloser, mit mehr Spaß am Sex). Meistens nicken dann ein paar vereinzelte Zuhörer ganz kräftig – „und outen sich als Ossis“. Carolin Emcke J. RÖTZSCH / OSTKREUZ schen Welten zu pendeln verstehen, die bodenständige Träume der einen in die glamouröse Illusionsmaschine der anderen zu übersetzen wissen – ohne mit verlockenden Argumenten zu arbeiten, denen niemand traut. Die beiden Berliner gewannen ihr lukratives Image praktisch aus dem Stand heraus: Sie drehten 1992 einen Werbefilm für die Ostmarke „Club-Cola“, der den Nerv der angeschlagenen wie der optimistischen Ostseele bis ins Mark traf. Dafür unterlegten sie Szenen aus alten Propagandafilmen – Politbüro-Sitzungen, Siegfahrten des Rad-Idols Täve Schur und andere DDR-Klassiker – mit Zarah Leanders „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. Der Weg zum Erfolg ist auch eine Geschichte des Lernprozesses im wiedervereinigten Deutschland. „Die Westdeutschen haben immer propagiert, es gebe keine Unterschiede zwischen West und Ost“, beschreibt Mackat die großen dogmatischen Hindernisse, doch die Wahrheit sei gewesen: „Mit ,Wir sind ein Volk!‘ meinten die immer: ,Wir sind alle Wessis.‘“ Das Umdenken sei dann praktisch erzwungen worden: „Wer fühlt sich schon freiwillig wohl, wenn er Kolonialist ist?“ Seither erklären Fritzsch und Mackat den verdutzten Marketingkollegen im Westen, wieso der Osten sich bei den herkömmlichen Anzeigen nicht angesprochen, sondern ausgegrenzt fühlt, wieso „Aus Erfahrung gut“ bei Leuten ohne Erfahrung als Slogan nicht ankommen kann und wieso eine ostdeutsche Hausfrau findet, dass bei Babys das ohnehin bald wieder verdreckte Lätzchen „nicht porentief rein“ zu sein braucht. „Die DDR hatte ein eigenes Wertesystem“, sagt Mackat, „das hat Leitbilder und Normen bis heute geprägt – die muss man ansprechen.“ Die Ost-Experten ana- Werbeplakat in Ostdeutschland: „Die DDR hatte ein eigenes Wertesystem“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 161 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Schöner als Roger Eine Frau aus dem Osten macht Sabine Christiansen Konkurrenz: Maybrit Illner wird den neuen ZDF-PolitTalk „Berlin Mitte“ moderieren. V kann, ist das Publikum im Studio zum Schweigen verdammt. Ruhig und seriös will man, in bester humanistisch-aufklärerischer Absicht, „komplizierte Vorgänge transparent machen“. Das jedenfalls sagt Maybrit Illner, 34, Moderatorin von „Berlin Mitte“, die diese notorische Herausforderung zuvor sechs Jahre lang als Moderatorin des ZDF-„Morgenmagazins“ (neben Cherno Jobatey) und beim kurzfristigen Einspringen für Ulrich Kienzle in „Frontal“ zu bestehen hatte. Inmitten der „kommerziellen Verdummungsmaschine Fernsehen“ (Illner) – und in sportlicher Konkurrenz zu Sabine Christiansens sonntäglichem Polit-Konklave – will sie „mit Leichtigkeit und Ironie“, dabei hart in der Sache, jenem Verdruss an Politik entgegenwirken, der auch von Unkenntnis und buchstäblich mangelnder Einsicht herrührt. Ihre eigene Einsicht in das aufregende Wesen von Freiheit und Demokratie be- Sie selbst ist ein wahres Glückskind der „Wende“, ein Paradefall des deutschdeutschen Journalismus. Als habe sie sich bis auf den i-Punkt vorbereitet, schnurrt sie beim Kräuteromelett den ökonomischen Dreisprung von Steuerreform, Lohnnebenkosten und Wirtschaftswachstum herunter und kritisiert das Chaos der rotgrünen Reformpolitik. Da hätte sie auch an Hans Eichel die eine oder andere Frage zu Gegenfinanzierung, Rentenreform und Haushaltskonsolidierung. Überhaupt: Fragen. Es werde viel zu wenig gefragt und viel zu viel herumbramarbasiert, meint Maybrit Illner. Besserwisser überall: Statement-Demokratie statt Debattenkultur. Der letzte Versuch des ZDF unter dem Titel „Tacheles“ war vor allem an der Allwissenheit des Moderators Johannes Gross gescheitert. Maybrit Illner glaubt im Übrigen fest daran, dass Frauen mehr und bessere Fra- erehrter Nikolai Sergejewitsch“, so hob in grauer Fernseh-Vorzeit TVUrgestein Werner Höfer sonntags gern im „Internationalen Frühschoppen“ an, wandte sich an den russischen Kollegen und drehte dabei sein gut gefülltes Rieslingglas mindestens um 90 Grad, „wäre die Sowjetunion denn bereit, ihre SS-20Atomraketen zurückzuziehen, wenn der Westen bestimmte Zugeständnisse machen würde?“ Journalismus im Angesicht des Weltuntergangs – jeden Sonntag war High Noon. Helmut Schmidt war Bundeskanzler und Erich Honecker Staatsratsvorsitzender der DDR, es herrschte Kalter Krieg, und Maybrit Illner ging noch brav zur Schule im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain. Wenige Jahre später revolutionierte das private Fernsehen die Sehgewohnheiten der Menschen in Ost und West mit „Tutti Frutti“, „Glücksrad“ und „Jodeln in der Lederhose“. Kurz darauf fiel die Berliner Mauer, und das Fernsehen wurde zum großen Kommunikator des historischen Ereignisses – doch nicht lange, denn dann kam die Talkshow-Revolution über die Deutschen. Plötzlich konnten sie gar nicht genug kriegen von TV-Moderatorin Illner: Ankunft im Westen als Glückskind der Wende brennenden Themen des Alltags wie „Meine Schwester, die Schlampe“, gann vor zehn Jahren, als der DDR-Sozia- gen stellen als Männer. Freilich liegen ihr „Schafft die Männer ab – die nerven doch lismus kollabierte. Von 1984 bis 1988 war durchaus auch Antworten, die sie, jedennur!“ und „Jetzt reicht’s, du Ferkel!“. sie im „Roten Kloster“ zu Leipzig einge- falls gegenüber der neugierigen Presse, Nun steht eine neue Revolution vor der schrieben, der einzigen Journalistenschule gern schon mal mehrfach verwendet, etwa Studiotür: Am 14. Oktober wird „Berlin Mit- der DDR, von 1986 bis 1989 – unter dem jenes Aperçu, dass man Frauen auf dem te“ starten, die neue politische Talk- Eindruck von Gorbatschows „Perestroika“ Bildschirm einfach nicht älter werden lasse – „dabei sehen die meisten mit 50 besshow des ZDF – jeden Donnerstagabend – Mitglied der SED. live aus dem „Haus Sommer“ direkt neben Eben noch für den Sport im DDR-Fern- ser aus als Roger Willemsen mit 12.“ Illner sieht nicht nur im Vergleich mit Rodem Brandenburger Tor. In der Tradition sehen aktiv, kam sie rasch im Westen an. der einst renommierten ZDF-Polit-Talkrun- Manchem Beobachter schien der Wechsel ger Willemsen gut aus. Doch ihr Erfolg, der de aus der Frankfurter Alten Oper soll sie allzu atemraubend – oder allzu konse- Erfolg ihrer Talkshow „Berlin Mitte“ wird ohne Krawall auskommen, ohne neckische quent, je nachdem. Bis heute vermag sie davon abhängen, ob ihrer Gesprächsrunde Einspielungen, halb nackte Sektglasträger, keinen dramatischen Bruch zwischen Ost ein Schuss jener altertümlichen KonzentraVideo-Gimmicks und anderen Tele-Nippes. und West zu erkennen, allenfalls eine tion und Ernsthaftigkeit anhaftet, die WerWährend jeweils vier Gäste über ein ak- merkwürdige Gemeinsamkeit: Ost- wie ner Höfer selig am Ende fröhlich auf die tuelles Thema reden, das noch am Don- Westdeutsche hielten sich jeweils für die Rettung der Welt anstoßen ließen – bis zur nerstagmorgen auf den Tisch kommen besseren Exemplare der Gattung Mensch. nächsten Sendung. Reinhard Mohr 164 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 DPA TA L K S H OW S Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene MODE Militär und Mystik Model in Daryl-K-Kleid Military-Mode von Maharishi worben, in dem Mütter von frisch eingeschulten Zöglingen eine Weile leben und ihren Kindern beistehen können. Als MütterHaus dient ein restauriertes chreckliches Heimweh ehemaliges Lustschloss aus haben Enid Blytons Teedem 16. Jahrhundert. Die nie-Heldinnen Hanni und luxuriösen Suiten sind beNanni in den rühmten Frauersten Wochen en gewidmet: im Internat – „Kleopatra“ die Eltern sind zieren ägyptiso weit weg. sche WandmaUm solche Einlereien, Resamkeitsattanaissance-Decken zu milkor schmückt dern, hat das „Lucrezia renommierte Borgia“. St. Gallener InBleibt nur stitut auf dem eine Frage ofRosenberg „als fen: Weshalb weltweit erstes gibt es für Internat“ (so Väter nicht behauptet die einmal eine Schulleitung) BesenkamZöglingsmutter-Salon ein Haus ermer? WWD rmee-Kleidung fasziniert Modemacher seit je: Das, was einst strikt strategischen Zwecken diente, gilt es nun formal zu verändern und Individualisten auf den Leib zu schneidern. Besonders beliebt ist neuerdings die Kombination von Military-Style und Philosophie. In seiner Marke „Maharishi“ verquickt der Londoner Hardy Blechman, 30, ArmeeDesign mit fernöstlicher Mystik und glaubt selbst daran. Es gehe ihm darum, negative Symbole positiv zu besetzen, so Blechman – und „Tarnung ist Natur“. Da kann man ihm nicht widersprechen: Solange man sich nicht gleich auf Befehl in nasskalten Schlamm werfen muss, behalten Tarnmuster ihren ornamentalen Reiz. Nur ein Manko besitzt das exklusive Label: In Maharishi-Klamotten wird jeder Mensch zum Kampfsportler, schlanke Taillen bleiben bestens verborgen. New Yorker Designer wie die junge Daryl K riefen jetzt einen Gegen-Trend aus: Militante Liebhaberinnen des Militärischen dürfen sich auch in diesem Herbst olivgrün tarnen – aber bitte in eng anliegenden Kleidern. N. DAVENPORT A ERZIEHUNG DESIGN Lustschloss für Mütter Kampf gegen Hässlichkeit S d e r R aymond Loewy, der unter anderem die berühmte Lucky-StrikePackung entwarf, wusste es bereits 1951: „Hässlichkeit verkauft sich schlecht.“ Wie sich die Designer dieses Jahrhunderts abgeplagt haben, um alles, vom Auto bis zum Zahnbecher, weniger hässlich zu machen, erzählt jetzt mit angenehmer angelsächsischer Sachlichkeit die Gestaltungsfachfrau Penny Sparke. In ihrem Band „Design im 20. Jahrhundert – Die Eroberung des Alltags durch die Kunst“ (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 98 Mark) stellt Sessel von Javier Mariscal sie in großzügig illustrierten Porträts wichtige Entwerfer oder Werkstätten vor, fasst Entwicklungen zusammen und gibt praktische Hinweise auf Museen, Sammlungen und Bezugsquellen. Ihr Werk liefert keine tiefschürfende Theorie, sondern eine tragbare Volkshochschule: Bauhaus & Co. für jedes Haus. s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 173 Gesellschaft PA R T N E R S C H A F T Liebe in vollen Zügen Die Fernbeziehung gilt als Lebensform der Zukunft. Immer mehr Leute wechseln aus beruflichen Gründen den Ort und lassen ihre Partner zu Hause. Pendler klagen über hohe Kosten und Fremdheitsgefühle, Psychologen sehen gerade in der Distanz Chancen für die Partnerschaft. E s war der Mond, den Goethe ansprach, wann immer ihn die Sehnsucht packte: „Doch du fühlst, wie ich betrübt bin, blickt dein Rand herauf als Stern! Zeugest mir, dass ich geliebt bin, sei das Liebchen noch so fern.“ Dem unsicheren Liebesboten am Himmel braucht niemand mehr zu vertrauen – der Telekom sei Dank. Nacht für Nacht klingelt und säuselt es, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Dass das Liebchen in der Ferne weilt – zu Zeiten des alten Dichterfürsten eher die Ausnahme –, ist heute eine Erfahrung, die immer mehr Leute kennen. Schon 13 Prozent aller Paare in Deutschland leben eine sogenannte Fernbeziehung, und das Heer der unfreiwillig von Tisch und Bett Getrennten wächst und wächst, seit Deutschland von Berlin aus regiert wird.Wie einst die Nomaden ziehen Männer und Frauen zwischen Spree und Rhein hin und her. Für rund die Hälfte der Bonner Beamten, die mit der Regierung nach Berlin gekommen sind, ist die Hauptstadt nur Zweitwohnsitz, der Partner blieb zurück. So stehen jedes Wochenende für 2500 Heimwehkranke Sonderzüge und Flugzeuge be- reit, die zusammenführen, was sich zusammenwünscht. Silke Neuhaus, 30, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz, ist regelmäßig dabei. Sie wurde vor anderthalb Jahren in Bonn nur unter der Bedingung eingestellt, dass sie später mit nach Berlin gehe: „Natürlich habe ich da zugestimmt, heute muss man Bereitschaft zur Flexibilität zeigen, sonst bekommt man keine Jobs.“ Der Preis war klar: Ihren Freund Thomas Regh, der als Anwalt beruflich an Bonn gebunden ist, wird sie nun nur am Wochenende sehen – noch geben sich beide tapfer: „Wir schaffen das schon, in unserem Bekanntenkreis pendeln ohnehin die meisten, wir haben genug Vorbilder.“ Eine ganze Generation scheint die Liebe zur Arbeit der Nähe zum Partner vorzuziehen, und viele Zeitgeist-Skeptiker wittern wieder einmal ein Indiz für Karrierismus, Egozentrik und Bindungsunlust postmodern verwirrter junger Leute. Doch denen geht es meist gar nicht um die Verwirklichung hochtrabender Wünsche, sondern schlicht um einen Job, der annähernd der Ausbildung entspricht. Ein Blick in die Stellenanzeigen verrät es: Ob Volkswirt oder Ingenieur – Mobilität ist fast schon eine obligatorische Anforderung. Birgit Hasler, Personalbeauftragte bei IBM Deutschland in Stuttgart: „Weltweite Einsetzbarkeit ist bei Einstellungen immer ein Thema.“ Und: „Wer sich in neuer Umgebung beweist, hat gute Aufstiegschancen.“ Doch: Anders als einige amerikanische Unternehmer fühlen sich deutsche Arbeitgeber nicht veranlasst, auch dem Partner eines neuen Mitarbeiters einen Job zu vermitteln. Und da die Töchter der Frauenbewegung nicht mehr so selbstverständlich ihrem Partner von Ort zu Ort folgen, wie es einstmals die Oma tat, sondern selbst die Koffer packen, wenn ein guter Job lockt, wird die Zahl der halb freiwillig Getrennten immer größer. Der Münchner Kunsthistoriker Jan Wittmann, 30, ist zwar oftmals betrübt, dass seine Freundin Henrike Hahn, 29, sich jedes Jahr viele Monate im Ausland aufhält; aber, so sagt er, daran lasse sich nun mal nichts ändern: Sie forscht als Politologin über transatlantische Beziehungen – also ist sie gezwungen, zuweilen selbst eine zu führen. „Meine Freundin hat so viel Lust AP Marine-Kadett beim Abschied von der Freundin (in Hamburg) Knappe Zeit für Zärtlichkeit S. BRAUER SVEN SIMON Prominente Fernbeziehungen Matthäus, Müller-Wohlfahrt Ruge, Reitzle S. BRAUER an der Arbeit, ich will ihr da nicht im Weg stehen. Die Zeiten des Heimchens am Herd sind endgültig vorbei“, formuliert Wittmann so selbstlos wie möglich. Für die beiden Jungwissenschaftler läuft es wohl auf eine Lebensform hinaus, die Soziologen und Psychologen Dual Career Couple (DCC) nennen – eine Beziehung, zwei Karrieren. Und die finden immer häufiger an verschiedenen Orten, nicht selten sogar in verschiedenen Ländern statt. Prominente Beispiele: ZDF-Klatschmoderatorin Nina Ruge (München) und FordManager Wolfgang Reitzle (London). Auch Lothar Matthäus, Fußballstar unter weißblauer Flagge, hat eine Bayern-BritannienConnection aufgebaut. Seine neue Freundin Maren Müller-Wohlfahrt studiert in London. Eine privilegierte Fernliebe allerdings: Zittert sie vor Prüfungen, kann er es sich leisten, sich zum Händchenhalten einfliegen zu lassen. Doch die meisten Paare auf Distanz sind alles andere als die Helden der Globalisierung. Sie erweisen sich, folgt man den Experten, als bedauernswerte Kreaturen, die ihren Arbeitgebern Nerven und auch Geld rauben können. So beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Ariane Ladwig in ihrer Dissertation zum Beispiel den unwillkürlichen Motivationsabfall vieler DCCs. Peter Rogahn, 35, aus Hamburg, der wie alle Unternehmensberater unterschiedliche Firmen betreut und daher regelmäßig seine Einsatzorte wechselt, sagt: „Ganz klar: Der Hauptgrund, warum Kollegen irgendwann ihre meist glänzend bezahlten Jobs bei Unternehmensberatungen kündigen, ist die Dauerbelastung der Beziehungen durch die Distanz.“ Die Liste der Peinigungen ist lang. Da sind die enormen Zusatzkosten: „Würden Craig, Makatsch wir an einem Ort wohnen“, ärgert sich ein Paar, das zwischen Hamburg und Frankfurt pendelt, „könnten wir ein ganzes Haus mieten.“ Nun aber lebt jeder in einer Zweizimmerwohnung, jeder bezahlt rund 1000 Mark Miete und monatlich 200 Mark fürs Liebesgeflüster am Telefon. Knapp 600 Mark geben sie insgesamt fürs Hin- und Herreisen aus. Zu den Un-Kosten kommen psychologische Abgründe. Viele Paare berichten von totaler Erschöpfung durch die Reise und von der Neigung, sich der Müdigkeit nicht hinzugeben, um keine wertvolle gemeinsame Zeit zu vergeuden. Mögliche Folge: Die Partner verausgaben sich und trauen sich die Reiserei irgendwann gar nicht mehr zu. Etliche stöhnen, dass sie an zwei Orten wohnen, sich aber an keinem wirklich zu Hause fühlen: Am Heimatort vernachlässigen sie alte Freundschaften, um Zeit für den Partner zu haben, am Arbeitsort knüpfen sie keine neuen Kontakte, weil sie diese am Wochenende nicht pflegen können. Oder aber: Flüchtige verwurzeln sich schnell am neuen Ort, das bisherige Leben d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 verliert an Reiz, denn neue Eindrücke sind immer stärker als Vertrautes. Irgendwann wird die alte Amour „wie ein Zeitungsabo, das man vergessen hat zu kündigen“ – so zynisch sinniert ein Betroffener über seine Fern-Ehe, die viele Jahre, bevor sie geschieden wurde, am Ende war. Aber nicht nur das soziale System der Gebeutelten wankt – auch ihr Hormonhaushalt gerät zuweilen durcheinander: In einsamen Stunden suchen die Liebes-Leidenden Trost, beginnen Affären, die die eigentliche Beziehung ruinieren können. Paarforscher Hans Wilhelm Jürgens, Leiter des Anthropologischen Instituts der Kieler Universität, analysiert mitleidsvoll: „Diese Affären sind selten leichtfertige Abenteuer, sondern haben mit der Suche nach Geborgenheit zu tun.“ Doch für solch verständnisvolle Motivforschung haben Pendler-Partner keine Nerven.Viele berichten von diffuser Dauereifersucht. Der eine kennt das Umfeld des anderen nicht, weiß etwa nicht, ob die Kollegin, von der der Partner „verdächtig oft“ spricht, es auf ihn abgesehen hat und wahrscheinlich am Ende der Grund ist, warum er die letzten Abende telefonisch nicht erreichbar war. Von wüsten Betrugsszenen, in einsamen Nächten imaginiert, erzählen viele, wollen aber öffentlich nicht dazu stehen, weil sie 175 Gesellschaft selbst dem Partner gegenüber die Eifersucht nicht zugeben würden. Denn wo für Romantik wenig Zeit bleibt, soll kein Zwist die kostbaren Stunden stören. Probleme zu bereden, sich gar zu streiten – damit tun sich Zwangsdistanzierte schwer. Zoffereien am Telefon oder zwischen Tür und Angel frustrieren, fehlen doch Muße und Nähe zur leidenschaftlichen Versöhnung. So werden Konflikte verschoben, Ärger staut sich auf, und irgendwann kann es so gewaltig krachen, dass die Beziehung auseinander fliegt. Ist die Teilzeitliebelei also eine Sackgasse, der Anfang vom Ende? Friedhelm Julius Beucher, 53, der wie alle Bundestagsabgeordneten zwischen Wahlkreis und Regierungssitz hin- und herreisen muss, sieht ziemlich schwarz, wenn er sich die Pendelprofis seines Berufsstandes anschaut: „Ehen von Abgeordneten sind alle latent gefährdet und enden oft im Desaster.“ gute berufliche Basis aufzubauen sei eben auch ein wichtiger Teil der persönlichen Entwicklung. Der Wunschberuf als Liebestöter – mit dieser unglückseligen Tendenz beschäftigt sich auch Michel Domsch, Soziologieprofessor an der Bundeswehr-Universität Hamburg: Er beobachtet, dass heutzutage der Freund oder die Freundin ganz pragmatisch mit den Städten gewechselt wird, in die es die kosmopolitischen Arbeitnehmer verschlägt. Habe das 18. Jahrhundert die Liebesehe statt der schnöden Zweckehe propagiert, praktiziere das späte 20. Jahrhundert das berufskompatible Bündnis auf Zeit. Schumann-Freund Sigl in Berlin R. RIEDLER / ANZENBERGER H. SCHERHAUFER „Man wird sich rasch fremd“ Pendlerin Schumann in Wien: „Auf Dauer kann man nicht getrennt sein“ Auch der Berliner Guido Sigl, 40, der als Ausbilder von Animateuren in Ferienclubs Fernbeziehungsopfer geradezu züchtet, glaubt nicht an die erfüllte Liebe auf Distanz. „In der Regel“, weiß er, „scheitern die Beziehungen der Animateure zu ihren Partnern daheim. Das Leben im sonnigen Club unterscheidet sich so sehr vom grauen Alltagstrott des anderen, dass man sich rasch fremd wird.“ Sigl kategorisch: „Wer die Liebe des Lebens gefunden hat, geht gar nicht erst weg.“ Und weil er selbst in die Ferne liebt – seine Freundin Claudia Schumann lässt sich in Wien zur Fachärztin ausbilden –, überlegt er, ihr bald hinterherzuziehen. Die Freundin ist vorsichtiger: „Auf Dauer kann man zwar nicht getrennt sein“, aber sich eine 176 Paarforscher Jürgens findet aber auch ermutigende Worte: „Pendelbeziehungen können funktionieren.“ Die Partner müssten so nervenschonend wie möglich miteinander umgehen. Hilfreich sei es, Rituale zu schaffen, sich an Verabredungen zu halten. Ein wenig Kontinuität für die sporadische Zweisamkeit. Ein Ratgeberbuch („Ich in Bremen, du in Zürich“, Herder-Verlag) legt nahe, „Perspektiven zu schaffen“, also das Getrenntsein als Übergangsphase zu begreifen, wohl wissend, dass man sich in nicht allzu ferner Zukunft auf einen Ort einigen wird. Schauspielerin Heike Makatsch, 28, hatte jedenfalls schnell die ständigen Trennungen satt. Sie zog nach wenigen Monaten zu ihrem Freund, dem Schauspieler Daniel Craig, nach London. Paare, die nicht so bald zusammenkommen können, müssen sich anders trösten: „Jedes Treffen ein Fest“, heißt es im Ratgeber. Wenn sich die Schmachtenden schon den Unbilden von Autobahn, Zug und Flugzeug ausliefern, warum sollen sie dann das Rendezvous nicht exzessiv zelebrieren? Von diesem Vorsatz hält auch Unternehmensberater Rogahn viel. Gerade weil auf ihn am Wochenende nicht nur die Ehefrau, sondern auch die beiden Kinder warten. Den Kleinen zuliebe versuche er, die Zeit so nett wie möglich zu gestalten: „Mal fahren wir an die See oder gehen gut essen. Andere Familien investieren ihr Geld in den Hausbau, wir in schöne Momente.“ Allgemein gilt: Pendler gehen gestaltungswütiger an Beziehungen heran als sesshafte Langzeitpaare, und sie sind tendenziell harmoniesüchtiger – keine schlechten Voraussetzungen für das Funktionieren einer Verbindung. Ein weiterer Pluspunkt: Jeder ist durch die getrennte Haushaltsführung sein eigener oberster Dienstleister, leidige Abwaschund Müllentsorgungsdebatten erübrigen sich meist. Und zuletzt: Das gewisse Fremdeln, das viele Partner empfinden, wenn sie nach längerer Auszeit aufeinander treffen, hat nicht nur Nachteile: Gerade Fremdheit trägt zur Spannung der ersten Verliebtheit bei – umso besser, wenn Paare dieses Gefühl immer wieder erneuern können. So ist nicht alle Hoffnung verloren, wenn sich die Fernbeziehung tatsächlich zur Lebensform der Zukunft entwickeln sollte. Denn in der absurden Logik der Liebe stimmen auch jene Worte, die Goethe im „Faust“ seinen Oberon sagen lässt: „Gatten, die sich vertragen wollen, lernens von uns beiden! Wenn sich zweie lieben sollen, braucht man sie nur zu scheiden.“ Susanne Beyer, Ulrike Knöfel Viele Paare, glaubt Domsch, leben dabei ein zermürbendes „Eigentlich-Leben“: Sie sehnen sich eigentlich nach einer stabilen Beziehung, sie wollen eigentlich keine Geburtstagsfeier ihrer Kinder verpassen. Ansprüche, denen Pendelpartner und -eltern selten gerecht werden. Tatsächlich zerbrechen 57 Prozent der Long-Distance-Beziehungen – so will das Magazin „Elle“ herausgefunden haben. Die Frauenzeitschrift beziffert auch die Gründe für das Scheitern: 93 Prozent aller befragten Pendelkundigen (2096 Männer, 2123 Frauen) beklagen den Mangel an Zärtlichkeit, 91 Prozent ist der doppelte Lebensunterhalt zu teuer, 69 Prozent leiden an dem Gefühl, sich zunehmend auseinander zu leben. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Mario ist ein Freund“ GILL Spiele-Designer Shigeru Miyamoto über Phantasie und Technik im Videospiel Spiele-Erfinder Miyamoto Miyamoto, 46, ist der Star der VideospielSchöpfer. Für den japanischen Elektronikkonzern Nintendo erfand er Klassiker wie den Klempner „Mario“, den heldenhaften Affen „Donkey Kong“ oder die Spieleserie „Zelda“, die Fans aller Altersgruppen häufig monatelang an den Bildschirm fesseln. SPIEGEL: Wissen Sie, wie viele Ehen Sie durch Ihre Sucht erzeugenden Spiele gefährdet haben? Miyamoto: Ich kenne da nur ein Beispiel, denn ich selbst arbeite daran oft bis spät in die Nacht, und meine Frau beschwert sich dauernd darüber. Wenn das den Spielern auch so geht, tut mir das sehr leid. SPIEGEL: Sie haben praktisch ein ganzes Spielegenre aus der Taufe gehoben. Wie sind Sie Videospiel-Designer geworden? Miyamoto: Ich habe immer davon geträumt, etwas sehr Merkwürdiges und Bizarres zu erschaffen. Die Vorstellung, es könnte mir gelingen, die Welt zu verblüffen, hat mich sehr glücklich gemacht. Als ich bei Nintendo anfing, sollte ich eigentlich ein ganz anderes Projekt leiten. Aber ein Jahr später wurden die ersten Videospiele, etwa „Space Invaders“, enorm po- 178 „Ich kann fühlen wie ein Spieler“ Miyamoto-Schöpfung „Mario“ „Primitive Technik“ pulär. Es entstand ein Bedarf für mehr Spiele, für neue Spiele. Ich spürte, dass ich auf diesem Feld meinen Traum verwirklichen könnte. Ich hatte ganz neue Freiheiten. Vorher musste ich, um ein neues Produkt zu kreieren, mit Produktionsleitern von Fabriken verhandeln, musste über Herstellungskosten feilschen. Als es Vid e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 deospiel-Systeme gab, konnte ich plötzlich tun, was ich wollte; denn wenn die Chips erst einmal zusammengelötet sind, bestimmt nur noch die Vorstellungskraft, was die Software mit diesen Chips tun soll. SPIEGEL: Sie haben als Erster Spielfiguren mit eigenem Charakter auf den Bildschirm gebracht. Was hat Sie dazu inspiriert? Miyamoto: Die Phantasie war schon immer mein liebstes Spielzeug. Als ich ein Kind war, fegte ein Taifun über unsere Gegend hinweg. Ich stellte in meinem Zimmer den Schreibtisch mit den Füßen nach oben auf, setzte mich hinein und stellte mir vor, mit einem Boot durch den Sturm zu fahren. So ähnlich fühle ich mich auch heute noch, wenn ich über ein neues Videospiel nachdenke. SPIEGEL: Was unterscheidet Sie da von anderen? Miyamoto: Als ich anfing,Videospiele zu erfinden, gab es in der Industrie kaum Leute, die etwas von Grafik, von Kunst oder von Musik verstanden. Spiele wie Space Invaders, bei denen Raumschiffe als Lichtpunkte über den Bildschirm sausen, die andere Raumschiffe abschießen, wurden Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft nicht nur visuell eine Welt für die Spieler schaffen, auch das Design und Gefühl der „Controller“ gehört für mich zum Spiel. Ich kann mich in den Spieler hineinversetzen, ich kann fühlen, was er fühlen wird. Ich glaube, das ist das Geheimnis, warum meine Figuren die Spieler ansprechen. Es ist nicht das Aussehen der Figuren, sondern die Beziehung, die man durch die Interaktion mit ihnen im Spiel entwickelt. Mario ist ein Freund, ein Mitspieler. Deshalb kann er in immer neuen Spielen auftauchen, ohne jemals langweilig zu werden. SPIEGEL: Wodurch lassen Sie sich inspirieren, um ein Wesen wie Mario zu schaffen? Miyamoto: Es gibt viele gute Designer, die hervorragende Figuren erschaffen. Einen Wettbewerb um die originellste Figur würde ich sicher nicht gewinnen. Meine Gabe liegt eher darin, mit einem Videospiel eine interaktive Welt zu erschaffen. Ich will Spannung und Miyamoto-Spiel „Donkey Kong“ Begeisterung im Spieler wecken. „Die Hälfte der Arbeit ist schöpferische Tätigkeit“ Das ist der allererste Schritt. Dann von Programmierern geschrieben, die sich erst suche ich nach einer Spielfigur, die gut mit den Chips auskannten, sich aber dieses Abenteuer am besten verkörpern sonst kaum Gedanken machten. Die Welt kann. Ich frage mich: Welche Figur fügt war begeistert, dass sich überhaupt was sich für den Spieler natürlich in die Welt bewegt, und niemandem schien aufzufal- ein, die ich erschaffen will? Wie passt sie len, wie primitiv und kindisch die Spiele zur Atmosphäre des Spiels? Als ich zum waren. Ich hatte schon in meiner Jugend Beispiel Mario erfand, war die Technik Cartoons gezeichnet und wollte, dass auf noch recht beschränkt und primitiv. Wir dem Monitor richtige Bilder zu sehen sind hatten nur begrenzten Spielraum, was eine und nicht nur Pixel. Figur auf dem Bildschirm tun und wie sie SPIEGEL: Hätten Sie sich je träumen las- sich bewegen kann. Der lustige Charakter sen, welche rasante Entwicklung diese Marios war eine Folge solcher ganz nüchTechnik später nehmen würde? ternen technischen Erwägungen. Miyamoto: Als Nintendo sein erstes Video- SPIEGEL: Gilt das auch noch für moderne spiel-System auf den Markt brachte, habe Spiele wie Zelda? Dort, so scheint es, könich vorhergesagt, dass wir solche Geräte nen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf lassen. auch noch in 10 oder 20 Jahren verkaufen Miyamoto: Ich wende meine Methode bei könnten. Das habe ich immer wieder allen allen Spielen an. Ich wollte zum Beispiel, Skeptikern gesagt, die schwer zu überzeu- dass sich der Held bei Zelda in bestimmten gen waren, Spiele für dieses Gerät zu ent- Situationen schnell von einem Ort zum anwickeln. Es sieht so aus, als hätte ich rich- deren bewegen kann, also gab ich dem Juntig gelegen. Aber ehrlich gesagt, ich hätte gen „Link“ im Spiel „Ocarina of Time“ die nie geglaubt, dass wir heute Spiele produ- Möglichkeit, ein Pferd zu reiten. zieren können, deren Bilder fast Filmqua- SPIEGEL: Heißt das, die Technik treibt die lität haben. Das hat, glaube ich, niemand Kreativität, und nicht umgekehrt? vorhergesehen. Früher wurden Spielekon- Miyamoto: Ja, das kann man so sagen. solen mit billiger Technik gebaut, die schon Natürlich wollen Designer immer alles tun einige Jahre alt war. Heute steckt in den können, aber gerade die technische BeKonsolen bei ihrer Markteinführung die schränkung der Möglichkeiten kann ihnen allerneueste Technologie, die sich erst viel helfen, sich auf bestimmte Fähigkeiten zu später bei PC oder anderen Elektronik- konzentrieren und Dinge zu kreieren, die geräten durchsetzt. sie von anderen unterscheiden. SPIEGEL: Was, glauben Sie, macht den Er- SPIEGEL: Zelda enthält jede Menge mythifolg Ihrer Spiele aus? sche Geschichten und Rätsel, die an alte Miyamoto: Mich interessierte von Anfang Volkssagen erinnern. Hatten Sie Vorbilder an das Erlebnis des Spielers. Ich entwerfe für diese Geschichten? nicht nur die Figuren, ich habe mich auch Miyamoto: Ein Spiel zu entwickeln ist ein sehr mit der Konstruktion der Bedienele- einzigartiger Prozess. Ein Spiel ist kein mente der Konsolen beschäftigt. Ich will Film. Wer versucht, zuerst eine Art Drehd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 181 buch für das Spiel zu schreiben und es dann Szene für Szene zu bebildern, muss scheitern. Bei Ocarina of Time zum Beispiel habe ich mit meinem Team von Programmierern und Designern zuerst lange diskutiert, auf welche Schwierigkeiten der Held in den einzelnen Tempeln stoßen soll, welche Rätsel er lösen muss. Dann haben wir den Jungen Link und die anderen Spielfiguren entwickelt und uns ausgedacht, welche Waffen er haben sollte und wie der Spieler diese Waffen handha- Miyamoto, SPIEGEL-Redakteure* ben kann. Diese Spielelemente ha- „Zwei Stunden pro Tag sind das Maximum“ ben wir in zahllosen Variationen ausprobiert – wie kann Link eine Schatz- mit Videospielen aufgewachsen sind, und kiste öffnen, wie bewegt er sich unter Was- ich möchte gern Spiele schaffen, die Eltern ser? Erst als wir alle diese Puzzlestücke und Kinder gemeinsam mit Freude spieentwickelt hatten, haben wir uns die Ge- len können. schichte ausgedacht, die alle Elemente SPIEGEL: Sie haben selber Kinder. Sind die schlüssig miteinander verbindet. Es ist mit Ihren Spielen groß geworden? praktisch genau umgekehrt wie beim Film, Miyamoto: Mein Sohn ist 13, meine Tochwo die Story am Anfang steht. Mir ist die ter 11. In letzter Zeit klappt es nicht mehr Geschichte, anders als viele Leute glau- so richtig, aber ich bin immer sehr streng ben, gar nicht so wichtig. Meine Fähigkeit gewesen im Umgang mit Videospielen. Es besteht darin, die Einzelteile zu einem har- liegt in der Verantwortung der Eltern zu monischen Ganzen zusammenzufügen. entscheiden, wie viel gut für ihre Kinder SPIEGEL: Wie viel von der Arbeit, ein neu- ist, und wann man nein sagen muss. In Jaes Spiel zu erfinden, ist Kreativität, wie pan denkt man darüber leider viel zu wenig nach, aber wie ich höre, gibt es diese viel ist Technik? Diskussion in Deutschland, und das finMiyamoto: Nach meiner Erfahrung sind de ich gut. die Anteile etwa gleich groß. Die Hälfte der Arbeit steckt SPIEGEL: Von vielen wird die in der schöpferischen Angst der Eltern vor überTätigkeit. Das ist so ähnmäßigem Fernseh- oder lich wie bei den SpezialVideospiel-Konsum allereffekten in Hollywooddings oft als rückständig filmen. Wenn es da eine belächelt. Das Aufwachneue Technik gibt, wollen Resen mit dem Computer gisseure sie auch einsetzen, und gilt als fortschrittlich. Semanche Filme werden regelrecht um hen Sie das etwa anders? bestimmte Effekte herumgebaut. Beim Miyamoto: Wenn ich mir Videospiel will das Publikum mit immeine Kinder so ansehe, dann mer neuen optischen Reizen gelockt sind die so beschäftigt mit der werden. Wenn ich diesen Anspruch Schule, dass ich mir wünsche, nicht erfülle, kann die Geschichte dass sie ihre echte Freizeit annoch so gut sein, sie wird niemanden ders verbringen, als vor einem interessieren. Miyamoto- Bildschirm zu hocken. Zwei SPIEGEL: Videospiele gehören inzwiFigur „Link“ Stunden pro Tag sind das absolute Maximum, das ich ihnen schen zum Kulturgut. Figuren wie Mario sind regelrechte Ikonen einer Ge- erlaube. Vor den Prüfungen sehen sie das neration geworden. Erfüllt Sie das mit eigentlich auch von selbst ein, aber manchmal gibt es auch Streit. Ich möchte, dass Stolz? Miyamoto: Ja, natürlich bin ich glücklich meine Kinder ein abwechslungsreiches Leüber den Erfolg, aber ich fühle mich auch ben haben und sich nicht mit einem „Game verantwortlich. Wir haben wirklich lange Boy“ in die Ecke setzen. diskutiert, ob wir Figuren wie Mario in den SPIEGEL: Wir haben noch eine wichtige FraKampfszenen des Spiels „Smash Brothers“ ge zum Schluss, die uns schon seit Monaauftreten lassen sollten. In „Donkey Kong ten quält: Selbst zu Pferd ist Link in Oca64“ sollte der Affe eine Pistole bekommen, rina of Time nie schneller als der Maraaber wir haben uns dagegen entschieden thonläufer? Wie kann man dieses Rennen und ihm eine Waffe gegeben, die Kokos- gewinnen? nüsse verschießt. Wir leben heute in einer Miyamoto: Ich hoffe, das frustriert Sie nicht Zeit, in der die Eltern von Kindern selbst zu sehr, aber niemand kann den Marathonmann schlagen. SPIEGEL: Herr Miyamoto, wir danken Ihnen * Jürgen Scriba und Johann Grolle, mit „Game Boy“Spielen auf der Spielemesse „ECTS“ in London. für dieses Gespräch. 182 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 GILL Gesellschaft Werbeseite Werbeseite A. KAISER / G.A.F.F. Vergewaltigte Musliminnen im bosnischen Tuzla (1992): Gefühlsabwehr als Schutzreaktion PSYCHOLOGIE Die Frau ohne Körper Im Bosnien-Krieg wurden zehntausende von Frauen vergewaltigt. Die kroatische Autorin und Journalistin Slavenka Drakuliƒ beschreibt nun die Leiden der Opfer. 184 rungen so wenig, dass sie von sich nur in der dritten Person sprechen konnten. Bei den ersten Interviews war Drakuliƒ schockiert, bei den nächsten bewegt und schließlich abgehärtet. Sie stellte fest, dass die Berichte „emotionslos, trocken und monoton wirkten und keinen Einblick in den Schrecken gaben“ und nicht geeignet seien, Leser zu finden und aufzurütteln. In der psychologischen Fachliteratur las sie, dass diese Gefühlsabwehr eine typische Schutzreaktion von Verbrechensopfern ist. Sie gab das Buchprojekt auf. Sieben Jahre später hat Drakuliƒ, 50, doch noch eine Möglichkeit gefunden, über Vergewaltigung im Krieg zu schreiben: in einem Roman. „Als gäbe es mich nicht“ ist gerade erschienen und schildert das Leiden im Frauenraum. „Es ist mein achtes Buch und mein vierter Roman“, sagt Drakuliƒ, * Slavenka Drakuliƒ: „Als gäbe es mich nicht“. Aus dem Kroatischen von Astrid Philippsen. Aufbau-Verlag, Berlin; 208 Seiten, 36 Mark. G. TROTTER / ISF F rauenraum – das Wort klingt so unscheinbar und sachlich: nach einem Ort etwa, an den sich Frauen zurückziehen, um sich nachzuschminken oder mit den Freundinnen die draußen wartenden Männer durchzudiskutieren. In Kroatien, Bosnien und im Kosovo gab es viele Frauenräume. In Bosnien allein waren es mindestens 19. Mädchen und Frauen wurden dort wochen- und monatelang gefangen gehalten und Nacht für Nacht von serbischen Soldaten vergewaltigt. Frauenräume waren während des Jugoslawien-Krieges sexuelle Vorratslager, aus denen sich Offiziere und verdiente Kämpfer bedienen konnten. Anfangs gab es nur Gerüchte über diese Vergewaltigungscamps; Gerüchte, die zu spektakulär in ihrem Grauen waren, als dass sie glaubwürdig erschienen wären. Dann erzählten die ersten Opfer davon in den Flüchtlingslagern, danach berichteten die Zeitungen; im Dezember 1992 verurteilte die Uno-Menschenrechtskommission „die systematische Praxis“ von Vergewaltigungen. Zu dieser Zeit dachte die kroatische Journalistin und Schriftstellerin Slavenka Drakuliƒ darüber nach, solche Berichte zu sammeln und in einem Dokumentationsband zu veröffentlichen. In Zagreb traf sie im Flüchtlingslager 20 Frauen, die ihre schrecklichen Erlebnisse schilderten: Dauervergewaltigungen vor den Augen der Mütter, der Kinder, Verstümmelungen, Erschießungen. Manche ertrugen die Erinne- „und es war das Schwerste von allen.“ Ziel des Buches ist es: das, was vergewaltigte Frauen das Unbeschreibliche nennen, zu beschreiben*. Hauptfigur des Romans ist eine 29-jährige Grundschullehrerin, die zu Kriegsbeginn aus Sarajevo in ein bosnisches Bergdorf geflohen ist. „S.“ nennt Drakuliƒ sie, weil jede diese Frau sein könnte, also auch sie selbst, Slavenka. Sie schildert das Geschehen aus deren Perspektive, dringt dabei in die Psyche von S. ein und analysiert, kommentiert deren Gedanken, Gefühle und Ängste unter dem Aspekt: Wie erlebt ein Mensch seine allmähliche körperliche und seelische Zerstörung? Der Körper ist auch in ihren früheren Romanen Thema: In „Das Prinzip Sehnsucht“, 1989 auf Deutsch erschienen, schilderte die Schriftstellerin ihr Warten auf die Nierentransplantation; „Das Liebesopfer“ (1997) zeigt Kannibalismus als ultimative Konsequenz psychopathisch-possessiver Leidenschaft. „Marmorhaut“ (1998) handelt davon, wie ein pubertierendes Mädchen seine Sexualität entdeckt und mit der Mutter um den Liebhaber konkurriert. Mit „Als gäbe es mich nicht“ behandle sie einen weiteren Aspekt der Körper-Thematik, sagt Drakuliƒ: die Psyche einer vergewaltigten Frau, die den Kontakt zu ihrem Körper abbricht. Frühmorgens im Mai 1992 sind die serbischen Soldaten plötzlich da. Im Halbschlaf hört S. Stimmen, auch die ihrer Nachbarin, die bettelnd „Tu’s nicht“ sagt. S. fühlt sich sicher, denn sie glaubt, die Serben wollten nur ihren Goldschmuck. Wenn überhaupt. Doch als sie gerade einen Kaffee kocht, tritt ein junger Soldat die Wohnungstür auf. „Erst in diesem Moment fällt ihr ein, dass sie hätte fortlaufen können.“ Die Angst hat sie schon gelähmt, bevor der Schrecken wirklich begonnen hat. „Mehr als alles entsetzt S. ihre Unterwürfigkeit, ihre Bereitschaft, den Befehlen bedingungslos zu gehorchen.“ Die Serben treiben die Dorfbewohner in der Turnhalle zusammen. Ein Vater wird Vergewaltigungs-Graffiti in Bosnien: Nichts hören, nichts glauben d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft „Zerstörung des Urvertrauens“ Die Psychologin Edita Ostojiƒ, 46, die im bosnischen Zenica vergewaltigte Frauen betreut, über die Folgen der Traumatisierung SPIEGEL: In den Balkan-Kriegen haben F. HORVAT / SABA Serben, Kroaten, Bosnier und KosovoAlbaner die Frauen anderer Volksgruppen vergewaltigt. Warum fällt es Frauen so schwer, darüber zu sprechen, obwohl sie doch offensichtlich kein Einzelschicksal erlitten haben? Ostojiƒ: Weil viele Frauen sich selbst die Schuld geben und sich deshalb schämen. Sie fürchten eine ablehnende Reaktion ihrer Umgebung, in der Vergewaltigung unter dem Aspekt Sexualität und nicht als Gewaltdelikt betrachtet wird. SPIEGEL: Welche psychischen Folgen hat die Vergewaltigung für die Frau? Ostojiƒ: Das hängt entscheidend vom Zeitpunkt ab, wann die Frau erstmals über ihr Trauma spricht. Wenn zu viel Zeit vergangen ist, haben die Frauen oft allein einen Weg Ostojiƒ gefunden, seelisch zu überleben. Meistens sind das aber Fehlanpassungen, die später kaum zu korrigieren sind. SPIEGEL: Wie sehen die aus? Ostojiƒ: Die Frauen sind sehr verschlossen und verdrängen mit großer psychischer Kraft die Erinnerung und die daran geknüpften Emotionen. Im Alltag funktionieren sie meist, aber sie leiden unter Alpträumen und Angstattacken. Manchmal ist die Abspaltung des Traumas so radikal, dass sie diese Ängste gar nicht mit der Vergewaltigung in Verbindung bringen und glauben, verrückt zu werden. SPIEGEL: Gibt es auch körperliche Reaktionen? Ostojiƒ: Ja. Was nicht in Worten formuliert wird, drückt der Körper aus mit Symptomen wie Lähmungen, Asthma, Neurodermitis. SPIEGEL: Ist ihnen noch eine normale Sexualität möglich? Ostojiƒ: Den meisten zunächst nicht, weil sie den Kern der Verletzung ausmacht. Entweder vermeiden die Frauen Sex oder, im Gegenteil, sie schlafen wahllos mit Männern. Diese extreme sexuelle Aktivität ist der hilflose Versuch, Kontrolle über das zu gewinnen, was sie so erschreckt. 186 SPIEGEL: Hängt die Tiefe der Verletzung davon ab, wie oft, über welchen Zeitraum und wie brutal eine Frau vergewaltigt wurde? Ostojiƒ: Entscheidend sind äußere Faktoren wie Dauer, Ausmaß und Frequenz der traumatischen Erlebnisse und innere wie die psychische Konstitution. In der Therapie versuchen wir, mit Hilfe von Freunden und Verwandten innere Ressourcen zu aktivieren. SPIEGEL: Welche Erfolge haben Sie? Ostojiƒ: Therapieerfolge lassen sich nicht einfach messen. Das Urvertrauen ist zerstört, und die Tatsache, dass eine Frau sich mit ihrem Trauma auseinander setzt und Vertrauen in andere Menschen hat, ist ein Schritt nach vorn. SPIEGEL: Welche psychischen Langzeitfolgen haben Sie beobachtet? Ostojiƒ: Einige Frauen führen ein sehr beschränktes Leben: Die Sozialkontakte sind gestört, weil sie misstrauisch gegenüber anderen sind. Manche glauben, dass jeder von ihrer Vergewaltigung wisse, und fühlen sich deshalb allen ausgeliefert. Andere können sich nicht konzentrieren. Oder sie fühlen sich so wertlos, dass sie am Wert ihrer Leistung grundsätzlich zweifeln. Deshalb bieten wir in unserem Projekt Kurse an, in denen sie ein Handwerk lernen und ihr Selbstwertgefühl stärken können. Das braucht oft sehr viel Zeit. SPIEGEL: Was taten die Frauen, die durch die Vergewaltigung schwanger wurden? Ostojiƒ: Die meisten haben sich für einen Abbruch entschieden. Das war die erträglichste Lösung für sie. SPIEGEL: Und wenn es dafür zu spät war? Ostojiƒ: Haben sie das Baby zur Adoption freigegeben oder behalten. Aber es ist schwierig, das Kind wirklich zu akzeptieren. Die nächste Frage ist: Was soll die Mutter dem Kind über den Vater erzählen? Die Frau muss entscheiden, was sie emotional ertragen kann. SPIEGEL: Kennen Sie Fälle, in denen Frauen ihr Kind getötet haben? Ostojiƒ: Ja. Wir haben eine Frau stationär betreut, die sich eines Nachts mit dem Kind im Arm aus dem Haus stahl und das Baby erstickt hat. Sie war mitten in einem psychotischen Schub und erzählte, das Kind habe tote Augen gehabt. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Serbische Soldaten in Bosnien (1995): Schrecken mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. 20 Männer werden abgeführt und erschossen. Später lassen sich die Frauen widerstandslos in einen Bus verladen. „S. weiß, mit diesem Autobus übersiedelt sie von einer Wirklichkeit in eine andere.“ Als der Bus nachts hält und die Frauen zum Pinkeln in den Wald geschickt werden, flieht keine einzige. In der großen Lagerhalle einer Fabrik werden die Frauen untergebracht. Sie schlafen auf dem Betonboden, sie verrichten ihre Notdurft gruppenweise auf einem Feld, sie streiten sich um den einzigen Wasserhahn, sie essen trockenes Brot und Salami. Sie erzählen sich Gerüchte über das Männerlager: Gefangene würden dort lebendig zerstückelt. S. hält Distanz. Sie will nichts hören, nichts glauben. Sie will ihre Integrität und Würde nicht verlieren, weil diese die letzte Erinnerung an ihre frühere, menschlichere Welt sind. Dass die Soldaten ab und zu Mädchen aus der Halle holen und diese nicht mehr auftauchen, erfährt S. nach einigen Tagen. Sie stellt sich vor, wie sie selbst sich wehren würde, wenn ein Wachtposten käme, um sie in den Frauenraum zu bringen. Doch als tatsächlich einer auf sie zeigt, steht sie auf und geht ihm hinterher. Die Passivität ist eine Mauer, hinter der sich die Person S. versteckt. Als sie von drei Männern auf dem Schreibtisch vergewaltigt wird, beobachtet S. eine Fliege, die an der Wand hochund runterläuft. „In dem Moment sieht sie ihre in die Luft gehobenen Beine und dazwischen einen Männerkopf.“ S. will überleben, auch psychisch, und das ist nur möglich, wenn sie sich abspaltet von dem, was ihr geschieht. Die Soldaten schlagen sie, zwingen sie, ihren Urin zu trinken. S. wird bewusstlos. Als sie nach Tagen aus dem Fieberschlaf aufwacht, liegt sie im Frauenraum – ein kahles Zimmer mit vernagelten Fenstern, auf dem Boden Matratzen, dahinter ein Waschraum mit Dusche. Gefaltete Wäsche M. WELLERSHOFF / DER SPIEGEL SYGMA behalten soll oder nicht, ist die zentrale Frage des Romans, denn sie bedeutet: Kann ein Mensch eine so entsetzliche Erfahrung in sein Leben integrieren? Die Wirklichkeit beantwortet die Frage mit Nein. Über die Zahl der Schwangerschaften nach Vergewaltigungen in Bosnien schwanken die Schätzungen zwischen 119 und 30 000; in Albanien gaben UnoMitarbeiter an Kosovo-Flüchtlinge die Pille danach aus, Protesten des Vatikans zum Trotz. Wer nicht mehr abtreiben konnte, gab das Kind zur Adoption frei. Nur in Einzelfällen entschieden sich vergewaltigte Frauen dafür, ihr Kind großzuziehen. Die Fakten ihres Romans, sagt Drakuliƒ, stimmten, auch wenn sie die Beschreibung des Lagers und des Frauenraums aus verschiedenen Zeugenaussagen zusammengesetzt hat. Produkt der Phantasie sei allein und Verdrängung das innere Erleben ihrer Hauptfigur. Und und Tischdecken sind Überreste eines ver- doch gelingt es der Autorin, überzeugend gangenen Alltags. Neun Frauen werden im vorzudringen in die Zerrissenheit zwischen Frauenraum gefangen gehalten. Jede Nacht Schrecken und Verdrängung, zwischen kommen neue Soldaten, um sie sich zu ho- Angst, Hass und Abspaltung aller Gefühle. Gelegentlich geraten ihr dabei die Belen, zeigen wahllos auf eine. Die Betrunkenen sind die Schlimmsten. Nicht alle schreibungen und die Interpretationen der psychischen Abwehrmechanismen überFrauen kehren zurück. Ihr Körper gehört nicht mehr S., er ist ein deutlich, manchmal rutscht Drakuliƒ ins fremder Gegenstand. „Sie glaubt, ihre Pathetische. Ihr Ziel, das Unbeschreibliche Haut rieche nach Sperma und Speichel. der Vergewaltigung beschreibbar zu maStändig wäscht sie sich mit Seife und war- chen, das Entsetzen, die innere Erstarrung mem Wasser.“ Der Gestank bleibt. Eines und die Entfremdung vom Körper fühlbar Tages aber beginnt S. sich zu schminken, werden zu lassen, erreicht sie dennoch. Ein psychologisches Buch habe sie um sich eine neue, falsche Identität als Verführerin zu geben – wer verführt, wird schreiben wollen, kein politisches – und nicht vergewaltigt, lautet die Logik dieses hat trotzdem einen Anti-Kriegsroman verfasst. Ihre Ansichten zum Krieg, erklärt Selbstbetrugs. Doch seltsamerweise funktioniert die Drakuliƒ, könne sie direkter als Journalistin Strategie. Vielleicht liegt es auch daran, äußern. Sie arbeitet für die „Frankfurter Allgemeine“, „The New Repudass S. die einzige Universitätsblic“ in den USA, „La Stampa“ absolventin im Frauenraum ist: in Italien und „Aftonbladet“ in Der Lagerkommandant nimmt Schweden. sie sich als Geliebte. Sie reden, Bis 1991 arbeitete sie im Kulsie essen, sie schauen Fernseturressort des eher regierungshen, er schläft mit ihr, sie überkritischen Zagreber Nachrichnachtet in seinem Bett, sie täutenmagazins „Danas“. Dann schen gemeinsam Normalität wurde das Blatt privatisiert, der vor. Sie weiß, dass er ein Killer neue Besitzer schwenkte auf ist. Sie könnte ihn nachts, wenn die nationalistische Linie des er eingeschlafen ist, erschießen. Staatschefs Franjo Tudjman um Aber sie tut es nicht, weil das und feuerte die gesamte Reihren eigenen Tod bedeuten Autorin Drakuliƒ daktion. würde und weil sie sich durch Für Drakuliƒ war das der Beginn ihrer indie gemeinsame Lüge, ein Liebespaar zu ternationalen Karriere, denn ihr blieb nichts sein, verbündet haben. Im November 1992 wird S. gemeinsam anderes übrig, als für ausländische Zeitunmit den anderen Frauen freigelassen. Es ist gen zu arbeiten. Da hatte sie dann ausein Gefangenenaustausch. Im Zagreber führlich Gelegenheit, Tudjmans Politik zu Flüchtlingscamp erfährt sie, dass sie im attackieren. Seitdem, sagt sie, „bin ich für fünften Monat schwanger ist. „Im Bauch die offiziellen Blätter eine Dissidentin“. Wie die kroatische Kritik reagieren spürt sie zum ersten Mal die Last. Sie ist da, tief innen, wie ein Stückchen Blei. Ein wird, wenn sie den demnächst in KleinTumor, der wächst, sich ausbreitet und im- auflage erscheinenden Roman überhaupt rezensiert, hat Drakuliƒ sich schon ausgemer sichtbarer wird.“ Wie ein Kind, das nach einer Vergewal- malt. „Sie werden sagen: Warum ist S. tigung geboren wurde, ermordet wurde, Muslimin? Wir haben doch genug kroatihat S. schon beobachtet, entsetzt und sche Frauen, die im Krieg vergewaltigt gleichzeitig verstehend. Ob sie ihr Kind wurden.“ Marianne Wellershoff d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 187 ARGUS Münchner Oktoberfest: Geschenk der Wittelsbacher an die Untertanen Der Makel des Prinzen Vergeblich kämpft ein bayerischer Königsspross seit Jahren um eine Bierlizenz für das Oktoberfest. Jetzt soll ihm das Volk zu seinem Recht verhelfen. I n dem idyllischen Ort Lionshead am Fuße des Vail Mountain im US-Staat Colorado weiß man die Braukünste des Prinzen Luitpold von Bayern zu würdigen. Im folkloristisch-kitschigen Ambiente des „Kaltenberg Castle“ werden jährlich an die 10 000 Hektoliter Kaltenberger Bier ausgeschenkt; bei örtlichen Volksfesten ist das süffige „König Ludwig Dunkel“ ein Schlager. Auch in Südafrika, Polen, Kroatien, Großbritannien, Italien und Schweden berauscht man sich gern an dem königlichen Gebräu. Auf heimatlichem Boden dagegen fühlt sich Prinz Luitpold stiefmütterlich behandelt. Seit fast 20 Jahren kämpft er hartnäckig dafür, dass sein Bier auch auf dem Oktoberfest in München ausgeschenkt werden darf. Ebenso lange erteilt ihm die Stadt schon eine Abfuhr. Der Makel des Prinzen: Seine Schlossbrauerei steht nicht auf Münchner Stadtgebiet, sondern etwa 40 Kilometer westlich in dem Ort Kaltenberg. Laut Paragraf 50 der Betriebsvorschrift für das Oktoberfest darf an Wies’n-Besucher aber „nur Münchner Bier der leistungsfähigen und bewährten Münchner Traditionsbrauereien ausgeschenkt werden“. Die Stadt hält eisern an dieser Vorschrift fest: „Wir wollen den Brauch wahren und die Münchner Brauereien als Imageträger unterstützen“, sagt Oberbürgermeister Christian Ude. Ebenso wie die Münchner Festwirte befürchtet Ude, dass eine Lockerung des Monopols großen Brauereien aus dem In- und Ausland die Tür öffnen wür188 die Festwiese. Das brachte de. „Dann gäbe es bald ihm Strafanzeigen wegen Warsteiner und Bitburger Nötigung, Beleidigung und auf der Wies’n“, propheWiderstands gegen die zeit der Sprecher des Staatsgewalt ein. Bayerischen BrauerbunNun will der Wittelsbades, Lothar Ebbertz – eine cher das herrschertreue Horrorvision für Einheibayerische Fußvolk anrumische. fen: Zusammen mit zehn Prinz Luitpold pocht anderen Brauereien aus dagegen auf eine andere dem Umland, die es ebenTradition: Der Spross der falls auf das größte VolksWittelsbacher beruft sich fest der Welt zieht, plant darauf, dass die Welt den Luitpold ein Bürgerbegehalljährlichen bayerischen ren „WWW – Wider den Nationalrausch seinen AhWucher auf der Wies’n“. nen zu verdanken hat. Die Nach einer im Auftrag des haben das Oktoberfest im Prinzen erhobenen UmJahre 1810 anlässlich der Luitpold von Bayern frage des Münchner PeiVermählung seines Urururgroßvaters, des späteren Königs Ludwig nelt-Instituts wünschen sich 61 Prozent der I., mit Therese von Sachsen-Hildburghau- befragten Münchner, dass Bier aus den sen gegründet. Außerdem hat Luitpolds Umland-Brauereien auf der Wies’n ausgeVorfahr Herzog Wilhelm IV. anno 1516 das schenkt werden soll. Die Rebellen wollen mit dem VerspreReinheitsgebot für Bier erlassen. Die Verdienste der Familie seien unbe- chen auf Stimmenfang gehen, die Maß stritten, kontert Gerhard Omeis, Ge- Bier für rund zehn Mark anzubieten – bis schäftsführer der Münchner Augustiner- zu zwei Mark billiger als heuer die Brauerei, aber: „Kaltenberg war ur- Wies’n-Wirte. Die sehen der Attacke gesprünglich eine rein bürgerliche Brauerei lassen entgegen. „Das ist ein Kampfpreis, und wurde erst 1954 von der Wittelsbacher den niemand halten kann“, rechtfertigt Wirte-Sprecher Willy Heide das OktoberFamilie aufgekauft.“ In Wahrheit geht es weniger um Brauch- fest-Niveau. Die Erfolgschancen des Begehrens stetum und Tradition als ums Geschäft. Während der zweieinhalb Wochen hen ohnehin schlecht: Zwar zweifelt kaum Oktoberfest flossen im vergangenen Jahr jemand daran, dass der Prinz die 30 000 knapp 5,5 Millionen Liter Bier, für die benötigten Unterschriften zusammenbesechs auf der Wies’n vertretenen Brauhäu- kommt. „Ich kann mir aber nicht vorstelser macht das einen Umsatz von mehr als len, dass das Bürgerbegehren durch den 60 Millionen Mark. Um sich daran einen Stadtrat geht“, sagt OB Ude. Er hält LuitAnteil zu sichern, schreckt Prinz Luitpold polds Aktion ohnehin lediglich für eine auch vor Krawall und Finessen nicht „geniale Marketing-Idee“, um den eigenen Umsatz zu fördern, wo auch immer. zurück. Der Hochadlige exportiert schon jetzt 1983 gründete er eigens eine Filiale in München, um als Ortsansässiger zu gelten. große Mengen seines Gebräus ins Ausland, Die Stadt stellte sich jedoch stur. Auch den derzeit etwa 500 000 Hektoliter jährlich. Antrag auf eine mobile Brauerei, mittels Etwa dieselbe Menge Kaltenbergischen welcher der Prinz seinen Gerstensaft direkt Biers wird in auswärtigen Lizenzbetrieben vor Ort brauen wollte, beschied sie ab- hergestellt. Fernab der Heimat fühlt sich der schlägig. 1987 stürmte er mit geschwenktem Maß- Bayern-Prinz deshalb auch als König der krug und einem Tross von Getreuen nebst Biere: „Die meisten wissen eben doch, Pferdewagen mit Kaltenberger Bierfässern was gut ist.“ Nicole Adolph W. M. WEBER UNTERNEHMER d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama VIETNAM Aufschwung mit Schattenseiten D er viel versprechende Liberalisierungskurs („Doi Moi“) des einst strikt kommunistischen Landes stößt erstmals an Grenzen, die vietnamesische Erfolgsstory stockt. Von 1990 bis 1997 lag die jährliche Wachstumsrate bei fast neun Prozent. Vietnam, zuvor auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln angewiesen, entwickelte sich zum zweitgrößten Reisexporteur der Welt. Außerdem stieg das Pro-Kopf-Einkommen um 250 Prozent auf 247 Dollar. Städter konnten ihre durchschnittlichen Jahreseinkünfte in den letzten Ho-Tschi-minh-Stadt fünf Jahren sogar um 370 Prozent auf 650 Dollar steigern. Galten bis 1986 zwei Drittel der Vietnamesen als arm, so sind es heute nach Schätzungen der Weltbank noch 37 Prozent. Allerdings flacht die Erfolgskurve inzwischen merklich ab, es zeigen sich erste Schattenseiten. Die Arbeitslosigkeit liegt jetzt bei 8, die Inflationsrate bei 9,2 Prozent. AFP / DPA v. d. HILST / GAMMA / STUDIO X Reisbäuerinnen KENIA POLEN Verkommene Gestalten Prost oder Prellung? charfe Maßnahmen gegen die zunehmende Zahl von Vergewaltigungen fordert der Juristinnenverband. Immer häufiger missbrauchen Männer, oft in verantwortlicher Position als Lehrer oder Politiker, junge Mädchen. Jüngster Fall: Julius ole Sunkuli, Minister im Amt des Präsidenten, wird beschuldigt, zwei Mädchen zum Sex genötigt zu haben. Ein Verfahren aber wird es voraussichtlich nicht geben. Nach üblichem Muster hat sich der reiche Politiker mit den armen Familien außergerichtlich geeinigt. Sunkuli profitiert auch von der Rechtslage, nach der sexuelle Mündigkeit bei Mädchen schon mit 14 Jahren einsetzt. Außerdem gilt der erzwungene Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen nicht als Vergewaltigung, sondern als Entjungferung wider Willen. Unterstützt werden die Juristinnen von Kenias Menschenrechtskommission: Es gebe noch „viele verkommene Gestalten auf Regierungsebene, die ihre Stellung missbrauchen“. P der den Genüssen des Lebens zugeneigt ist. Schon bei seinem Uno-Auftritt 1996 soll er betrunken gewesen sein, schrieb damals die amerikanische Presse. Beim Besuch in Belorussland im gleichen Jahr habe er den Kofferraum mit der Tür seines Autos verwechselt, berichteten räsident Aleksander Kwaśniewski steht unter Beschuss der rechtsnationalen Medien des Landes. Der Staatschef soll bei einer Zeremonie zu Ehren der 1940 vom sowjetischen Geheimdienst ermordeten polnischen Offiziere in Charkow „unter Alkoholeinfluss“ gestanden haben. Fest steht: Er taumelte, stützte sich immer wieder bei den Nachbarn ab, sein Schritt war schwankend. „Er hatte zu viel getrunken“, sagt Katarzyna Piskorska von der Vereinigung der Katyn-Familien, die an dem Festakt teilgenommen hat. „Unsinn“, widerspricht das Präsident Kwaśniewski Präsidialamt, der Präsident sei Augenzeugen. Die Nationalkonservatiunpässlich gewesen, weil er an einer ven versuchen nun, aus der Affäre poliPrellung des rechten Beins laborierte. tisches Kapital zu schlagen. Denn Während die privaten TV-Stationen die Kwaśniewski ist der beliebteste PolitiAufnahmen vom wankenden Präsidenker – rund 60 Prozent der Polen würden ten ausstrahlten, schwieg das staatliche ihn heute wieder wählen. Fernsehen. Kwaśniewski gilt als einer, W. SKOTNICKI / FORUM S Experten glauben, dass sich das Wachstum künftig auf 3 Prozent im Jahr einpendeln wird, und nennen dafür drei Gründe: Die asiatischen Nachbarstaaten als wichtigste Handelspartner stecken noch in der Krise, Korruption und eine schwerfällige Bürokratie verschrecken ausländische Investoren, Machtkämpfe innerhalb der vietnamesischen KP behindern den weiteren Siegeszug der Marktwirtschaft. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 191 Panorama IRAK Disney in der Wüste Attentatsopfer in Jerusalem J O R DA N I E N Kampf der Schlange D er junge König Abdullah geht hart gegen die extremistische HamasBewegung vor. Nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Amman wurden vorigen Mittwoch sechs einflussreiche Führer der Bewegung, darunter der Chef des Politbüros, Chalid Mischal, sowie Hamas-Sprecher Ibrahim Ghausche, vorübergehend verhaftet. Ein weiterer Funktionär wurde nach Dubai ausgewiesen. Die Festnahmen demonstrieren die Entschlossenheit der jordanischen Behörden, gegen die Islamisten vorzugehen. Bereits in den letzten Wochen waren 15 Aktivisten festgesetzt und 5 Hamas-Büros in Amman geschlossen und versiegelt worden. Begründung: „Gefahr für die öffentliche Ordnung des Landes.“ Die Regierung beruft sich darauf, dass die Hamas-Führer ausdrücklich vor der Einreise gewarnt worden seien und nun die „Autorität des Landes und seiner Gesetze verletzt“ hätten. Zugleich wurde „rassistische Hetze“ gegen Juden und der Aufruf zur Liquidierung von „Gottesfeinden“ unter Strafe gestellt. Hamas dagegen vermutet Israel und die USA als Drahtzieher hinter der Aktion und fordert die „unverzügliche Freilassung“ ihrer Führer. Auch der Generalsekretär des jordanischen Anwältevereins, Salih al-Armuti, sieht in der Festnahme „eine rein politische Entscheidung“. Tatsächlich steht die extremistische Organisation den Friedensbemühungen von Israel, Jordanien und den Palästinensern sowie neuerdings auch Syrien im Weg. „Ich habe die Hamas in meinem Gebiet fast vernichtet“, hatte PalästinenserPräsident Jassir Arafat den jungen König Abdullah immer wieder beschworen: „Aber wenn der Kopf der Schlange in Jordanien nicht getötet wird, bleibt sie gefährlich.“ 192 addam Hussein hat sich und seine Günstlinge zu seinem 62. Geburtstag reich beschenkt. Für mehrere hundert Millionen Dollar setzte der Despot an einem künstlichen See eine luxuriöse Ferienanlage in die Wüste, deren 625 Häuser ihm und seinen Gefolgsleuten vorbehalten sind. Das Luxusareal („Saddamijat al-Tharthar“) rund 137 Kilometer westlich von Bagdad ist nach Erkenntnissen des US-Außenministeriums eine Art privates Disneyland – mit Sportstadien, Freizeitpark, Krankenhäusern und Grünanlagen. „Es US-Luftbild der Erholungsanlage für die irakische gibt keinen besseren Beweis für SadElite, Diktator Saddam Hussein dams mangelndes Interesse an der Not seines Volkes“, heißt es im State Department. Seit dem Golfkrieg habe Saddam mehr als zwei Milliarden Dollar ausgegeben, um seine Paläste mit vergoldeten Badezimmerarmaturen oder künstlichen Seen und Wasserfällen zu verschönern. Die benötigten Pumpen wären für die zivile und medizinische Wasserversorgung der notleidenden Iraker bitter nötig gewesen. TERRORISMUS RUSSLAND Schwarzer Schwan Narkotisierte Armee I n Sarajevo tobt eine Debatte um die Frage, wie einer der führenden arabischen Extremisten die bosniAuduni sche Staatsangehörigkeit erhalten konnte. Mihris Auduni, Vertrauter des weltweit gesuchten islamistischen Terroristen Ussama Ibn Ladin, besitzt seit einem Jahr einen bosnischen Pass. Der Truppe um den religiösen Eiferer Ibn Ladin, auf dessen Kopf die USA fünf Millionen Dollar ausgesetzt haben, werden unter anderem die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 angelastet. Auduni kämpfte von 1993 bis 1995 in der bosnischen Eliteeinheit „Schwarze Schwäne“. Drei Jahre später beantragte der Tunesier den bosnischen Pass. Bereits einen Monat nach Aushändigung standen sein Name und die neue Ausweisnummer auf der Fahndungsliste von Interpol. Mitte des Monats ging Auduni der Polizei ins Netz – bei der Einreise nach Istanbul, wo er nun einsitzt. NEXUS / AKSAN REUTERS S d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 W achsende Probleme mit drogensüchtigen Soldaten bereiten der Armeeführung zunehmend Kopfzerbrechen. Nach einer Untersuchung der russischen Militärstaatsanwaltschaft hat sich allein der aufgedeckte Drogenhandel in den Streitkräften zwischen 1996 und 1998 mehr als verdoppelt: Die Zahl nachgewiesener Fälle stieg Russische Soldaten Ausland IRAN „Helmut Hofer ist ein Opfer“ Rechtsanwalt Malek Huschang Ghahari über den Prozess gegen seinen Hamburger Mandanten Helmut Hofer, 58, der am Mittwoch in Teheran vor Gericht steht, weil er eine sexuelle Beziehung zu einer Muslimin gehabt haben soll V. VELENGURIN / RPG von 256 auf 605. Eine vergleichbare Entwicklung registrierten die Militärs auch bei drogenbedingten Delikten innerhalb der Truppe; darunter sind immer mehr Gewalttaten. Im Tscheljabinsker Gebiet am Ural stellten die Militärärzte im vergangenen Jahr bei Rekruten viermal häufiger als noch 1996 Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit fest. Besonders beunruhigend: Auch bei den Raketentruppen, welche die Atomwaffen unter Verschluss haben, nahmen die Drogenstraftaten um das Zweieinhalbfache zu, zudem mit steigender Beteiligung auch höherer Dienstgrade. Ursachen der zunehmenden „Narkotisierung der Armee“, so ein Staatsanwalt, seien ausbleibende Soldzahlungen sowie eine verschlechterte Ausbildung. Das Rauschgift, insbesondere Heroin, wird meist aus Mittelasien eingeschleust, nicht selten von Soldaten, die in Tadschikistan an der afghanischen Grenze Dienst tun. gen Kaution abgesehen, sitzt Ihr Mandant seit gut zwei Jahren im berüchtigten EvinGefängnis. Wie geht es Helmut Hofer? Ghahari: Ich war erst vor vier Tagen bei ihm. Ich kann nicht sagen, dass es ihm körperlich oder seelisch wirklich schlecht geht. Aber wie jeder andere, der sich unter diesen Umständen so lange im Gefängnis befindet, ist er natürlich gezeichnet und sehr nervös. SPIEGEL: Beklagt sich Hofer über seine Haftbedingungen? Ghahari: Beim letzten Mal hatte er einige Wünsche: Er wollte Hofgang haben und Tischtennis spielen. Das ist ihm auch erlaubt worden. Er bekommt alle nur möglichen Vergünstigungen, weil AFP / DPA FOTOS: U.S. STATE DEPARTMENT (gr.); AP ( kl.) SPIEGEL: Von einer kurzen Freilassung ge- gebung des Evin-Gefängnisses fotografiert, obwohl das verboten ist. Und er hat darauf bestanden, einen früheren Mithäftling zu treffen.Aber mein Mandant ist vor allem ein Opfer. SPIEGEL: Meinen Sie ein Opfer des Machtkampfes in Iran, der zwischen Konservativen und Reformern um die Zukunft des Gottesstaates ausgetragen wird, oder kritisieren Sie die Behandlung des Falls auf deutscher Seite? Ghahari: Wir Anwälte, mein Kollege Nasser Taheri und ich, hatten vereinbart, dass Hofer gegen Kaution freikommt, ohne Bedingungen. Er sollte nur zum nächsten Gerichtstermin erscheinen und hätte theoretisch sogar bis dahin nach Deutschland fliegen können. Aber dann kam Herr Hombach, und die Deutschen wollten wohl zeigen, dass sie politisch Gewichtiges unternehmen. Hofer durfte dann das Land nicht verlassen, erhielt Bewachung; die Kaution belief sich auf etwa 300 000 Mark. SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass der Auftritt des damaligen Kanzleramtsministers Bodo Hombach in Teheran Ihrem Mandanten geschadet hat? Ghahari: Ich sage lediglich, dass am Tag, an dem Hombach kam, Hofer nur zu Bedingungen freigelassen wurde, von Verteidiger Ghahari, Angeklagter Hofer die Verantwortlichen davon ausgehen, dass er ein Muslim ist. Sie sprechen ihn als „Hadschi“ an, der Ehrenbezeichnung für Mekka-Pilger, und nennen ihn „Bruder“. Aber das Evin-Gefängnis ist nun mal kein Fünf-Sterne-Hotel. SPIEGEL: Was hat zu Hofers erneuter Verhaftung geführt? Ghahari: Die Akte enthält keine neuen Beschuldigungen. Aber es hatte sich einiges angesammelt: Hofer war wütend darüber, dass er unter iranischer Bewachung stand. Er sollte gegen mögliche Angriffe geschützt werden. Hofer aber wollte allein auf die Straße gehen, deshalb hat er sich mit seinen Leibwächtern angelegt. Außerdem hat er die Umd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 denen nichts in unseren Vereinbarungen stand. Ich glaube nicht, dass die Aktion von Herrn Hombach hilfreich war. SPIEGEL: Was erwarten Sie von der Verhandlung am Mittwoch? Ghahari: Hofer ist unschuldig, und das werden wir erneut vortragen. Wir erwarten einen Freispruch. Ob der schon am Mittwoch ergeht, ist schwer zu sagen. Ich habe Hofer erklärt, dass er nicht damit rechnen solle. So wie die Fragen jetzt gestellt werden, glaube ich eher, dass es noch einige Sitzungen dauern wird. Andererseits ist der neue Chef der Justiz, Mahmud Haschemi Schahrudi, ein sehr mächtiger Mann, der vielleicht einfach sagt: Lasst ihn gehen. 193 Ausland CHINA Traum von der Supermacht Die Kommunisten feiern: 50 Jahre lang haben sie China regiert und in die Moderne gestoßen – zum Preis von Millionen Menschenopfern. Jetzt greifen sie nach der Weltmacht. Passt dafür noch die Diktatur einer Partei mit veralteter Ideologie? A 50 Jahre Volksrepublik China 194 Präsident Jiang (mit Generälen), Modenschau in munisten kämpfen mit enormen Widrigkeiten – die sogar das Überleben der Partei gefährden könnten. Die Wirtschaftsreformen der letzten 20 Jahre, so der chinesischstämmige Wissenschaftler Minxin Pei in den USA, haben die „breite soziale Basis der Partei zerfressen“. Die Zahl der Arbeitslosen wächst derzeit jeden Monat um rund eine Million – und damit auch die Möglichkeit eines Aufruhrs. Wie ein riesiger Lindwurm windet sich ein Heer von 200 Millionen Bauern als Wanderarbeiter durch das Land. Sie schuften für Hungerlöhne, von den Behörden gegängelt, von den etablierten Arbeitern als Lumpenproletariat verachtet. In den Städten wächst derweil eine neue Mittelklasse, die dank Auslandsstudium und Internet über das Weltgeschehen informiert ist und westliche Freiheiten und politische Mitsprache fordern wird. Die Bauern werden 1958 in Volkskommunen zusammengefasst. Zur schnellen Industrialisierung werden Millionen Chinesen von den Feldern zur Arbeit an primitiven Schmelzöfen abkommandiert – das Korn verrottet auf den Feldern. Mindestens 30 Millionen Chinesen verhungern. Von Mao zum Markt Die Kommunisten entscheiden 1949 den Bürgerkrieg für sich. Nationalistenführer Tschiang Kaischek flieht nach Taiwan. Auf dem Tiananmen in Peking ruft Mao Tse-tung am 1. Oktober die Volksrepublik China aus. Deng Xiaoping, besuchte den verwundeten Zhong und stellte ihm sogar seine Frau vor. Als Mao auf dem Tiananmen am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik proklamierte, der Ruf „China hat sich erhoben“ über die Menge hallte und ein Feuerwerk die kühle Herbstnacht durchzuckte, war Zhong glücklich: „Endlich hatten wir das Ziel erreicht – ein neues China.“ Nun, da sich der historische Tag zum 50. Mal jährt und mit großem Pomp in Peking bejubelt wird, ist Zhong 80 Jahre alt, und die Skepsis nagt an ihm. Zu weit haben sich manche Machthaber, wie er sagt, vom Volk entfernt. Geldgierige Funktionäre setzen jene hehren Ziele aufs Spiel, denen er sein ganzes Leben gewidmet hat. Zhong ist kein Dissident. So wie er denken und fühlen in diesen Tagen viele alte Kader, hin- und hergerissen zwischen der Genugtuung darüber, dass ihre Partei das chinesische Volk von feudaler Ausbeutung und japanischer Besatzungsmacht befreite, und dem Schmerz über das, was aus ihrer Revolution geworden ist. Genossen wie Zhong wissen: Es gibt weniger Grund zum Feiern, als die Führung den Chinesen während des Jubiläums weismachen will. Denn die regierenden Kom- Staatswappen der VR China Nach der Okkupation 1950/51 durch China kommt es 1959 zum Aufstand gegen die Besatzungsmacht. Die Revolte scheitert, der Dalai Lama flieht nach Indien. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 China zündet am 16. Oktober 1964, zwei Tage nach dem Sturz Chruschtschows in Moskau, seine erste Atombombe. S OV F OTO Mao Mao Tse-tung Tse-tung 1947 1947 im im Bürgerkrieg Bürgerkrieg G A M M A /S T U D I O X uf seinem Unterarm trägt er als Erkennungsmarke die tätowierten Schriftzeichen seines Namens. „Wenn ich gefallen wäre, hätten sie mich gleich identifizieren können“, erklärt er. Aber er hatte Glück. Eine feindliche Kugel durchschlug seinen Hals: „Nur ein paar Millimeter weiter vorn, und ich wäre verblutet.“ Das war 1935, auf Maos legendärem „Langen Marsch“. Zhong Renhui war als Soldat dabei, gerade 16 Jahre alt. In seiner geräumigen Wohnung im Südwesten Pekings ist die Vergangenheit lebendig. Im Flur hängt ein Kalender mit dem Abbild Mao Tse-tungs, im Wohnzimmer ein Schwarzweißfoto von Funktionären in Mao-Kluft von 1964: In der Mitte steht Ministerpräsident Tschou Enlai, neben ihm, mit Ballonmütze, Zhong Renhui, damals 45. Er kannte sie alle, und alle kannten ihn: Mao und Tschou, die Marschälle und Heerführer. Der Leiter des ZK-Sekretariats und später mächtigste Mann Chinas, Rotgardistinnen mit Mao-Bibel Jugendliche Kulturrevolutionäre terrorisieren 1966 ihre Lehrer. Mao unterstützt den Kampf gegen die „alten Autoritäten“ und entledigt sich so der innerparteilichen Opposition. Millionen Funktionäre müssen zur Zwangsarbeit in „Kaderschulen“. FOTOS: AP einem Pekinger Einkaufszentrum: „Immer mehr Mut, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“ nen städtische Arbeiter ihren Job, nur zwei Millionen fanden eine neue Stelle. Wenn die Partei das Land weiter in Richtung Kapitalismus schiebt, entgleitet ihr bald ihre Daseinsberechtigung als marxistisch-leninistische Organisation. „Die volle Privatisierung würde uns das Genick brechen“, bangt ein Pekinger Funktionär. Chinas KP steht am Scheideweg: Erweist sie sich, nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang über das größte Volk der Erde verfügt hat, als ein Auslaufmodell, das auf den Müllhaufen der Geschichte kommt? Oder findet sie doch noch die Kraft, das Reich der Mitte vom Entwicklungsland zur wirtschaftlichen Supermacht voranzutreiben? Taugen die 61 Millionen Parteimitglieder überhaupt noch dazu, den gut 1,2 Milliarden Bürgern als Vormund zu dienen? Ihr Chef Jiang Zemin, 73, stellte jüngst seinen Genossen ein miserables Zeugnis aus: „Ei- Studenten in Peking fordern 1989 mehr Demokratie. Über eine Million Einwohner schließen sich an. Die Armee geht mit Waffengewalt gegen die Protestbewegung vor, 2600 Demonstranten werden getötet. K E YS TO N E Am 9. September 1976 stirbt der „Große Steuermann“. Der Kampf um seine Nachfolge setzt ein, die linksradikale „Viererbande“ um die MaoWitwe Jiang Qing wird verhaftet. Mao-Witwe Jiang Qing vor Gericht Vizepremier Deng Xiaoping setzt sich 1978 mit seinem gemäßigten Wirtschaftskurs durch. Beginn des Reformzeitalters und Öffnung Chinas: Mehr Selbständigkeit der Industrie und Betonung des Leistungsprinzips sollen zu einer marktorientierten sozialistischen Wirtschaftsform führen. nige Mitglieder haben den Glauben an den Sozialismus verloren, sie haben keinen revolutionären Geist mehr, sie verbringen ihre Tage mit Trinken und Essen, sie hängen dem Aberglauben an. Sie jagen dem Geld mit Hilfe der Korruption nach.“ KP-Konservative urteilen noch schärfer: Die Partei sei „auf dem Wege der Zerstörung“, warnt der Propagandaveteran Deng Liqun, sie degeneriere und stehe schon „am Rande des Zusammenbruchs“. Verbote, Umerziehung, Kampagnen, die gewohnten Methoden der KP, versagen gegen die Verlockungen der Gewinnsucht. In den letzten zwölf Monaten lenkten Funktionäre 117,4 Milliarden Yuan (rund 27 Milliarden Mark) in die eigenen Taschen oder zweigten sie für fremde Zwecke ab. Anstatt nach der verheerenden Flutkatastro- A F P/ D PA Die Volkswirtschaft wird von rund 300 000 Staatsbetrieben erdrückt, Kolossen mit teilweise 50 Jahre alten Maschinen. Sie liefern 30 Prozent aller Waren, beschäftigen aber über zwei Drittel der städtischen Arbeiter und verschlingen auch zwei Drittel aller Investitionen. Viele wären ohne Subventionen bankrott. Die Partei müsste die Monster radikal zerschlagen und privatisieren, um sie rentabler zu machen. Ein höchst riskantes Unterfangen: Damit würde die Arbeitsplatzgarantie samt Rundumversorgung, die „Eiserne Reisschüssel“, die ohnehin schon breite Sprünge hat, endgültig zerbrechen – und jeder dritte dieser Arbeiter auf der Straße landen. Schon jetzt sind über 20 Millionen Menschen „xiagang“ – freigesetzt mit 170 Yuan (knapp 40 Mark) Unterstützung im Monat. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres verloren über sieben Millio- Studentenprotest auf dem Tiananmen-Platz 1989 Am 1. Juli 1997 übernimmt die Volksrepublik die Souveränität über die britische Kronkolonie Hongkong und macht sie zu einer weitgehend autonomen Sonderverwaltungsregion. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Im März 1999 werden Privatgewerbe als „wichtige Bestandteile der sozialistischen Marktwirtschaft“ verfassungsrechtlich anerkannt. 195 Werbeseite Werbeseite Ausland Reihe von Desastern die ersten 30 Jahre der Volksrepublik. Sie warfen nicht nur die Wirtschaft des Reiches zurück, sondern kosteten auch Abermillionen das Leben. Gleich nach der Revolution wurden laut Mao 800 000 „konterrevolutionäre Elemente“ liquidiert. Später kamen die Intellektuellen an die Reihe, dann die so genannten Rechtsabweichler – eine Aktion, die Deng Xiaoping ab 1957 organisierte. Maos radikale Bodenreform teilte im Süden des Landes den Bauern zu wenig Ackerfläche zu, um überleben zu können. Arbeitsgruppen in blauer Baumwollkluft zogen in die Dörfer ein. Sie zitierten Sprüche des Großen Vorsitzenden und verurteilten reiche Bauern, kleine, mittlere und große Grundbesitzer in so genannten Bitterkeitsversammlungen als „Verräter“. Mao befahl: „Tötet nicht einen oder zwei, tötet viele.“ Bis 1953 kamen zwischen zwei und fünf Millionen Menschen ums Leben. Im „Großen Sprung nach vorn“ mussten die Bauern 1958 Privatbesitz aufgeben, lebten fortan in Baracken, aßen in Kantinen, die etwa „Glücklicher Garten“ hießen, und arbeiteten in militärischen Formationen. „Ihr gemeinsamer Besitz war die Armut“, urteilt der Autor Harrison E. Salisbury. Der Offizier Zhong, der für den Sieg des Kommunismus „in 500 Gefechten“, wie er sagt, sein Leben eingesetzt hatte, empfand damals schon Skrupel: „Die Kollektivierung kam zu früh. Die Bauern waren nicht so weit. Der Ansporn fehlte.“ Sie mussten auch noch in kleinen Schmelzöfen Stahl produzieren. China stürzte in eine Hungersnot, in der nach jüngsten Schätzungen zwischen 30 und 43 Millionen starben. Erst 1983 erreichte die Landwirtschaft wieder den Stand von 1952. Während des Volkskommunen-Experiments erlitt die Karriere des Soldaten Zhong einen heftigen Knick. Inzwischen in der Süd-Provinz Yunnan Kommandeur eines Militärbezirks, legte er sich mit dem Parteisekretär an, der – wie viele seiner Genossen – falsche Erntezahlen nach Peking meldete. „Ich wehrte mich“, erinnert sich Zhong. „Die Leute hatten überhaupt nichts mehr zu essen.“ Zhong, zum Oberst aufgestiegen und kurz vor der Beförderung zum General, musste die Uniform ausziehen und wurde als Vizedirektor in eine Rüstungsfabrik abgeschoben. „Ich habe aber meine Integrität bewahrt.“ Noch heute bricht der Trotz bei dem Veteranen durch: „Wir hatten damals Recht mit unserer Kritik.“ Bald darauf fiel er noch tiefer. Mao setzte 1966 seine Kulturrevolution in Gang, um AP phe von 1998 (über 4000 Tote) 100 Kontrollboote zu kaufen, bauten sich Kader mit den bereitgestellten Mitteln luxuriöse Büros und spekulierten an der Börse. Hilfsmittel für Arme wurden in reichere Provinzen umgeleitet, Teile des Pensionsfonds für Postler und Eisenbahner lösten sich in Luft auf. Vizepremier Li Lanqing: „Die Menge des veruntreuten Geldes schockiert.“ Der stellvertretende Bürgermeister von Shenyang soll mehr als sieben Millionen Mark in den Kasinos von Macau verspielt haben, während er offiziell in der Zentralen Parteischule paukte. Der Chef der AntiSchmuggel-Sondereinheit, Li Jizhou, den Freunde „Sherlock Holmes“ nennen, hat angeblich Lizenzen für 70 000 geschmuggelte Autos ausgestellt. Die Konterbande gelangte auch auf Schiffen der Volksmarine ins Land. Mit Korruption und Vetternwirtschaft, den traditionellen „guanxi“ (Beziehun- Armut auf dem Dorf: Der Hunger ist besiegt gen), untergraben die Kommunisten die hohe Verantwortung, die sie 1949 übernommen hatten. Nie zuvor in der Weltgeschichte hat eine einzige Gruppe versucht, so viele Bürger in einem Einheitsstaat zu regieren – das größte Volk der Erde. Die KP muss rund fünfmal so viele Menschen ernähren wie die USA, auf nur sieben Prozent der Weltanbaufläche. Jedes Jahr kommen zehn Millionen Menschen dazu. Die Erfolge sind unstrittig: Der Hunger ist weithin besiegt, aus sandigen Böden wurden Reisfelder, aus Reisfeldern Städte. China ist Atommacht und schickt sich an, einen Menschen ins All zu schießen. Binnen 20 Jahren sank die Zahl der Armen um fast 200 Millionen, immer mehr Menschen können lesen und schreiben, Epidemien raffen nicht mehr hunderttausende dahin. Der Preis aber war schrecklich. Selbst der Georgier Stalin hat nicht so viele Untertanen für eine vermeintlich bessere Sache geopfert wie seine chinesischen Genossen. Weil Mao Tse-tung und seine Freunde ungehindert ihren Sozialutopien nachhängen konnten, prägte eine lange d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 197 Werbeseite Werbeseite Y. ABRAMOCHKINE / FDB / STUDIO X Modernes Schanghai: Vom alten Denken Lichtjahre entfernt Widersacher in der Partei auszuschalten. Rotgardisten wüteten im ganzen Land, sie bekämpften vermeintliche Verräter und die „Vier Alten“: altes Denken, alte Kultur, alte Sitten und alte Gebräuche. Das kollektive Toben richtete sich gegen Minister wie Pförtner, Generäle wie Rekruten, Professoren wie Schüler, Direktoren und Arbeiter, Junge und Alte und vor allem gegen Parteifunktionäre, die den Träumereien Maos nicht mehr folgen mochten. Sie wurden von Mao-Bibeln schwingenden Kindern denunziert, gedemütigt, geprügelt, verhaftet, gefoltert und oftmals erschlagen. Das Riesenreich versank in Anarchie, bis schließlich das Militär eingriff und Millionen Rotgardisten aufs Land verbannte. Eine ganze Generation versäumte zwischen 1966 und 1976 eine vernünftige Schulbildung und verlor das Gefühl dafür, wie ein zivilisiertes Gemeinwesen funktionieren sollte. Zhong, inzwischen wieder Parteisekretär einer Waffenschmiede, musste für neun Monate als „Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht“, an die Drehbank, aber immerhin: „Ich wurde nicht geschlagen, meine Wohnung nicht durchsucht, ich musste den Schandhut nicht aufsetzen.“ Zweifel an der irrwitzigen Aktion kamen ihm nicht, und auch heute sucht er wie viele seiner Landsleute die Fehler nicht beim Großen Steuermann: „Mao hatte gute Absichten, die anderen, seine Frau Jiang Qing zum Beispiel, haben die Lage für ihre Machtgelüste ausgenutzt.“ Trotz der blutigen Bilanz gilt Mao vielen Chinesen als Symbol besserer Zeiten. Sein Bild baumelt am Rückspiegel von Taxis. Die Betreiber eines Restaurants am Pekinger Westbahnhof, das Maos Lieblingsspeisen serviert, haben im Eingang einen Altar mit einer goldfarbenen Büste des Vorsitzenden errichtet – der Staatsgründer als Gott, dem Fisch und Fleisch geopfert werden, von Weihrauch umwabert. Noch hängt Maos Bild am TiananmenTor im politischen Herzen Chinas, laut Deng Xiaoping wird es dort „ewig“ bleiben. „Wenn man seine Fehler mit seinen Verdiensten abwägt“, so Deng 1980, „dann d e r denken wir, dass seine Fehler zweitrangig sind. Was Mao für das chinesische Volk getan hat, kann niemals ausgelöscht werden.“ Deng aber war es, der ab 1978 mit seiner Parole „Reich werden ist ruhmvoll“ China in einen modernen Staat verwandelte. Er befreite die Bauern von den Fesseln der Kollektivwirtschaft, erlaubte Handel und Gewerbe durch Privatleute und ließ westliches Kapital ins Land. Sonderwirtschaftszonen locken seither mit Steuernachlässen ausländische Firmen an. Eine neue Klassengesellschaft – Todsünde wider den Sozialismus – ist die Folge. Neureiche geben an einem Abend für Essen, Trinken und Frauen mehr Geld aus als ein Tagelöhner, der in den Vorstädten Pekings den Müll nach Verwertbarem durchklaubt, in zehn Jahren zum Leben findet. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 66 Prozent der Spareinlagen. Der Aufschwung hat ein bröckeliges Fundament. Chinas Banken, von der Regierung abhängig, haben mehr Außenstände als die maroden Geldhäuser Thailands und Südkoreas zusammen. „Eine beträchtliche Zahl von Krediten verschwindet wie Steine, die ins Meer geworfen werden“, sorgt sich die Finanzzeitung der Zentralbank „Jinrong Shibao“. Die Auslandsschulden sind etwa so hoch wie die Devisenreserven: rund 150 Milliarden Dollar. Über ein Drittel des Haushalts geht für Zinszahlungen drauf. China, glaubt gar der US-Ökonom Nicholas Lardy, „ist faktisch pleite“. Weil sie wissen, dass sie bei ihrer Gratwanderung mit Marxismus-Leninismus keinen mehr überzeugen können, arbeiten die Funktionäre an einer anderen Vision: dem Traum von nationaler Größe. Das Beschwören der Stärke Chinas soll von den sozialen Verwerfungen ablenken, die Liebe zum Vaterland als neues Bindemittel zwischen Partei und Volk wirken. Nur die KP, beteuern die Kader, könne China wieder einen angemessenen Platz in der Welt verschaffen – den Status einer Großmacht. Die Zeiten seien vorbei, als „westliche Mächte in die Verbotene Stadt einzogen, den alten Sommerpalast zerstörten und Hongkong und Macau übernahmen“, empörte sich die Pekinger s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 199 DPA Private Unternehmer fahren VW Jetta „Volkszeitung“ nach dem Nato-Bombardement der chinesischen Botschaft in oder Cherokee-Jeep – 1985 gab es in der Hauptstadt nur 60 Privatautos. Neureiche Belgrad. Über eine Million Menschen kauften das kreuzen auf Harley-Davidson-MotorräBuch „China kann nein sagen“, in dem dern durch Peking, einen Wehrmachtsfünf junge Autoren einen radikalen Pa- Stahlhelm aufgestülpt. Sie bauen sich vor triotismus verkünden: „Es vergeht keine den Toren Pekings schicke Villen, feiern Minute, keine Sekunde, in der sich der Grill-Partys und kaufen ihren Frauen Gucci-Taschen und Schoßhündchen, vorzugsWesten nicht gegen uns verschwört.“ Zuweilen klingen die Nationalparolen weise natürlich Pekinesen. All das, was Mao als dekadent ausrotder Partei indes wie ein verzweifelter Bittruf an das Volk – so wie die Transparente ten wollte, ist wieder aufgetaucht. Längst in Schanghais Finanzzentrum Pudong: „An blüht wieder die Prostitution, in verden Grundlinien der Partei festhalten und schwiegenen Clubs wiegen sich Nackttänzerinnen, in Karaokebars lassen sich so ge100 Jahre lang nicht daran rütteln.“ Die KP präsentiert sich am Geburtstag nannte Begleiterinnen befummeln. Jugendder Volksrepublik im gewohnten Stil: mit liche tauchen in eine Welt von Drogen und Militärparade und Massenaufmärschen, Rock’n’Roll ein. Und sie tun es nicht mehr Propaganda und Parolen. Weil die bunten Reklametafeln an der Straße des Ewigen Friedens das Bild eines feiernden sozialistischen Staates stören, mussten Arbeiter sie für das Ereignis abmontieren. Neben diesem China der 50 Jahre alten Riten und Floskeln ist in den letzten Jahren allerdings ein ganz anderes Land entstanden, Lichtjahre vom alten Denken entfernt. Aus den MaoAnzügen sind die jungen Leute in modernes Outfit geschlüpft, die Frauen tragen freche Mi- Vorbereitungen zum 50. Jahrestag: Im alten Stil niröcke, im letzten Sommer waren Hotpants und klobige Plateausohlen heimlich: Stellvertretend für eine neue Generation hat die Schanghaier Schriftstelleder letzte Schrei. In der „Banana“-Disco zuckt die Jugend rin Mian Mian, 29, ihre Erfahrungen nozu lauter Techno-Musik, die Kellnerinnen tiert. Auch sie verkörpert das neue China: tragen elegante weiße Kleider und blonde chaotisch, klug und weit weg von Partei Perücken. Sie servieren mexikanisches und Prüderie der vergangenen Jahre. Mian Mian sitzt im eleganten SchangCorona-Bier, die Flasche zu fünf Mark. In Nischen kann sich die Jeunesse dorée Pe- haier Art-déco-Restaurant Park 97. Die kings ungestört intimeren Dingen zuwen- Frau mit dem Pony-Schnitt trägt eine tief den. Der letzte Trend in der dunklen Dis- ausgeschnittene rote Bluse und einen kurco: Ältere Frauen suchen sich jüngere zen Spitzenrock. Sie berichtet mit rauer Stimme, dass gerade Teile ihrer Villa ausLiebhaber, „Entchen“ genannt. 200 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 AP Landungsmanöver chinesischer Truppen: „Es vergeht keine Sekunde, in der sich der Westen nicht gegen uns verschwört“ gebrannt seien. „Sie sieht aus wie eine Disco“, kichert sie, „alles ist schwarz.“ Das Haus hat sie vom Papa bekommen, ihr Geld verdient sie mit Kurzgeschichten und Romanen wie „Acid Lover“ oder „Neun Objekte der Begierde“, die sie nachts in den Computer hackt. Die Erzählungen handeln von Liebe, Drogen, Nutten und Disco-Girls, von der Suche der Frauen nach dem kleinen Glück – vor allem aber von ihr selbst. „In der Liebe verliere ich immer, Männer behandeln mich wie ein Stück Dreck“, klagt sie. Stolz präsentiert sie das Büchlein „La, La, La“, das nicht größer als eine Handfläche ist und neben Kurzgeschichten viele Fotos der Autorin enthält. Eines zeigt sie vor einem Sexshop, an dessen Schaufensterscheibe die Zeichen „Willkommen“ prangen. Wegen dieses vermeintlich anrüchigen Fotos, vermutet Mian Mian, haben die Behörden „La, La, La“ vorzeitig aus dem Verkehr gezogen. Dass Zensoren ihre Gedanken umformulieren, kann sie rasend machen. In einem Manuskript beschrieb sie, wie sie mit einem Schlagzeuger „Liebe machen“ wollte. Der Lektor redigierte: „Ich hatte traurige Gedanken.“ Vor wenigen Jahren indes wären die Behörden ganz anders mit ihr verfahren. Inzwischen genießen die Chinesen so viele Freiheiten wie in den letzten 50 Jahren nicht. Mehr Zeitungen konnten sie nie lesen, mehr TV-Programme ohnehin nicht einschalten, längst vergessen sind die trüben Zeiten, als die Theater nur acht Musteropern spielten. Die Bürger dürfen ohne Erlaubnis ihrer Arbeitseinheit im Lande umherreisen, und wer ausreichend Geld hat, bekommt einen Pass und kann in die Welt hinaus: Thailand ist derzeit beliebtes Urlaubsziel. Das Studium im Ausland ist nicht mehr nur politisch Privilegierten vorbehalten.Wer finanziell dazu in der Lage ist, dem steht das Tor zu einer Uni in den USA oder Kanada Werbeseite Werbeseite offen. Daheim bekommen Studenten ihren Arbeitsplatz nicht mehr zugeteilt, sondern dürfen ihn selbst aussuchen. „Die Chinesen haben immer mehr den Mut, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Man ist nicht mehr von der Regierung oder der Arbeitseinheit abhängig. Man erwartet keine Eiserne Reisschüssel mehr“, schreibt die Pekinger „Jugendzeitung“. Die Partei hat ihren Griff gelockert, jeder kann seinen privaten Interessen nachgehen, ohne dass ein Blockwart mit roter Armbinde zu „mehr gesellschaftlichen Aktivitäten“ mahnt oder, schlimmer, der Bannfluch des Rechtsabweichlers droht. Sogar der Zwang zur Ein-Kind-Ehe für Städter gilt nicht mehr. Doch die Öffnung vollzieht sich unter einer Bedingung: Niemand darf das Machtmonopol der Staatspartei in Frage stellen. Mit bewährter Härte zerschlagen Polizei und Staatssicherheit alles, was nach ihrer Ansicht die „Stabilität des Landes“ bedrohen könnte, und dazu zählen sie vor allem jene, die es wagen, Widerworte zu geben, Parteien oder Gewerkschaften zu gründen. Die Führer der „Demokrati- Mao-Kult am Tiananmen-Tor: „Gute Absichten“ schen Partei Chinas“ beispielsweise verschwanden rasch für viele Jahre nete bestimmt werden sollten, ergänzten im Gefängnis. Das ganze Land ist nach wie die Anwohner die offizielle Kandidatenvor von einem dichten Netz von Arbeits- liste durch seinen Namen. lagern überzogen, tibetische Buddhisten Fortan machte sich Zhong bei den Büround auch Christen werden verfolgt. Ge- kraten unbeliebt. Er wehrte sich dagegen, richte verurteilen Übeltäter in Massen zum dass der Strom abgeschaltet wurde, wenn Tode durch Genickschuss, Verteidiger ha- die Mieter die Rechnung nicht bezahlen ben kaum eine Chance auf Einspruch, denn konnten. Die städtische Gasgesellschaft in der Justiz hat wie in alten Zeiten allemal wollte ein neues Gebäude nicht an die Leinicht der Angeklagte, sondern die Partei tung anschließen, weil einer ihrer AngeRecht. stellten keine Wohnung darin bekommen Nach einem halben Jahrhundert gibt es hatte – Zhong schuf Abhilfe. Und als sich kaum Anzeichen, dass die KP mehr De- die Stadt weigerte, eine Fabrik für den Bau mokratie einräumen könnte. Selbst wenn einer Straße durch ihr Gelände zu entsie Dorfbewohnern erlaubt, ihren Schul- schädigen, legte er sich mit dem Bürgerzen direkt zu wählen, hat dies mit demo- meister an – und siegte: Das Werk erhielt kratischer Reform wenig gemein: Die Kan- 2,6 Millionen Yuan. didaten werden in aller Regel von oben „Man muss das Rechtssystem vervollausgesucht. kommnen“, folgert Zhong und meint daDie Bürger nehmen sich freilich immer mit, gegen die Willkür von Behörden zu öfter die Rechte selbst heraus, überall bro- kämpfen. Vor allem aber müsse die Pardelt es: Kaum eine Woche, in der nicht ir- tei mehr auf die Sorgen und Nöte der gendwo im Lande erzürnte Menschen auf Menschen hören. Er selbst, sagt er stolz, der Straße protestieren – gegen korrupte habe sich nie dem Sturm gebeugt und Funktionäre, gegen zu hohe Steuern, gegen den Mächtigen angebiedert. Armeekarrieausbleibende Löhne und Entlassungen. Im re und höherer Sold, Dienstwagen und vorigen Jahr nahmen nach einer internen ärztliche Vorzugsbehandlung gingen so Statistik des Polizeiministeriums rund verloren. 3,5 Millionen Menschen an über 215 000 Ist der Weise nach den bewegten 50 JahStreiks und Demonstrationen teil; 459 Kon- ren Volksrepublik China immer noch ein flikte mit der Polizei endeten blutig. guter Kommunist? Da lächelt der alte GeDer alte Zhong weiß, was an der Basis nosse verschmitzt: „Ich bin wohl mehr ein los ist. Als 1990 in Peking Bezirksverord- Realist.“ Andreas Lorenz 202 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 AP Ausland Werbeseite Werbeseite Ausland beschädigten Hauptstadt Taipeh legte das Beben ein großes Wohn- und GeschäftsTA I WA N haus flach. Doch wie in Taichung bleiben die Opfer stumm, resigniert ertragen sie ihr Leid, nur wenige schimpfen auf Baulöwen oder Behörden. „Die Wut kocht später hoch“, der Arzt Wong, „noch lähmt der Der Wirtschaftswunderstaat hielt sich für gerüstet – mit strengen sagt Schock die Menschen.“ Für die regierenBauvorschriften und geübtem Katastrophenschutz. de Kuomintang-Partei steht die Macht auf dem Spiel, die sie seit 50 Jahren ausDoch das große Beben deckte gefährliche Schlamperei auf. übt – im März sind Präsidentschaftswahlen. In nur fünf Sekunden hatte die Katastrophe die Taiwanesen in der Nacht zum Dienstag vergangener Woche aus dem Schlaf gerissen. Zwar war das 22-Millionen-Land vorgewarnt: Unter der gebirgigen Insel verursachen zwei aufeinander stoßende Erdplatten fast alle 30 Jahre große Beben. Doch mit knapp 2000 Toten, über 8000 Verletzten und rund 300 Vermissten wurden diesmal frühere Schrecken weit übertroffen. In den Krisengebieten verloren mehr als hunderttausend Menschen ihre Wohnungen. Zahlreiche Nachbeben, meterbreite Risse im Asphalt und weggerutschte Berghänge erschwerten den Hilfsmannschaften den Zugang in entlegene Orte. Dort lagerten die Retter Tote häufig im Freien. Die Lebensmittel wurden knapp. Dabei hat Taiwans Regierung Eingestürzte Gebäude in Taichung: Plastikflaschen und Blechkanister statt Beton in den Stützmauern im Vergleich zu anderen, von ie ein abgesägter Baumstamm te Plastikflaschen und Speiseöl-Blech- Erdbeben heimgesuchten Ländern wie der liegt der 15-stöckige Wohnblock kanister eingelassen. Mit dem illegalen Türkei und Japan (dort hatte es 1995 die da, er ist einfach schräg zur Sei- Füllmaterial sparte die Baufirma am Be- Stadt Kobe getroffen, 6430 Tote) relativ te gekippt. Die unteren drei Stockwerke ton. Und Taiwans Behörden war es offen- zügig und umsichtig reagiert: Sofort mowurden wie Pappe zusammengedrückt. bar egal, ob die strengen Bauvorschriften bilisierte Präsident Lee Teng-hui das MiMit Presslufthämmern reißen Retter die eingehalten wurden, eine Kontrolle fand litär, das – durch ständige Wachsamkeit gegenüber dem verfeindeten Festlandfreskenverzierten Grundmauern der einst nicht statt. Wohl deshalb sind die Gebäude in fast China geübt – blitzschnell ausrückte. Doch schmucken Anlage ein. Sie wollen zu Bewohnern vordringen, die noch einge- allen betroffenen Gebieten ganz ähnlich die Katastrophe überfordert auch die Solumgefallen: Grotesk, wie Schuhkartons, daten, zu viele Opfer warten noch auf schlossen sind. Neun Menschen hält der Klotz an der liegen sie flach auf der Seite oder sind in Hilfe. Cheung Wen-bin, 41, zeltet mit seiner Yuinn-Straße am Stadtrand von Taichung der Mitte eingeknickt. Nicht nur in Nantou, in Zentral-Taiwan gefangen. Sechs Tote ha- der am schwersten verwüsteten Region in Frau, zwei Kindern und seinen greisen Elben die Suchtrupps bereits geborgen. Wong Zentral-Taiwan, zeigt sich das typische tern am Rand einer Trabantensiedlung von Hsiang-jenn, der übermüdete Leiter des Bild. Selbst am Rand der sonst nur wenig Taichung. Von dort aus kann der Chemiker seine vor drei Jahren errichtete EigenMilitärärzteteams, lässt schon vorsorgtumswohnung sehen. Das Apartment selbst lich die nächste Bahre heranbringen. Ein ist zwar unversehrt geblieben, wurde aber weißes Laken, das Leichen bedecken soll, ähnlich schlampig gebaut wie zerstörte Teiliegt säuberlich gefaltet obenauf. le der Wohnanlage. Nun ist der riesige Hinter einer Absperrung der Polizei Komplex gesperrt, wie eine Geisterkulisse schauen bisherige Bewohner des erst vier liegt er in der Finsternis. Jahre alten Apartmentgebäudes den RetEingestürzte Brücken und umgefallene tungsversuchen verzweifelt zu. Statt ÜberHochhäuser zeigen geradezu bildlich, auf lebende zu befreien, legen die Pressluftwelch wackeligen Fundamenten Taiwan hämmer den Blick auf die Folgen von sein Wirtschaftswunder errichtete. Im Gekriminellem Pfusch und amtlicher Korgensatz zu anderen Tigerstaaten meisterte ruption offen: es die Asienkrise zwar elegant mit WachsAlle sehen jetzt, dass die Stützmauern tumsraten um jährlich fünf Prozent. Doch ihre wichtige Funktion gar nicht ausüben Obdachlose Erdbebenopfer über der hastigen und einseitigen Fördekonnten – in die Wände waren gebrauch- „Der Schock lähmt die Menschen“ DPA „Die Wut kocht später hoch“ REUTERS W 204 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 rung von Hightech-Industrien vernachlässigte das Aufsteiger-Land den Bau einer soliden Infrastruktur. In ganz Taiwan blieb vergangene Woche fast die Hälfte aller Häuser zeitweise ohne Strom. In der Hightech-Region Hsinchu mussten Elektronikfirmen ihre Produktion stoppen. Nun drohen Taiwans „Silicon Valley“, das die Welt mit rund 45 Prozent aller Notebook-Computer und 13 Prozent der Mikrochips beliefert, Geschäftsausfäl- DPA Versorgung von Verletzten Von der Katastrophe überfordert le in Milliardenhöhe. Um eine mögliche Panik unter Aktionären zu verhindern, stellte Taipehs Börse ihren Handel für den Rest der Woche ein. Positive Kunde erreichte die gebeutelte Insel aus Peking: Dort sprach Staatschef Jiang Zemin den Landsleuten jenseits der Taiwan-Straße sein Beileid aus. Die Menschen auf beiden Seiten der Meeresenge seien „wie Fleisch und Blut“, sagte Jiang pathetisch und versprach Hilfeleistungen im Wert von rund 290 000 Mark. Die versöhnliche Geste ließ aufhorchen: Seit Taiwans Präsident Lee im Juli die von Peking geforderte Wiedervereinigung in Frage stellte und Beziehungen wie zwischen souveränen Staaten verlangte, hat das Reich der Mitte den abspenstigen Lee immer wieder wüst beschimpft, der Insel gar mit Krieg gedroht. Doch an ein rasches politisches Tauwetter, ausgelöst durch Mitgefühl, glaubt auf Taiwan kaum jemand. Solange Peking nicht von seiner Drohung abrückt, die „abtrünnige Provinz“ notfalls mit militärischer Gewalt heim ins Reich zu zwingen, bleiben die Inselchinesen argwöhnisch. Daher lehnte die Regierung Jiangs Geste letztlich ab. Wieland Wagner d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Ausland I TA L I E N Aus dem Sack geschlüpft REUTERS Giulio Andreotti, Italiens mächtigster Nachkriegspolitiker, Günstling der Päpste, Freund Helmut Kohls, wurde vom Mordvorwurf freigesprochen – die Beweise reichen nicht. Angeklagter Andreotti in Perugia: 231 Zeugen und 20 Anwälte V ier Mafia-Kugeln, Kaliber 7,65, streckten Carmine („Mino“) Pecorelli in der Via Orazio mitten in Rom nieder. Der Journalist, Herausgeber eines kleinen, erfolglosen Enthüllungsblättchens, der schon mal für Geschichten kassierte, damit sie nicht erschienen, wurde von zwei Killern hingerichtet. Es war am Abend des 20. März 1979. Einer von hunderten, vielleicht tausenden von Mafia-Morden im Italien der siebziger und achtziger Jahre, längst vergessen, wären da nicht Jahre später Cosa-Nostra- 206 Bosse und ihre Gehilfen geschnappt worden, die, um ihre Haut zu retten, über Kumpels plauderten, Sponsoren und Auftraggeber verrieten. Und als einige von ihnen über den Fall Pecorelli erzählten, blieb den Fahndern die Luft weg: Giulio Andreotti, Italiens mächtigster Nachkriegspolitiker, 21mal Minister, 7mal Regierungschef, ewiger Strippenzieher der Democrazia Cristiana (DC), der Katholiken-Partei mit traditionellem Führungsanspruch in Rom, habe die Mafia gebeten, ihm den lästigen Journalisten vom d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Hals zu schaffen. Denn der habe ihn erpresst. Dreieinhalb Jahre lang suchte das Schwurgericht in Perugia nach der Wahrheit. Zwei Richter und sechs Geschworene verbrachten vorige Woche vier Tage in Klausur, eingesperrt in einem verbunkerten Betongebäude, ohne Kontakt nach draußen, von Scharfschützen bewacht, ehe sie sich am Freitagabend auf das Urteil einigten: Freispruch für den 80-jährigen Andreotti und seinen Gefolgsmann, den ehemaligen christdemokratischen Senator und ExMinister Claudio Vitalone, der laut Anklage den Mordauftrag weitergeleitet haben sollte. Freispruch auch für die Mafia-Bosse Pippo Calò und Gaetano Badalamenti, die angeblich das Verbrechen geplant hatten, und ebenso für die als mutmaßliche Killer angeklagten Michelangelo La Barbera und Massimo Carminati. Eine Begründung gab es zunächst nicht. „Es ist noch niemandem gelungen, mich in den Sack zu stecken“, hatte der kleine, bucklige Mann mit den großen Ohren gelegentlich gespottet, wenn politische Gegner oder eifrige Staatsanwälte ihm zusetzten. Nun hat er es erneut demonstriert. Wieder einmal reichten die Beweise nicht. Bei der Urteilsverkündung hielt Andreotti es nicht für nötig, im Gerichtssaal anwesend zu sein. Dabei hatte sich der Skandaljournalist Pecorelli, das stand schnell fest, seinerzeit tatsächlich an den Allermächtigsten herangewagt. Erst war er auf dubiose Wahlkampfspenden für die DC aus der Industrie gestoßen, dann offenbar auf noch weit brisanteres Material: Aufzeichnungen vom damaligen christdemokratischen Parteipräsidenten und Andreottis größtem Gegenspieler, Aldo Moro. Moro war im Frühjahr 1978 von den „Roten Brigaden“ entführt worden. Nach 55 Tagen wurde er in Rom ermordet aufgefunden. Kurz vor seinem Tod hatte er anklagende Texte verfasst, vor allem – so wird vermutet – über Andreotti. Bis heute blieb ein großer Teil von Moros Hinterlassenschaft unauffindbar. Diesen Blättern war Pecorelli auf der Spur. Etwa 65 000 Mark hatte Andreottis „rechte Hand“, der christdemokratische Abgeordnete Franco Evangelisti, dem Rechercheur schon für sein Schweigen geboten. Auch Andreotti selbst gab ein Zeichen, er übersandte dem Journalisten ein Kopfschmerzmittel. „Aus Solidarität unter Migränekranken“, erklärte er später in Perugia vor Gericht. Der ewig klamme Pecorelli wollte mehr Geld und bekam – wenig später – vier Kugeln. Der Mordauftrag, so will es der Kronzeuge der Anklage, Ex-Mafioso Tommaso Buscetta, direkt vom Cosa-Nostra-Boss Gaetano Badalamenti erfahren haben, sei von „zio Giulio“ gekommen, dem „Onkel Werbeseite Werbeseite FOTOS: ANSA ( li.); GAMMA / STUDIO X ( re.) Ermordeter Journalist Pecorelli, Mafia-Boss Riina: Auftrag unter Ehrenmännern? A. SCATTOLON / CONTRASTO Giulio“. Nur, die Aussage Buscettas wurde von Badalamenti vehement bestritten: Mit einem kleinen Licht wie Buscetta hätte er, der große Boss, über derartige Geschichten gewiss nicht gesprochen. Und selbst die Ankläger mochten am Ende ihrer jahrelangen Bemühungen nicht ganz ausschließen, dass die Mafia-Killer zwar im objektiven Interesse Andreottis tätig wurden, aber ohne dessen Auftrag, womöglich gar ohne Kenntnis. Unwahrscheinlich ist das nicht: Für eine kleine Gefälligkeit unter Ehrenmännern braucht es keinen Auftrag. Das Urteil hat das Ansehen der italienischen Justiz im Lande weiter erschüttert. Mehr als drei Prozessjahre mit 231 Zeugen und 20 Anwälten haben zwar 650 000 Aktenblätter, aber wenig Klarheit gebracht. Schriftsätze und Protokolle türmten sich nach Berechnung der Zeitung „La Repubblica“ zu einem Hochhaus mit 25 Stockwerken. Ein vollständiges Exemplar der Dokumente verschlänge 60 000 Mark an Kopierkosten. 33 Stunden dauerte allein die Verlesung der Anklage. Und am Ende weiß man kaum mehr als zuvor. Als Ergebnis des bürokratischen Monsterverfahrens bleibt vor allem ein finsteres Bild italienischer Politik in den siebziger und achtziger Jahren: Sie stellt sich dar als ein verworrenes Geflecht zwischen der verbotenen Geheimloge P2, die einen Staatsstreich vorbereitete, der sizilianischen Cosa Nostra und der politischen Klasse in Rom, insbesondere der christdemokratischen Regierungspartei DC. Man kannte sich, man half sich. Ob P2-Gründer Licio Gelli oder der Mafia-Geldwäscher Michele Sindona – Andreotti konnte mit allen gut. Seit langem gerichtsbekannt sind auch Mafia-Kontakte enger christdemokratischer Parteifreunde Andreottis, etwa des Ex-Bürgermeisters von Palermo, Vito Ciancimino, oder des sizilianiKatholik Andreotti, Papst „Quelle des Guten“ 208 schen Euro-Parlamentariers Salvo Lima. Der eine ist längst wegen Korruption verurteilt, der andere von der Cosa Nostra beseitigt. Nur Andreotti überstand mehr als 20 Versuche von Parlament und Justiz, ihm etwas nachzuweisen. Als Opfer von Lügen und Intrigen gibt sich der Freigesprochene aus: „Ich soll als Sündenbock der Democrazia Cristiana für Jahrzehnte politischer Herrschaft bezahlen.“ Noch darf er sich nicht ganz sicher fühlen, denn in Palermo harrt Andreotti auf das Urteil in einem zweiten Verfahren. Dort plädiert der Staatsanwalt auf 15 Jahre Haft. Andreottis Seilschaft in der DC – in Sizilien war die Partei traditionell besonders stark – sei „eine Struktur zur Unterstützung der Mafia gewesen“, behauptete jedenfalls der Ankläger. Sie habe der Cosa Nostra ermöglicht, Ziele anzusteuern, „die sie mit ihrer eigenen militärischen Organisation nicht hätte verfolgen können“. Im Gegenzug habe die Mafia für zufrieden stellende Wahlergebnisse gesorgt, also Stimmen für die DC eingefahren. Der einstige „Boss der Bosse“, Salvatore („Totò“) Riina, soll Italiens Ex-Premier bei einem vertraulichen Treffen im Herbst 1987 sogar auf beide Wangen geküsst haben – ein Ritual der Mafia innerhalb der „Familie“. Andreottis Reputation hat das nie geschadet. Noch Anfang des Jahres tröstete Papst Johannes Paul II. den unter Mordverdacht stehenden treuen Katholiken mit einem Glückwunschtelegramm zum 80. Geburtstag, auf „dass der Schmerz und das Leid, das über Sie gekommen ist, sich als Quelle von etwas Gutem für Sie und für die ganze italienische Gesellschaft erweisen mögen“. Während der Feierlichkeiten zur Seligsprechung des Kapuzinerpaters Pio, am 2. Mai, pickte der römische Pontifex den frommen Andreotti aus der Schar der VIPGäste heraus und segnete ihn demonstrativ vor Millionen TV-Zuschauern in aller Welt – zwei Tage nachdem der Staatsanwalt in Perugia „lebenslänglich“ gefordert hatte. Und als Helmut Kohl, die Vaterfigur der europäischen Christdemokraten, im Mai in Rom über die Zukunft Europas referierte, hob auch er aus der versammelten konservativen Elite des Gastlandes nur einen heraus, den „lieben Giulio“, seinen „Freund“. Nun dürfen auch andere hoffen, dass die oft spektakulär gestarteten Prozesse gegen die politische Kaste am Ende kläglich scheitern. Die Verfahren gegen den Medienzaren, einstigen Regierungs- und jetzigen Oppositionschef Silvio Berlusconi zum Beispiel verlaufen langsam im Sande. Die anfängliche Begeisterung im Volk für die Richter und Staatsanwälte – allen voran die Mailänder Anti-KorruptionsGruppe mit dem Ehrentitel „Mani pulite“ (Saubere Hände) – ist der nüchternen Frage gewichen: Was hat es gebracht? Gewiss, die Fahnder orteten in einem Sumpf von Korruption und Bestechung bedeutende politische Köpfe. Der ehemalige Sozialistenchef Bettino Craxi floh nach Tunesien, die christdemokratische Staatspartei zerplatzte wie ein angestochener Luftballon. Ein Ex-Kommunist regiert heute mit einer buntgescheckten Koalition in Rom. Aber die Unantastbaren von damals konnten sich meistens der persönlichen Verantwortung entziehen. „Politik ist ein schmutziges Geschäft“, resümierte einst Vincenza Enea, die vergangene Woche mit 82 Jahren starb. Sie sollte es wissen: Mehr als 30 Jahre lang war sie Giulio Andreottis Privatsekretärin. Hans-Jürgen Schlamp Werbeseite Werbeseite Ausland OSTTIMOR Eine Allianz des Satans FOTOS: REUTERS Trotz Uno-Präsenz terrorisieren paramilitärische Milizen die Bevölkerung weiter. Die abziehenden indonesischen Besatzungstruppen hinterlassen verbrannte Erde. Die gut 3000 Interfet-Soldaten, die als Vorhut einer von Australien geführten 8000 Mann starken internationalen Friedenstruppe letzte Woche in Dili eintrafen, haben einstweilen nur den Flughafen, den Hafen und Teile der Stadt Baucau unter Kontrolle. Außerdem haben sie an den strategisch wichtigen Punkten von Dili Barrikaden aus Sandsäcken errichtet. Zwischen diesen wenigen Brückenköpfen ist niemand vor den indonesischen Mordbrennern sicher, die mit flächendeckendem Terror das Resultat des Unabhängigkeitsreferendums vom 30. August rückgängig machen wollten. Der holländische Journalist Sander Thoenes, 30, von der „Financial Times“ geriet am Dienstag im Vorort Becora in einen Hinterhalt. Er wurde erschossen. Seine grausam entstellte Leiche fand man einen Tag später. Ein Augenzeuge berichtete, die Mörder seien uniformiert gewesen. Jon Swain, Korrespondent der Londoner „Sunday Times“, der französische Fotoreporter Chip Hires und ein Dolmetscher entgingen dem sicheren Tod nur, weil General Peter Cosgrove, der australische Kommandeur der internationalen Truppen, eine ganze Hundertschaft Soldaten und eine Rotte Kampfhubschrauber mobilisierte, um sie rauszuhauen. Sie waren ebenfalls in Becora von einer Milizen-Gang überfallen worden, im Kugelhagel in einen Wald geflüchtet und hatten sich dort versteckt. Nachts riefen sie dann über ihr Satellitentelefon die Redaktion in London an. Von dort ging ein Notruf ans Hauptquartier der Australier in Dili. Der Hass auf die Ausländer, vor allem auf die ausländischen Journalisten, ist beinahe grenzenlos. „Wir haben die Besetzung unserer Heimat durch fremde Truppen den ausländischen Medien und ihrer überzogenen Berichterstattung zu verdanken“, schimpft einer der noch in Dili verbliebenen indonesischen Offiziere. „Dafür müssen sie büßen.“ Erst im Licht der ersten Sonnenstrahlen schleichen sich Gruppen geflohener Einwohner in die Hauptstadt zurück, um nach Habseligkeiten zu suchen. Meist ohne Erfolg. Denn die Vandalen haben fast alles zerstört. „Wir hatten natürlich erwartet, dass es nach dem Referendum zu Racheakten des Militärs kommen würde“, sagte Fernando Soares, 45, der früher bei der indonesischen Verwaltung beschäftigt war, „dass sie sich allerdings wie die Wahnsinnigen aufführen würden, das haben wir nicht gedacht.“ Mit perfider Systematik haben die Milizen die ärmliche Stadt, in der früher einmal 120 000 Menschen lebten, inner- Festnahme eines Indonesiers durch australische Soldaten: „Das schreit nach Rache“ D ie Nacht gehört der Angst in Dili. Metallrohre und zerbrochene PressspanHinter den Stacheldrahtrollen, die platten. Mario da Silvas Haus wurde, wie australische Soldaten ausgerollt ha- auch große Teile der Innenstadt von Dili, ben, ducken sich verschreckte Menschen in bis auf die Grundmauern niedergebrannt. ausgebrannten Lagerhallen. Ihre Gesich- Er sagt: „Wir danken Gott, dass die Frieter sind im schwachen Mondschein nur denstruppen jetzt wenigstens die Schlächterei beenden.“ schemenhaft zu erkennen. Doch der Einfluss der Schutzmacht Gut 300 traumatisierte Familien haben sich hierher unter den Schutz der interna- reicht nicht weit. Am Rande der osttionalen Truppen für Osttimor (Interfet) timoresischen Hauptstadt lodern nachts geflüchtet. Solange die Einheiten der in- immer wieder Flammen auf. Manchmal donesischen Streitkräfte nicht vollstän- sind auch Salven von Schnellfeuergewehdig aus der östlichen Inselhälfte abgezo- ren zu hören. Der Friede hat sich noch langen sind, trauen sich nach Einbruch der ge nicht eingestellt. Dunkelheit nur wenige Zivilisten heraus. „Die Aitarak-Milizionäre werden nicht so schnell aufgeben“, flüstert Mario da Silva, 30, ein Mittelschullehrer im blauen, zerrissenen T-Shirt. „Sie wollen unser Land mit einem Guerrillakrieg überziehen.“ Auf einem kleinen Leiterwagen hat da Silva die letzten Habseligkeiten seiner Familie hierher gebracht. Viel ist ihm nicht geblieben: ein paar abgeschabte Reissäcke mit Küchenutensilien, ein angekokelter Plastikstuhl, Osttimoresische Miliz: Hass auf die Ausländer 210 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland ge davon in Plastiksäcke verpackt und mit der Aufschrift: „Frischfleisch für die Anhänger der Unabhängigkeit.“ Der Politiker Leandro Isaac, 44, hat sich in das Dörfchen Dare, das südlich von Dili in den Bergen liegt, geflüchtet. „Da unten hat eine Allianz des Satans gewütet“, sagt das Mitglied des „Nationalen Rats des timoresischen Widerstands“, der die Regierung in Osttimor übernehmen soll. Mehrere tausend Menschen seien in den letzten Wochen von Milizen und ihren Helfern vom indonesischen Militär auf oft bestialische Weise umgebracht worden. Die Zahl der Flüchtlinge übersteigt nach Isaacs Meinung 300 000. Das ist knapp ein Drittel der Gesamtbevölkerung. „Wer diese Verbrechen zugelassen hat, muss sich vor einem Tribunal verantworten. Ebenso wie die Kriegsverbrecher aus Bosnien.“ Solange die Friedenstruppe nicht die ganze Insel kontrolliert, will Isaac sein Versteck nicht verlassen. Er fürchtet, dass Terrorkommandos weiter Jagd auf Politiker der zukünftigen Regierung machen. Seit Hilfsorganisationen erste Nahrungsmittel über dem Bergkamm abgeworfen haben, ist zudem die Gefahr einer Hungersnot vorläufig in Dare gebannt. Im Hafen von Dili tritt Ende der Woche der Abzug der indonesischen Besatzungsmacht in die Schlussphase. In den Kasernen werden die letzten geheimen Unterlagen verbrannt, die Aufklärung über die Menschenrechtsverletzungen der Jahre unter Jakartas Herrschaft geben könnten. Über der Stadt stehen Rauchsäulen. Die abziehenden TrupFlüchtlinge in Dili: Rückkehr in rauchende Trümmer pen sind offenbar entschlossen, einst stolze Armee ist zu einem Haufen überall nur verbrannte Erde zu hinterlassen. „Wir werden diesen Idioten nichts von Strauchdieben verkommen. Nur eine Straßenecke von der Klinik hinterlassen, was sie gebrauchen können“, entfernt wohnt Rosa Garcia, Redakteurin beschreibt Generalmajor S. Ahmad, Komder Zeitung „Suara Timor Timur“. Der si- mandeur einer der Einheiten, die als letzcheren Ermordung hat sie sich in den Ta- te die Insel verlassen sollen, die Haltung gen des Sturms auf Dili durch die Flucht der Armee. In den nächsten Tagen werde nach Jakarta entzogen. Da ihr älterer Bru- hier „die Hölle losbrechen“. Olivgrüne Laster der Indonesier rollen der einst bei der Armee diente, wurde ihr Elternhaus von den Brandstiftern ver- unter den wachsamen Augen der Friedensschont. Doch Milizen haben ihren Fernse- truppen auf die Mole. Auf den Decks der her gestohlen, und in Rosas Auto kutschiert Schiffe, die sie nach Java und Westtimor jetzt die Ehefrau von Aitarak-Chef Eurico bringen sollen, stehen junge Soldaten und Guteres durch die Stadt Kupang in West- starren auf die zerstörte Stadt. Einige tratimor. Von dort will der Anführer der pro- gen Stirnbänder in den indonesischen Farindonesischen Todesschwadron den Ter- ben. Ihre Gesichter lassen den Zorn darüber erkennen, dass sie den verhassten rorkrieg gegen Osttimor weiterführen. Als einziges Familienmitglied hat Cou- Australiern weichen müssen. Der Gefreite Surosos, der einer Elitesin Ano Garcia, 16, in Dili ausgehalten. „Viele meiner Freunde sind in den letzten einheit der Marine angehört, kann nur Wochen verschwunden“, sagt Ano. „Die schwer seine ohnmächtige Wut über Mörder zogen von Haus zu Haus und ver- die Schmach verbergen: „Ich fühle mich, schleppten junge Männer, die sich für die als würde mir das Herz aus dem Leib Unabhängigkeit eingesetzt hatten.“ Nach gerissen. Unser Land ist von der Uno ein paar Tagen seien ihre entstellten Lei- betrogen worden. Das schreit nach chen dann in der Stadt aufgetaucht – eini- Rache.“ Jürgen Kremb DPA halb weniger Tage in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt. „Merdeka di hutan“, Freiheit in den Wäldern, haben sie mit fetter grüner Ölfarbe auf die verkohlte Wand des Buchladens Gramedia geschmiert. Das soll heißen: Wenn ihr es wagt, eure Freiheit einzufordern, jagen wir euch in den Dschungel zurück. Dili ist ein Mahnmal der gescheiterten Besatzungspolitik Jakartas. In den Basarläden neben dem Hauptquartier des Militärs sind die Fenster eingeschlagen. Die Plünderer haben sogar die Kekse und Bonbons aus den Blechkisten geklaut, die verstreut auf dem Lehmfußboden liegen. Selbst unter den Augen der Friedenstruppen gehen die Raubzüge weiter. Vor der Kartika Poliklinik hält ein Armeelastwagen. Zwei Soldaten springen ab und laufen ins Gebäude. Einer von ihnen kommt einige Minuten später mit ein paar verschmierten Bettlaken und einem Kopfkissen zurück. Als er sieht, dass er beobachtet wird, greift er mechanisch zu seinem Sturmgewehr. Aber er schießt nicht, er trollt sich mit gesenktem Kopf. Indonesiens d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 213 Ausland „Die Armee zähmen“ Dewi Fortuna Anwar, Staatssekretärin und Beraterin von Präsident B. J. Habibie, über den Einfluss der Militärs und die Schuldigen an der Tragödie in Osttimor die Situation unter Kontrolle zu bringen. zeigt, dass Präsident Habibie die Armee Die internationale Gemeinschaft hat dem nicht kontrollieren kann. Steht Indonesien indonesischen Militär allerdings nicht gevor einer Militärherrschaft? traut. Darum hat Habibie schließlich die Dewi: Nein, der Demokratisierungsprozess Uno geholt. ist unumkehrbar. Osttimor ist ein Sonder- SPIEGEL: War es im Nachhinein gesehen fall: Die Armee besaß dort lange das ein Fehler, die Osttimoresen so schnell abMachtmonopol. Es ist kein Geheimnis, dass stimmen zu lassen? sie gegen das Ergebnis des Unabhängig- Dewi: Auch eine längere Übergangsfrist keitsreferendums ist. hätte keinen Frieden garantiert. Habibie wollte Indonesien unbelasSPIEGEL: Wie konnte ein tet in das 21. Jahrhundert Teil des Landes in völlige führen. Anarchie stürzen? Dewi: Jedenfalls nicht nur SPIEGEL: Der britische Auwegen der starren Halßenminister Robin Cook tung der Armee. Auch die hat ein Osttimor-Tribunal Osttimoresen waren begefordert. Was halten Sie reit, für ihre Ziele zu tödavon? ten. Hinzu kommt die Dewi: Die Vorgänge sollten Unfähigkeit der indonesigründlich untersucht und schen Sicherheitskräfte, die Schuldigen zur Verantbesonders der Polizei. wortung gezogen werden. Außerdem gab es ProbleWir haben eine unabhänme, bestimmte Einheiten gige nationale Menschenzu kontrollieren. Zwei Barechtskommission. Der Prätaillone sind aus Osttimo- Staatssekretärin Dewi sident hat außerdem der resen zusammengesetzt. Gründung einer UntersuDiese Soldaten sind emotional stark en- chungsgruppe zugestimmt. Die internatiogagiert. nale Gemeinschaft sollte den Terror in OstSPIEGEL: Akzeptieren Sie das Argument timor allerdings nicht als staatlich sanktioder Armee, sie habe aus psychologischen nierte Gewalt wie im Kosovo ansehen, Gründen nicht gegen die Milizen eingrei- sondern als lokalen Konflikt, der außer fen können? Kontrolle geriet. Vergessen Sie nicht, dass Dewi: Die Sicherheitskräfte konnten, wie die indonesische Regierung das Referensie sagen, nicht auf ihre alten Freunde dum initiiert hat. schießen. Das ist nicht entschuldbar, aber SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass wohl die Realität. Osttimor gespalten wird, so wie es die SPIEGEL: Realität ist auch, dass Indonesien Milizen offenbar anstreben? seinen ersten Demokratie-Test nicht be- Dewi: Das ist nun Angelegenheit der Uno. standen hat. Wenn der mutmaßliche Präsident OstDewi: Die Welt sollte unser Dilemma er- timors, José Alexandre Gusmão, eine stakennen. Wir wollen nicht Osttimor retten bile Regierung haben will, muss er mit den und ganz Indonesien verlieren. Nach- pro-indonesischen Kräften reden. Sonst dem die Armee 30 Jahre lang eine be- führen die Milizen womöglich einen Guerherrschende Rolle in Politik und Wirtschaft rillakrieg. gespielt hat, muss sie sich daran gewöh- SPIEGEL: Dabei könnten sie die Flüchtlinge nen, ihre zentrale Machtposition aufzu- in Westtimor als Geiseln missbrauchen. geben. Wir müssen das Militär kontrol- Dewi: Westtimor darf nicht Ausgangspunkt lieren und somit in gewissem Maße zäh- von Operationen der Milizen werden. Wir men, gleichzeitig sind wir aber auf seine hoffen, dass die Flüchtlinge nach Osttimor Unterstützung angewiesen. Die Gefahr zurückkehren. einer Konfrontation zwischen dem Militär SPIEGEL: Ist die Unabhängigkeit von Ostund einer zivilen Regierung ist nicht timor nun endgültig? vorbei. Dewi: Es gibt kein Zurück. Die Beratende SPIEGEL: Warum war der Präsident nicht Volksversammlung wird die Beziehung Osttimors zu Indonesien formal beenden. in der Lage, die Tragödie zu stoppen? Dewi: Er hat getan, was er konnte. Die Ver- Dann ist die rechtliche Bindung gekappt. hängung des Kriegsrechts war der Versuch, Interview: Andreas Lorenz AFP / DPA SPIEGEL: Das Blutbad in Osttimor hat ge- 214 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Russland ist unberechenbar“ Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow über die Gefahr eines neuen Kaukasus-Krieges ben sind auf Grosny gefallen. Sie haben die allgemeine Mobilmachung der Tschetschenen verfügt. Wird Moskau erneut in Ihre Republik einmarschieren? Maschadow: Russland kennt leider nur eine Methode, den Knüppel. Statt einer vernünftigen Politik im Kaukasus fällt Moskau nichts anderes ein als rohe Gewalt. SPIEGEL: Hat Russland aus dem blutigen Tschetschenien-Feldzug, den es nicht gewinnen konnte, nichts gelernt? Maschadow: Es scheint so. Obwohl dieser Feldzug eine Schande für die russische Armee war, ist die Kriegsgefahr heute genauso groß wie im Herbst 1994. Nehmen Sie nur die Erklärung des russischen Premiers Putin, unsere Waffenstillstandsvereinbarung von 1996 müsse einer Neubewertung unterzogen werden … SPIEGEL: … worauf Bomben- und Raketenangriffe folgten. Maschadow: Die Öffentlichkeit wird betrogen, wenn es heißt, dort sollten Terroristenstützpunkte getroffen werden. Nicht ein einziger Kämpfer ist bislang dabei getötet worden, wohl aber kamen über 200 Zi- Präsident Maschadow „Eine Schande für die russische Armee“ vilisten bei den barbarischen ArtillerieÜberfällen ums Leben. Gerade heute starben im Dorf Meskety vier Menschen – drei Frauen und ein kleines Kind. SPIEGEL: Viele russische Generäle behaupten, sie hätten den letzten TschetschenienKrieg leicht gewinnen können, wenn Politiker sie nicht daran gehindert hätten. Maschadow: Nichts als Selbstbetrug. Ich habe damals die Operation zur Befreiung von Grosny geleitet und kann mich noch gut an ein Treffen mit dem russischen General Pulikowski erinnern. Der Mann war hysterisch, aufgelöst, vernichtet, völlig am Ende. Manche Politiker in Moskau hätten schon gern noch weiterkämpfen lassen. Aber ihre Militärs hatten begriffen, dass sie keine Chance mehr hatten. SPIEGEL: Hätten sie heute größere? Maschadow: Nur in ihrer Einbildung. Wir sind weitaus stärker als 1994 und besser gerüstet für einen Überfall. SPIEGEL: Premier Putin will von Armee und Polizei einen Cordon sanitaire um Ihre Republik ziehen lassen. Maschadow: Wir leben unter solchen Quarantäne-Bedingungen schon seit 1997. Alle Verpflichtungen, die Russland nach dem Krieg übernommen hat, blieben Papier: Es gab keine Wiedergutmachung der angerichteten Schäden, keinen reibungslosen Transport unseres Öls, keinen Ausbau unseres Flughafens für den internationalen Luftverkehr. SPIEGEL: Sind Ihre Bürger auf eine totale Blockade vorbereitet? Maschadow: Ich habe ihnen immer gesagt: Russland ist unberechenbar, es wird zu allen denkbaren Druckmitteln greifen – richtet euch darauf ein. SPIEGEL: Sie können nicht bestreiten, dass Ihre Republik zu einem Hort radikal-islamischer Terroristen zu werden droht. Gei- REUTERS Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Jörg R. Mettke. P. KASSIN SPIEGEL: Aslan Alijewitsch, die ersten Bom- Russische Artillerie in Dagestan: „Jelzin wird von seinen Beratern hinters Licht geführt“ 216 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland selnahmen und Lösegeld-Erpressungen nehmen in beängstigendem Maße zu. Maschadow: Ich sehe diese Gefahr.Wir werden bereits seit Beginn der neunziger Jahre als Brückenkopf des Terrorismus, Extremismus, Fundamentalismus angeprangert. Russland hat versucht, alle Tschetschenen in der Meinung der Welt als Banditen abzustempeln. So etwas bleibt nicht folgenlos. Dabei ist unseren Traditionen, unserem Verständnis des Islam jeder Radikalismus im Denken wie im Handeln fremd. SPIEGEL: Die Entführungsfälle der letzten Jahre sind doch nicht von Moskau inspiriert und eingefädelt. sehen verloren. Unser Volk ist kriegsmüde und verurteilt solche Provokationen. SPIEGEL: Warum gelingt es Ihnen dann nicht, Bandenführer wie Bassajew, Radujew oder Chattab zu verhaften, ihnen wenigstens die Operationsbasis in den tschetschenischen Bergen zu entziehen? Maschadow: Was diese angeblichen Ausbildungslager für Terroristen angeht, so wird ebenfalls viel übertrieben. Wir haben internationale Beobachter eingeladen, um zu überprüfen, was daran wahr und was russische Propaganda ist. Und dann kann ich Bassajew auch nicht einfach als Banditen festnehmen lassen, die Menschen hier dass sie das Werk von Tschetschenen sind. Selbst im Krieg, als die Russen auf die barbarischste Weise gegen uns vorgegangen sind, haben wir niemals zu solchen verachtungswürdigen Methoden gegriffen. Das entspricht nicht unserem Nationalcharakter. Wir kämpfen nicht gegen Wehrlose und Unschuldige. Kein russischer General, keine Mutter eines gefallenen russischen Soldaten wird uns etwas anderes nachsagen können. SPIEGEL: Auch Bassajew, der Geiselnehmer von Budjonnowsk 1995, wo es 150 Tote gab, ist Tschetschene. Von wem werden Maschadow: Gewiss, aber wir wissen auch, wer während des Krieges damit angefangen hat. Damals begannen russische Offiziere, die Leichen der Häftlinge, die in Internierungslagern gestorben waren, an deren Angehörige zu verkaufen, später auch Gefangene gegen Lösegeld freizulassen. Erst dadurch haben solche Verbrechen einen quasi-legalen Anstrich erhalten. SPIEGEL: Haben Sie nicht etwas zu viel Verständnis für Ihren Landsmann und früheren Premier Schamil Bassajew, der in Dagestan einen kleinen Krieg anzettelt? Maschadow: Bassajew hat bei uns durch diese Freischärler-Aktionen stark an An- würden das nicht verstehen. Wir haben schließlich gemeinsam für die Unabhängigkeit unseres Landes gekämpft. SPIEGEL: Würde eine vollständige, von Moskau anerkannte Souveränität Tschetscheniens Ihnen ein schärferes Durchgreifen gegen Extremisten ermöglichen? Maschadow: Ganz sicher. Dann könnte ich diesen Leuten sagen: Nun haben wir die Souveränität, für die wir gekämpft haben. Was wollt ihr noch mehr? Nun lasst uns daran gehen, unseren Staat aufzubauen. SPIEGEL: Wer steht nach Ihren Informationen hinter den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Russland? die Anschläge denn organisiert und finanziert? Maschadow: Wenn in Russland Wahlen vor der Tür stehen, wird immer die tschetschenische Karte gespielt, besonders jetzt, wo Jelzins engere Umgebung befürchten muss, vom nächsten Präsidenten ins Gefängnis gesteckt zu werden für alles, was sie im Namen Jelzins angerichtet hat – von der Verelendung des Landes bis zum Krieg in Tschetschenien. Deswegen wird nun alles Mögliche unternommen, um einen Ausnahmezustand mit Verschiebung der Wahlen zu rechtfertigen. Und keine Region ist dafür besser zum Experi- 218 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Maschadow: Ich schließe kategorisch aus, mentierfeld geeignet als der Nordkaukasus. SPIEGEL: Sie halten russische Geheimdienste wirklich für fähig, Unschuldige in die Luft zu sprengen und falsche Fährten in Richtung Kaukasus zu legen, um so das Land in den Notstand zu treiben? Maschadow: Ich halte das durchaus für möglich. Die Kriegspartei in Moskau ist sehr mächtig und sehr heimtückisch. SPIEGEL: Russlands Ex-Premier Tschernomyrdin, die Präsidenten Ihrer Nachbarrepubliken Nordossetien und Inguschien haben ein unverzügliches Treffen zwischen Ihnen und Jelzin angeregt, um den dro- Maschadow: Ich glaube, dass er das kann und auch möchte. Als wir 1997 den Friedensvertrag unterschrieben, hat ihm seine Umgebung ganz aufgeregt davon abgeraten. Aber Jelzin ist festgeblieben und hat gesagt: Ich bin der Präsident, ich übernehme die Verantwortung. SPIEGEL: Wenn Sie Jelzin morgen treffen könnten … Maschadow: … bin ich hundertprozentig davon überzeugt, ihm klar machen zu können, wie er von seinen so genannten Beratern erneut hinters Licht geführt wird. SPIEGEL: Welche Rolle spielt dabei der russische Multimilliardär Boris Beresowski? Öl-Interessen. Jedenfalls ist sein Ränkespiel für die ganze Region hoch gefährlich. SPIEGEL: Wäre Ihr liebster Verhandlungspartner der General a. D. Alexander Lebed, mit dem Sie vor drei Jahren erfolgreich den Waffenstillstand ausgehandelt haben? Maschadow: Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Einerseits achte ich Lebed hoch. Andererseits zeigen jüngste Äußerungen von ihm, dass er unser damaliges Abkommen durchaus mit dem Hintergedanken unterschrieben hat, zunächst einmal Zeit für Russland zu gewinnen. Und wenn es wieder stark genug sei, werde es sich im Kaukasus zurückholen, was ihm nie gehört hat. henden Krieg zu vermeiden. Eine solche Begegnung fordern Sie seit langem. Warum kommt sie nicht zu Stande? Maschadow: Schon 1994 hat unser damaliger Präsident Dudajew vergeblich um ein Vier-Augen-Gespräch mit Boris Jelzin gebeten. Damals gab es den Verteidigungsminister Gratschow, der mit einem Fallschirmjägerregiment in zwei Stunden alles regeln wollte. Und genauso gibt es heute in Moskau Politiker, die Blockade und Quarantäne empfehlen, damit Maschadow auf Knien im Kreml erscheint. SPIEGEL: Jelzin selbst trauen Sie zu, mit Ihnen gemeinsam einen Ausweg zu finden? Maschadow: Eine sehr wichtige. SPIEGEL: Ist er der gute oder ein böser Geist SPIEGEL: Wenn Sie selbst vom Friedensstifter Lebed nichts mehr erwarten, wer dann in Russland soll den Tschetschenen ihre Unabhängigkeit geben? Maschadow: Ich denke, diesen Schritt müsste noch Jelzin machen, wenn er etwas verstanden hat von der Schändlichkeit und Aussichtslosigkeit dieses Kriegs. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich von seiner Umgebung so weit betrügen lässt, in die Geschichte als Blutsäufer vom Kaukasus eingehen zu wollen. SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. für die Völker des Kaukasus? Maschadow: Für Tschetschenien ein ausge- sprochen böser. Er treibt ein intrigantes Spiel und liiert sich dabei mit Oppositionellen wie Bassajew und Udugow. Er bezahlt ihnen ihr Fernsehen, ihre InternetZugänge, ihre Satellitentelefone. An allen großen Lösegeld-Aktionen sind seine Unterhändler beteiligt. SPIEGEL: Warum denn? Maschadow: Vielleicht hat er einen Auftrag, Russlands Position im Kaukasus zu schwächen. Vielleicht hat er hier eigene d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 219 Ausland zose Lamy stieß nach: Wenn Patten den anderen Vorgaben machen wolle, könne es sich „nur um ein Missverständnis“ handeln. Das Kollegium beschloss, Patten keine Sonderstellung einzuräumen, der Brite habe lediglich auf die „Kohärenz“, also die Schlüssigkeit der EU-Außenpolitik, zu achten. Aus dem ehrgeizigen Plan einer Verheugen tat ein Weiteres, den gemeinsamen europäischen Abgesandten aus London zu deckeln. Außen- und Sicherheitspolitik Er beantragte, mindestens einmal monatlich den Hohen Repräsentanten wird wohl wieder nichts – Solana zur Arbeitsgruppe Außenpolizu viele fühlen sich berufen. tik der Kommission hinzuzubitten: „Wir stützen den Spanier.“ n alten Zeiten schon hatte sich USSolana wird es dennoch schwer haAußenminister Henry Kissinger eine ben. Eifersüchtig wachen die Außenverbindliche Telefonnummer in Brüsamtschefs der Mitgliedstaaten darsel gewünscht, die er anrufen könne, wenn über, dass der Spanier ihnen nicht den es brenne in der Welt und er mit den euRang abläuft. Misstrauisch verfolgen ropäischen Partnern gemeinsame Aktioauch die US-Regierung und die Brüsnen besprechen wolle. Kissinger schied seler Nato-Spitze das Treiben des 1977 aus dem Amt. Seine derzeit amtieHohen Repräsentanten. Denn Solana rende Nachfolgerin Madeleine Albright hat vom Kölner EU-Gipfel den Aufmuss weiter auf den Anschluss warten. trag erhalten, sich zusätzlich um den Vorigen Montag empfing Frau Albright Aufbau der europäischen Verteidiin New York den britischen EU-Kommissar gung zu kümmern. Washington beChris Patten, zuständig für das Ressort fürchtet, dadurch könne der Zusam„Auswärtige Beziehungen“. Die beiden menhalt des Nordatlantikpakts ausverabredeten, informell Kontakt zu halten. Partner Albright, Solana: Verbindliche Nummer gehöhlt werden. Von ihrer Irritation ließ sich die AmerikaEinstweilen aber darf sich die Nato darnerin nichts anmerken. wortlich zeichnet, der Franzose Pascal Denn tags zuvor hatte ihr ein anderer Lamy, dem der Außenhandel obliegt, der auf verlassen, dass die EU wie üblich unseine Aufwartung gemacht, der sich auch spanische Wirtschafts- und Währungskom- eins ist, gerade in sicherheitspolitischen als europäischer Außenminister sieht – der missar Pedro Solbes, der Däne Poul Niel- Fragen. Erstmals in der Geschichte der EU Spanier Javier Solana. Am 18. Oktober tritt son, zuständig für Entwicklungspolitik und treten die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten mit den Außenministern am der scheidende Nato-Generalsekretär in humanitäre Hilfe. Brüssel sein Amt als Hoher Beauftragter Die Rolle des Oberdiplomaten Europas 15. November zu einer gemeinsamen EUfür die Gemeinsame Außen- und Sicher- aber hat sich Kommissionspräsident Ro- Ratssitzung zusammen. Die doppelte Miheitspolitik der EU an. Auf diesen neu ge- mano Prodi persönlich reserviert. Eigent- nisterrunde will erst mal über neue Greschaffenen Posten hatten ihn die Staats- lich, so war es in einer Protokollnotiz der mien beraten, die dem Hohen RepräsenStaats- und Regierungschefs fest- tanten zuarbeiten sollen. Frankreich drängt gehalten, sollte in der neuen darauf, wie in der Nato auch in der EU ein Kommission einer der Vizepräsi- politisches Komitee und einen Militärausdenten für die gesamten Außen- schuss einzurichten. Andere, darunter die beziehungen zuständig sein. Der Deutschen, wollen alles lieber eine Numfrühere römische Ministerpräsi- mer kleiner. Solanas Stab bleibt bescheiden, ganze dent, gehärtet im Politikdschungel Italiens, überging stillschwei- 20 Experten sind dafür vorgesehen, Leiter gend diesen Wunsch der 15 EU- wird ein deutscher AA-Diplomat, Christoph Heusgen. Und über ein üppiges BudRegierungschefs. Prodi wollte keinen Stellver- get verfügt der Spanier auch nicht. Die treter neben sich, der ihm die Konkurrenz bei der Kommission hingegen Schau hätte stehlen können. Die kann mit Milliarden klotzen. Da will Solana wenigstens selber groß Vizeposten gingen als tröstende Dreingabe an jene Kommissare, herauskommen. Bei der Besichtigung seidie für die Verwaltungsreform ner neuen Wirkungsstätte im Ratspalast Kommissionschef Prodi: Rolle des Oberdiplomaten und für die Beziehungen zum trug er seine Wünsche vor: Ein eigenes Raund Regierungschefs beim letzten Euro- Europäischen Parlament zuständig sind. dio- und Fernsehstudio müsse her, um seipäischen Rat in Köln berufen. Auch mit „Mit Bill Clinton redet Prodi“, hielt einer ne Medienauftritte zu zelebrieren. Sein Solana verabredete Frau Albright, dass seiner engen Mitarbeiter fest – und sonst Büro samt Repräsentationsräumen möchte er im fünften Stock gleich neben dem man miteinander telefonieren werde, wann keiner. immer es ratsam erscheine. Außenkommissar Patten, früher briti- Konferenzsaal des Außenministerrates einNoch mehr Einträge ins Washingtoner scher Hongkong-Gouverneur, ist von sei- richten. An den Ratssitzungen gedenkt er Telefonverzeichnis werden fällig, wenn sich nen Kollegen schon gestutzt worden. mit eigenem Vortragsrecht teilzunehmen. Doch die Finanzreferenten des Hausandere, ebenfalls für Außenpolitik zustän- Gleich in der ersten Kommissionssitzung dige Kommissare in ihrem Job eingerichtet stellte Verheugen fest: Patten solle sich nur haltsausschusses erheben Einspruch – haben: der Deutsche Günter Verheugen, nicht einbilden, dass er die außenpoliti- für derlei Umbauten sei kein Geld der für die Erweiterung der EU verant- sche Nummer eins in Brüssel sei. Der Fran- da. Dirk Koch E U R O PA Nur ein Missverständnis REUTERS AP I 220 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland I hre Weltpremiere erlebte Raissa Gorbatschowa synchron mit ihrem Mann 1984 in London, wo sich der im Westen praktisch unbekannte ZKSekretär für Landwirtschaft samt Ehefrau der britischen Premierministerin Margaret Thatcher vorstellte. Lange und rigoros prüfte Frau Thatcher Michail Sergejewitsch und musterte dessen Ehefrau beim kleinen Dinner, wobei Raissa die Eiserne offenkundig – von Frau zu Frau – durch Willens- und Charakterstärke, auch solide Bildung beeindruckte. Dann fällte die Britin ihr Urteil über den präsumtiven Nachfolger des Alt-Bürokraten Tschernenko: „Ich mag ihn, wir können ins Geschäft kommen.“ Die Sowjetmenschen haben so zuerst aus dem Westen erfahren, dass sie eine Erste Dame bekämen, noch ehe deren Mann zum Parteichef aufstieg. Ihre für eine Funktionärsgattin ganz ungewohnten Eigenschaften verblüfften – ihre angeborene Eleganz, ihr Charme und vor allem ihre Art, nicht nur eine eigene Meinung zu haben, sondern diese auch noch zu äußern. Auf unerfindliche Weise hatte sich während 23 Jahren in der sowjetischen Provinz ihr tadelloser Geschmack entwickelt. Das selbstgefällige Tout-Paris mochte lange nicht glauben, dass Raissa sich keineswegs von einem seiner Couturiers einkleiden ließ, sondern von einer bescheidenen russischen Schneiderin. Das profunde Wissen der Absolventin der Philosophischen Fakultät in Moskau und späteren Dozentin für Marxismus-Leninismus an der Landwirtschaftshochschule in Stawropol versetzte ihre ausländischen Gastgeber in Erstaunen. In London zitierte die gebürtige Sibirierin unvermittelt Hume und Hobbes, und sie brachte Nancy Reagan mit der Frage aus der Fassung, wer denn eines der im Weißen Haus aufgehängten Porträts gemalt habe. Der prämiierte Mähdrescherfahrer und studierte Jurist Gorbatschow eignete sich noch als Parteisekretär in Stawropol gründlichere Kenntnisse in Ackerbau und Viehzucht im Fernstudium an. Auch er konnte keinesfalls auf die Nachsicht der ihm angetrauten Philosophin rechnen. Bei der Vorbereitung einer Auslandsreise ging sie so methodisch vor, dass die für das Programm verantwortlichen Protokollbeamten bei der Suche nach den nötigen Unterlagen ihre liebe Not hatten. Von jedem Ausflug jenseits der Grenzen kehrte Raissa ganz wie früher als junge Studentin mit Notizbüchern heim, die sie auf Museumsbesuchen vollgeschrieben hatte. NAC H RU F tralorgan „Prawda“ den eigenen Generalsekretär einer Zensur unterzog. All das konnte nicht folgenlos bleiben. Meckern von Spießern und Giftpfeile der Gerüchte haben Raissa stets begleitet. Daran beteiligte sich in den achtziger Jahren auch der damalige Moskauer Parteisekretär Boris Jelzin. Raissa waren die Sitten und Bräuche damaliger Parteibonzen ein Gräuel. Im heutigen Russland wird sich kaum jemand vorstellen können, dass sie ihre Spesen penibel abrechnete und alle im Ausland empfangenen Gastgeschenke von Wert gegen Quittung ablieferte. Würdig ertrug sie den Rücktritt ihres Mannes als sowjetischer Präsident im Dezember 1991, doch wie ein Hieb hatte sie der AugustPutsch 1991 getroffen, der ihr einen Schlaganfall und eine Herzattacke eintrug. Dieser Verrat aus der nächsten politischen Umgebung war womöglich der erste Anstoß für die Krankheit, die am vergangenen Montag in Münster ihr Leben beendet hat. Gorbatschows Abtritt von der Kreml-Bühne war keine so große Katastrophe wie das Scheitern ihres gemeinsamen Projekts – ein gründlich reformiertes Russland. Sie kann das Lob nicht hören, das ihr nun postum zuteil wird, nicht von denjenigen, die es aufrichtig meinen, und auch nicht von jenen, die nach einer alten russischen Sitte die früheren bösen, ungerechten Worte zu spät bereuen. „Verzeih uns, Raissa“, schrieb die Moskauer „Iswestija“. Aber sie erfuhr immerhin noch von den ehrlichen, anrührenden Reaktionen vieler einfacher Menschen auf ihre Krebserkrankung. In der Gorbatschow-Stiftung in Moskau stehen zuhauf Tütchen mit Flachssamen und Fläschchen mit dem Saft einer rätselhaften roten Wurzel, zugesandt von Bewohnern des Altai-Gebirges, die in einem Brief versichern, diese Mixtur bringe unbedingt Heilung. Andrej Gratschow Raissa Gorbatschowa 222 DPA 1932 bis 1999 Mit einem seiner ersten Interviews im US-Fernsehen versetzte Gorbatschow dem eigenen Land einen Schock. Auf die Frage des Reporters, ob er auch höchste politische Probleme mit seiner Frau bespreche, gab er eine schlichte Antwort: „Wir besprechen alles.“ Das war schon lange so. Schier revolutionär erschien, dass er dies der ganzen Welt offen verkündete: ein Generalsekretär, der sich beraten ließ, auch noch von seiner Frau. Dies war wohl der einzige Fall in der sowjetischen Geschichte, bei dem das KP-Zen- d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Gratschow, 58, Berater und letzter Sprecher des UdSSR-Präsidenten Michail Gorbatschow, arbeitet jetzt als Journalist in Paris. Werbeseite Werbeseite AP REUTERS Ausland Schlusskundgebung im Präsidentschaftswahlkampf 1998, Staatschef Chávez: Eine Art karibischer Gaddafi? VENEZUELA Putschist der Armen „Hurrikan Hugo“ stellt sich in Deutschland vor: Fallschirmjäger Hugo Chávez, der in freien Wahlen mit den Parteien der ruinierten Ölrepublik aufräumte, will sein DiktatorenImage loswerden. Als Präsident schwankt der Populist zwischen linken und rechten Visionen. D er geschwellte Brustkorb dreht sich immer mit, wenn der starke Mann seinen Kopf wendet. Das liegt nicht an einem steifen Hals, auch kaum am kugelsicheren Unterhemd, sondern gehört zu seiner Körpersprache. Vor heimischen Menschenmengen bewegt Hugo Chávez sich kraftmeierisch, wie ein sendungsbewusster Boxer, der nur Beifall kennt. Die „kompakte Gestalt wie aus Stahlbeton“, die dem Romancier und Nobelpreisträger Gabriel García Márquez am Präsidenten Venezuelas auffiel, kletterte am Dienstag vorletzter Woche mit sportlicher Behändigkeit auf geparkten Flugzeugen herum: Acht Propellermaschinen der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft wurden fernsehwirksam verhökert, um den Erlös (acht Millionen Mark) für soziale Maßnahmen bereitzustellen. Das markante Mestizengesicht des einstigen Oberstleutnants der Fallschirmjäger lacht gern und leutselig, wirkt aber selten entspannt. Auch dann nicht, wenn Hugo Chávez Frías, 45, etwas Populäres unternimmt. „Mit diesen Maschinen“, ruft der Präsident voll rückwirkender Empörung, „flogen einst unsere Bonzen aus Industrie und Politik durch die Welt, die Mittel des Volkes verprassend, wäh224 rend Venezuela in Hunger und Elend versank.“ Nur ein „gründlicher Exorzismus“, so Chávez weiter, könne der venezolanischen Elite die bösen Geister der letzten 40 Jahre austreiben – „die Teufel der Korruption, der Verschwendung und der Gleichgültigkeit gegenüber unseren Mitmenschen“. Ein schwärmerischer Ernst prägt dabei die Kommandostimme des Präsidenten, ein Ton, der seine Gegner, aber auch manche bürgerliche Anhänger besorgt macht: Ist Chávez, der gescheiterte Putschist vom Februar 1992 und Wunder wirkende Wahlsieger vom vergangenen Dezember, womöglich nicht nur ein charismatischer Offizier mit dem Willen zur Macht, sondern ein Revolutionär? Eine Art karibischer Gaddafi vielleicht, der seine ölreiche Republik – und die politische Landschaft Lateinamerikas dazu – als Diktator und Demagoge umkrempeln könnte? Solche Fragen stellen sich diese Woche der deutschen Außenpolitik, aber auch den Diplomaten des Papstes: Chávez wird in Berlin und Hamburg erwartet – und zwischendurch im Vatikan. Vergangene Woche hat er in New York versucht, Präsident Bill Clinton von seiner demokratischen Gesinnung zu überzeugen. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Nicht auszuschließen, dass Gerhard Schröder oder Johannes Paul II. bei ihren Treffen mit dem Venezolaner einen unsichtbaren Dritten mit am Tisch dulden müssen. Präsident Chávez besteht bisweilen darauf, dass der Sessel zu seiner Rechten leer bleibt. „Das ist der Platz für unseren Befreier Simón Bolívar“, pflegt er seinen verblüfften Gästen zu erklären. „Er hat ein Recht, dabei zu sein.“ Wenn Schröder oder Joschka Fischer mit dieser Tischordnung Probleme haben sollten, können sie ja einen weiteren Sessel dazubestellen – für Alexander von Humboldt, der, bald 200 Jahre ist es her, mit dem Feuerkopf Bolívar gut bekannt war. „Bolivarianische Republik“ wird das Land demnächst tituliert. Die verfassunggebende Versammlung, die Chávez kurz nach dem Amtsantritt, auf dem Höhepunkt seiner Popularität, von den Venezolanern nach dem Mehrheitswahlrecht zusammenstellen ließ, hat mächtig Schlagseite: Die Anhänger des Präsidenten (auch seine Frau und ein Bruder sind darunter) verfügen über 120 der 131 Sitze. Sie sollen bis Mitte Oktober die neue Verfassung durchpauken, die Chávez’ Handschrift trägt. Mit diesem Instrument kann der politische Fallschirmspringer – sofern seine Po- Werbeseite Werbeseite AP Ausland Chávez-Anhänger vor dem Parlament: Bolivarianische Verfassung durchpauken 226 fasser der Schrift „Caudillo, Armee, Volk – ein postdemokratisches Modell für Venezuela“. Darin ergeht sich der Autor in verwickelten antiimperialistischen Theorien, die eindeutig faschistische Züge tragen. Zu den Vorbildern, auf die Ceresole sich beruft, gehört der Franzose Robert Faurisson – ein gerichtsnotorischer „Negationist“, also Holocaust-Leugner. Daran gemessen sind andere Einflüsse, die an Chávez festgestellt wurden, völlig harmlos: Er zitiert immer noch gern aus dem Opus „Das Orakel des Kriegers“ – einer Sammlung von Lebensweisheiten, die der chilenische Kampfsport-Guru Lucas Estrella, 27, verfasst hat. Das Werk wurde dem Präsidenten von seiner Frau, der blonden und politisch ehrgeizigen Marisabel, REUTERS pularität (derzeit 70 Prozent) anhält – auf demokratischem Weg das Fundament für eine Diktatur errichten: im Dezember ein neues Parlament, im Januar 2000 womöglich eine erneute Präsidentenwahl, allmähliche Entmachtung der Justiz, Einschüchterung der Presse. So beunruhigend eine solche Machtfülle wirkt – noch alarmierender ist die Frage, was Chávez damit anfangen wird und wer Chávez überhaupt ist. „Mystery man“ nennt ihn eine Washingtoner Zeitschrift: der Geheimnisvolle. Besorgt beugen sich politische Analytiker in Caracas über fremdartige, ja abseitig wirkende Texte, die Aufschluss geben könnten. Da ist der krause Brief, den Chávez – bereits Präsident – im März an den Terroristen und mehrfachen Mörder Ilich Ramírez Sánchez – genannt „Carlos“ – in ein französisches Gefängnis geschickt hat. Darin redet Chávez den zu lebenslanger Haft verurteilten Venezolaner mit „Verehrter Landsmann“ an und gibt eine geistige Verwandtschaft mit dem „Schakal“ zu erkennen, die selbst Gegner an Venezuelas Präsidenten kaum vermutet hätten. Verdächtig waren auch manche der Autorennamen, mit denen Chávez jahrelang in seinen zitatenreichen Stegreifreden um sich warf: Nietzsche und Clausewitz kamen darin oft vor, aber auch der „Kronjurist“ des Dritten Reiches Carl Schmitt und der ebenfalls nicht unumstrittene Geopolitik-Apostel Karl Haushofer. Woher stammt diese deutsche Ader bei einem jungen südamerikanischen Offizier? Offenkundig von einem obskuren politischen Schriftsteller aus Argentinien, der sich selbst als „Entdecker“ von Chávez bezeichnet: Norberto Ceresole ist der Ver- Chávez-Gegner Salas Römer „Der Ölreichtum hat uns korrumpiert“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 geschenkt, und seine Vorliebe dafür hat es in Caracas zum Bestseller erhoben. Acht Monate amtiert der ebenso redselige wie rätselhafte Offizier nun im Miraflores-Palais, ohne dass im mindesten klar wäre, was Chávez – außer möglichst unumschränkter persönlicher Macht – wirklich anstrebt. Seine Rhetorik ist von vager Brillanz, sein militaristisch-revolutionäres Vokabular für Demokraten schwer genießbar. Obwohl Chávez neuerdings um Mäßigung bemüht ist, klingt er oft genug wie am Tag seines Amtsantritts, als er sämtlichen Regierungschefs des Kontinents – mit Ausnahme des Kubaners Fidel Castro, der sich eifrig Notizen machte – einen Schrecken einjagte. Nach der Eidesformel, die ihm am 2. Februar vorgelesen wurde, mochte der Offizier sich nämlich mit einem schlichten „Ich schwöre es“ nicht abfinden. Stattdessen vollführte er, eine Hand auf der Verfassung, vor dem Parlament und der zuschauenden Nation einen rhetorischen Salto mortale: „Ich schwöre vor Gott, vor dem Vaterland und vor meinem Volke auf diese todgeweihte Verfassung, dass ich die nötigen demokratischen Änderungen vollziehen lassen werde, um der neuen Republik ein Grundgesetz im Einklang mit der neuen Zeit zu geben.“ In einem einzigen Satz hatte Chávez es fertig gebracht, gleichzeitig eine neue Zeit und eine neue Republik auszurufen – sowie seine Absicht zu bekunden, diese beiden Erneuerungen auch durch eine frische Magna Charta zu legitimieren. Noch immer ist das weinrote Barett des Fallschirmjägers ein Solidaritätssymbol über den Hügeln von Caracas, die heute fast vollständig von Elendsvierteln überwuchert sind. Die Kopfbedeckung des seinerzeit 37-jährigen Vorsitzenden einer geheimen „bolivarianischen“ Offiziersloge wurde nach dem versuchten Staatsstreich vom Februar 1992 zum Kennzeichen seiner Sympathisanten – und sechs Jahre später zum Triumphsymbol einer Wahlkampagne, an deren Ende Chávez im vergangenen Dezember das ganze politische Establishment Venezuelas demütigend besiegte. Dabei war jener Putschversuch ein klägliches Unternehmen gewesen, dilettantisch und doch blutig. Der ganze Kontinent erlebte ihn als Schock: Als Chávez’ einziger Panzer die Marmortreppe des MirafloresPalais hinaufrollte, wirkte er wie ein auferstandenes Relikt einer totgeglaubten Epoche. Die Zeit der Staatsstreiche und Militärregime in Lateinamerika galt seit der zweiten Präsidentschaft Ronald Reagans als abgeschlossen. Nach dem Ende der Pinochet-Diktatur in Chile und dem Abtritt einiger karibischer Gewaltregime sollte es nur noch einen einzigen illegitimen Herrscher geben, den alle Demokraten zu ächten hatten – Kubas Castro. Es war somit ein Putsch gegen den Zeitgeist. Offiziere und Soldaten kamen dabei Werbeseite Werbeseite sinnlos um, aber Chávez erhielt die Chan- das Geld und die Machtverbindungen der ce seines Lebens: Er durfte die Mitver- Männer geredet wird. Miss-Wahlen auf alschwörer im Fernsehen zur Kapitulation len nur denkbaren Ebenen kommen in Veauffordern und nutzte diese Gelegenheit nezuela stets auf die Titelseiten auch der zu einer Propagandarede, die ihm die Sym- seriösen Zeitungen. Nachrichten über die pathie der Millionen Armen sicherte. beängstigende Zunahme der GewaltkrimiIndem sie „Hurrikan Hugo“ ins Mira- nalität und die immer häufigeren Fälle von flores-Palais beförderten, holten 56 Pro- kollektiver Selbstjustiz erscheinen weiter zent der Wähler nach, was dem Panzer hinten. Im Bundesstaat Lara hat der Goudes Oberstleutnants misslungen war: die verneur die Polizei angewiesen, bei LynchEntmachtung der politischen Klasse, die justiz nicht zu intervenieren: „Ihr habt das Reich der Petrodollars 40 Jahre lang Wichtigeres zu tun, als Verbrecher zu begeführt – und völlig ruiniert hatte. Venezuela galt einmal als demokratischer Glücksfall Lateinamerikas, in dem zwei europäisch geprägte Volksparteien – Sozialdemokraten und Christsoziale – jahrzehntelang die Politik beherrschten und einander an der Macht ablösten. Deutsche Stiftungen, benannt nach Konrad Adenauer und Friedrich Ebert, haben hier an zwei Generationen von Politikern viel erzieherische Mühe angewandt. Nur haben Venezuelas Sozialund Christdemokraten ihr Land bei der Machtausübung so lange betrogen, bestohlen und ausgeplündert, bis die viel gerühmte Demokratie reif für den erstbesten Oberstleutnant wurde, der nach Höherem strebte. Von den Ehepaar Chávez: Neuerdings mit Cartier-Uhren 300 Milliarden Dollar, die Venezuela während der vergangenen drei Jahr- schützen.“ Ein Verbündeter von Chávez, zehnte aus dem Erdöl-Export zuflossen, Admiral Grüber Odreman, fordert für Caliegt ein knappes Drittel auf Privatgut- racas die Einführung der Todesstrafe. Erhaben in Florida und Kalifornien, der schießungen sollten zur Abschreckung öfSchweiz und den Caiman-Inseln. fentlich stattfinden. Dafür muss Präsident Chávez nun bei Chávez hat sich mit aller Schärfe gegen den Gläubigerbanken um eine Umstruk- solche Demagogie gewandt. Er ist offenturierung der Auslandsschuld bitten, da die kundig bemüht, seine Lernfähigkeit unter Staatskasse dem Zinsdienst nicht mehr ge- Beweis zu stellen. Zum brasilianischen Präwachsen ist. Von den 24 Millionen Vene- sidenten Fernando Henrique Cardoso soll zolanern vegetieren nahezu 80 Prozent in Chávez neulich gesagt haben: „Achten Sie Armut. Von einigen minderen Bananen- nicht auf meine Rhetorik, sondern auf meirepubliken abgesehen, erbringt Venezuela ne Taten.“ Wird er also die Armen, die ihn – so eine Weltbankstudie – die schwächste an die Macht getragen haben, durch paRegierungsleistung ganz Lateinamerikas. triotische und sozialromantische Sprüche Die Frage, was in 40 Jahren Demokratie bei Laune zu halten suchen, während er denn schief gelaufen sei, könnte dem Mann ansonsten fortführt, was die Weltbank vorgestellt werden, der bei der jüngsten Prä- schreibt: Privatisierung von Staatsuntersidentenwahl das Panikbündnis der eta- nehmen, Verkleinerung der Bürokratie, blierten Parteien anführte – und dennoch Sparsamkeit um jeden Preis? gegen den Putschoffizier Chávez unterlag. Dafür spricht, dass viele seiner – in Henrique Salas Römer, 63, ein weltläufiger früheren Zeiten – als links eingestuften Wirtschaftsmann, schont seine eigene Klas- Wirtschaftsberater längst zum Neoliberase nicht: „Erstens waren unsere Parteien lismus konvertiert sind. Und ein weiteres, autoritär geführte Klüngel, zweitens hat von Kolumnisten kolportiertes, von Invesder Ölreichtum uns im Lauf der Jahrzehn- toren positiv vermerktes Symptom: te alle korrumpiert.“ Sowohl Chávez wie seine Frau MarisaIn der Tat wirken Venezuelas Ober- bel tragen neuerdings Cartier-Uhren. Und schicht und gehobener Mittelstand selbst die First Lady ließ sich unlängst von reiheute noch bemerkenswert liederlich. Auf chen Freunden im Privatflugzeug nach Dinner-Partys ist es weiterhin üblich, dass Florida bringen – zu ausgiebigem Shopnur über die Attraktivität (und die Schön- ping. Nach Revolution sieht das nicht heitsoperationen) der Frauen sowie über aus. Carlos Widmann 228 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 AP Ausland Werbeseite Werbeseite FOTOS: H. SCHWARZBACH / ARGUS Ausland Gäste im Thermalbad „Blaue Lagune“ (bei Keflavik): „Die beste Energie, die man bekommen kann“ ISLAND Goldener Brotfisch Ein Wirtschaftsaufschwung ohnegleichen beschert der Vulkaninsel einen Spitzenplatz in Europa – aber auch ungewohnte Interessenkonflikte mit Umwelt und Natur. I m unwegsamen Hochland stieß die Reisegruppe unerwartet an eine Straßensperre. Auf einer schmalen Brücke unweit des Gletschers Vatnajökull blockierte ein quergestellter Jeep ihren Bus. Ein Grüppchen von Umweltaktivisten stoppte die Expedition, zu der Islands nationales Energieversorgungsunternehmen seinen gesammelten Vorstand gebeten hatte. Die Manager mussten zwei Protestresolutionen über sich ergehen lassen, mit anschließender Diskussion, danach erst durften sie ihren Trip fortsetzen. Die feine Gesellschaft war auf dem Weg zu Islands größtem und umstrittenstem Industrieprojekt. Im Feuchtgebiet Eyjabakkar am Fuße des mächtigsten isländischen Gletschers soll in den nächsten Jahren ein gigantisches Wasserkraftwerk entstehen, um eine neue Aluminiumschmelze – die größte in Europa – mit Strom zu versorgen. Dafür will die Regierung über 46 Quadratkilometer unberührter Natur fluten. Der Stausee würde nicht nur eine in Westeuropa beispiellose Landschaft vernichten, sondern auch die Weidegründe für die einzige wilde Rentierherde der Insel sowie Mauserplätze von tausenden besonders geschützter Kurzschnabelgänse. Der World Wide Fund for Nature (WWF) vergleicht die Gegend mit dem Yellowstone-Nationalpark in den USA. „Eyjabakkar muss unter besonderen Schutz gestellt werden“, verlangt Arni Finnsson vom Naturschutzverband, der den Widerstand organisiert. Blockaden und Protestaktionen zum Schutz der Landschaft, das hatte es im 230 Staatschef Grímsson: Fischköpfe und Filets Land der Gletscher und Geysire bis dahin noch nicht gegeben. Die 274000 Einwohner der entlegenen Republik hoch oben im Nordmeer interessierten sich in erster Linie für den Laichstand von Kabeljau oder Hering, urtümliche Natur haben sie im Überfluss. Doch seit die Regierung in Reykjavik die vierte große Aluminiumhütte plant und dafür weite Flächen opfern will, schwappt eine Protestwelle über die Insel. Die spülte im Mai erstmals die Grünen ins Parlament und bringt inzwischen auch die Intellektuellen auf. An die hundert Künstler machten sich kürzlich auf den beschwerlichen Weg, um zwischen Moosen und Mooren für deren Schutz zu demonstrieren. „Wir brauchen die Fabrik für unsere wirtschaftliche Entwicklung“, hält Handels- und Industrieminister Finnur Ingólfsd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 son dagegen. „Es handelt sich schließlich um grüne Energie“, beschwichtigt selbst die Umweltministerin Siv Fridleifsdottir, „die beste, die man bekommen kann.“ Das umkämpfte Industrieprojekt ist der Preis für einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung. Binnen weniger Jahre entwickelte sich die kleine Nation zu Europas Musterschüler. Wachstumsraten von mindestens 5 Prozent jährlich seit 1996 brachten dem Eiland einen Spitzenplatz unter den OECD-Ländern (Durchschnitt: 2,9 Prozent) ein. Die Arbeitslosigkeit sank von über 5 auf konkurrenzlose 1,5 Prozent in diesem Sommer; die Inflation fiel von über 50 Prozent noch vor 15 Jahren auf inzwischen 2 Prozent. Die Realeinkommen stiegen in den letzten zwei Jahren um acht bis neun Prozent, die Kaufkraft explodierte. Grund für das Hoch im Norden ist die florierende Fischindustrie. Acht von zehn Kronen im Export werden mit Kabeljau und Rotbarsch, Hering und Heilbutt verdient. „Der Kabeljau ist der Brotfisch der Isländer“, sagen die Einheimischen. Mit Fangquoten von über 230 000 Tonnen jährlich entpuppt er sich geradezu als Goldfisch. So lässt es sich Staatspräsident Olafur Ragnar Grímsson nicht nehmen, persönlich auf der Fischereimesse zu erscheinen und zwischen Kabeljauköpfen und entgräteten Filets, Frostergeräten und Filetiermaschinen herumzustiefeln. Längst haben sich die Isländer an ihren hohen Lebensstandard gewöhnt, der Kneipen und Restaurants trotz horrender Preise (Bier: zwölf Mark) bis tief in die Nacht füllt. Doch die Regierung traut dem neuen Wohlstand nicht ganz. „Wir sind zu abhängig von der Fischerei“, hat Ministerpräsident David Oddsson erkannt. Man profitiere derzeit von geringen Energiekosten für die Kutterflotte und hohen Marktpreisen für die Meeresprodukte. Aber „die Preise können rauf und runter gehen, der Fisch kann auch wegbleiben“, sagt Oddsson und erinnert daran, wie in den sechziger Jahren plötzlich der Hering verschwand. Um die geplanten Wachstumsraten von rund drei Prozent für die nächsten Jahre zu garantieren, müsse Island neue Arbeitsplätze in anderen Zweigen schaffen, warnen Wirtschaftsexperten. Der Tourismus, der 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht und an zweiter Stelle liegt, stößt an Grenzen. Mit gut 250 000 Urlaubern jährlich ist der Fremdenverkehr schon jetzt, gemessen an der Einwohnerzahl, fast so stark wie im Reiseland Spanien. Was liegt da näher, als Islands wichtigste Ressourcen verstärkt auszubeuten, die Energiegewinnung aus Wasser und Geothermik. Nur rund zehn Prozent der sauberen Energiequellen sind bislang genutzt. „Wir müssen die energieintensive Produktion fördern“, verlangt Industrieminister Ingulfsson und setzt dabei ausdrücklich auf den Zukunftsmarkt von Aluminium, etwa beim Bau energiesparender Autos. Gänzlich ungelegen kommt der Regierung gerade zu diesem Zeitpunkt eine andere Debatte, die immer wieder neu entflammt: der ewige Streit um den Beitritt zu EU und Euro. „Island darf politisch nicht hinter dem Polarkreis verschwinden“, bekommt Reykjavik immer wieder vom Kontinent zu hören. Die Beitrittskriterien wären längst erfüllt, und über 70 Prozent des Außenhandels werden ohnehin mit der EU abgewickelt. Doch während sich die Union sonst kaum vor Bewerbern retten kann, widersetzt sich das kleine Eiland hartnäckig. „Was sollen wir dadurch gewinnen?“, fragt Oddsson. „Im Gegenzug verlieren wir den entscheidenden Einfluss auf das für uns wichtigste Thema, den Fisch“, meint er, „das können wir nicht zulassen.“ Die Erinnerung an den Kabeljaukrieg von 1976, als britische Trawler in isländische Fanggebiete eindrangen, ist noch wach. Isländische Patrouillenboote kappten die Fangleinen und wurden dafür von Kriegsschiffen Großbritanniens bedrängt und manchmal auch gerammt. Erst nach Drohungen, seinen Nato-Verpflichtungen nicht nachzukommen, konnte Reykjavik eine 200-Seemeilen-Grenze durchsetzen. Nur eine bescheidene Fangquote von 3000 Tonnen, garniert mit allerlei Auflagen, treten die Insel-Skandinavier derzeit an Europa ab. Für eine Änderung wären neben den Briten vor allem Spanien und Portugal dankbar, die Europas größte Fischereiflotte unterhalten. Da stellen sich Islands Regierende lieber stur. Fabrik und Kraftwerk werden gebaut wie geplant, „und wir werden feststellen, dass dies nicht so schlecht ist für die Natur“, beteuert der Regierungschef. Und der EU-Beitritt bleibt ausgesetzt, so Oddsson, zumindest so lange, „bis ich nicht mehr im Amt bin“. Manfred Ertel d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland USA Die Zumutung der harten Liebe Mit rabiaten Mitteln wurde in den Vereinigten Staaten die Zahl der Sozialhilfeempfänger gesenkt – und ein Heer von „working poor“ geschaffen: Menschen, die trotz Ganztagsjob nicht genug zum Leben verdienen. Der Wirtschaftsboom hat die Armen nicht erreicht. einig: Um die ungeliebten Staatsgäste zurück an die Werkbank zu treiben, darf man nicht zimperlich sein. Wer etwa in Sedalia aufs Amt geht, um Stütze abzuholen, kann sich alsbald inmitten von blutigen Gedärmen wiederfinden. „Direct Job Placement“, erklärt Joyce Dameron vom Sozialamt das System. Es funktioniert so: Die Hühnerfleischfabrik von Tyson Foods, dem größten Arbeitgeber am Ort, meldet ihre freien Stellen direkt ans Sozialamt, das postwendend seine Klienten schickt. Die können das Angebot, für 5,50 Dollar die Stunde am Fließband Innereien aus Hühnerbäuchen zu reißen, kaum ablehnen: Wer sich weigert, verliert die Beihilfe. Auf diese Art entstand eine für Staat und Unternehmen praktische Symbiose. Der Lebensmittelmulti (Umsatz 1998: 7,4 Milliarden Dollar) kriegt Billigarbeiter frei Haus, das Sozialamt senkt die Fallzahlen. Nötigung? Eine Art Zwangsarbeit? Dameron schüttelt den Kopf: „Wer Arbeit braucht, muss alles nehmen“, findet sie. „Wer solche Jobs nicht will, kann auch von uns nichts haben.“ Sedalias „Direct Job Placement“ wurde Vorbild für den Staat Missouri, andere schlossen sich an. Drei Jahre nach Einführung der Clintonschen „Friss oder AP M anchmal ist es ein Segen, dass viele der Bedürftigen, die im Sozialamt Sedalia (Missouri) Hilfe suchen, kaum lesen können. Sonst würde sie der Mut schon im Warteraum verlassen. An der Wand des Flachbaus wird das amerikanische Ideal vom eigenständigen Individuum gepriesen: „Wir sind ein Produkt unserer Entscheidungen, nicht unserer Umstände“, steht da, und: „Ändere deine Gedanken, und du änderst die Welt.“ Mit freundlicher Aufmunterung haben diese Sinnsprüche kaum noch zu tun. Die Sozialhilfeempfänger im 20 000-Seelen-Städtchen Sedalia haben, wie alle ihre Schicksalsgenossen im Land, längst keine Wahl mehr. Seit Bill Clinton vor drei Jahren das „Ende des Sozialstaats, so wie wir ihn kennen“, ausgerufen hat, gilt: Jeder Fürsorgeempfänger, der arbeiten kann, muss auch arbeiten. Bezahlung, Wochenstunden, Arbeitsbedingungen sind dabei zweitrangig. „Work first“ heißt die Formel, Präsident Clinton*: „Auch hier gibt es Märkte“ um Sozialhilfeempfänger wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, „erst Bill Clinton seine Reform. „Tough love“, mal arbeiten“. Damit die Lust am neuen harte Liebe, nennt sie der Volksmund. Sozialhilfeempfänger gelten im Land der Job auch anhält, begrenzte Washington zugleich die Zuwendungen. Jeder Amerika- Do-it-yourself-Millionäre leicht als Parasiner hat höchstens fünf Jahre seines Lebens ten, Faulpelze, Verlierer. Die Nation ist sich einen Anspruch auf Sozialhilfe. „Gesetz zur persönlichen Verantwortung“ nannte * Bei einer Kundgebung am 5. Juli in Hazard (Kentucky). Im Schatten des Aufschwungs Die Zahl der Sozialhilfeempfänger sinkt... 15 9,50 14,2 14 9,00 13 8,50 12 8,00 7,00 7,6 (unteres Fünftel der Beschäftigten) Armutsgrenze* 7,89 Frauen Durchschnittliches Reale NettojahresHaushalte nach einkommen* Veränderung Einkommen gegenüber 1977 1999; in Dollar unteres Fünftel oberes Fünftel 8800 20 000 31 400 45 100 102 300 –12,0% –9,5% –3,1% +5,9% + 38,2% 1% Spitzenverdiener 515600 +119,7% in Preisen von 1997 6,00 5,50 Quelle: US-Gesundheitsministerium Dez. 1990 91 92 93 94 95 96 97 98 234 Durchschnittlicher Stundenlohn bei Geringverdienern 6,50 9 7 Männer ...und vom Wirtschaftsboom profitieren nur die Reichen. 7,50 11 11,5 Sozialhilfeempfänger 10 in Millionen 8 ...doch auch Arbeit schützt vor Armut nicht... in Dollar 5,00 *notwendiger Stundenlohn um bei Vollzeitarbeit einen 4-Personen-Haushalt Quelle: Economic über der Armutsgrenze zu halten Policy Institute 1973 1977 d e r 1982 1987 s p i e g e l 1992 1997 3 9 / 1 9 9 9 Quelle: CBPP *geschätzt Werbeseite Werbeseite AP WOODFIN CAMP treibt gleichzeitig die Mieten in für ihn unerreichbare Höhen. Die US-Bürgermeisterkonferenz berichtet, dass die Nachfrage nach Schlafplätzen 1998 um elf Prozent gestiegen ist – und immer mehr Obdachlose haben Arbeit. Sozialhilfeempfänger, die einen Job gefunden haben, verdienen laut Urban Institute etwa sieben Dollar die Stunde – zu wenig, um eine Familie über die Armutsgrenze zu hieven. Eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern kann da nur mit Hilfe begleitender Maßnahmen wie Essensmarken, Kinder- und Krankenversorgung, Sozialwohnungen und Lohnsubventionen die offizielle Armutsgrenze von 16 530 Dollar überspringen. Was aber passiert, wenn nach fünf Jahren die Zugaben wegfallen? Scheinbar unbeirrt preist das Weiße Haus den Erfolg der Reform. Doch dem Präsidenten ist klar, dass er die ZusatzhilObdachlosenunterkunft in New York: Kehrseite der Globalisierung fen massiv erhöhen muss, will er sein Werk nicht gefährden. stirb“-Methode melden nun alle 50 StaaSeine republikanischen Gegenten Vollzug. Die Zahl der Fürsorgeempspieler aber wollen die Hausfänger ist um spektakuläre 40 Prozent haltsüberschüsse lieber an die gesunken. Zwei Drittel davon fanden Wähler verteilen. Um das öfArbeit, 20 Prozent verschwanden spurfentliche Bewusstsein zu schärlos aus der Statistik. Nur noch 7,3 Milliofen, besuchte Clinton, eine Denen Amerikaner leben heute auf Staatslegation von Unternehmern im pump – ein Tiefststand wie zuletzt vor Schlepptau, unlängst die ärms32 Jahren. ten Regionen seines Landes. Die große Nachfrage nach Arbeitern Seine Botschaft: Auch hier gibt brachte sogar Ex-Drogensüchtige und Exes Märkte zu erobern. Häftlinge wieder in Jobs. Die ArbeitsloSo bereiste er die trostlosen senrate schrumpfte auf 4,2 Prozent. Grund Wohnwagenparks am Fuß des zum Feiern, fand der Präsident. Er lud 2000 Appalachen-Gebirges in West Unternehmer, die mittels staatlicher För- Suppenküche in Cleveland: Täglich hungrig ins Bett Virginia, er fuhr nach Kentucky derung Sozialhilfeempfänger eingestellt haben, zum Navy Pier nach Chicago. sche Bundesamt der USA registriert für und Ohio, besichtigte die Wellblechhütten Gerührt lauschten die Bosse von Burger 1997 eine offizielle Armutsrate von 13,3 im Mississippi-Delta und East St. Louis. In King, Rank Xerox oder United Parcel Ser- Prozent – 1989, nach der langen Rezession, diesen Gegenden herrscht tiefe Armut, die vice der neuesten Version des amerikani- betrug sie nur 12,8 Prozent. Heute lebt das Bewohner haben oft seit Generationen keischen Traums: Dankbare „Job-Rückkeh- ärmste Fünftel der Haushalte von durch- ne Arbeit. Autowracks liegen im Garten, rer“ erzählten ihre Erfolgsgeschichten. schnittlich 8800 Dollar im Jahr. 1977 blie- Kinder spielen im Müll. Hier erinnert AmeTatsächlich sind die meisten von ihnen ben ihm noch 10 000 Dollar. Die Schere rika eher an Bangladesch als an die mofroh, den Stempel des Schmarotzers los zu zwischen Arm und Reich öffnet sich wei- dernste Technologienation der Welt. Clinton besuchte auch das Pine-Ridgesein. Und sie hoffen, sich irgendwann die ter und schneller als je zuvor. Im wirtschaftsstärksten Land der Erde gehen vier Indianerreservat in Süd-Dakota – erstmals Leiter hochzuarbeiten. Doch das Selbstlob am Lake Michigan Millionen Kinder unter zwölf Jahren hung- seit Präsident Franklin Roosevelt 1936 traupasst nicht so recht zur harten Realität rig zu Bett, weitere 9,6 Millionen sind vom te sich ein Präsident wieder zu den Alhinter Clintons Zahlen-Feuerwerk: Ob- Hunger bedroht, meldet das Food Research lerärmsten. Nirgendwo ist die Arbeitslowohl mehr Menschen arbeiten, ist die Ar- and Action Center. Der eindrucksvolle Auf- sigkeit und die Alkoholikerzahl höher. Der mut kaum gesunken. Vielmehr, so fand das schwung nimmt die 35,6 Millionen Armen Häuptling aus Washington setzte sich vor das trostlose Häuschen von Geraldine Blue unabhängige Washingtoner Urban Insti- nicht mit nach oben. So wird das Land der unbegrenzten Bird und fühlte mit, als die Indianerin untute heraus, hat die staatliche Arbeitsverordnung ein Heer von „working poor“ ge- Möglichkeiten nun um „flexible“ Lebens- ter Tränen ihre Lebensbedingungen schilschaffen – Arbeitnehmern, deren Lohn formen wie die von Kenneth Lindo berei- derte: wie sie mit 27 Personen fünf Schlafnicht von der Armut befreit, Menschen, chert. Der 44-Jährige ist Bote im New zimmer in Haus und Wohnwagen teilt, wie die trotz 40-Stunden-Woche mittellos Yorker Börsenviertel. Tagsüber läuft er sie im Winter friert, weil sie die 50 Dollar durch die edlen Foyers der Investment- nicht hat für das Propangas. sind. Clinton versprach zu helfen. Mit SubSo erleben die USA derzeit zwei Seiten banken, abends wartet er auf ein Bett im der Globalisierung: hier eine entfesselte Obdachlosenheim. Manchmal müsse er ventionen, Steuervergünstigungen, garanBörse mit Gewinnen jenseits der Ver- die halbe Nacht Schlange stehen, erzähl- tierten Niedriglöhnen soll Kapital in struknunftgrenze, dort Arbeitsplätze, von de- te er der „New York Times“. Denn die turschwache Gebiete gelockt werden. Die 20 Dollar für ein Zimmer in Harlem sind Bank of America kündigte sogleich die nen viele Bürger nicht leben können. Trotz der höchsten Beschäftigungsquo- bei einem Stundenlohn knapp über dem Gründung eines 500-Millionen-Dollarte seit 29 Jahren sank die Armut nur ge- offiziellen Mindestlohn von 5,15 Dollar Fonds für Investitionen in Armutsgebieten ringfügig, berichtet das liberale Center for nicht mehr drin. Der Wirtschaftsauf- an. Falls die Sache schief geht, bürgt die Budget und Policy Priorities. Das statisti- schwung, der Lindo den Job beschert, Regierung. „Dies sind eure neuen Märkte“, 236 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland 238 d e r von Deodorant. Das Lösen von Konflikten mit Worten statt Fäusten. Und natürlich: lesen, schreiben, rechnen. Eine solch intensive Betreuung bessert die Chancen auf einen dauerhaften Rollenwechsel. Doch nur wenige dürfen an dem Projekt teilnehmen. Beispielsweise Vonda Welsh. Die 25-Jährige ist stolz auf den Dreck unter ihren Fingernägeln: Sie hat nach einem Kurs bei Hurst einen Job bei Elektro Leesons in Sedalia ergattert und baut, für sieben Dollar die Stunde, kleine Motoren zusammen. Welsh hat eine typische Fürsorgekarriere hinter sich: High School in Sedalia, ein Job als Zimmermädchen im Motel, mit 17 wurde sie schwanger und bezog seitdem Sozialhilfe. Mit 18 heiratete sie einen Mechaniker ohne feste Anstellung. Die Familie lebte von gelegentlichen Aufträgen, von AP rief der Präsident den mitreisenden Unternehmern zu. Für die Arbeitnehmer wird indes das Geldverdienen immer schwerer, wie die neueste Studie des Economic Policy Institute (EPI) zeigt. Dessen Analyse ergab, dass die Profite der Neunziger auch auf Kosten der Löhne gingen. Wären die wie früher mitgewachsen, hätten sie 1997 sieben Prozent höher sein müssen. Obwohl die Löhne momentan leicht steigen, verdienen viele Amerikaner real immer noch weniger als vor zehn Jahren. Die Gehälter der Spitzenmanager dagegen verdoppelten sich laut EPI zwischen 1989 und 1997 – auf das 116fache des Lohns eines Durchschnittsarbeitnehmers. Zwölf Prozent der Amerikaner häufen 88 Prozent des privaten Vermögens an. Heute verfügen 2,7 Millionen US-Bürger – ein Prozent der Bevölkerung – über das gleiche Nettoeinkommen wie die ärmsten 100 Millionen – eine glatte Verdoppelung seit 1977. Das Ungleichgewicht trifft neuerdings auch den Mittelstand hart, berichtet das EPI. Nicht nur, dass dessen Wohlstand nur noch halb so schnell wächst wie der der Reichen. Wollte eine Mittelstandsfamilie 1996 ihren Einkommensstandard von 1989 halten, musste sie 247 Stunden mehr arbeiten. Mittlerweile haben sieben Prozent der Arbeitnehmer mehrere Jobs, und in den Vororten sieht man Mittelstandsväter am Wochenende Nachbars Rasen mähen, um die Haushaltskasse aufzubessern. Bleibt die Hoffnung, vom Aktienboom zu profitieren. Doch die Vorstellung, dass jeder Amerikaner in irgendeiner Form Aktien besitze, trügt. Noch 1995 hatten knapp 60 Prozent aller Haushalte keinerlei Wertpapiere. Der anhaltende Taumel an der Wall Street zog zwar immer mehr Menschen an, die meisten jedoch nur mit kleinen Beträgen um die 5000 Dollar. Den untersten Schichten ist der Zugang zur Börse versperrt durch ein Problem, welches „das dreckige kleine Geheimnis der USA“ genannt wird: Über ein Fünftel der Erwachsenen zählt zu den „funktionellen Analphabeten“. Sie können ihren Namen schreiben und einfache Anweisungen entziffern. Doch jeder komplexere Text – die Gebrauchsanweisung eines Medikaments, das Ausfüllen eines Bewerbungsbogens – überfordert sie. Und schätzungsweise acht Millionen US-Bürger können überhaupt nicht lesen und schreiben. Marsha Hurst, Lehrerin vom Work Force Development Board in Sedalia, trainiert Härtefälle – Langzeitarbeitslose, allein stehende Mütter. Die meisten, die zu ihr kommen, sind ohne Schulabschluss, ohne Arbeitserfahrung. Manche haben Drogenoder Gesundheitsprobleme. „Diese Menschen haben ernsthafte Schwierigkeiten, im Arbeitsleben zu funktionieren“, sagt Hurst. Also übt sie mit ihnen: Pünktlichkeit, Verantwortungssinn, die Benutzung Armen-Protest in Kalifornien „Wer Arbeit braucht, muss alles nehmen“ Stütze und Essensmarken. 1996 kam das zweite Kind. Zwei Jahre später erkrankte der Sohn und wurde taub. Um ihn versorgen zu können, fing Vonda beim Billigmarkt Wal-Mart als Verkäuferin an. Als das Sozialamt die Beihilfen kürzte, gab sie auf. Schließlich wurde sie zu Marsha Hurst geschickt. Sie bekam ihren neuen Job und setzt nun alles daran, ein ganz normales Familienleben zu führen. 1150 Dollar verdient die junge Frau im Monat, doch ohne die 500 Dollar Rente für das behinderte Kind kämen sie nicht über die Runden. Für eine Krankenversicherung reicht es nicht, auch nicht für ein Auto. Das Sozialamt steuert noch Essensmarken für Milchprodukte zu. Vonda Welsh nimmt Tabletten gegen Depressionen. „Jeden verdammten Tag kämpfen wir ums Überleben“, sagt sie, „ich arbeite 40 Stunden, und wenn ich ins Bett falle, frage ich mich: Wie, um Himmels willen, machen es die, die es zu etwas bringen?“ Michaela Schießl s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ich will mich ausprobieren“ SPIEGEL: Frau Schenk, wenn Sie in ein fernes Land fliegen, was füllen Sie bei der Einreise unter „Beruf“ aus? Schenk: Da gibt’s einige Möglichkeiten. Bei der Krankenkasse bin ich Studentin. Das Gewerbe, das ich beim Finanzamt angemeldet habe und worauf ich Steuern zahle, ist Sportlerin. Und wegen meiner Vereinbarungen mit dem Südwestrundfunk könnte ich mich Journalistin nennen, aber das fände ich hochgestapelt. Ich bin auf dem Weg dahin. SPIEGEL: Und deshalb haben Sie, die ExWeltmeisterin, Weltcupsiegerin und der Darling der Medien, mit 25 Jahren Ihre Eisschnelllaufkarriere drangegeben? Schenk: Hoppla! Ich setze zunächst mal nur für ein Jahr aus. SPIEGEL: Dennoch scheint Ihnen die „Guinness-Show“ in der ARD, bei der Sie vorigen Samstag neben Reinhold Beckmann wieder als Co-Moderatorin auftraten, wichtiger zu sein als Medaillen. Schenk: Wir müssen hier mal zwischen zwei Baustellen trennen. Ich mache dieses Jahr noch zweimal die „Guinness-Show“, also Unterhaltung. Und ich arbeite in der Sportredaktion des SWR, zum Beispiel produziere ich viertelstündige Interviewfilme für die Sendung „Flutlicht“. Das kann man zwar nicht mit einer Samstagabend-Show vergleichen, aber ich will mich da auf vielen Gebieten ausprobieren. SPIEGEL: Was ist an dem Tag passiert, an dem Sie sich gegen den Eisschnelllauf und fürs Fernsehen entschieden haben? Schenk: Das ist nicht über Nacht oder so passiert. Das war eine sehr bewusste Entscheidung, ein langer Prozess. Ich habe seit drei, vier Jahren am Ende jeder Saison nachgedacht: Was wäre, wenn ich jetzt aufhöre oder eine Pause mache? Aber dagegen standen immer irgendwelche Ziele – Weltmeisterschaften, Olympia –, und auf die hatte ich ja jahrelang hingearbeitet. Im vorigen Jahr habe ich mich dabei erwischt, dass ich spürte: Eigentlich würde ich mich jetzt lieber anderen Dingen widmen. SPIEGEL: Die meisten Leistungssportler kommen auf solche Gedanken entweder erst bei schweren Verletzungen, wenn sie von der Konkurrenz abgehängt werden Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Alfred Weinzierl. 242 T & T Die frühere Eisschnelllauf-Weltmeisterin Franziska Schenk über Sportler als Markenartikel, die Instrumentalisierung der Medien, den Neid der Kollegen und die Sehnsucht nach dem Rücktritt zur richtigen Zeit Franziska Schenk gewann 1997 die Eisschnelllauf-Weltmeisterschaft im Sprint. Die gebürtige Erfurterin, 25, die als Olympia-Dritte 1994 schnell zum von Werbung und Medien begehrten Star wurde, hat ihre Sportkarriere für mindestens ein Jahr unterbrochen: Für den Bayerischen Rundfunk assistiert sie Reinhold Beckmann bei der „Guinness-Show“, für den Südwestd e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 rundfunk macht sie eine Interviewreihe mit Sportlern, in der ARD präsentierte sie vergangenen Sonntag erstmals das „Sportschau-Telegramm“; bei den Olympischen Spielen in Sydney und in Salt Lake City wird die Studentin der Filmwissenschaft (Nebenfächer: Publizistik und Germanistik) zum ARD-Reporterteam gehören. AP oder wenn sie alles erreicht haben und in ein Motivationsloch fallen. Schenk: Das kommt auf den Ansatz an, mit dem man Leistungssport betreibt. Studierenden Sportlern wird gern unterstellt, dass die Uni nur ein Alibi sei, um zu zeigen, dass man auch geistig in der Lage ist, etwas zu leisten. Für mich war das Studium genauso Abwechslung wie die Praktika, die ich bei einer Zeitung und zweimal beim Fernsehen gemacht habe. Jedes Mal musste ich mich verabschieden mit dem Satz: Leute, es hat mir riesig gefallen, und ich würde gerne länger bleiben – aber der Sport geht jetzt vor. SPIEGEL: Und nun? Schenk: Ich hatte vom SWR ein so interessantes Angebot, dass ich gesagt habe: Erstens möchte ich mir nach zehn Jahren diese völlige Vereinnahmung des Lebens durch den Sport nicht länger geben. Zweitens möchte ich in dem Jahr herausfinden: Ist der Journalismus das, was ich will? SPIEGEL: Es gab viele Sportler, die haben den Absprung versucht, scheiterten in ihrem neuen Leben und kehrten fix wieder zurück. Wollen Sie sich mit der befristeten Pause vor der Peinlichkeit schützen, im nächsten Jahr vielleicht den Rücktritt vom Rücktritt bekannt geben zu müssen? Schenk: Woher soll ich heute wissen, ob ich im Winter meinen Sport vermissen werde? Kein aktiver Athlet kann wissen, wie ein anderes Leben aussieht. Wenn man sich neue Klamotten kaufen will, dann probiert man im Laden erst mal alles an und entscheidet sich dann. Im Moment stöbere ich durch die Regale. SPIEGEL: Nach ihrem Wimbledonsieg hat die Amerikanerin Lindsay Davenport über ihre Gegnerin Steffi Graf gesagt: „Die Steffi kann jetzt den Ausstieg selbst bestimmen. Das ist ja das, was wir uns alle wünschen.“ Gibt es eine branchentypische Sehnsucht von Sportlern, das richtige Timing für den Abschied zu finden? Schenk: Wir Sportler sind in einer Ausnahmesituation. Der 58-jährige Manager, Eisschnellläuferin Schenk*: „Der ,Playboy‘ schadet eher“ der vorzeitig in Pension geht, kann sich einen schönen Lebensabend machen. Also kauft er sich endlich sein Segelboot und schippert über die Elbe. Für den 30-jährigen Sportler fängt nicht der Lebensabend an, sondern der aktivere Teil des Lebens – der muss gestaltet werden. SPIEGEL: Steffi Graf überrascht uns seit ihrem Rücktritt mit einem veränderten Auftreten – weil sie die sportlichen Zwänge nicht mehr hat? Schenk: Ich glaube, dass sie schon immer so war, wie sie sich jetzt gibt. Aber sie wollte nicht, dass das sichtbar wird – weil es Konzentration auf den Wettkampf kostet. SPIEGEL: Kritiker, darunter auch Ihr Trainer, hielten Ihnen vor, dass unter der Mehrfachbelastung Werbung, Fernsehen und Studium keine 100-prozentige Konzentration auf den Sport möglich sei. * Bei ihrem Sturz während der Olympischen Spiele in Nagano am 19. Februar 1998. Schenk: Das muss er als Trainer so sehen. Er weiß aber auch, dass ich nicht der Typ für diesen Tunnelblick bin. Und was die professionellen Kritiker angeht, das sind Moden: Mal ist derjenige toll, der nur seinen Sport kennt und sich nicht von so schlimmen Sachen wie Werbung ablenken lässt; mal wird der mündige Athlet, der drei Sätze geradeaus reden kann, gefeiert – je nachdem, was gerade „in“ ist. SPIEGEL: Wie viel büßen Sie auf Grund Ihrer Wettkampfpause finanziell ein? Schenk: Ich verdiene weniger als mit dem Sport, aber ich nage nicht am Hungertuch. Ich bin beim SWR ja nicht umsonst tätig. Und dann arbeite ich weiterhin mit meinen alten Werbepartnern zusammen. Das Geld kann es nicht sein, das mich zurück zum Sport treibt. SPIEGEL: Die „Frankfurter Allgemeine“ hat Sie einen „Markenartikel“ genannt, der die Attribute „schön, schnell und gescheit“ … Schenk: … schnell ist ja nicht mehr. M. SANDTEN WEREK DPA DPA R. FESSEL / BONGARTS Das Leben danach Deutsche Sportstars, die 1999 ihre Karriere beendet haben DIETER THOMA STEFFI GRAF KATJA SEIZINGER JÜRGEN KLINSMANN BORIS BECKER „Die Skispringer-Weltspitze kann ich nach acht Knieoperationen und einem Knorpelschaden nicht mehr erreichen. Ich möchte auch mit 40 noch normal laufen.“ „Ich staune über mich selbst, wie leicht mir der Abschied gefallen ist. Wie wenig es mir bedeutete, auch die Sicherheit aufzugeben, die mir der Tennisplatz bot.“ „Momentan habe ich weniger Zeit als früher. Ich studiere BWL und mache meine ersten Gehversuche in der freien Wirtschaft. Das geht von acht bis sechs Uhr.“ „Ich habe immer das Studentenleben vermisst, das meine Kumpel genossen. Einen Hauch davon kann ich nun erleben, mit Fortbildung etwa in EDV und Spanisch.“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 „Die Doppelfunktion Teamchef und Spieler war aus der Not entstanden. Erst jetzt kann ich meine Aufgabe beim Deutschen Tennis Bund wirklich erfüllen.“ 243 Sport SPIEGEL: Wir zitieren aus einer Zeit, als Sie zen. Oder auch Zeitschriften: Mit der OttoWerbung war ich Thema in allen Modeund Frauen-Illustrierten. SPIEGEL: Ist der sportliche Erfolg nur noch Nebensache? Schenk: Ich würde keinem raten, Nebenschauplätze zu inszenieren, ohne wirklich eine Basis zu haben. Eine Fotostrecke im „Playboy“ mag was unglaublich Spannendes sein, und damit hat man auch garantiert das Medieninteresse, aber langfristig schadet das eher. Eine Sache ist schlecht, wenn es keine Antwort auf die Frage gibt: „Wie ist sie denn darauf gekommen?“ SPIEGEL: Wie sind Sie denn darauf gekommen, sich fotografieren zu lassen – nur mit Schlittschuhen bekleidet und mit Silberfarbe bemalt? SPIEGEL: Sie haben das Foto gesperrt. Schenk: Der Zweck war erfüllt. Es ist auch S. MATZKE / S.A.M. noch schnell waren. Schenk: Ich habe das gelesen. Und wenn jetzt geschrieben wird, ich sei nur noch schön, dann finde ich das eigentlich ganz witzig. Ich habe ein entspanntes Verhältnis zum Kommerz. Solange es sowohl den Unternehmen, dem Sport als auch mir hilft, haben wir doch nichts falsch gemacht. SPIEGEL: Sie waren in einem Jahr 233 Minuten als Interviewgast auf dem Fernsehschirm – mehr als Matthäus, Schumacher oder Becker; nur Franziska van Almsick kam öfter. Haben Sie dafür eine Erklärung? Schenk: Eisschnelllauf ist eine Randsportart. Bei Olympia oder Weltmeisterschaften kommt man damit ins Programm, und sonst bleibt man draußen. Es sei denn, man TV-Moderatorin Schenk in der „Guinness-Show“: „Ich stöbere durch die Regale“ bringt sich auf die Agenda anderer Sendungen. Meine 233 Minuten sind nicht im „Aktuellen Sport-Studio“ zusammengekommen, sondern bei „Menschen ’97“, bei Harald Schmidt, bei „Wetten, dass …“. SPIEGEL: Da werden die Schönen und die Erfolgreichen eingeladen – also auch der Markenartikel Franziska Schenk. Schenk: Aber da bedarf es einer Vorleistung außerhalb des Sports. Man muss Nebenschauplätze finden, die eine glaubwürdige Affinität zum Eisschnelllauf haben. Sie kennen meinen Werbespot für den Otto-Versand? SPIEGEL: Sie sind mit einem Eisbären in Kanada um die Wette gelaufen … Schenk: … und deshalb in eine Sendung gekommen, die außergewöhnliche Werbefilme präsentiert. Der Nachrichtenwert für die Redakteure war nicht, dass ich Weltmeisterin geworden war; die wollten was über die Dreharbeiten erfahren. Ich verknüpfe also das Thema Sport mit einem anderen Nachrichtenwert – und schon kann ich ganz neue Sendungen als Plattform nut244 Schenk: Man konnte vor der WM in Hamar davon ausgehen, dass die nicht von großem öffentlichen Interesse sein würde. Also haben wir uns überlegt, mit welchen Fotos man für Aufmerksamkeit sorgen kann. Es gab damals eine Pirelli-Kampagne, auf der ein Eisschnellläufer in silbernem Anzug und roten Stöckelschuhen bei einer dilettantischen Startpose abgebildet war. Wir wollten das Foto nachstellen, mit richtigen Schlittschuhen und in der richtigen Startposition. Das Problem war, dass wir in der Kürze der Zeit keinen silbernen Laufanzug auftreiben konnten. Da kam jemand auf die Idee, mich anzumalen. Ich war erst skeptisch, aber das Ergebnis war toll. Die Bilder wurden gedruckt noch und nöcher. SPIEGEL: Sie wurden zur Kronzeugin einer Debatte, wie Sportler die Erotik zur eigenen Vermarktung entdecken. Schenk: Das hätte ich nicht für möglich gehalten, wer anschließend alles angemalt und bepinselt in der Medienlandschaft rumgesprungen ist. Irgendwann ist mir das auch echt auf den Senkel gegangen. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 nach wie vor ein tolles Foto.Aber wir mussten dem Publikum klarmachen: „Hallo Leute, ich bin nicht nur die mit dem Silberfoto.“ SPIEGEL: Die Inszenierung gelingt nicht jedem erfolgreichen Sportler. Gunda Niemann hat 15 WM-Titel mehr gewonnen als Sie, die Schwimmerin Dagmar Hase hat eine Olympische Goldmedaille geholt und Franziska van Almsick keine. Aber in der Werbung haben Niemann und Hase nie eine Rolle gespielt. Warum? Schenk: Warum wird das eine Model gebucht und das andere nicht? Weil es vielleicht einfach in dem Moment eher den Geschmack der Masse trifft. Man kann das sicher beeinflussen durch Sachen, die man initiiert oder die man bereit ist zu tun. Aber acht Stunden geduldig am Set zu stehen und immer ein freundliches Gesicht zu machen ist auch nicht jedermanns Ding. SPIEGEL: Dennoch produziert der kommerzielle Erfolg Neid. Schenk: Wenn jemand glaubt, die Verteilung der Erfolge müsse sich proportional in der Berichterstattung wieder finden, dann kann man natürlich unzufrieden werden. Aber damit kommentiert man ja nur die Funktionsweise der Medien – die ich mir zunutze mache, aber für die ich nicht verantwortlich bin.Vielen Sportlern ist es egal, ob der Journalist unter Druck ist, weil er einen festen Sendetermin hat oder Redaktionsschluss. Ich war verfügbar, so weit es ging, und ich bin Risiken eingegangen. Wenn ich nach dem Silberfoto bei der Weltmeisterschaft keine Medaille gewonnen hätte, wäre die Schlagzeile in „Bild“ doch schon klar gewesen: „Nicht mal zu Silber reicht es.“ SPIEGEL: Dem Mannschaftsklima hat Ihre Popularität nicht gut getan. Ihre Kollegin Sabine Völker hat Sie „eine zu Recht unbeliebte Person“ genannt. Schenk: Leistungssport ist Konkurrenz.Wir sind nicht bei der Heilsarmee, sondern betreiben ein Geschäft. Wenn zwei um das letzte Ticket für Olympia kämpfen, geht das nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander. Ich habe mit Sabine Völker über Jahre eine sehr fruchtbare Konkurrenz gehabt. Wir sind keine Freundinnen, aber wir haben uns gegenseitig angetrieben.Von ihrer Äußerung war ich enttäuscht. SPIEGEL: Es soll eine breite Front der Athletinnen aus den neuen Bundesländern gegen Sie gegeben haben. Schenk: Ich gebe ja zu, dass sich solche Geschichten gut lesen. Aber sie entsprechen nicht so ganz den Tatsachen. Ich kann mich auch an eine breite Front mitfühlender Sportler nach meinem Sturz in Nagano erinnern. Leuten, die so was schreiben, sage ich immer: Macht so eine Situation erst mal selber mit, ohne dass es zu irgendwelchen Spannungen kommt. SPIEGEL: Frau Schenk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport spielt“. Jeder Einsatz wird mit 200 bis 400 Mark vergütet. Zwar ist dieses Doppelpass-Spiel selbstverständlich regelwidrig, doch weder der Deutsche Fußball-Bund (DFB) noch die Vereine, bei denen die Polen in Lohn stehen, haben offiziell Kenntnis von den binationalen Einsätzen.Vorschriftsmäßig müsste ein polnischer Kicker den Ball daheim sechs Hunderte polnischer Fußballer Monate ruhen lassen, um vom DFB die spielen gleich für zwei Vereine – in Spielgenehmigung für Deutschland zu beder Heimat und in Deutschland. kommen. Doch was in Polen wirklich pasDer Grenzverkehr ist regelwidrig. siert, weiß nicht mal der deutsche Verband. Im Hoheitsgebiet der dortigen Föderation ährend der Woche schraubt Da- funktioniert der Kontrollmechanismus nämrek Dabrowski daheim in Polen lich schon lange nicht mehr. Hier darf spiefür Volkswagen deutsche Auto- len, wer gerade spielen will. Die Anfälligkeit ihrer Administration mobile zusammen. Freitags, wenn die Arbeit getan ist, hat er für knapp 24 Stunden behindert zusehends die Arbeit einheimischer Fußballlehrer, deren Spieler mit Ruhe. Erst am Samstagnachmittag muss er für dunklen Schatten unter den Augen zum seinen Sportverein Zamet Przemków an Training kommen. Im schlimmsten Fall geden Ball. Gleich nach dem Schlusspfiff wird fährdet die unbürokratische West-Hilfe den Spielbetrieb ganzer Mannschaften. „Die Öffnung der Grenzen“, weiß ein Sachkenner, „hat manchen polnischen Fußballclub ruiniert.“ Der Club Kuźnia Jawor in der Nähe von Liegnitz etwa galt vor einem Jahrzehnt noch als Geburtsstätte hoffnungsvoller Nachwuchskräfte. Doch seit sich Leszek Stepień 1992 als erster Kicker nach Nordbayern aufmachte, kündigten zwölf weitere Kameraden. Zwei Talente schlugen soGrenzgänger Koban, Bzdyk, Dabrowski: Zeitlich beengt gar Angebote von polnies zeitlich eng. Dann setzt sich Darek zu- schen Zweitligaclubs aus und wanderten sammen mit den Kollegen Adam Koban in die deutsche Provinz aus. Ihr Heimatund Robert Bzdyk in seinen angejahrten verein stieg in die vierte Liga ab. Zur Schadensbegrenzung bemühen sich Fiat und fährt nach Deutschland. Ihr Ziel ist ein Fußballplatz in der Nähe die polnischen Clubs schon lange um die von Kassel: Die drei Polen sind sonntags von Fifa-Chef Joseph Blatter gewünschte für den örtlichen Fußballclub SG Alten- Harmonisierung des internationalen Spielstädt-Naumburg, ein Mitglied der siebten kalenders – wenngleich anders als urdeutschen Spielklasse, im Einsatz. Nach 90 sprünglich von Blatter gedacht: Sie besorMinuten haben es die Gastarbeiter schon gen sich die deutschen Spieltermine ihrer wieder eilig. Neben dem Arbeitslohn neh- Spitzenkräfte und stimmen den eigenen men sie noch ein Lunchpaket in Empfang Kalender darauf ab. Angesichts der Zunahme des wochenund reisen unverzüglich in die Heimat zurück. Die liegt rund 600 Kilometer weit endlichen Grenzverkehrs konnten die polweg, und wenn zwischendurch kein Stau nischen Spieler ihren Transport zuweilen ist, schaffen sie es noch zum Schichtbeginn optimieren – ökonomisch wie ökologisch. Aus der Region Oppeln reist eine polniam Montagmorgen. Derlei Mühsal des Wochenendes ver- sche Reisegruppe neuerdings im Minibus. Einzelne Pendler wie Jerzy Wichlacz bindet die drei Männerfreunde mit Heerscharen anderer Fußballspieler aus Polen. allerdings, der in Polen bei Miedź Legnica Ähnlich den Anstreicherkolonnen, die in zwischen den Pfosten stand, mussten die deutschen Großstädten zuverlässig, diskret rege Reisetätigkeit teuer bezahlen. Zwei und netto Wände bearbeiten, verdingen Jahre lang hütete Wichlacz im Nebenberuf sich auch begabte Kicker nebenberuflich auch noch das Tor des Bonner Kreisklasauf teutonischen Wiesen. Gastarbeiter sen-Vereins TuS Roisdorf, 800 Kilometer Dabrowski, 30, schätzt die Zahl der Pendel- von der Heimat entfernt. Heute ist er 40 Fußballer auf „mehrere hundert – kaum Jahre alt. Seine Karriere ist am Ende – und ein Club in Hessen, in dem kein Pole seine Ehe auch. Andrzej Rybak FUSSBALL Schatten unter den Augen P. BRENNEKEN / TRI ASS W d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 247 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite ALLSPORT / ACTION SPORT Sport Amerikanische Synchronschwimmerinnen mit Teammitglied May (4. v. l.): Gelatine auf dem Kopf Paragrafen und Pailletten Ein Amerikaner will bei Olympia im Synchronschwimmen antreten. Er darf nicht, weil er das falsche Geschlecht hat. D er junge Mann trägt Badelatschen und tiefe Trauer. Er sitzt auf dem Podium des „Weyerhaeuser Aquatic Center“ in Seattle und weint leise. Vor wenigen Minuten noch ist er seinem Beruf nachgegangen, wobei er jenes Glücksgrinsen in sein Gesicht gezaubert hat, das aussieht, als sei es festgefroren. Er muss so gucken, sein Job verlangt das von ihm: Er grinst, wenn er sich zu Wasser lässt, und wenig später sieht man nur noch seine Arme, die sich um sich selber drehen. Dann taucht, flink wie beim Eisvogel, der Kopf ins Wasser, und in die Höhe schießen seine Beine. Sie zeigen eine Grätsche, zucken durch die Luft, als habe jemand einen Haartrockner ins Becken geworfen, aber irgendwann taucht er immer wieder auf. Natürlich grinst er. Und sein Publikum schmilzt dahin, weil der Vortrag wieder mal hinreißend war. So ist es auch an diesem Tag gewesen, aber dann wurde es ungemütlich am Bassin. Die Menschen stießen Buhrufe durch die Halle, und Bill May schluchzte, den Rotz noch nicht getrocknet: „Das alles ist sehr entmutigend.“ Soeben war über das Hallenmikrofon verkündet wurden, dass May, 20, nicht an den Olympischen Spielen 2000 in Sydney teilnehmen darf. Stattdessen werden nun ausschließlich Frauen für die USA jenen Sport vertreten, den May so formvollendet zur Aufführung bringen kann: Synchron- Stunden, und selbst in der Damenumkleide fühlt er sich längst zu Hause. „Anfangs schwimmen. Der Entscheid ist unumstößlich und tritt war es seltsam“, weiß May noch, „aber inin den Vereinigten Staaten – einem Land, zwischen sind wir eine Familie.“ Vor allem die körperlichen Voraussetin dem das Gezappel unter Wasser hohe Wertschätzung genießt – eine erregte Dis- zungen waren ihm behilflich: Wegen seiner kussion über kastrierte Männerrechte los. langen Gliedmaßen hat der Amerikaner Zwar dürfen die Herren in dieser Diszi- eine bessere Hebelwirkung als die Kolleplin, die 1984 in Los Angeles olympisch ginnen, und das größere Lungenvolumen wurde, seit fünf Jahren grundsätzlich mit- erlaubt ihm ein paar kunstvolle Sperenztun – bei Weltmeisterschaften und Olym- chen mehr, wenn er die Luft anhalten pischen Spielen allerdings wollen die muss. Allein auf dem weiten Feld der KosmeSportgremien dann doch lieber nur Frautik wirkt Bill May noch etwas gehemmt. en ins Ballettbecken einlassen. Mays Jünger sind darob auf der Zinne, Zwar trägt auch er raffiniert geschnittene zumal die Emanzipationsbewegung im Bademode mit Gold, Pailletten oder Perlen, wie sie in dieser DiszipSport bisher nur einspurig volllin gern gesehen wird. Doch zogen wurde: Frauen dürfen sein Haar ist kurz geschnitten, boxen, Gewichte heben und im weil er vor der gemeinhin geSchlamm catchen. bräuchlichen Gelatine auf dem Im Fall von Bill May ist es Kopf zurückschreckt. May gesogar so, dass er von seiner Bestattet sich allenfalls jene kleigabung her beim olympischen nen Nasenklammern, mit deWettbewerb glatt das Funkennen die Damen zuweilen den mariechen geben könnte. Kopf in die Tiefe lassen. Er ist Mitglied der amerikaGut möglich, dass ihm die nischen Nationalmannschaft, Zähren vom Weyerhaeuser gewann 1998 bei den „GoodAquatic Center am Ende nicht will-Games“ mit der Kollegin Schwimmer May ganz umsonst über die Wange Kristina Lum die Silbermedaille im Duett und stieg bei den Swiss Open flossen. Es besteht neuerdings die Hoffin den letzten drei Jahren sogar als Bester nung, dass Bill May in Sydney zumindest in der Einzelkonkurrenz aus dem Becken. als Vorschwimmer eintauchen darf. „Bevor ich aufhöre, muss sich etwas änDeutschen Wassersportfreunden ist er seit März dieses Jahres unvergessen, als er mit dern“, findet der Männerrechtler jetzt. Die seiner Riege, den „Santa Clara Aqua- Damen vom Fach sehen das ganz genaumaids“, den Titel bei den German Open so und haben den Kampf für die Rechte in Bonn holte. „Seine Beine sind für die- eines Zurückgesetzten aufgenommen. sen Sport perfekt geformt“, weiß seit- Esther Williams, seit ihren Hollywooddem auch Peter Purps vom Deutschen Revuefilmen der vierziger Jahre so etwas wie die Königin Mutter des parallelen Schwimm-Verband. Dafür hat der zarte Bill auch einiges ge- Plantschens, tritt vehement für ein genetan. Als er zehn Jahre alt war, beobachte- relles Geschlechtergemisch unter Wasser te er seine Schwester beim seltenen Trei- ein. Und eine Kollegin aus Mays Sportben unter Wasser; seitdem stand für ihn gruppe ahnt: „Wenn er sich nicht unterfest: „Ich will das auch machen.“ Seit drei kriegen lässt, dann ist er irgendwann ein Jahren übt er mit den Maids täglich vier Held.“ Maik Grossekathöfer R. FRISHMAN / SPORTS ILLUSTRATED GLEICHBERECHTIGUNG d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 251 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: TONY STONE (li. o.); CAMERA PRESS / PICTURE PRESS (li. u.); INTER-TOPICS (re. o.); CINETEXT (re. u.) XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR: 1. Traumfabrik Hollywood (39/1999); 2. Die Malerei der Moderne (40/1999); 3. Die Dichter und die Macht (41/1999); 4. Pop in Musik und Mode (42/1999) Schriftzug über dem Los-Angeles-Stadtteil Hollywood; Marlene Dietrich; Marilyn Monroe; Erfolgsfilm „Titanic“ Das Jahrhundert der Massenkultur Traumfabrik Hollywood Schon am Ende des Ersten Weltkriegs beherrschte das frühere Apfelsinenpflanzerdorf Hollywood 85 Prozent des Welt-Filmmarkts. Es machte Unbekannte zu Stars und Studiobosse zu Multimillionären. Seit Generationen nimmt seine Scheinwelt die Herzen und Köpfe gefangen: eine unangefochtene Großmacht der Phantasie. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 255 Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood Die immer währende Party A de festhalten – ein sensationeller Schritt, allerdings nicht für sein eigentliches Ziel: Wenn eine präzise Analyse des Vogelflugs gelänge, so glaubte Marey, könne man nach demselben Prinzip einen Flugapparat bauen. So hat einer, der das Flugzeug erfinden wollte, stattdessen unbeabsichtigt einen der Grundsteine zum Kino gelegt. Thomas Alva Edison, über die Elektrifizierung zum Großindustriellen aufgestiegen, begann sein Augenmerk erst ein paar Jahre später auf die Idee der „motion pictures“ zu richten. 1888 traf er sich mit Muybridge, im Jahr darauf reiste er nach Paris zu Marey, und stets gab er an seinen Chefkonstrukteur William K. L. Dickson in New Jersey zwecks Nachahmung weiter, was er in Erfahrung gebracht hatte. Zwei bis heute gültige Normen wurden in Edisons Labors schon damals festgelegt: die Breite des Filmstreifens von 35 Millimetern und die Art der Perforation. 1893 konnte Edison auf der Weltausstellung in Chicago das erste, noch primitive, aber taugliche Filmvorführgerät präsentieren: Das von Dickson gebaute Kinetoscope zeigte schwarzweiße 35-Millimeter-Filmstreifen von maximal 90 Sekunden Dauer – doch unvergrößert durch ein Guckloch für nur jeweils einen Betrachter. Es war ein Frühstart, der, mit wenig Erfolg, zur Aufstellung von Kinetoscopes in Lokalen mit Spielautomaten führte. Ein echter Durchbruch und ein Massenerfolg jedoch konnte aus der Technik erst werden, als es Projektoren gab, die den Film auf lles große Neue wollte er erfunden haben, also auch den Film: Thomas Alva Edison, der Pionier der Elektrifizierung. Doch in Wahrheit ist die Erfindung des Films keinem einzelnen genialen Kopf zuzuschreiben. Sie lag in der technikbegeisterten und fortschrittsgläubigen Gründerzeit vor der Jahrhundertwende überall in Europa wie in den USA sozusagen in der Luft. In literarischen Utopien war der Film vielfach prophezeit worden, und die praktischen Lösungen wurden Mitte der neunziger Jahre an vier oder gar fünf verschiedenen Orten halbwegs unabhängig voneinander verwirklicht. Keiner der Filmpioniere hatte die Idee, mit den „motion pictures“, den bewegten Bildern, ein weltmächtiges Massenkommunikationsmittel zu erschaffen, wie es niemals zuvor existiert hatte. Die wegweisenden Schritte unternahmen zwei Männer mit rein naturwissenschaftlichem Interesse. Einerseits, im kalifornischen Palo Alto, der aus England stammende Fotograf Eadweard James Muybridge, der von 1872 an die Bewegungsphasen eines laufenden Pferdes festzuhalten versuchte. 1877 gelang ihm dies mit einer Apparatur aus zwölf parallel aufgestellten Kameras. Andererseits, am Pariser Collège de France, der Physiologe EtienneJules Marey, der mit ausgeklügelten Aufzeichnungstechniken den Bewegungsabläufen bei Mensch und Tier nachspürte. 1882 konnte Marey erstmals zwölf Phasen des Vogelflugs innerhalb einer Sekun- 1915 GEBURT EINER NATION von D. W. Griffith 256 Dreharbeiten in der Wüste von Arizona mit kleine und dann immer größere Wände zu werfen vermochten. Im hektischen Wettlauf der Systeme hatten Ende 1895 einen Augenblick lang die Europäer die Nase vorn: in Berlin die Brüder Max und Emil Skladanowsky, in Paris STILLS / STUDIO X Die großen Filme Hollywoods CINETEXT Träume am Fließband AKG Spiegel des 20. Jahrhunderts Von Urs Jenny 1926 DER GENERAL, mit Buster Keaton d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 1933 KING KONG von Ernest Schoedsack PHOTOFEST Marlene Dietrich, Charles Boyer (1936)*: Bestes Licht im weiten Westen die Brüder Auguste und Louis Lumière. In den USA setzte sich im April 1896 abermals Edison an die Spitze, mit einem Projektor, dessen Patent er den Erfindern Thomas RÖHNERT / KEYSTONE * Für die Aufnahmen zum Film „The Garden of Allah“ hatte der Produzent David O. Selznick eine künstliche Oase bauen lassen. Armat und C. Francis Jenkins abgekauft hatte. Der Erfolg dieses neuen Schauvergnügens war auf Anhieb sensationell: Tingeltangelbühnen zeigten am Ende ihres Programms ein Kurzfilm-Potpourri; Spielautomaten-Lokale, in denen das GucklochKinetoscope nicht floriert hatte, richteten ein Hinterzimmer als Kino her; neben ihnen wurden leer stehende Kramläden zu Vorführräumen umgerüstet. Diese allgegenwärtigen Umschlagplätze für die Ware Film, in Amerika „storefront movie theaters“ genannt (in Deutschland bald „Ladenkinos“ oder „Kinoläden“), wurden die Basis des Massenerfolgs: Das Vergnügen, für jedermann erschwinglich, war – insbesondere in den proletarischen Stadtteilen – in der alltäglichen Nachbarschaft der Einkaufsstraßen verfügbar und jederzeit zugänglich. Das Programm begann von mittags bis in die Nacht hinein jede halbe Stunde von vorn. Zu sehen gab es abgefilmte Prominente, Schaubuden-Kuriositäten, berühmte Bauwerke aus fernen Ländern, Clowns, kurze Sketche und die ersten Historienstücke – 1896 beispielsweise, je eine gute Minute lang, die Verbrennung der Jeanne d’Arc und die Enthauptung der Maria Stuart. Als allererster Filmemacher ist wohl Edisons Konstrukteur Dickson zu betrachten, der als Autor, Regisseur, Kameramann und Produzent in Personalunion dutzendweise die Streifen für das Kinetoscope lieferte. Die ersten effektbewussten Montagen, die ersten Verfolgungsjagden und den ersten Western (1903) schreibt man dem Amerikaner Edwin S. Porter zu. Ein paar Jahre später etablierte sich Mack Sennett als Urvater des Slapstick-Kinos. Zugleich stieg der erste überragende Meister des neuen Mediums empor, D. W. Griffith, ein erfolgloser Schauspieler und Schriftsteller, der von 1908 an pro Jahr bei etwa hundert der nun üblichen Zehn-Minuten-Filme Regie geführt hatte, doch bald nach Größerem strebte: Sein fast dreistündiger Bürgerkriegs-Monumentalfilm „The Birth of a Nation“ wurde 1915 zum beispielhaftesten Werk des Jahrzehnts; er hatte die bis dahin unerhörte Summe von gut 100 000 Dollar gekostet – und spielte 20 Millionen ein. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Medium rund um die Welt durchgesetzt hat, bleibt erstaunlich. Edison war anfangs 1937 SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE von Walt Disney 1939 NINOTSCHKA, mit Greta Garbo d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 1939 VOM WINDE VERWEHT, mit Vivien Leigh und Clark Gable 257 „illegale Verschwörung“ zur Auflösung gezwungen wurde. Diese größte Niederlage Edisons hatte weit reichende sozial- und kulturgeschichtliche Folgen. Das angelsächsische OstküstenUnternehmertum verlor die Macht über das neue Medium an Immigranten aus Europa. Mit den neuen Herren verlagerte sich das Zentrum der EntertainmentIndustrie nach Kalifornien. Weltmetropole des Kinos wurde und blieb für immer Hollywood, der Stadtteil an den Hügelhängen über Los Angeles. Die andere historische Niederlage, die den Weg des Kinos für immer bestimmte, erlitten durch den Ersten Weltkrieg die Europäer – Sieger wie Besiegte – gegen die Amerikaner. Vor dem Krieg waren Frankreich und Italien die international führenden Kino-Mächte gewesen und auch auf dem amerikanischen Markt stark präsent. Doch der Krieg, der in Europa Produktion und Export lahm legte, lieferte dem US-Kino die Welt kampflos zur Eroberung aus – bei Kriegsende besaß Hollywood zu Hause 98 Prozent Marktanteil, in der übrigen Welt 85 Prozent. Die USA hatten sich damit ein für alle Mal als einzige und nie ernsthaft angefochtene Welt-Exportmacht des Films durchgesetzt. Die Lichtstärke, die das Filmmaterial der frühen Jahre benötigte, lieferte am zuverlässigsten die Natur. Auch WohnzimmerDekorationen wurden unter freiem Himmel oder in einem Glashaus aufgebaut. Dafür war das Klima im Nordosten Amerikas nicht günstig, und so verlegten viele Firmen ihren Produktionsbetrieb im Winter nach Florida, Kuba und besonders Südkalifornien. Dort waren die Bedingungen, über die Zuverlässigkeit des Sonnenscheins hinaus, optimal: Für Außenaufnahmen gab es in Reichweite von Los Angeles Meeresküste PHOTOFEST in die Produktion von Software (Filmen) nur eingestiegen, um den Verkauf seiner Hardware (Kameras und Projektoren) voranzutreiben. Doch angesichts eines Erfolgs, den er nicht geahnt hatte, regte sich bei ihm mehr Appetit: Nun trachtete er nicht nur nach einem größeren Stück, sondern nach dem ganzen Kuchen, und zwar höchst aggressiv. Ende 1908 hatte Edison die zehn wichtigsten Firmen der jungen Branche zur Gründung der Motion Picture Patents Company (MPPC) zusammengezwungen. Ziel des Unternehmens, das sich selbstbewusst „Trust“ nannte, war die volle Kontrolle des ame„United Artists“-Gründung (1919)*: Viel mehr verdienen rikanischen Kinomarkts. Doch der „Trust“ akzeptierte nur etwa tionsfirma Independent Motion Picture 4000 der existierenden 6000 US-Kinos als Company. Damit entstand die erste, später „UniAbnehmer. Die übrigen (wohl die kleinsten und schäbigsten) sollten ausgehungert wer- versal“ genannte vertikal integrierte Filmden, um das Medium Film vom Zwiebel- firma in den USA: ein Konzern, der (wie und Knoblauchgeruch der Einwanderer- alle späteren großen „Studios“) Produkghettos zu befreien und zu einem bür- tion, Verleih und Kinobesitz in einer Hand gerlich schicklichen Entertainment (zu zusammenbrachte. Laemmle war ein deutlich höheren Preisen) zu verfeinern: Draufgänger mit fabelhaftem MarktSchließlich waren die führenden Köpfe der instinkt. Er war der Erste, der die Namen MPPC durchweg Repräsentanten des Ost- der bisher anonymen Stars, die er der Konkurrenz abwarb, groß herausstellte. Er förküsten-Establishments. Doch die über 2000 Kleinunternehmer, derte den in Europa schon erfolgreichen, zum größten Teil osteuropäische Immi- vom „Trust“ jedoch bekämpften Trend zu granten, entwickelten Widerstandskraft, längeren Filmen, und er ermutigte andere und rasch setzte sich ein Deserteur aus Kinoketten-Besitzer, den Sprung in Proder MPPC an die Spitze der Rebellion: duktion und Verleih zu wagen – allen vorCarl Laemmle, aus dem Württember- an William Fox und Adolph Zukor, die gischen stammend, vom Konfektions- Gründerväter der späteren Großstudios verkäufer und kleinen Kinoladen-Betrei- 20th Century-Fox und Paramount. In ihrem ersten Geschäftsjahr lag der ber in Chicago zum Filmverleiher und Kinoketten-Besitzer aufgestiegen, kün- Marktanteil von Edisons MPPC nahe bei digte 1909 Edison die Treue auf (der ihn 100 Prozent, vier Jahre später hatte sie die deshalb über die Jahre mit 289 Prozes- Hälfte an die Independents verloren, war sen verfolgte) und gründete die Produk- also gescheitert und schon ohne Zukunft, als sie von einem US-Bundesgericht 1915 als 1942 CASABLANCA, mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart 258 1946 GILDA, mit Rita Hayworth d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 CINETEXT TELEBUNK * Vertragspartner Douglas Fairbanks, Mary Pickford, Charles Chaplin, D. W. Griffith. CINETEXT Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood 1949 TÄNZER VOM BROADWAY, mit Fred Astaire und Ginger Rogers Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik CINETEXT und Wüste, Schluchten, Dschungel und Schneegebirge. Warum ausgerechnet das kleine Apfelsinenpflanzerdorf Hollywood zum Sammelpunkt der mittelständischen Filmbetriebe wurde, ist nicht zu ergründen; auch die Herkunft des Ortsnamens ist umstritten. Offenbar war das Gelände noch spottbillig, und eine Firma zog die andere nach. Als erster Film soll in der Umgebung von Los Angeles 1908 ein „Graf von Monte Christo“ gedreht worden sein. In den nächsten Jahren verlegten Griffith und Cecil B. DeMille ihr Dreh-Hauptquartier in die Gegend, 1912 zog Sennett, den unter anderem die Erfindung der Sahnetortenschlacht unsterblich gemacht hat, mit seinem ganzen quirligen Hopplahop-Produktionsbetrieb nach Hollywood, 1914 betrat Laemmle die Szene. Er kaufte für sein geplantes neues Studio ein Riesengelände hinter jenem Hügelzug, der später, in den zwanziger Jahren, in Monumentalbuchstaben mit dem Namen „Hollywood“ verziert wurde (ursprünglich stand dort übrigens, als Werbung für ein nie realisiertes Siedlungsprojekt, „Hollywoodland“). Als Laemmle 1915 im San Fernando Valley mit gebührendem Pomp seine „Universal City“ eröffnete, hatte ein Luxus-Sonderzug in sechstägiger Fahrt von Chicago quer über den Kontinent Repräsentanten der Geld- und Showbusiness-Elite nach Los Angeles gekarrt – es war eine symbolträchtige Fahrt, eine Machtübergabe an die Zukunftsmetropole im fernen Westen. Mit den Produktionsbetrieben wuchs die Belegschaft von fest angestellten Handwerkern und Technikern, Bürokräften und Regisseur Hitchcock*: Ungewöhnliches Autoren, Regisseuren und Darstellern. Und natürlich begriffen die Stars am schnellsten, in welchem Maß ihre Prominenz Marktmacht und Kapitalkraft bedeutete. Der erste Star, der sich eine Jahresgage von seinerzeit sagenhaften 100 000 Dollar erkämpfte, war 1915 die 22-jährige Mary Pickford. Schon bald zog ein schmächtiger junger Komiker aus England namens Charles Spencer Chaplin gleich, den Sennett erst Ende 1913 nach Hollywood gelockt hatte. Und als Pickford 1916 ihren Preis auf * Im Hafen von Monte Carlo bei einer Drehpause zu dem Film „Über den Dächern von Nizza“ (1955). LITERATUR Wolfgang Jacobsen u. a. (Hrsg.): „Geschichte des deutschen Films“. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1993; 596 Seiten – Film, Vaterland, Politik: gründliches Pionierwerk. Ephraim Katz: „The Film Encyclopedia“. HarperCollins, New York 1994; 1496 Seiten – Lexikon mit zahllosen Biografien und Fachbegriffen, unzuverlässig nur in den Randzonen des außeramerikanischen Films. Klaus Kreimeier: „Die Ufa Story“. Hanser Verlag, München 1992; 520 Seiten – Was Krupp für die Rüstung bedeutete, war die Ufa fürs Nazi-Kino. Robert Sklar: „Movie-Made America“. Random House, New York 1975; 340 Seiten – Anschauliche Wirtschafts- und Filmgeschichte Hollywoods. CINETEXT CINETEXT Richard Alleman: „The Movie Lover’s Guide to Hollywood“. Harper & Row, New York 1985; 328 Seiten – Unentbehrlich für den Tourismus zu den Villen der Stars. Kenneth Anger: „Hollywood Babylon“. 2 Bände. Verlag Rogner & Bernhard, München 1975/85; 308 und 332 Seiten – Die wichtigste Skandalchronik, gut bebildert. Otto Friedrich: „Markt der schönen Lügen“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1986; 672 Seiten – Der Roman der goldenen Jahre Hollywoods. Ronald Haver: „David O. Selznick’s Hollywood“. Verlag Rogner & Bernhard, München 1980; 428 Seiten – Opulenter Bildband, voller Produktionsdetails. 1950 BOULEVARD DER DÄMMERUNG, mit Gloria Swanson 262 d e r 1952 ZWÖLF UHR MITTAGS, mit Grace Kelly, Gary Cooper und Katy Jurado s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Hollywood Talent aus Europa STILLS / STUDIO X RÖHNERT / KEYSTONE fast eine Million Dollar pro Jahr hochgeschraubt hatte, blieb auch er nicht zurück. 1919 gründeten die beiden Spitzenverdiener zusammen mit zwei Kollegen die Produktionsfirma United Artists, um fortan auf ihr Risiko noch viel mehr zu verdienen. Ende der zwanziger Jahre galt Chaplin als der berühmteste Mensch der Welt. Bis 1920 vervielfältigten und verfeinerten sich die Erzählmittel des Kinos beträchtlich; als Normaldauer eines Spielfilms hatte sich eine Länge von 80 bis 100 Minuten durchgesetzt. Die „storefront movie theatres“, deren Tagesgeschäft die Laufkundschaft war, hatten ausgespielt. Das Stummfilmkino war zu einem gepflegteren Feierabendvergnügen mit einem gewissen Komfort und obligater Musikbegleitung geworden, und die Stars erwiesen sich als seine verlässlichste Attraktion. Es waren Goldgräberzeiten; es wurden Riesensummen verdient und Riesensummen verschleudert. Das Kino, naturgemäß eine Branche für Spielernaturen, verlockte leichtfertige und in der Hoffnung auf schnellen Gewinn unbedenkliche Draufgänger zu riskanten Coups. Und die 1919 verhängte Prohibition, dieses unselige Selbstkasteiungsprogramm einer puritani- schen Nation, förderte, wie sich bald zeigte, nicht die Tugend, sondern gerade die Lust am Laster. Das bienenfleißige Hollywood verwandelte sich, zumindest in den Bilderblättern Anfang der zwanziger Jahre, in die Szenerie einer immer währenden Party, bei der illegaler Whiskey und Champagner in Strömen flossen – und falls der Alkohol tatsächlich mal knapp wurde, gab es noch Opium, Kokain, Heroin im Überfluss. Sogar im Senat zu Washington wurde der Ort als „Orgien-Schauplatz“ gegeißelt. So verdiente sich die „Traumfabrik“ den Titel, den ihre berühmteste Skandalchronik trägt: „Hollywood Babylon“. Selbstmorde, Morde und Drogentode in skandalös rascher Folge: Die Schlagzeilen waren fatal und brachten Mal um Mal all jene einflussreichen Tugendwächter auf Hochtouren, denen das Medium Film grundsätzlich suspekt, frivol und jugendverderblich erschien. Zensur drohte, Abwehr tat Not. Hollywood brauchte dringend einen prominenten Saubermann, der sich der Öffentlichkeit als Garant eines neuen Moralbewusstseins der Branche präsentieren ließ. Der richtige (wenn auch persönlich keineswegs über alle Zweifel erhabene) Mann für den Job war der US-Postminister Will H. Hays. Sein von der Filmindustrie selbst eingerichtetes und finanziertes Sittenrichter-Amt, für das Hays eine Jahresgage von 100 000 Dollar kassierte, sorgte in den Kinos für eine saubere Leinwand und in Hollywood für saubere Betten, indem es die Schauspieler vertraglich zu untadeligem Privatleben verpflichtete. Natürlich ersannen die Filmemacher vielerlei neue Finessen, um auf der Leinwand das Tabuisierte deutlich zu machen, und natürlich galt fürs Star-Privatleben wie eh und je, dass man sich nur nicht erwischen lassen durfte. Alles in allem jedoch erwies sich diese beispiellose Heuchelei des „Hays 1954 DIE BARFÜSSIGE GRÄFIN, 1958 DIE KATZE AUF DEM HEISSEN mit Ava Gardner BLECHDACH, mit Liz Taylor d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 263 tisch, wie sich das Edisons MPPC einst erträumt hatte. Hollywood in den dreißiger und vierziger Jahren: Das waren fünf große und drei oder vier etwas kleinere Konzerne („Studios“) mit zigtausenden Angestellten, die Produktion, Verleih und Filmtheater fest im Griff hatten. Drei von den großen besaßen zusammen etwa 2000 Kinos (Paramount knapp 1000, Fox und Warner Bros. jeweils gut 500), die übrigen Studios weitere 500. Das waren nicht einmal 20 Prozent aller US-Filmtheater, doch es waren landauf, landab die größten und besten, insbesondere die Premierenkinos – ein Außenseiter hätte keine Chance gehabt, sein Werk in einem dieser Häuser unterzubringen. So gingen 95 Prozent des GeHollywood und seine vielen Stars*: Der Film lockte mit samtumsatzes an die Großen. Kein Zweifel, auf seine Weise war das ten Film aller Zeiten in Angriff, indem er arbeitsteilig durchorganisierte Studiosystem zum Drehbeginn eine spektakuläre Feuin seiner Blütezeit so funktional und zu- ersbrunst legte: „Vom Winde verweht“. Selznick verschliss mehrere Autoren und gleich so produktiv, so reich in der Palette der Regisseure und Stars, dass das Publikum Regisseure, doch dann, 1939, erwies sich nie einen Mangel empfand. Unverwechsel- der Film unzweifelhaft als das krönende bare Regisseure wie John Ford und Frank Kinoereignis schlechthin. Der andere überragende HollywoodCapra, Howard Hawks und Billy Wilder wurden in und mit diesem System groß. Produzent, der stets sein eigener Herr Und wenn sich einmal ein junger Tausend- blieb, hatte seinen Weg still und unauffälsassa dermaßen ungebärdig aufspielte, dass lig begonnen: Walt Disney. Er beherrschte man ein Betriebsrisiko in ihm zu sehen be- schon Mitte der dreißiger Jahre unangegann – Orson Welles beispielsweise 1941 mit fochten den Zeichentrickfilm-Markt und seinem Geniestreich „Citizen Kane“ –, dann wirkte nun zielstrebig mit der Vermarkgab es Möglichkeiten, ihn mit Komplimen- tung durch Comic-Zeitschriften, Spielzeug und Haushaltswaren dahin, dass Kinder ten hinauszuwerfen. Als gloriose Ausnahme von der Regel, seine Geschöpfe schon kannten, bevor sie dass unabhängige Produzenten in Hol- zum ersten Mal selbst in ein Kino kamen. Seiner bieder konservativen Familienlywood nichts zu gewinnen hätten, setzte sich David O. Selznick in Szene: Er fühlte ideologie blieb er treu, und in ihrem Sinn sich, als er sich 1936 nach einer Blitzkar- hat er 1955 noch einmal bahnbrechend geriere bei Paramount und MGM selbständig wirkt: Die Eröffnung des ersten „Disneymachte, stark genug, um seine Projekte zu finanzieren und dann einem der Studios * Oliver Hardy und Stan Laurel, Elvis Presley, Clark zum Verleih anzubieten. Er zeigte Gespür Gable, John Wayne, Charles Chaplin, Marilyn Monroe, Dean, Humphrey Bogart, Fred Astaire, Cary beim Import ungewöhnlicher junger Ta- James Grant, Boris Karloff („Frankensteins Monster“), Marlon lente aus Europa wie Ingrid Bergman oder Brando; Gemälde von Renato Casaro nach dem Fresko Alfred Hitchcock; und er nahm den größ- „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci. 1960 PSYCHO von Alfred Hitchcock 264 CINETEXT CINETEXT Code“ als erfolgreiche kosmetische PROperation. Ein paar Jahre später wagte es die nun reputierlich herausgeputzte Branche, sich durch Gründung einer „Akademie“ selbst zu adeln, die ihr fortan durch die jährliche feierliche Verleihung von Preisen (Spitzname „Oscars“) den Kunstwert ihrer Produkte bestätigte. Hollywoods kräftig wachsendes Exportvolumen führte Mitte der zwanziger Jahre in vielen europäischen Ländern zu staatlichen Abwehrmaßnahmen. Die aber unterlief Hollywood durch Investitionen. In Deutschland etwa übernahmen Paramount und MGM rund 50 Prozent der Verluste des angeschlagenen Ufa-Kapitals und beanspruchten dafür die Hälfte des Angebots in den Ufa-Kinos. Umgekehrt hat sich Hollywood bis heute immer wieder durch den Import europäischer Talente gestärkt. Aus Schweden etwa wurden in den zwanziger Jahren die Regisseure Victor Sjöström und Mauritz Stiller sowie die Schauspielerin Greta Garbo geholt; aus Deutschland die Regisseure Ernst Lubitsch und F. W. Murnau, die Schauspieler Emil Jannings und Conrad Veidt, die Schauspielerinnen Pola Negri und Marlene Dietrich. Der Künstler-Exodus, den die Nazis auslösten, war in Hollywood nicht unbedingt so willkommen. Solange das „System Hollywood“ problemlos florierte, war man auch nicht versessen darauf, allzu viel Kapital in Innovationen zu stecken – in die technisch längst mögliche Einführung des Tonfilms zum Beispiel. Doch die Profite schrumpften, und als die vier ruppigen Warner Brothers mit ihrer Firma ins Schleudern kamen, setzten sie auf den Ton als letzte Chance. Ihr erster eigentlicher Tonfilm „The Jazz Singer“ erzielte 1927 einen so sensationellen Erfolg, dass die ganze Branche in geradezu panischem Tempo nachzog. Die Investitionen in die teure Tonfilmtechnik sicherten dem Hollywood-Kino auch über die Wirtschaftskrisenjahre hinaus eine neue, anhaltende Attraktivität, und als Nebenwirkung zeigte sich, dass unabhängige kleine Produzenten nun endgültig nicht mehr konkurrenzfähig waren. Für gut zwei Jahrzehnte beherrschte Hollywood den US-Kinomarkt so monopolis- CINETEXT Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Traumfabrik Hollywood 1968 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM 1972 DER PATE, mit James Caan, Marlon von Stanley Kubrick Brando, Al Pacino, John Cazale d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 RENATO CASARO - ALL RIGHTS RESERVED für alle Mal: Unabhängige Produzenten, deren Vorbild der brillante Einzelgänger Selznick war, prägten die Hollywood-Geschichte der zweiten Jahrhunderthälfte. Sie haben die großen Regisseure dieser Jahrzehnte durchgesetzt, von Elia Kazan und Stanley Kubrick bis Francis Ford Coppola, Martin Scorsese und Woody Allen. Die wirklichen Erben der alten Tycoons oder Moguln aber sind Steven Spielberg und George Lucas, die gewiss eher in dem familiensinnigen Imperialisten Walt Disney ihr Vorbild sehen. Spielberg und Lucas haben (teils gemeinsam, teils jeder für sich) seit den Siebzigern eine beispiellose Strecke von Super-Erfolgsfilmen vorgelegt. Und sie haben in jenen Werbestrategien, die ein Kinowerk zum sensationellen Ereignis hochpeitschen, ebenso Maßstäbe gesetzt wie in der weiteren Vermarktung des Erfolgs durch Spielwaren, Klamotten und RummelplatzAttraktionen. So schufen sie sich ihre Imperien – Spielberg auch als brillanter Regisseur, Lucas als dynamischste Kraft in der Entwicklung jener computerisierten Tricktechniken, ohne die das Weltkino des nächsten Jahrzehnts nicht denkbar sein wird. Philosophen haben das Geheimnis des Kinos gelegentlich darin gesehen, dass es den Tod überwinde, und ohne Zweifel hat es Menschen wie Marilyn Monroe und Charlie Chaplin, Greta Garbo und Humphrey Bogart eine eigene Art von Unsterblichkeit verliehen. Seinen letzten sensationellen und überragenden Superlativ vor der Jahrhundertwende, einzig im Aufwand wie im Erfolg, hat Hollywood mit der Revision einer symbolträchtigen Katastrophe vom fortschrittsversessenen Jahrhundertbeginn erzielt, dem Untergang der „Titanic“: Es hat die Todesfahrt in ein Erlösungsmärchen umgedichtet. So was bringt noch immer nur das Kino zu Stande. Farbe und Massengepränge land“ wies den anderen Studios den Weg, sich über das Kino hinaus in Rummelplätzen und Freizeitparks ein neues weites Geschäftsfeld zu erschließen. Hollywoods Glanzzeit schien um die Jahrhundertmitte zu Ende zu gehen. Erstens ließ der rasche Siegeszug des Fernsehens die Kinozuschauerzahlen in den USA dramatisch schwinden – von 4,7 Milliarden im Jahr 1947 auf 2,2 Milliarden im Jahr 1959. Zweitens kündigten die prominentesten Stars und Regisseure die feste Bindung an ein Studio. Und drittens knackte ein Gerichtsurteil 1948 das lukrative Quasimonopol der Studios – sie mussten sich von den eigenen Kinoketten trennen. Natürlich hat das Fernsehen dem Kino die Spitzenposition als Entertainment-Medium entrissen – doch wer hätte die Erfahrung, die Kapazitäten und die Profis gehabt, um den rasant wachsenden Stoffbe- darf des neuen Mediums durch EndlosSerien, Spielshows und Trallala zu decken, wenn nicht die Studios mit ihren eingespielten Apparaten? Die Zahl der neuen Kinofilme sank von Jahr zu Jahr, doch ebenso rasch wuchs das Produktionsvolumen der TV-Abteilungen in den Studios – das war, nebenbei, noch einmal ein Sieg Hollywoods über New York. Und für das Überleben des Kinos in Konkurrenz mit dem grundsätzlich braven, konformistischen Fernsehen galt: Der Film musste mit schärferen Reizen locken, mit Farbe, mit Breitwand, mit Massengepränge. Trotz vieler fataler Fehlspekulationen geriet durch all die Jahrzehnte nie der kindlich schlichte Glaube ins Wanken, dass durch den größten Aufwand der größte Erfolg zu erzwingen sei. Manchmal gelang das sogar. Das Ende der festen Studio-Bindung der Künstler jedoch verschob die Gewichte ein Urs Jenny, 61, ist SPIEGEL-Autor. DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; 1982 E. T. von Steven Spielberg 20TH CENTURY FOX CINETEXT JAUCH & SCHEIKOWSKI III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR 1990 PRETTY WOMAN, mit Richard Gere und Julia Roberts d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 1997 TITANIC von James Cameron 265 Werbeseite Werbeseite Kultur Szene AU T O R E N Vollständiger „Vulkan“ „Vulkan“-Verfilmung (mit Hoss, Stefan Kurt, Adrien De Van) durfte einer aus der Runde der Emigranten kein Politkommissar mehr sein, und dessen Wunsch, der kommunistischen Partei anzugehören, wurde schlichtweg eliminiert – ebenso eine Passage, in der Spanienkämpfer gemeinsam die Internationale singen: Tribut an den Zeitgeist. Einem anderen vom damaligen Verlag – Fischer in Frankfurt – erwünschten Eingriff allerdings widersetzte sich die Schwester, die im Roman als Marion von Kammer auftritt (im Film dargestellt von Nina Hoss): Die Schilderung einer homosexuellen Affäre des „Vulkan“-Helden Martin Korella (gespielt von Christian Nickel) blieb unangetastet. T H E AT E R POP Fausts polnischer Jünger Hit-Ehren für Dean Martin I m angestaubt-konservativen Theaterbetrieb seiner Heimat Polen gilt er seit einigen Jahren als einzige Regie-Hoffnung: Mit nur wenigen, stilistisch stark variierenden Inszenierungen hat sich Grzegorz Jarzyna, 31, als jugendlicher, skandalträchtiger Rebell und mediengeübter Pop-Star des Theaters zwischen Warschau und Krakau etabliert. „Doktor Faustus“, sein neuestes Werk, hatte am vergangenen Freitag im Berliner Hebbel-Theater Premiere – als Auftragsarbeit der Berliner Festwochen, die in ihrer 49. Saison ausschließlich „Junges Theater aus Osteuropa“ vorstellen. Jarzynas „Doktor Faustus“, eine Dramatisierung des Künstler-Romans von Thomas Mann, ist eine atmosphärisch dichte, virtuos gespielte und waghalsig verknappte Umsetzung der Geschichte um den Tonsetzer Adrian Leverkühn, der einen verhängnisvollen Pakt mit dem Teufel abschließt. Der Regisseur erzählt den Mythos aber nicht als rein urdeutsches Dilemma zwischen Kunst und Kälte. Denn dieser Stoff über den Komponisten, der nicht mehr lieben darf, sei für ihn, so der deutschstämmige Regisseur, „die erschütterndste und die klarsichtigste Erzählung unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts“. Jarzyna-Inszenierung „Doktor Faustus“ d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 E s ist ein Comeback, wie es sich Dean Martin an der Theke seiner Himmelsbar ausgedacht haben könnte. Dem 1995 verstorbenen Schauspieler und Sänger ist posthum der Überraschungscoup des Pop-Jahres geglückt: Seine Hit-Sammlung „The Very Best Of Dean Martin“ (EMI) mit Klassikern wie „Everybody Loves Somebody“ und „Volare“ hat es in den vergangenen Wochen weltweit in die obersten Ränge der Ver- Martin (1990) kaufs-Hitparaden geschafft. Das Album avancierte zur Nummer eins in Australien und Schweden, landete unter den ersten zehn in England und Frankreich, unter den Top 20 in Deutschland – zwischen Lou Bega und Britney Spears. In den Clubs tanzen inzwischen auch wieder Menschen unter 30 zu Martins Whiskey-weicher Stimme und singen auf Karaoke-Partys von „Amore“. EMI-Pressechef Frank Bender erklärt sich den Erfolg schlicht mit dem „herrschenden Zeitgeist“. 267 SCHEID / LIAISON / GAMMA / STUDIO X ULLSTEIN BILDERDIENST eist ekeln sich die Literatur-Fachleute, wenn ein Roman, nur weil er gerade als Vorlage für eine Verfilmung gedient hat, mit einem Klebe-Etikett „Das Buch zum Film“, neuer Aufmachung und Filmfotos in die Buchläden kommt. Im Fall von Klaus Manns Emigranten-Roman „Der Vulkan“ (1939) ist es ein Segen: Zum Start des gleichnamigen Films, der am 21. Oktober in die Kinos kommen soll (Regie: Ottokar Runze), hat der Rowohlt-Verlag nicht einfach nur die Taschenbuchausgabe fortgedruckt (bisherige Auflage: mehr als 100 000 Exemplare). So erscheint jetzt jener Roman, der dem 1906 geborenen, 1949 freiwillig aus dem Leben geschiedenen ältesten Sohn Thomas Manns zu Recht als der gelungenste aus seiner Feder erschien, erstmals wieder in der Form, wie er während des Exils in Europa und den USA entstanden ist. Um nämlich Mitte der fünfziger Jahre überhaupt eine Ausgabe des bis dahin kaum bekannten Werks in Deutschland zu ermöglichen, hatte Erika Mann, des Autors Schwester, eine Reihe von Veränderungen und Streichungen vorgenommen. Zum Beispiel Erika, Klaus Mann (1927) CINETEXT M Szene L I T E R AT U R Mit’m Radl da Jörg-Uwe Albig: „Velo“. Verlag Volk & Welt, Berlin; 160 Seiten; 28 Mark. 268 Apartmenthaus in Havanna FOTOGRAFIE Morbides in Pastell H. ENGELS M ehr als 900 Gebäude Engels-Foto „Cuban Telephone Company“ von architektonischer ten; 68 Mark) beigesteuert, der auf hoBedeutung sind in Havanna verzeichhem fotografischem Niveau dem morbinet, und deshalb wurde die Altstadt von den Charme der Inselhauptstadt hulder Unesco zum Weltkulturerbe erdigt. In sanftem pastellfarbenem Licht nannt. Doch spätestens seit Kuba zum zeigt er, fast menschenfrei, die PrunkModereiseziel geworden ist und der bauten des alten kapitalistischen Kuba Latino-Boom aus allen Lautsprechern im heutigen sozialistischen Zustand. Betönt, gehört Kubanisches in jede gut eindruckend bleibt, trotz fortgeschritteausgestattete Wohnung. Son und Salsa nen Verfalls, die Vielfalt der Architekgibt es auf CD und im Kino, karibisches tur: Art Nouveau, Art Deco, Moderne Jerk-Hühnchen in der Tiefkühltruhe, Klassik, Modernismus – für jede Stilund für den Wohnzimmertisch hat der richtung der ersten Jahrhunderthälfte Münchner Fotograf Hans Engels den definden sich in Havanna repräsentative korativen Architektur-Bildband „HavaPrachtbauten. na“ (Prestel-Verlag, München; 104 Sei- Kino in Kürze „Die Braut, die sich nicht traut“. Man muss es den Machern von „Pretty Woman“ hoch anrechnen, dass sie genug Anstand besaßen, romanzenhungrigen Zuschauern nicht einfach „Pretty Woman 2“ in den Rachen zu stopfen. Aber in dem Gedanken, mit demselben Dream-Team – vor der Kamera Julia Roberts und Richard Gere, dahinter Garry Marshall – eine weitere Fabel um ein ungleiches Paar zu drehen, steckte einfach zu viel Geld, als dass Hollywood ihm widerstanden hätte. „Runaway Bride“ (Originaltitel) ist darum eine FortRoberts, Gere in „Die Braut, die sich nicht traut“ setzung, die mit großem Aufwand vorgibt, keine zu sein. Der Film lässt einen taffen New Yorker Journalisten auf eine junge Frau prallen, die in ihrer Kleinstadt-Idylle schon drei Verlobte am Altar versetzt hat. Beim Versuch, den ungehemmten Aschenputtel-Charme von „Pretty Woman“ zu kopieren, strengt sich die Neuauflage derart an, dass ihr jede Nonchalance flöten geht: Sie setzt immer noch eins drauf. Und beim zehnten gequälten Gag will der Zuschauer die zaghafte Beinah-Braut endlich zum Jawort verdonnern. PARAMOUNT a kommt einer aus Vechta in die große Stadt Berlin und hofft darauf, sich im Asphaltkrieg behaupten zu müssen. Und weil es nirgendwo härter zugeht als auf den Straßen, wird er Fahrradkurier. Er heißt Enzberg, liebt sein Fahrrad und hält Geschwindigkeit für Hygiene, „denn Schnecken machen Schleim“. Enzberg bremst nie, Radarfallen entkommt er „durch entschlossene Beschleunigung“, und „wenn ihm ein ziviler Radfahrer auf dem falschen Radweg“ entgegenwackelt, hält „er den Ellenbogen raus“. „Velo“, das Buch des Journalisten und Literaturdebütanten Jörg-Uwe Albig, 39, ist noch ein BerlinRoman, aber Albig hat wenig gemein mit den derzeit gepriesenen deutschen Jung-Erzählern. Denn das Letzte, was er will, ist, eine handwerklich saubere Geschichte aus der dreckigen Großstadt zu erzählen. Seine Story – sie handelt von Liebe, Vertrauen, Verrat und Tod – jubelt er vielmehr dem Text geradezu verstohlen unter. „Velo“ ist entschlossen durchstilisiert, expressiv, streckenweise essayistisch: Da hat einer jeden Satz bis zum Anschlag durchgezogen. Dummerweise passt „Velo“ auch deshalb partout nicht in den Zeitgeist, weil er der Großstadt Berlin ihren ganzen Hype nicht abkauft. Er entlarvt den Rummel als eine Selbstaufblähung derjenigen, die aus Vechta oder sonst woher in die Metropole einfallen und jetzt so furchtbar gern Stadtguerrilla spielen möchten. Aber die Stadt, träge und gleichgültig, spielt nicht mit. Enzberg stählt sich für den Ernstfall, „der ihm teuer war“, aber der Ernstfall tritt nicht ein. An einer Straßenkreuzung trifft der Fahrradkurier – „das Gesäß sieghaft gespannt“ – auf eine Gruppe saufender Schlachtenbummler, aber wie er auch „mit brennender Leidenschaftslosigkeit“ den Angreifern entgegenstarrt, sein Blick erhält „keine Antwort“: wieder eine verpasste Schlacht. Jörg-Uwe Albigs Held ist eine lächerlich-grimmige Gestalt, ein jugendlicher Kamikaze-Spießer, dessen „einzige Angst war, keine Angst vor seinem Inneren haben zu müssen“. H. ENGELS D d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Kultur LEBENSHILFE Am Rande Lust auf Jazz Schluss mit durstig in Sprachwitz mit einem 68 JahE re alten Bart hält die DudenRedaktion seit Monaten auf Trab: J azz gilt bei vielen Zeitgeistern als unsinnlich, ein Festmeter Jazz-Platten als so verführerisch wie eine Briefmarkensammlung. Zu Unrecht, meint der Münchner Schriftsteller Joseph von Westphalen. Westphalen, 54, ein erklärter Freund schöner Frauen und schöner Musik, hat deshalb jetzt auf vier CDs eine Sammlung rarer Jazzstücke zusammengestellt „unter dem Gesichtspunkt der erotischen Verwendbarkeit“ („Wie man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt“. Kein & Aber Records, Zürich; 69 Mark). Inspiriert durch Westphalens Romanhelden und Alter Ego Harry von Duckwitz, ist die Musikauswahl des Jazz-Erotomanen zwar aus urheberrechtlichen Gründen recht konservativ geraten (bei über 50 Jahre alten Titeln fallen keine Lizenzgebühren an), doch exquisit: Von eher unbekannten Titeln wie Julia Lees „Lotus Blossom“ (1947) oder James Koks „Jazznocrazy“ (1935) erhofft er sich ebenso lustfördernde Wirkung wie von den üblichen Verdächtigen Duke Ellington oder Billie Holiday. Auch für besonders hartnäckige Fälle weiß Westphalen Rat: „Eine Karte für eine Puccini-Oper – und schon ist Pretty Woman zu allem bereit.“ FILM Erfolg ohne Seife W ährend die sogenannten DokuSoaps im TV oftmals nicht nur inhaltlich weit hinter den Erwartungen zurückbleiben – so soff etwa die Quote des RTL-„Clubschiffs“ kläglich ab –, erleben klassische Dokumentarfilme derzeit im Kino eine Renaissance: Wim Wenders’ Huldigung der kubanischen Musiker vom „Buena Vista Social Club“ haben inzwischen fast 700000 Zuschauer Westphalen gesehen. Wenders hat damit gute Chancen, der erfolgreichste deutsche Regisseur des Jahres zu werden. Aber auch Dokumentarfilme mit weniger populären Themen erweisen sich als unerwartet erfolgreich: Die melancholische Bukowina-Elegie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ wollten schon knapp 20 000 Zuschauer sehen, und Dominik Wesselys tragikomischer Staubsaugervertreterfilm „Die Blume der Hausfrau“ erreichte – obwohl bundesweit nur in vier Kinos zu sehen – inzwischen 35000 Besucher. Am 7. Oktober kommt der nächste potenzielle Doku-Hit in die Kinos: Werner Herzogs in Cannes gefeierte Klaus-Kinski-Hommage „Mein liebster Feind“ startet mit 20 Kopien. PANDIS / TELEPRESS „Viehjud Levi“. Das Jahr ist 1933, der Ort ein abgelegenes Tal im Schwarzwald. Es treten auf: die Bauern, die Narren und der Wirt, die Kellnerin, der Rebell und der Viehhändler. Wie in einer Brechtschen Lehrparabel entwirft Didi Danquart, vor allem als Dokumentarfilmer bekannt, den Anbruch einer neuen Ära, der sich auch diese winzige, scheinbar aus der Zeit gefallene Dorfgesellschaft nicht entziehen kann. Ein Bahnarbeitertrupp, angeführt von einem verschlagenen Ingenieur, schleppt die vergifteten Ideen der Nazis ein, und bald wird aus dem geachteten Viehhändler ein verhasster Jude. Ein wenig zu berechnet und berechenbar wirkt das herb-strenge Heimatdrama (Vorlage war ein Theaterstück Thomas Strittmatters), und selbst die herausragende Darstellertruppe kann das Reißbrett, das durch die Leinwand schimmert, nicht vergessen machen. „Wer nicht hungrig ist – ist satt / Wer aber keinen Durst grad hat, / Was ist mit dem?“ So fragte 1931 der Reimer und Drehbuchautor Otto Eis in dem Berliner Blatt „Der Querschnitt“ und schlug der Sprachgemeinschaft die Vokabel „storp“ vor: „Fragt nun der Kellner: ,Kognak?‘ / Ich ihn mit ,storp‘ davonjag.“ Der Vorschlag, mit diesem Wort den Zustand des Nicht-Durstens zu umschreiben, fand kein Gehör, so wenig wie „schmöll“ von Robert Gernhardt. Der Dichter hatte 1975 im Satiremagazin „Pardon“ als „Werner Schmöll“ die DudenRedaktion aufgefordert, die Lücke mit dem Namen ihres Entdeckers zu schließen. Ernst wurde es erstmals 1993, als die Gesellschaft für deutsche Sprache eine Großumfrage zur Lösung des „bisher ungelösten Sprachrätsels“ startete. Die Vorschläge der knapp 1000 Einsender fanden die Wiesbadener Sprachheger zum Davonlaufen. Die Mannheimer Konkurrenz vom Duden aber wollte es in diesem Jahr endgültig wissen. Die Idee des Tee-Herstellers Lipton, auf Millionen von Eistee-Behältern eine Suchanzeige des Duden nach dem Wort für „nicht mehr durstig“ zu drucken, ließ von Juni bis September über 50 000 Vorschläge auf die DudenRedaktion niedergehen – allein über 9000 Internet-Nutzer mailten ihren Vokabelsenf dazu. Unter den Favoriten: gewässert, gelöscht, entdurstet, nimedu (nie mehr durstig) und gedulipt. Welches Wort künftig dem „satt“ zur Seite stehen soll, will die Jury allen Wissensdurstigen am 7. Oktober auf einer Pressekonferenz in Hamburg eintrichtern. Fest steht immerhin, dass die Duden-Redaktion nicht sofort den preisgekrönten Vorschlag in die Nachschlagewerke aufnehmen wird. Für ein solches Vorhaben hat die deutsche Sprache nämlich schon ein Wort: Schnapsidee. Herzog, Kinski (mit Statistin, 1987) d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 269 Kultur MUSIKBETRIEB Saitensprung nach Jericho Das Berliner Philharmonische Orchester, Deutschlands edelster und teuerster Klangkörper, drängt ins Geschäftsleben: Unter dem Etikett „Berliner Philharmoniker“ betreiben die Musiker einen schwunghaften Handel mit Medienrechten, CD-Aufnahmen und Baseball-Kappen. F W. SCHMIDT / NOVUM ür die Haute Couture der Tonkunst ist eine „elegante Schreibtisch- oder Vitridie Berliner Philharmonie eine erste nenuhr mit integriertem Wecker und einAdresse. Hier hat einmal der emsigs- klappbarem Aufstellrücken“ für 89 Mark, te Plattenspieler der Klassik rotiert, und „in Silber oder Matt“. bis heute ist Karajans Goldgrube ein Hort Der Solitär unter den philharmonischen des Wohlklangs und des Wohlstands. Juwelen aber ist eine „spielbare SammlerDenn in Hans Scharouns fünfeckigem CD in Geigenform“, deren Edition „weltSchachtelbau hat das Berliner Philharmo- weit“ auf 1000 Stück begrenzt ist und auf nische Orchester, Deutschlands beste und der der verblichene Karajan den fünften bestbezahlte Big Band, seine Heimstatt. Ungarischen Tanz von Johannes Brahms Die 122 fest angestellten Musiker, die dirigiert, sonst nichts – mit 2 Minuten und jährlich mit rund 25 Millionen Steuer-Mark 35 Sekunden Spielzeit für 189 Mark wahrsubventioniert werden, gelten als Edelleu- lich ein Schnäppchen der Spitzenklasse. Berliner Philharmonisches Orchester in der te der Spielkultur und übernehmen durchDamit das Orchester als neuer Markenaus auch vaterländische Pflichten. artikler auch sichtbar wird, ziert alle ein paar Striche des Pentagons kaum merkNächsten Monat beispielsweise starten Produkte ein dreifach ineinander ge- lich verdickt und ihren Namen rechts nesie zu einer Kurztournee in die Metropo- schachteltes Fünfeck, Abbild des Philhar- ben das Logo gedruckt. Scheinbar fein getrennt, sieht doch alles len der ehemaligen Siegermächte und tre- monie-Grundrisses; daneben steht, dezent ten, mit Gerhard Schröder als Schirmherr, natürlich, der Namenszug des Klangkör- zum Verwechseln ähnlich aus, und genau in Moskau, London, Paris und Washington pers: „Berliner Philharmoniker“, Deutsch- das ist der Trick: Hinter dem DoublettenImage verbirgt sich, von der Öffentlichkeit zum sinfonischen Dank für alliierte Obhut lands jüngste Handelsmarke. an. Motto der Reise: „50 Jahre BundesreWie sich die Bilder und Briefköpfe glei- kaum wahrgenommen und von den Kulpublik Deutschland“. chen: Das Berliner Philharmonische Or- turpolitikern gern übersehen, eine der duKein Zweifel – wenn es um Kunst und chester residiert in der Herbert-von-Kara- biosesten Konstruktionen des Betriebs – Kasse, um Stand und Standesdünkel geht, jan-Straße 1, schmückt sich seit Jahren mit ein Klangkörper mit Januskopf. Juristisch ist die Sache okay. Das luxuist das Berliner Philharmonische Orchester dem Tripel-Fünfeck und setzt seinen Titel die deutsche Nationalmannschaft. Und mit rechts unter das Emblem. Die Berliner riös subventionierte Berliner Philharmoder lässt sich Staat machen. Philharmoniker haben dieselbe Adresse, nische Orchester ist eine Institution der deutschen Hauptstadt, untersteht Seit dem Start in die neue Saidem weisungsberechtigten Kulson haben die Berliner Senatstursenator Peter Radunski, hat musikanten allerdings ihr Sortieinen Intendanten und einen ment ungewöhnlich erweitert. Chefdirigenten mit ProgrammNeuerdings liefern sie nicht mehr hoheit und verrichtet mit Tuten nur klingende Stoffe, etwa Deund Blasen öffentlichen Dienst. bussys duftige Tonschleier oder Eine Behörde für Beethoven. deftiges Gewirk von Wagner, Das von denselben Musikern sondern auch allerlei handfeste gebildete Orchester namens Web- und Strickwaren sowie di„Berliner Philharmoniker“ ist versen Schnickschnack für den eine Gesellschaft bürgerlichen gehobenen Nichtsnutz. Rechts (GbR), braucht sich von Neu im Repertoire der staatskeinem Senator, Intendanten tragenden Tonkünstler sind etwa oder Maestro etwas sagen zu lasPolo-Hemden von M bis XXL (69 sen, musiziert, managt, mauMark), Baseball-Caps aus „100 schelt nach eigenem Gusto und Prozent gekämmter Baumwolle mit verstellbarem Verschluss“ (29 Mark), ein 150 Zentimeter langer * Am 3. Oktober 1998 bei der Feier zum Tag Kaschmir-Schal (189 Mark) und Scorpions-Mitglieder mit Fan Schröder*: „Präsenz ist alles“ der Deutschen Einheit in Hannover. 270 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 L. SCHIRMER / OSTKREUZ FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ (li.); S. BERGEMANN / OSTKREUZ (re.) Berliner Philharmonie: Apokalyptisches Donnerwetter zwischen Tingel und Tangel Souvenirstand in der Berliner Philharmonie, Verkaufsartikel: „Das bringt Mäuse“ schaufelt Kohle in die privaten Taschen, als Zubrot zum Gehalt. Durch die Zwitterstellung sind die Musiker fein raus: Als Senatsensemble genießen sie alle Segnungen der deutschen Subventionspraxis und profilieren sich als hoch bezahlte Champions der deutschen Klassikliga; gleichzeitig nutzen sie in der GbR ihren öffentlichen Status und verwerten diesen für ihre eigenen Interessen – Berliner Filzharmonie. Bei den von Chefdirigent Claudio Abbado geleiteten Salzburger Osterfestspielen beispielsweise geben die Berliner ihre Konzerte als Philharmonisches Orchester, machen also Dienst nach Vorschrift und ohne Sondervergütung. Sobald die Herrschaften aber, vielleicht schon am nächsten Abend, vor Ort Oper spielen, firmieren sie als Philharmoniker und kassieren die Gage als Extra. Oper ist nicht ihr Ding. „Wie das alles mit den immerhin vom Berliner Senat bezahlten Kosten einer Dienstreise verrechnet wird“, sagt ein philharmonischer Insider zum SPIEGEL, „weiß keiner“, „den Kuddelmuddel durchschaut niemand.“ Ursprünglich herrschte bei dem deutschen Eliteorchester strenge Gütertrennung. Die Berliner Philharmoniker sollten, als kommerzielle Sachwalter des Berliner Philharmonischen Orchesters, dessen Ind e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 teressen auf dem Schallplattenmarkt vertreten. Da das senatseigene Ensemble keine privaten Geschäfte betreiben soll und der Senat vom Getrickse der Labels nichts versteht, schlossen sich die fest angestellten Musiker Anfang der fünfziger Jahre zur GbR „Berliner Philharmoniker“ zusammen, wählten zwei Geschäftsführer und betrieben fortan alle Medienaktivitäten in freier, einträglicher Selbstbestimmung. Was immer sie, vor allem in der Ära des hochtourigen DJ Karajan, für Plattenfirmen einspielten, ging auf ihr Konto – Millionenbeträge. Durchaus logische Versuche des Senats, wenigstens einen Teil dieser Nebeneinkünfte in die Staatskasse zu lenken und so indirekt die Subventionskosten für das Philharmonische Orchester zu drosseln, schlugen fehl. Niemand wollte es mit den empfindlichen Kulturträgern und ihrem Goldesel Karajan verderben. In den fetten Jahren des Klassikgeschäfts dürfte jeder Berliner Philharmoniker durch diese Praxis sein Festgehalt verdoppelt haben. Doch inzwischen sind die rosigen Zeiten des Platten-Booms passé. Zwar wirft das CD-Geschäft immer noch schön was ab, vor allem bei Live-Produktionen, die die knapsenden Plattenfirmen neuerdings bevorzugen. Dabei müssen die Musiker nämlich gar nicht erst ins Studio und in ihrer Freizeit fiedeln. Vielmehr werden die Generalprobe und die öffentlichen Darbietungen des Philharmonischen Orchesters einfach mitgeschnitten und, wenn nötig, zusammen mit ein paar nachträglichen Korrekturdetails zum veröffentlichungsreifen Band gemixt. Auf der fertigen CD spielen dann – bewährter Rollentausch – die Philharmoniker, und die kassieren. Dennoch „ist ganz klar“, sagt ein Musiker, „dass sich die GbR bei sinkendem Plattenverkauf neu orientiert. Ihr Fernziel sind mehr Konzerte und Events in Eigenregie. Das bringt Mäuse“. Das bringt allerdings auch Ärger in den eigenen Reihen. „Wenn es so weitergeht“, sieht ein Philharmoniker schon „die traditionelle Reputation des Berliner Philharmonischen Orchesters gefährdet“. Während die fest angestellten Senatsmusiker gern ihren abendländischen Kulturauftrag herausstreichen, machen sich ihre freischaffenden Doppelgänger inzwischen mit Tingel und Tangel hundsgemein. Im vergangenen Februar suhlten sich die Philharmoniker vor den Mikrofonen des BMG-Labels Ariola im Schmuse-Sound eines neuartigen Gesamtkunstwerks. Das hieß „Die Krone der Schöpfung“ und war die Krone des Schwachsinns. Da schnulzten und schluchzten die Streicher, das Schlagzeug machte endzeit271 Werbeseite Werbeseite Kultur SIPA lichen Wirbel, Pauken und Trompeten beschworen Jericho. Mario Adorf zitierte zwischen wuchtigen Tutti-Schlägen ein paar Bibelsprüche, und dann, nachdem das Orchester wieder sein apokalyptisches Donnerwetter herausposaunt hatte, begann der weltenmahnende Barde Udo Jürgens, der Menschheit am Pianoforte 13 Minuten lang die Leviten zu lesen: „Wir fragen nicht, wir nehmen, wir leben uns’re Gier!“, heulte der Oldie zur philharmonischen Dröhnung – ein vor Ort angemessener Singsang. Chefdirigent Karajan (1975) L. SCHIRMER / OSTKREUZ Schnäppchen der Spitzenklasse Chefdirigent Abbado (1996) Klangkörper mit Januskopf Kaum war das Jürgens-Album mit „besonderem Dank“ für die „kreative Mitarbeit“ der Berliner in Umlauf, kam in der Philharmonie neue Verwirrung auf: Erst kündigte der amtierende Intendant Elmar Weingarten wegen „Entfremdung“ mit dem Orchester seinen Abgang an, dann gingen die Wogen hoch, weil sich das Orchester bei der Expo 2000 in Hannover mit der lokalen Popband Scorpions zum gemeinsamen Auftritt zusammentun würde. Nur – welches Orchester? d e r „Ganz eindeutig das Berliner Philharmonische Orchester“, behauptet Olaf Maninger, 34, Solocellist und einer der beiden Geschäftsführer der GbR. Weingarten selbst habe der Expo den Abend unter der Bedingung zugesagt, dass die Berliner in Hannover noch ein zweites, rein klassisches Programm darbieten dürften. Die Veranstalter hätten das zugesagt. Daraufhin habe die GbR mit dem ZDF über die TV-Rechte verhandelt: Auf der Mattscheibe hätte sich das elitäre Berliner Philharmonische Orchester nämlich wieder lukrativ in die geschäftstüchtigen Berliner Philharmoniker verwandelt. Doch „urplötzlich“, so Maninger, habe Weingarten der GbR mitgeteilt, dass die, laut „Zeit“, „wundersame Liaison“ mit den vom Bundeskanzler hoch geschätzten Rockern doch nicht stattfinde. Schon sah die GbR ihre Felle davonschwimmen, da griff – seltener Fall – Kultursenator Radunski ein und durch: Es werde gespielt. Weingarten gehorchte. Während sich der um das Ansehen des Philharmonischen Orchesters besorgte Intendant nun auf sein Valet einstimmt, planen die Philharmoniker munter drauflos. „Präsenz ist alles“, umschreibt GbRSprecher Maninger den wachsenden Trend zum Koofmich-Ensemble. Im Orchester gebe es „keinen kommerziellen Geist“, beteuert er, es kümmere sich nur „selbstbewusst um das, was es macht. Wir gehen nicht leichtfertig mit der Würde des Orchesters um, aber wir wollen raus aus dem Elfenbeinturm“ – und rein ins Geschäft mit Tand und Trödel. Wann immer das Berliner Philharmonische Orchester an seinem Stammplatz zum Konzert lädt, lädt seit September im Foyer der Philharmonie der blau schimmernde Stand der Philharmoniker zum Shopping ein und preist seine Accessoires an. Dieses Verkaufsprogramm, versichert Maninger, sei „kein kommerzielles, sondern ein rein kommunikatives Konstrukt“. Auf diese Weise könnten Konzertbesucher „Erinnerungsstücke von einem der besten Orchester der Welt erwerben“, „ein heißer Wunsch vieler Klassik-Freunde“. Ab Mitte November wird der Souvenirhandel auf das neue Sony-Kommunikationscenter am Potsdamer Platz ausgeweitet; vom Jahr 2000 an soll das philharmonische Sortiment auch auf Tourneen und im Internet angeboten werden. Zur Einweihung des gesamten SonyKomplexes wollen die umtriebigen Philharmoniker einen besonders grotesken Saitensprung wagen: Zur Taufe des Riesenbaus parieren die sonst so stolzen Olympier, für Beethovens Neunte und ordentlich Zaster, erstmals dem Taktstock eines Amateurdirigenten. Den schönen Götterfunken schlägt dann der Bariton Norio Ohga, Sonys erhabenes Oberhaupt. Klaus Umbach s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 273 Kultur KUNST Strampeln in der Cyber-Welt In flimmernden Kunstwerken präsentiert eine Ausstellung in Karlsruhe die finsteren Seiten des digitalen Zeitalters. W „Cult of the New Eve“. Ein inszenierter Computervirus, der Grafiken auf dem Bildschirm nur noch hysterisch hüpfen lässt, führt vor, wie Technik außer Kontrolle gerät – und der Benutzer hilflos glotzt. Immer stärker, auch das illustriert die Schau, verliert sich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion. So können sich ZKM-Besucher am virtuellen Tisch versammeln, obwohl sie in Wahrheit in verschiedenen Räumen sitzen. Bald, prophezeit Weibel, werden sich bis zu 100 000 Menschen via Internet zu Computerspielen treffen. Vielleicht tragen die Figuren dann sogar die Visagen der realen Spieler. „Die Computerfreaks“, sagt er, „wollen nicht mehr einsam durch das Netz surfen, sondern ein Gefühl von Geselligkeit haben.“ Eine Scheingeselligkeit, hockt doch jeder allein vor seinem Monitor. Bei aller Netz-Kritik pflegt Weibel die Hoffnung auf eine faszinierende Cyber-Zukunft: Das Internet werde mit seiner flimmernden Techno-Ästhetik und den nur flüchtigen Erscheinungen die bildende Kunst, Musik und Literatur revolutionieren – auch wenn der Visionär zugibt, dass viele Künstler von der Web-Avantgarde nichts hören wollen. All jenen, die weder E-Commerce noch Meta-Suchmaschinen kennen und als digitale Analphabeten den Anschluss ans vernetzte Zeitalter zu verpassen drohen, will Weibel Orientierung geben. Im ZKM soll über die gesellschaftliche Macht des Internet diskutiert – aber auch hemmungslos gespielt und gesurft werden. Man lässt sein Porträt im „Smell.Bytes“- PC der Griechin Jenny Marketou speichern, ein allwissender Apparat, der angeblich Schönheit und Körpergerüche messen kann, oder strampelt sich ab, um einen Computer per Pedal anzutreiben. Jenseits des interaktiven Spielelands bietet die Schau vor allem eine eindrucksvolle, internationale Bestandsaufnahme aktueller Kunst im und zum Internet. Weibel will mit seinem Debüt auch ZKM-intern Punkte sammeln: Seit Monaten sorgen nur die Querelen im Haus für Schlagzeilen. Erst 1997 war das ZKM nach langer Vorlaufphase eröffnet worden – und habe sich bald, moniert Weibel, in einen bequemen Dämmerzustand sinken lassen; vor allem nach dem Rückzug des inzwischen verstorbenen Gründers Heinrich Klotz. „Ausgerechnet das Zentrum für Medientechnologie“, ärgert sich der neue Chef, „hat das neue Medium Internet verschlafen.“ Das Motto der Ausstellungseröffnung klingt denn auch wie eine Drohung an Weibels Gegner: „It really works now!“, verkündet die Einladung. Ulrike Knöfel T. BARTH / ZEITENSPIEGEL er den schummrigen Salon betritt, wird auf einen Schlag um hundert Jahre zurückgebeamt. Dunkelrote Tapeten, ein Hirschgeweih und tiefe Polstersessel kopieren einen protzigen Spießer-Kitsch der Gründerzeit. Merkwürdig schlicht mutet in diesem Ensemble antiquierter Staubfänger nur ein blanker Holztisch an, auf dem der fiktive Hausherr ein Weinglas bereitgestellt hat. Doch Vorsicht: Schon der Griff nach dem Kelch bringt abrupt gespenstische Un- im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe (bis 9. Januar). ZKM-Chef Peter Weibel, 55, im Januar in der badischen Provinz angetreten, feiert mit der Ausstellung seinen späten, dafür aber multilokalen Einstand. Die Schau ist, wie es sich in globalen Cyber-Zeiten gehört, mit Parallelveranstaltungen in Graz, Barcelona und Tokio vernetzt. Eigentlich will die österreichische Power-Maschine Weibel – ein Ex-Skandalkünstler, längst aber auch anerkannter Theoretiker und Arrangeur junger Medien-Kunst – die schräge neue Bits- und Bytes-Welt kritisch ausleuchten. Seine fröhliche Geisterbeschwörung, meint Salon-Künstler Collins, sei dennoch nicht fehl am Platz. Er behandle eben eine archaische Form der Fern-Kommunikation. Und blicke zurück auf eine Epoche, in der zwar das Telefon schon erfunden war, Traditionalisten jedoch eher an ihre WohnstubenSpiritualität glaubten als an das Technikzeitalter. Séancen mögen inzwischen aus der Mode sein, nicht aber die Skepsis gegenüber neuen Technologien. Auch das Inter- Marketou-Installation „Smell.Bytes“: Erschreckend allwissende Apparate ruhe ins plüschige Ambiente. Auf der Tischplatte blinken Wörter auf, durch den Raum huschen rote Blitze, und dazu ertönt ein bedrohlich dunkles Klopfen. Die witzig-theatralische Installation „Truth in Clouds“ des US-Künstlers Nicolas Collins ist auf solche Spektakel-Effekte angewiesen, schließlich imitiert sie eine Geisterséance – und das auf einer Kunstschau, die sich dem für viele noch immer futuristischen Medium Internet widmet. „Net_condition“ heißt das erstaunlich lebendige und bisher größte deutsche Kunstereignis zum Thema World Wide Web 274 net, so Museumschef Weibel, erscheine den meisten Menschen suspekt. Zu Recht? In Karlsruhe werden die fiesen Seiten des digitalen Zeitalters immerhin in originelle Kunstwerke verpackt. Jordan Crandall sorgt mit Film-Projektionen für den beklemmenden Eindruck, dass Video- und Webkameras ihr Überwacher-Auge stets auf alles und jeden werfen: Sie liefern – scheinbar live – Luftbilder von Gebäuden, zeigen angeblich nichts ahnende Paare beim Sex. Erweitert wird das Grusel-Repertoire durch die Cyber-Sex-Maschine „FuckU“ oder das digitale Frankenstein-Projekt d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur L I T E R AT U R Sex unter Rüsseltieren Spengler, 52, Schriftsteller und Journalist, lebt im bayerischen Ambach. Sein jüngster Roman „Die Stirn, die Augen, der Mund“ ist soeben im Rowohlt Verlag erschienen. E s muss endlich einmal gesagt werden, dass überraschend wenige Autoren einen packenden Roman über Elefanten schreiben können. Ich meine damit nicht einen Roman, in welchem diese Tiere als Objekte zum Draufschießen vorkommen. Davon gibt es mehr, als die Regale halten sollten. Die Rede ist vielmehr von Romanen, die jene Tiere aus ihrer eigenen Sichtweise beschreiben: als Wesen, die vergnügt sind und M. FENGEL Tilman Spengler über Barbara Gowdys Roman „Der weiße Knochen“ hungern, kopulieren, sich schämen und träumen. Die, kurzum, vieles so machen wie wir, nur etwas bedächtiger, nachdrücklicher und mit einer den Uneingeweihten anfangs vielleicht befremdlichen Begeisterung für Kot und Urin. Jetzt liegt so ein Roman vor, er trägt den Titel „Der weiße Knochen“, und er erzählt so selbstverständlich und kühl, so unaufgesetzt und leidenschaftlich von Glück und Leid mehrerer Familien, dass die Leserschaft sich bald fragt: Warum nicht öfter Elefanten, oder: muss es denn immer gleich der Mensch sein?* Die Autorin des Romans, die 1950 in Windsor/Ontario geborene Barbara Gowdy, ist hier zu Lande bekannt – noch lange nicht bekannt genug – geworden durch ihre Romane „Fallende Engel“ (1993) und „Mister Sandman“ (1995) sowie durch eine Sammlung von Kurzgeschichten „Seltsam wie die Liebe“ (1993). Wer diese Geschichten gelesen hat, weiß, dass sich Barbara Gowdy stets in jenen Randzonen bewegt, in denen nur ein Wimpernschlag das Vertraute von dem Monströsen trennt. In welchen, etwa, die Sehnsucht nach körperlicher Liebe aus der Sicht eines siamesischen Zwillings, einer * Barbara Gowdy: „Der weiße Knochen“. Aus dem Englischen von Ulrike Becker und Claus Varrelmann. Verlag Antje Kunstmann, München; 304 Seiten; 39,80 Mark. Nekrophilen oder einer scheuen Vorstadtexhibitionistin beschrieben wird. Und damit zurück zu den Elefanten. Auf den ersten Blick taugen sie wenig als Identifikationsfiguren, denn moralisch sind uns diese Wesen turmhoch überlegen. Elefanten praktizieren ein weitgehend unangefochtenes Matriarchat, ernähren sich strikt vegetarisch, werden kriegerisch nur, wenn sie bedroht werden, zeigen ein beneidenswert entspanntes Verhältnis zur Sexualität und darüber hinaus noch viele andere löbliche Eigenschaften, von denen unsereiner nur träumen kann. Hinzu kommt, dass die Menschen (also auch wir, die Leser) diesen Tieren in verwerflicher Habgier nachstellen, aus ihren Füßen Schirmständer fertigen lassen und aus ihren Zähnen geschmacklose Elfenbeinschnitzereien. Und: Die Elefanten können schon geringfügigere Kränkungen nicht vergessen. Klingt das nicht nach dem Stoff, aus welchem Rührstücke gefertigt werden? Das tut es in der Tat, und man muss wohl schon eine sprachlich und geschmacklich so gefestigte Autorin wie Barbara Gowdy sein, um in einem Roman, der die Welt ganz selbstverständlich aus der Perspektive des Rüssels schildert, all den Fallstricken des Niedlichen, des Larmoyanten und Putzigen, des Drolligen und des Herzzerreißenden souverän ausweichen zu können. E. ROBINS So ertappt sich der Rezensent dabei, dass er nach kürzester Zeit überhaupt nicht mehr verwundert ist, wenn die Vertreterinnen der biologischen Ordnung Proboscidea miteinander reden, als seien sie dicke Frauen in den Vorstädten Nordamerikas. Jene Wesen, die, ausgestattet mit einer dem Betrachter unerklärlichen Kraft, dutzendköpfige Familien weitgehend unbeschadet durchs Leben bringen. Es verdutzt den Leser nur einige anfängliche Seiten lang, dass er als Mensch weder ein Privileg auf die Organisation von Macht und Tradition hat, noch sich etwas auf die KenntAutorin Gowdy: „Sie verstehen mich doch auch“ nis wirksamer Heilkräfte Was uns bei anderen Schriftstellern viel- einbilden sollte. Und wie der Rezensent leicht als Vorlage für „Ein Herz für Tiere“ wird auch das Publikum bald um das begegnet wäre, verwandelt sich unter Schicksal seiner Elefantenherden und -helGowdys sehr kühler, sehr ironischer Feder den bangen. Die größte Aufmerksamkeit gilt natürin ein Drama des Untergangs, bei dem eine Elefantenherde einen entfernteren, aller- lich der jungen Kuh „Matsch“ (die Namen dings weitgehend schuldlosen Zweig der der Beteiligten sind bei der kanadischen Autorin in aller Regel vordergründiger Buddenbrooks verkörpern könnte. als beim Schöpfer der Buddenbrooks). Matsch, das Tier mit dem lahmen Bein und mit dem grünen Auge aller Visionärinnen, jenes Geschöpf, welches mit seiner (Adoptiv-)Familie durch die Savannen Ostafrikas streift, immer größere Strecken zurücklegen muss, weil Dürre herrscht, weil Zäune gezogen wurden und weil noch niemand den magischen „Weißen Knochen“ gefunden hat, dessen spitzes Ende den Weg zum „Sicheren Ort“ weist. Was der sichere Ort bedeutet, soll hier nicht verraten werden, die Spannung sei den Lesern gegönnt. „Ich halte es für überhaupt nicht schwer, mich in einen Elefanten hineinzudenken“, sagte Barbara Gowdy einem Reporter, „mich können die Tiere ja auch verstehen. Man passt sich einander an.“ Dennoch wäre mir, müsste ich die physische Erscheinung der Autorin beschreiben, das Bild einer Elefantenkuh – wenn überhaupt – dann erst nach der Lektüre dieses Romans eingefallen. Hätte meine Mutter Fotos von Frau Gowdy gesehen, wären unweigerlich Eigenschaftswörter gefallen wie „feingliedrig“, „zart“, vielleicht sogar „zerbrechlich“. Einschlägige Adjektive mithin, doch aus der Welt des Porzellans und damit direkt gegengängig dem bekannten Bild der Rüsseltiere. Vielleicht rührt daher die delikate Meisterschaft der Autorin. ™ Kultur dern unterwegs, Familienangelegenheiten gehen für ihn nun mal vor –, fragte eine AU T O R E N New Yorker Boulevardzeitung an, ob er mit seiner Brüskierung Clintons eine politische Haltung zum Ausdruck bringen wolle; an seiner Stelle sei nach einer peinlichen Pause beim Galadinner Lauren Bacall an den Tisch des Präsidenten geholt worden. Als er sein erstes Buch schrieb, war er 64. „Die Asche meiner McCourt schrieb schnell einige klärende Mutter“ wurde ein Welterfolg. Jetzt ist er 69 und die Zeilen ans Weiße Haus (er mag Clinton, trotz allem) und wurde gleich wieder zu eiFortsetzung erscheint in Millionenauflage: Der amerikanische ner familiären Lesung in die PräsidentenIre Frank McCourt genießt seinen Ruhm als spätes gemächer gebeten. Er fuhr hin, und Hillary Wunderkind – und lebt seine eigene Legende. Von Erich Follath und Bill waren sehr dankbar. Kein Zweifel: Da ist einer angekommen unter den Glitterati und Literati der USA, Konkurrenz für den weisen John Updike und den weiß gekleideten Tom Wolfe. Schwer begreiflich ist dieser Aufstieg für Kenner des Literaturbetriebs, aber noch verblüffender für ihn selbst. Geschichten wie die von den Clintons erzählt er wie eine doppelte Persönlichkeit: Er weiß, was er tut, und genießt es; beobachtet sich aber gleichzeitig wie ein Unbeteiligter – und kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Frank-im-Glück, hineinkatapultiert in ein Wunderland. „Das alles habe ich mit einem einzigen Buch geschafft. Andere Autoren, viele bedeutende darunter, haben für ihr gesamtes umfangreiches Lebenswerk nicht so viel Anerkennung erfahren“, sagt McCourt, und dann, als müsse er ob all seiner Erfolge ein schlechtes Gewissen haben: „Höchste Zeit, dass ich jetzt den zweiten Teil meiner Erinnerungen vorlege.“ In seinem Debüt „Angela’s Ashes“ kommen keine bestsellerträchtigen Berühmtheiten und keine strahlenden Aufsteiger vor. Frank McCourt erzählt von dem alkoholsüchtigen Vater, einem irischen MöchMcCourt auf dem Friedhof in Limerick: „Viele Katholiken, aber wenige Christen“ tegernpatrioten, der wegen seiner Hilfsdienste für die katholirank McCourt hat gelernt, mit Gesten schen Terroristen der IRA Hals sparsam umzugehen. Damals, in den über Kopf Irland verlassen muss Slums von Limerick zu den Zeiten und später mit seiner Familie weseiner irischen Kindheit, holte sich jeder gen wirtschaftlicher Probleme schnell eine blutige Nase, der eine falsche zurückkehrt. Von seiner Mutter, Bewegung machte. So duckt er sich bis die verzweifelt versucht, ihre heute bei jedem Treffen und jedem GeKinder durchzubringen. Von den spräch instinktiv weg, als wolle er keine Armenvierteln im westirischen Angriffsflächen bieten: ein Boxer, der Limerick, wo alles im Schlamm selten die Deckung aufgibt. Ein Misstrauiund Kot erstickt, wo gesoffen, gescher, gestählt im permanenten Überhurt, vor allem aber gehungert lebenstraining. wird. Und, oft schon in KinderAber an diesem Morgen könnte Frank tagen, an Krankheit und AusMcCourt die ganze Welt umarmen. Und zehrung gestorben. er zeigt es – mit einer weit ausladenden, jeDie kleinen Zwillingsbrüder den Selbstschutz vernachlässigenden Ges- New York in den vierziger Jahren: „Amerikas Lichter“ McCourt, mit denen die anderen te. „Dies alles hier ist mein Besitz“, sagt er und lässt mit weit erhobenen Händen sei- barn von Meryl Streep, Dustin Hoffman Kinder ein Bett teilen, rafft eine Lungenentzündung dahin. „Sechs Monate nach nen Zeigefinger kreisen bis zum Horizont. und Arthur Miller geworden. Außerdem besitzt Frank McCourt noch Olivers Heimgang wachten wir an einem Ein umgebautes Herrenhaus, eine riesige Wiese mit Bäumen, ein naturbelassener eine große Wohnung an der New Yorker ekligen Novembermorgen auf, und da lag Teich – McCourt-Country, so weit das Auge Fifth Avenue. Außenministerin Madeleine Eugene – kalt neben uns.“ So lapidar schilreicht. Er hat das millionenteure Anwesen Albright hat ihn zum Frühstück in ihre Pri- dert Frank das Ungeheuerliche. Aber Frank weiß gar nicht, was aufgeben nahe der kleinen Stadt Roxbury im US- vatwohnung gebeten. Und als der SchriftBundesstaat Connecticut vor einem hal- steller zweimal eine Einladung ins Weiße heißt, für Selbstmitleid hat er keine Zeit. ben Jahr gekauft und ist damit zum Nach- Haus ausschlug – er war mit seinen Brü- Elfjährig ist er mit seinen Gelegenheitsjobs I. COOK / PEOPLE WEEKLY Aus der Asche ein Feuer ARCHIVE PHOTOS F 278 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur A. SAHIHI „’Tis“ hat McCourt sein Zweitwerk ge– und Klauen – schon Haupternährer der einfach schreiben – ich war’s mir schuldig Familie: streetsmart und nie um einen ori- und auch meinem Verlag.“ Ellen, seine drit- nannt, weil er sich vorgenommen hat, geginellen Einfall verlegen. Wie er Fish and te Frau und selbst Publizistin, hat ihn zu- nau dort weiterzumachen, wo er aufgehört hat: Das Wort beschließt „Angela’s Ashes“. Chips auftreibt, wie er seine ersten Erfah- sätzlich zum Schreiben angefeuert. rungen mit Sex macht (er ist 15, als seine Er hat ihr einen traditionell irischen Harry Rowohlt hat es mit „Doch“ überGeliebte an Tuberkulose stirbt), wie er eine Claddagh-Ehering gekauft, obwohl sie kei- setzt – also kommt auf den deutschen geizige Alte übers Ohr haut und schließlich ne Irin ist, und er trägt auch selbst diesen Markt ein Buch mit dem Titel „Doch“? das Geld für die Flucht nach Amerika zu- Bekennerschmuck. Er sagt, er wolle in den Der Luchterhand Literaturverlag entschied sammenkratzt: Das sind Geschichten, die USA leben, aber ein kleines Häuschen in sich lieber für die vorletzten Worte des erssüchtig machen, herzzerreißend traurig der Stadt seiner Jugend zu kaufen, das ten Memoirenteils, mit denen ein hoffund oft zwerchfellerschütternd komisch könnte er sich „im hohen Alter“ schon vor- nungsvoller Frank (allerdings im Original zugleich. stellen. Er weiß: Man kann einen McCourt in Frageform) seine neue Heimat charakEin Teil des Bestseller-Erfolgsgeheim- aus Limerick herausholen, aber Limerick terisiert: „Ein rundherum tolles Land“*. „Eines würde mich kränken“, sagt der nisses liegt in der besonderen Erzählper- nie ganz aus einem McCourt. „Ich bin auf spektive begründet. Jahrzehntelang hat beiden Kontinenten, in beiden Kulturen zu Autor, „wenn Kritiker mir vorwerfen, dass sich McCourt, längst in den USA einge- Hause. Ich sitze auf dem Bindestrich von ich auf Teufel komm raus meinen Erfolg wiederholen will und deshalb in die Klibürgert und inzwischen Lehrer für Eng- Irisch-Amerikanisch.“ lisch und Literatur, mit seiner Story geFrüher, in ihrem Slum, träumten sie von scheekiste greife.“ Frank McCourt hat alles getan, um aus quält, hat immer neue Anfänge geschrieben fernen Ländern. Den einzigen einigerund wieder zerrissen. Erst nach seiner Pen- maßen läusefreien Raum nannten seine der „Asche“ keine Masche werden zu lassionierung kam ihm die zündende Idee: Er Geschwister und er „Italien“. Jetzt ist für sen. Er erzählt nun mit „erwachsener“ schrieb seinen Lebensroman aus der Sicht Frank McCourt überall Italien, ach was, Stimme, er geht auch kritischer um mit seiund in den Sprachebenen des Kindes. jetzt gehört ihm das ganze Mittelmeer und ner Familie. Und doch ist die Magie von Als Frank McCourt diesen Kunstgriff ge- die Anrainer dazu: Er brennt darauf, sein der ersten Seite an wieder da: Die Sprache, die Figuren fesseln – der Vater, der sich nur funden hatte, war er 64 Jahre alt – ein spä- amerikanisches Anwesen zu zeigen. noch dem Suff widmet und sich tes Wunderkind. Zwölf Monate von seiner Familie abwendet, eine lang schrieb der Autor wie im FieScheidung auf irisch; die Mutter, berwahn, dann hatte er den ersten die nicht weiß, wie sie sich aus Teil seiner Memoiren fertig. Sie den Fängen ihrer Armut und ihrer versetzen den Leser mit solVorurteile befreien soll. cher Intensität in die HinterFranks amerikanische Story höfe von Limerick, dass er den ist keine Tellerwäscher-wird-MilAngstschweiß der Hungernden lionär-Geschichte. Der junge Mann zu spüren, das Trost spendende dient sich schmerzlich langsam Guinness zu schmecken glaubt. nach oben. Er schrubbt in einem Sie transportieren ihn, auf den Hotel, schleppt Tiefkühlfleisch letzten Buchseiten, an Bord eines durch Schlachthöfe. Er wird verÜberseedampfers, wo der 19-jährispottet wegen seines Akzents, seige Frank 1949 seiner Zukunft ner schlechten Zähne, seiner ententgegenschlingert und schon zündeten Augen. Er fühlt sich als sieht, „wie die Lichter von AmeAussätziger. Er träumt von den rika funkeln“. blonden All-American-Girls mit Selten hat ein Buch Kritiker ihrem „Schneeglöckchenlächeln“ wie Publikum in so vielen Länund kommt in den ersten Jahren dern so gleichermaßen begeistert. doch nur an irische MauerIn den USA erhielt „Angela’s blümchen heran. Ashes“ den „National Book CriWeil er in Irland schon mit 14 tics Circle Award“ und den Pulit- McCourt mit Frau Ellen auf seinem Landsitz: „Rundherum toll“ die Schule verlassen musste, zerpreis. In Deutschland wählten die Buchhändler McCourt zum „Autor des Viel Holz, viel Glas, viel hohe Wände scheint ihm der Weg nach oben verbaut; Jahres“. Das Werk wurde in 19 Sprachen und Platz zum Atmen ist in der luxuriös immerhin verdient er als ungelernter Arübersetzt und verkaufte sich weltweit bis umgebauten Scheune. Auf Möbel legt der beiter so viel, dass er seinen Brüdern Majetzt mehr als vier Millionen Mal – die Hausherr weniger Wert; dafür auf Spiel- lachy, Michael und Alphonsus bei ihrem Branche spricht vom „Phänomen des Jahr- sachen. Fein säuberlich aufgereiht steht Weg von Limerick nach Amerika helfen zehnts“. eine große Armee von Zinnsoldaten auf kann. Seine Rettung ist schließlich – die Hat ein Autor nach einem solchen Über- dem Schreibtisch. „Das hier ist meine IRA, U. S. Army. Über deren AusbildungsproWurf überhaupt Lust auf eine Fortsetzung, aber ich lasse sie nie gegen die Briten ins gramm im Rahmen der „GI Bill“ findet er zumal ihm die Stimme des Kindes und sein Gefecht ziehen“, sagt McCourt, der als zum Studium. Frank McCourt verbringt seinen Mischaurig schönes Limerick nun zwangsläu- Kind in Limerick nie Spielzeug besessen fig verloren gehen? Zittert Frank McCourt, hat. „Die fanatischen Iren, wie mein Vater litärdienst von 1951 bis 1953 hauptsächlich dessen Debüt die „New York Times“ mit einer war, müssen in Schach gehalten in Deutschland. Die Zeit im bayerischen Lenggries hält er noch heute für „die James Joyce’ „Ulysses“ verglich, vor den werden.“ Kritikern seines zweiten Buches? Auf dem Tisch liegen Zeitungen und schönste meines Lebens“. Er wird, zurück „Ich weiß, es gibt genug Immigranten- Zeitschriften aus aller Welt, so zerlesen, in New York, Berufsschullehrer und verRomane, aber ich hoffe doch, dass sich vie- als habe da einer Seite für Seite nach etwas bietet den Kids als erstes, mit Sandwiches le dafür interessieren, wie es mit Angela, Bestimmtem gesucht – zum Beispiel nach meinem Vater, meinen Geschwistern und den ersten Kritiken seines neuen Buchs, * Frank McCourt: „Ein rundherum tolles Land“. Deutsch mir weiterging“, sagt Frank McCourt. das in diesen Tagen in den USA und in von Rudolf Hermstein. Luchterhand Literaturverlag, „Außerdem musste ich diese Fortsetzung Deutschland erscheint. München; 496 Seiten; 48 Mark. 280 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur zu werfen – da ist er empfindlich. Später schafft er den Sprung an die renommierte Stuyvesant High School. Aber die Erinnerung an Limerick hört nie auf, ihn zu quälen – und ihn zu locken. In der ersehnten Neuen Welt martert ihn nun nicht mehr der Hunger, sondern die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Er holt Vater und Mutter zu einem Besuch nach New York, beide getrennt – beide Trips werden zum Fiasko. Der Vater, der behauptet hat, er rühre keinen Tropfen mehr an, kommt volltrunken im New Yorker Hafen an. Frank verfrachtet den Torkelnden schnell zurück und sieht ihn erst wieder, als er gestorben ist. Zur Trauer am Sarg ist er nicht fähig, und alles, woran er sich später von der Beerdigung erinnert, ist ein Lachen über eine Möwe. „Er wurde in der falschen Zeit geboren“, sagt Frank McCourt über seinen Erzeuger, eher nüchtern als bitter. „In einem früheren Jahrhundert hätten ihn die Engländer als Rebellen gehängt. Er wäre glücklich und singend gestorben – und hätte uns Kinder mit der Aufforderung verschont, wir sollten für die irische Sache unser Leben geben.“ Die Mutter, die Frank und sein Bruder Malachy für zwei Wochen eingeladen haben, geht zur Verblüffung ihrer Kinder nicht mehr zurück. Doch glücklich wird Angela nicht in New York. Sie schikaniert ihre Söhne, weigert sich, deren Frauen zu akzeptieren, und vermisst sogar die oft ausgebrannte Feuerstelle in ihrem alten SlumHaus, die „Asche“, die Frank McCourts erstem Buch den Titel gab. „Sie wollte, dass wir nette, irische, katholische Mädchen heiraten, und wir taten ihr diesen Gefallen nicht“, sagt Frank McCourt. Als sie stirbt, bringt er ein großes Opfer: Gemeinsam mit seinen Brüdern verstreut er ihre Asche auf dem katholischen Friedhof von Limerick. Für Angela war die Kirche ein Anker. Für Frank ist sie der Quell allen irischen Übels, „bei uns gab es viele Katholiken, aber ganz wenige Christen“. Nie hat sich einer der Priester in Limerick um die Slums gekümmert, erinnert er sich – außer bei der „Osterpflicht“: Da kamen die Pfaffen und sammelten bei den Ärmsten der Armen Spenden. Gelegentlich treffen sich die übrig gebliebenen McCourts. Dass sie der Welterfolg von „Angela’s Ashes“ besonders zusammengeschweißt hätte, kann man nicht sagen. Malachy, Schauspieler, Barbesitzer, Hansdampf in allen Flaschen, hat sich clever an den Erfolg des Bruders herangehängt. Er veröffentlichte 1998 seine eigenen Memoiren, eine amüsante, aber uninspirierte Anekdotensammlung aus den frühen New Yorker Jahren: die Erinnerungen eines Berufs-Iren. Damit kam Malachy Franks zweitem Buch zuvor – und landete einen Bestseller. Ein weiterer aus der irischen Bettlerfamilie war in den USA groß herausgekommen. Noch ein Big Mc. 284 d e r Frank grollte und mochte das Buch des Bruders nicht lesen. Doch inzwischen haben sie sich versöhnt und organisieren Familienfeiern mit Michael (Barkeeper in San Francisco) und Alphonsus (Restaurateur in New York). Nicht immer arten die Treffen in Harmonie aus; zu unterschiedlich sind s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (2) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 2 (1) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 3 (3) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 4 (5) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 5 (4) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 6 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 7 (7) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 8 (9) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 9 (8) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 10 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 11 (12) Martha Grimes Die Frau im Pelzmantel Goldmann; 44 Mark 12 (13) Birgit Vanderbeke Ich sehe was, was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark 13 (10) John Grisham Der Verrat Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 14 (–) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 15 (–) Stephen King Atlantis Heyne; 44 Mark Flower-Power, Woodstock und der Vietnamkrieg – das Epos einer Generation 3 9 / 1 9 9 9 die Charaktere, zu gebrochen die Erfolgsgeschichten. Auch Frank, inzwischen Großvater, erlitt Rückschläge: Zwei seiner Ehen gingen in die Brüche. Immer wieder wurde er, auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum, in die irischen Trinkerkreise von New York zurückgestoßen. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 2 (3) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark 3 (2) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (6) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 6 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 7 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 8 (8) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 9 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 10 (10) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 11 (11) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 12 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 13 (–) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 14 (–) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark Köche, Agenten und Mätressen – wahre Geschichten aus einem immer noch fremden Nachbarland 15 (12) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark d e r Als er dann, schon als Berühmtheit, nach Limerick reiste, hatte er ein mulmiges Gefühl. Manche beschimpften ihn als Nestbeschmutzer, aber die meisten feierten ihn begeistert. Das Touristenbüro der Stadt veranstaltet inzwischen „Angela-Touren“ zu den (meist abgerissenen) Schauplätzen der McCourt-Memoiren. Die Universität, die es zu Franks Jugendzeiten noch nicht gab, verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Das hat er als einen Triumph empfunden. Und sollte jemand gesehen haben, wie er sich die eine oder andere Träne aus den Augen wischte, so kümmerte ihn das einen „Fiedlerfurz“, um es mal auf Limerickisch zu sagen. Seine Erfolgsstory zieht Kreise: Mit einem Budget von 45 Millionen Dollar stellt Hollywood Limericks Elend nach. Frank McCourt war auf dem Film-Set, und die Ironie der Geschichte sprang ihn an wie ein Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe. Die Produzenten fanden weder in Limerick oder irgendeiner anderen Stadt im prosperierenden Irland die für die „Authentizität“ notwendige bittere Armut. So zogen die Filmemacher im Niemandsland in der Nähe von Dublin graue Fassaden hoch, eine ganze Gasse, bis sie fast aussah wie damals die Gosse; und als sie das Ambiente zu wenig dramatisch fanden, pinselten sie alles noch rissiger, noch verhärmter. „Sie haben die künstlichen Häuser künstlich verslumt“, sagt Frank McCourt kopfschüttelnd. „Herr im Himmel, sie haben eine ganze Industrie um mich und meine Lebenserinnerungen herum gebaut.“ Aber der Immigrant hat Amerikas Spielregeln längst perfekt inhaliert. Er verdrängt die Schmerzen, die ihm die Beobachtung der Filmszenen bereitet. Er lässt sich am Drehort fotografieren. Regisseur Alan Parker, der schon „Evita“ erfolgreich verfilmte, sei sein Wunschregisseur und werde auch dies hier schaffen, sagt McCourt, pflichtgemäß begeistert. Emily Watson, die Preisgekrönte von „Breaking the Waves“, sei eine „perfekte“ Angela. Was bleiben dem Mann, der nächstes Jahr 70 wird, sonst noch für Wünsche? Er überlegt nicht lange. Er möchte ein Buch über Ehen schreiben und warum sie selten halten, da fühlt er sich als Experte. Er würde, ein begeisterter Marathonmann, viel dafür geben, den New York Marathon mitzulaufen. Und er hätte verdammt gern mehr Zeit, McCourt-Country in Connecticut zu genießen. Frank McCourt ist zufrieden mit sich, seinen Büchern, der Welt – und doch immer auch auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „Vier zu drei steht es in dem Kampf der McCourts gegen Gott“, sagt er, als gehe es um ein Fußballspiel; vier Kinder der Familie sind durchgekommen, drei hat der Allmächtige im Babyalter zu sich genommen, Frank wird nie verstehen, warum, und es Ihm auch nie verzeihen. „Vier zu drei – wir führen. Aber wer weiß, wie lange noch?“ ™ s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 285 FOTOS: SENATOR FILM chen Gesichtszügen und der Maulfaulheit des „Absolute Giganten“-Darstellers Giering durchaus Chancen auf einen Spitzenplatz bei James-DeanÄhnlichkeitswettbewerben entdecken. Doch anders als etwa Thomas Jahns deutscher Kinohit „Knockin’ on Heaven’s Door“ verpflanzt Regisseur Schipper nicht einfach US-Vorbilder in ein nur angeblich deutsches Niemandsland. „Absolute Giganten“ nämlich ist nicht bloß ein rau-sentimentaler JungsFilm, sondern eine Kinohuldigung an Hamburg. Wobei man durchaus ein paar sehr schöne Bilder von der Elbe, vom Hafen und der Reeperbahn zu sehen bekommt – der Hauptschauplatz des Films aber ist eine Hochhaussiedlung am Rand der Stadt. Das ist der Ort, der Floyd, Ricco und Walter zueinander gebracht hat und mit dem sie eine seltsame Hassliebe verbindet; hier kicken sie auf dem Bolzplatz und flirten mit dem leider ein paar Jahre zu jungen Nachbarmädchen (nett verschlampt und zerbrechlich: Julia Hummer); hier prahlen sie beim Bier mit ihren Tischfußballkünsten und schwärmen von tollen Autos, Musik und krummen Heldentaten; und hier verrät Floyd eines Abends seinen Freunden, dass seine Bewährung überstanden ist und er am nächsten Morgen für immer die Stadt verlassen will. Als Schauspieler arbeitete Schipper, 32, erst im Theater und war in Tom Tykwers Filmen „Winterschläfer“ und „Lola rennt“ dabei; in seinem von Tykwer produzierten ersten Spielfilm schickt er seine Akteure auf eine nächtliche Abschiedstour mit Verfolgungsjagden, Ausflügen in die Drogenhölle und einem Duell am Kickertisch – und zeigt in aller Action-Hektik bewundernswertes Vertrauen in die Genauigkeit und den Witz seiner Darsteller. Insofern sind die Passagen, in denen Schipper seine Helden davon reden lässt, wie groß ihre Sehnsucht sei und wie mies sie sich fühlten, weil nun „die geilste Zeit im Leben“ zu Ende gehe, nahezu überflüssig: Das alles haben die Gesten und Gesichter längst ebenso erzählt wie die Musik. Die stammt fast vollständig von Notwist, einer allseits hoch gelobten deutschen Rockband. Zu Hause sind die Notwist-Jungs im bayerischen Weilheim, auch der Regisseur Schipper lebte lange in München, weshalb Erbsenzähler vielleicht darüber rätseln, ob der Hamburg-Film „Absolute Giganten“ wirklich authentisch sei.Was natürlich völlig egal ist: Mit solcher Behauptungskraft und so viel umwerfendem Charme hat lange kein deutscher Film mehr Musicalträume und reales Leben miteinander versöhnt. Wolfgang Höbel Schipper-Kinofilm „Absolute Giganten“: Musical-Glamour in der Tiefgarage FILM Die geilste Zeit im Leben Der Regisseur Sebastian Schipper präsentiert mit „Absolute Giganten“ seinen ersten Kinofilm – eine raue Ballade über das Ende einer Jungs-Freundschaft. W as tun drei junge Großstadthelden mitten in der Nacht in der Tiefgarage, wenn sie plötzlich die große Sehnsucht packt? Sie wälzen sich auf der Motorhaube ihres Autos im Hamburgerund Pommes-Müll, drehen das Radio auf Maximallautstärke und nehmen Aufstellung für einen Freudentanz – zu Marc Bolans Pop-Klassiker „20th Century Boy“. Der Einbruch märchenhaften MusicalGlamours in eine ansonsten eher triste Welt aus Hochhausbeton und Absturzkneipen ist in diesem Film so etwas wie die Erfüllung der allerwildesten Träume: Ein paar wunderbare Augenblicke lang sieht es so aus, als wären Floyd, Ricco und Walter tatsächlich das, was der Filmtitel verspricht – „Absolute Giganten“ eben. In Wahrheit schlagen sich die drei Burschen, von denen der Schauspieler und Regie-Newcomer Sebastian Schipper in seinem Kinodebüt erzählt, eher als Kleinmurkser durchs Hamburger Leben: Floyd (Frank Giering) hat wegen irgendeiner Jugendstrafe eine Bewährung am Hals und rackert als Krankenpfleger. Ricco (Florian Lukas) jobbt als Buletten-Brutzler in einem Schnellimbiss. Und der dicke Walter (Antoine Monot jr.) ist zwar ein As im Aufmotzen von Motoren, muss sich aber ständig vom Chef der Autowerkstatt, in der er sein Geld verdient, herunterputzen lassen. 286 „Absolute Giganten“, schon das ist eine erfreuliche Nachricht, setzt trotzdem nicht auf die Verlierertragik des neueren deutschen Depressionskinos der Nachtwandler und Untergeher. Ob Floyd, Ricco und Walter wirklich Loser sind oder im Lebenslotto nicht doch den Hauptgewinn ziehen, ist nämlich längst nicht ausgemacht. In ihren Köpfen jedenfalls bewegen die drei grandiose Pläne: Walter wird seinen Ford Granada, Baujahr 1974, noch weiter aufrüsten (oder gegen einen größeren Schlitten tauschen) und die tollsten Mädchen der Stadt spazieren fahren; Ricco übt Tag und Nacht an seinen Reim-Künsten und wird als Deutschrap-Star die Massen verzaubern; und Floyd wird auf einem Frachter anheuern und irgendwo in der Ferne das Abenteuer suchen. „Giganten“-Darsteller Giering, Hummer Hoffen auf den Hauptpreis im Lebenslotto Schippers Film füllt ein Genre mit neuem Leben, das im US-Filmgeschäft in schönster Blüte steht, von deutschen Regisseuren aber meist verschmäht wird: den Abschied von der Kindheit, das Drama des Erwachsenwerdens. Dabei lässt sich schon der Filmtitel als Anspielung auf den größten aller jugendlichen Rebellen verstehen – in keinem seiner Filme sah James Dean besser aus als mit geschultertem Schießgewehr in „Giganten“. Und wer mag, kann im verschlafenen Augenaufschlag, den weid e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur KLASSIKER „O gebt euch der Natur!“ Er war ein Meister „der hohen betrachtenden Trauer“, wie ihn der Romantiker Brentano genannt hat: der Dichter Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843). Aus dem schmalen Lebenswerk des Poeten ist jetzt ein bisher unbekannter Brief aufgetaucht – mit dem Plan eines „humanistischen Journals“. rich Hölderlin zu gewähren, was er immer wieder aus der Natur schöpfte: „Mut und Kraft“ – vor allem zum Dichten. Doch des Dichters Innenwelt war alles andere als eine Idylle: Die Hauslehrerstelle beim Frankfurter Geschäftsmann Jakob Friedrich Gontard hatte er aufgeben müssen. Nicht wegen pädagogischen Misserfolgs (der kleine Henry liebte seinen Lehrer), sondern weil Vater Gontard eifersüchtig auf den feurigen jungen Mann in der Nähe seiner hübschen Gattin geworden war; von Gontards Frau Susette, der großen Liebe seines Lebens, hatte Hölderlin sich, als er Frankfurt verließ, auch innerlich zu trennen versucht – die beiden sahen einander nur noch selten und tauschten gele- Hölderlins Brief an Ebel Mein Theurer! Ich habe indeß zu dauernd und zu ernst an Ihnen und Ihrer Sache Theil genommen, als daß ich es mir nicht gönnen sollte, Sie einmal wieder an mein Daseyn zu mahnen. Wenn ich indeßen gegen Sie geschwiegen habe, so war es gröstentheils, weil ich Ihnen, der mir so viel und immer mehr bedeutete, irgend einmal in einer bedeutenderen Beziehung, oder doch in einem Grade des Werths, der Sie auf eine schiklichere Art an unsre Freundschaft mahnen könnte, entgegenzukommen hofte. Nun treibt mich eine Bitte früher zu Ihnen, und Sie werden mich auch in dieser Gestalt nicht verkennen. Ich habe die Einsamkeit, in der ich hier seit vorigem Jahre lebe, dahin verwandt, um unzerstreut und 288 BPK Ä ußerlich ging es dem Erzdichter vaterländischer „Innigkeit“ leidlich: Wenn der 29-jährige Poet aus dem Fenster seiner Wohnung in Homburg vor der Höhe blickte, sah er fette Äcker und blühende Gärten, stolze Eichen auf einem Hügel, saftige Wiesen in einem Tal. Und aus der Ferne grüßte die Kaufmannsstadt Frankfurt am Main mit dem Kaiserdom. Das Zimmer bei der Familie des Glasermeisters Wagner kostete bloß 70 Gulden Miete im Jahr (rund 900 Mark), viel mehr hätte der schwärmerisch veranlagte Stiefsohn eines schwäbischen Weinhändlers kaum aufbringen können. Und „das schöne Wetter, die heitre Sonne und die grüne Erde“ gaben sich anscheinend große Mühe, FriedDichter Hölderlin mit gesammelten unabhängigen Kräften vieleicht ein Reiferes, als meine bisherigen kleinen schriftstellerischen Producte sind, zu Stande zu bringen, und wenn ich schon gröstentheils der Poësie gelebt habe, so ließ mich doch Nothwendigkeit und Neigung nicht so weit vom ernsten Nachdenken entfernen, daß ich nicht meine Üb[b]erzeugungen zu größerer Bestimtheit und Vollständigkeit auszubilden, und sie, so viel möglich, mit der jezigen und vergangnen Welt in Anwendung und Reaction zu sezen gesucht hätte. Gröstentheils schränkte sich mein Nachdenken auf das, was ich zunächst trieb, die Poësie ein, insofern sie lebendige Kunst [ist] und zugleich aus Genie und Erfahrung und Reflexion hervorgeht, und idealistisch und systematisch und anschaulich individuell ist. Diß führte mich zum Nachdenken über Kunst und Bildung und Bildungstrieb d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 gentlich Briefe, die heimlich in einer Gartenhecke hinterlegt oder hastig auf die Gasse geworfen wurden. Als Schriftsteller war der junge Mann, der schon im August 1797 auf den großen Goethe „etwas gedrückt und kränklich“ gewirkt hatte, auch nicht besonders erfolgreich: Er nennt sich selbst zu dieser Zeit einen „armen Unberühmten“. Mit dem Ideen-Roman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ war ihm der Durchbruch zum Ruhm nicht gelungen; er sehnte sich, außer nach den „zärtlichgroßen Seelen“ einer mythischen Vergangenheit, konkret nach einem „geltenden Posten in der gesellschaftlichen Welt“. Und was die Politik betraf: Die anarchischen Zustände im revolutionären Frankreich nährten erste Zweifel am Sinn der – zuvor auch von ihm bejahten – gewaltsamen Revolte. Was ihn allmählich auch seinen jakobinischen Freunden entfremdete, zumal dem Regierungsrat Isaak von Sinclair, der ihn nach Homburg gelockt hatte. Aus dieser vielfach gespannten Situation wollte sich Hölderlin nicht nur mit Gedichten befreien, die immer wieder Susette als „Diotima“, als „des Himmels Botin“ einer besseren Welt, als Göttin eines künf- überhaupt, über seinen Grund und seine Richtungen ... Auf diese Art haben mir die Materialien, die ich unter den Händen habe, zu dem Entwurf eines humanistischen Journals Veranlaßung gegeben, das in seinem gewöhnlichen Karakter ausübend poëtisch wäre, dann auch die Kunst belehrend behandelte, in dem es im Kunstwerk seine Organisation, zu einem bestimmten Karakter sowohl als zur idealischen Bedeutung, und den harmonischen Wechsel seiner Töne, im Allgemeinen sowohl als in Rüksicht auf seinen bestimmten Stoff zeigte … Endlich sollte das Journal im Allgemeinen, aus dem Gesichtspuncte der Humanität beobachtend und räsonirend, über die Karaktere und Sitten und Meinungen und Formen des menschlichen Lebens, als aus einer gemeinschaftlichen Quelle, dem organisirenden Bildungstriebe, und seinem Grunde, der vielfältig CINETEXT Hölderlin-Film „Feuerreiter“ (1998)*: Der Dichter sah in Diotima „des Himmels Botin“ einer besseren Welt tigen „Landes der Liebe“ anriefen; auch die selbstkritische Arbeit am „Empedokles“-Drama, dieser antikisierenden Überhöhung eigener Selbstmordgelüste, bescherte ihm nicht die nötige innere Ruhe. Hölderlin wollte weniger und mehr als all das: Herausgeber sein, eine Zeitschrift gründen. Sie sollte „Iduna“, nach der altnordischen Göttin der ewigen Jugend heißen, monatlich erscheinen, ein „Journal für Damen, ästhetischen Inhalts“, mit poetischen Hölderlin-Handschrift aus dem Brief an Ebel: „Haben Sie die Güte, mein Theurer!“ und inig organis[irt]chen Menschennatur hervorgegangen, jedoch mit Unterscheidung des Edlen und der Abart, des Reinen und der Verirrung – belehrend und unterhaltend seyn. Verzeihen Sie mir diese schwerfällige Vorrede, mein Theurer! aber die Achtung gegen Sie ließ mir nicht zu, Ihnen mein Vorhaben so aus dem Stegreif zu verkündigen; eben so wenig hielt ich es für schiklich, den Plan, so viel ich ihn für mich selbst entwerfen durfte, und die Materialien, die ich bereit habe, Ihnen bestimmt zu nennen; ich wollte also nur den Karakter des Journals und das, was man seinen Geist nennt, ungefähr berühren … Ihnen … wird es nicht schwer seyn, sich, nach [e]ernsteren Beschäfftigungen, auch auf diesen Gesichtspunct zu stellen und durch Ihren Nahmen und Ihre Theilnahme ein Geschäfft zu begünstigen, das dienen soll, die Menschen … einander zu nähern, und, indem es die verschiedenen Formen ihres Treibens und Lebens in Einem Geiste vereinigt, und in harmonischen Wechsel sezt, … sie der Beschränktheit ein wenig zu entrüken, den furchtsamen Egoismus, der immer auf Einem Puncte sto[ct]kt, zu mildern, und die Seele der Gesellschaft in schnellern Umlauf zu bringen. In jedem Falle, unvergeßlicher Freund! werden Sie mir es verzeihn, daß ich mich mit dem alten Zutrauen an Sie gewandt und diesen Wunsch gegen Sie geäußert habe … Haben Sie die Güte, mein Theurer! mich wenigstens bald mit irgend einer Antwort zu erfreun, und glauben Sie, daß ich, wie immer und immer mehr Sie geachtet habe und achte. Der Ihrige Hölderlin. Erstveröffentlichungen und Aufsätzen zur Geschichte und kritischen „Beurteilung“ der Kunst. Auf diese Zeitschrift bezieht sich ein bisher unbekannter Hölderlin-Brief, der unlängst in Zürich aufgetaucht ist und den der SPIEGEL erstmals, in gekürzter Fassung, druckt (siehe Kasten). Im Sommer 1799, in der Homburger Schein-Idylle, schrieb Hölderlin mehrere Briefe an Autoren, um sie zur Mitarbeit an „Iduna“ zu überreden – an seinen Förderer Schiller, an Goethe, an den Philosophen Schelling, auch an den damals bekannten Arzt und Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel („Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz“), der ihm die Lehrerstelle im Hause Gontard vermittelt hatte. Ohne die Mitarbeit prominenter Autoren mochte der junge Stuttgarter Verleger Steinkopf das Risiko nicht eingehen, die Zeitschrift herauszubringen. Das „Iduna“-Projekt markiert eine besonders kritische Phase in der Entwicklung des Dichters: Die unerhörte Zeile „Wer auf sein Leid tritt, steht höher“ stammt aus jenen Tagen. Hölderlin war nach dem Scheitern als Theologe und Hauslehrer zu einer Arbeit bereit, die viel mit Organisation, mit Honorarverhandlungen, Reisen und Korrespondenzen zu tun hatte und mit der er sich einem größeren Publikum stellte. Dass dieses Vorhaben am Ende kläglich scheiterte, hat gewiss, neben dem Diotima-Melodram, das kurz nach 1800 spürbar werdende Abtauchen des Dichters in den Wahnsinn beschleunigt. War das Programm der Zeitschrift zu hochgestochen? Hatte Hölderlin die Werbebriefe um Mitarbeit zu unterwürfig, zu abstrakt formuliert? Hat er am Ende eini* Mit Marianne Denicourt als Diotima, Martin Feifel als Hölderlin. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 289 Kultur D. BAY ge dieser Briefe zwar entworfen, aber nie Beispiel mit der „Unterscheidung des Edabgeschickt? len und der Abart“, nicht nur belehren, Antworten auf diese Fragen ist die Wis- sondern auch „unterhaltend seyn“. Ansenschaft, aber auch die große Fan-Ge- derswo verspricht er wie ein Sonntagspremeinde des unglücklichen Elegikers jetzt diger, die Beiträge der Zeitschrift sollten durch den Züricher Manuskript-Fund nä- versuchen, „den furchtsamen Egoismus, her gerückt, der dem amerikanischen Ger- der immer auf Einem Puncte stockt, zu manisten und Kleist-Forscher Hermann F. mildern“. Weiss in der dortigen Zentralbibliothek geEgoismus, „Geist des Neides“ – das war glückt ist; die Fachzeitschrift „Text“ wird dem poetischen Vorsänger eines neuen den Brief Ende dieser Woche ungekürzt „Gemeingeistes“ der damals ungeeinten veröffentlichen*. Weiss, 62, ProfesDeutschen genauso zuwider wie sor an der University of Michijeglicher „Despotismus“, der gan in Ann Arbor, stieß bei das „Menschenrecht“ auf der Durchsicht des Züricher Freiheit missachtet; oder Registers zum Ebel-Nachwie jene muffige Enge der lass auf die Fotokopie einst von ihm durchlitteeines Hölderlin-Briefes nen Klosterschule, wo vom 6. Juli 1799, in dem das Lesen „schädlicher der Dichter ausführlich Bücher und Romanen“ sein „Iduna“-Projekt erbei Karzerstrafe verboläutert – auf dass Leute ten war. wie Ebel und Wilhelm Hölderlins Gegenprovon Humboldt „es nicht gramm, das den Ebelgegen Ihre Würde finden“ Brief grundiert, hieß, frei möchten, „daran Theil genach Rousseau: „O gebt nommen zu haben“. euch der Natur, eh sie euch Dass Hölderlin einen dernimmt!“ (Empedokles). Der artigen Werbebrief an Ebel Begriff „Natur“ zielte dabei Philosoph Schelling geschickt hatte, war der Forletztlich auf eine umfassende schung bekannt. Doch der Text galt bisher Harmonie – im Verhältnis des Menschen zu als verschollen. Der Grund ist erstaunlich sich selbst wie zur Welt, was als Balance banal: Das Original befindet sich in Pri- zwischen Vielfalt und Einheit auch für die vatbesitz, die Fotokopie gelangte erst ideale Kunst galt. während der sechziger Jahre in die ZenDie Zeitschrift „Iduna“ hatte demnach tralbibliothek, seitdem hatte sie da noch ein hohes Ziel: Sie sollte durch lebendige niemand aufgestöbert – inzwischen wurde „Bildung“ und Poesie den „gemeinschaftauch das Original im Ebel-Nachlass als lichen Karakter“ der Menschen „fördern“, Leihgabe deponiert. die Gesellschaft „in Einem Geiste“ verWährend Hölderlin in dem „Iduna“ be- edeln, und das im „harmonischen Wechtreffenden Brief an Schiller – auch er ein sel“ der „Töne“ und Stimmen, „systemaglückloser Zeitschriften-Gründer – nur tisch und anschaulich individuell“. Der kurz den Plan erklärt und viele Details Mensch sollte „dichterisch wohnen“ lerfortlässt, mutet er Ebel eine ausführliche nen, bei jeder Einzelentscheidung den Philosophie dieses „humanistischen Jour- Blick auf die Ganzheit seines Lebens und nals“ zu, fast eine Art Kompendium seiner der Welt suchend. Ein utopisch-ästhetisches Poetik. Passagenweise ist das Schreiben mit Konzept, das an Schillers „Briefe über die dem „Iduna“-Brief an Schelling identisch, ästhetische Erziehung des Menschen“ von dem ein Entwurf erhalten ist. (1795) erinnert – und neben dem simplen Doch die Abweichungen sind so auf- Populismus heutiger „Journal“-Macher schlussreich wie die Überschneidungen: wie ein kurioser Fremdkörper wirkt. Der Brief an Schelling ist Verleger Steinkopf, anzugleich philosophischer scheinend schon ein ziemund persönlicher – Schellich moderner Medienling hatte zusammen mit mensch, wünschte sich da Hölderlin (und Hegel) am doch viel „mehr RückTübinger Stift studiert, sicht aufs Publikum und hier konnte der Dichter weniger Spekulation“ – an eine alte Freundschaft und schob das Projekt, anknüpfen. Gegenüber nicht allein wegen der AbEbel hingegen drückt sage Schillers, so lange vor Hölderlin sich direkter, sich her, bis sogar Hölderpopulärer aus. So betont lin selbst den Glauben er, das Journal wolle, zum daran verlor. „Schämen sich denn“, fragte der *„Text“ 5/1999. Hrsg. v. Roland Dichter verbittert im Reuß. Stroemfeld Verlag, FrankHerbst 1799 seine Susette, furt am Main/Basel; 68 Mark. Der „die Menschen so meiner Hölderlin-Brief wird ausführlich ganz?“ Mathias Schreiber Brief-Entdecker Weiss kommentiert. 290 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Ausflug zum Militär verschlug es ihn nach Nashville, in die Hauptstadt des Country-Universums. Da allerdings war Kristofferson nur ein Talent unKris Kristofferson, in den ter tausenden. Also ließ er Siebzigern Country-Star sich in einem Musikstudio und Kinoheld, feiert in Hollywood als Hausmeister anstellen ein Comeback – und tritt und wischte besonders langsam, wann immer Johnny nun auch als Musiker wieder an. Cash im Studio auftauchte. Cashs Gattin June Carter awaii ist das Texas der Südsee, jemochte den adretten Hausdenfalls sieht Kris Kristofferson das meister, der ihr Demobänder so. Der Himmel strahlt fast 365 Tage für den Gatten gab – allerim Jahr leuchtend blau, die Cowboys des dings ohne Resonanz. Eines Meeres reiten mit ihren Surfbrettern auf Sonntags charterte Kristofden Wellen, und die wilde Natur liefert den ferson einen Hubschrauber, Geschmack von Freiheit und Abenteuer. landete bei Familie Cash im Vor zehn Jahren hat sich der texanische Garten und überreichte dem Schauspieler und Sänger Kristofferson, 63, Hausherrn, der im Schlafandeshalb am Strand der Hawaii-Insel Maui zug mit Schrotflinte rauseine Ranch eingerichtet, die er mit seiner stürmte, ein Demoband mit dritten Frau und fünf Kindern bewohnt. Es „Me and Bobby McGee“ – ist seine Fluchtburg, in die er sich aus Verein nett erfundenes Märbitterung über Amerika und den entfesselchen? „Die Wahrheit und ten Globalkapitalismus zurückgezogen hat. nichts als die Wahrheit!“, Allerdings profitiert er gerade von den beteuert Kristofferson. Vorteilen des freien Marktes: Als SchauFest steht, dass Johnny spieler und Sänger feiert er ein künstleri- Star Kristofferson (1998): Wiederkehr als finsterer Sheriff Cash anfing, Kris Kristoffersches und auch finanziell lohnendes Comeback. Mit Hollywood-Hits wie „Blade“ und Inbegriff fast aller trauriger Heldenmythen, son zu fördern. Der hatte gewaltige Erfolge und noch viel mehr Affären, unter an„Payback“ ist Kristofferson in den vergan- die Amerika noch zu bieten hat. genen Monaten, wenn auch nur in NebenAuch im wahren Leben ist Kristofferson derem mit Janis Joplin, die „Me and Bobrollen, auf die großen Leinwände, also ins ein Mann, der Legenden liebt. Dass etwa die by McGee“ zum Klassiker machte. Weil Geschäft, zurückgekehrt. Weil sein Name CIA bei John F. Kennedys Ermordung die Kristofferson jung und ein besonders schödeshalb auch in der Pop-Welt wieder Er- Fäden zumindest mitzog – „das ist doch of- ner singender Cowboy war, folgten Filmfolg verspricht, hat seine Plattenfirma fensichtlich“. Der Meister rührt abwesend angebote aus Hollywood. Er drehte mit schnell eine neue CD herausgebracht. im kalten Kaffee und belehrt den Intervie- John Huston („Fat City“), Martin Scorse„The Austin Sessions“ ist eine Art Best- wer: „In diesem Land können Träume wahr se („Alice lebt hier nicht mehr“) und Sam of-Kollektion. Der alte Schmuse-Cowboy werden, aber es ist auch gefährlich, ein Träu- Peckinpah („Pat Garrett jagt Billy the restauriert mit prominenten Gästen wie mer zu sein. Visionäre wie Malcolm X und Kid“) und küsste Barbra Streisand vor (für Jackson Browne („Wir kennen uns noch Martin Luther King haben das mit dem Le- „A Star is Born“) und hinter der Kamera. Um sein geballtes Glück ertragen zu aus dem Knast, Nicaragua-Demo oder ben bezahlt.“ so“), Steve Earle und Mark Knopfler jene Zur Welt gekommen als Sohn eines Air- können, trank er zu viel, und als er sich auf Songs, die ihn vor langer Zeit berühmt Force-Generals, saß er als Knabe am liebs- die Hauptrolle in Michael Ciminos Soziamachten: „For the Good Times“, „Sunday ten daheim und verfasste Lieder und Kurz- listen-Western „Heaven’s Gate“ einließ, Morning Coming Down“ und natürlich geschichten. Die waren offenbar so gut, dass soff er mit ab. Bis heute pflegt er seine Ver„Me and Bobby McGee“. er ein Stipendium für die Universität von schwörungstheorie: „Der Film wurde liAuch Elvis, Frank Sinatra und Janis Oxford erhielt. Da ruderte und boxte der quidiert, weil er eine unbequeme GeJoplin haben Stücke gesungen, die, was we- Texaner gegen die Jungs aus Cambridge, schichte erzählte. Es war ein gezielter niger bekannt ist, von Kristofferson ge- studierte Shakespeare und schrieb einen Schlag gegen das kreative Hollywood.“ Das war 1980. „Ein Alptraumjahr. Mein schrieben wurden. „Es gibt immer noch Roman immerhin fast fertig. Nach einem Agent und mein Manager starben. Meine Menschen, die mir nach Plattenfirma meldete Konkurs an, und meiKonzerten mitteilen, dass ne Frau ließ sich scheiden.“ Danach lanihnen das Original von Janis deten Kristoffersons Filme nur noch im Joplin besser gefällt“, sagt Fernsehen und in Videotheken und seine der Musiker, „ich habe gePlatten auf dem Grabbeltisch. lernt, damit zu leben.“ Vor drei Jahren hat ihn dann der RegisMehr als einzelnen Songs seur John Sayles vom Ruf des Siebzigerverdankt Kristofferson seiJahre-Wracks befreit. Er ließ ihn in „Lone nen Erfolg seinem Image als Star“ als finsteren Gesetzeshüter auftreten. melancholischer Schmer„Zum ersten Mal gestand man mir zu, dass zensmann. Seine Songs hanich schauspielern kann“, sagt der wiederdeln meist von den Degeborene Star. Nun hofft er darauf, dass die sastern der Liebe – und seiWelt endlich einsieht, dass nicht Janis Joplin ne Kinorollen zeigen ihn als oder Elvis, sondern er selbst der beste Intertragischen Trucker, scheipret seiner Lieder ist. Christoph Dallach ternden Revolverhelden und Kristofferson mit Rita Coolidge (1980): Desaster der Liebe POP Geballtes Glück M. PUTLAND / RETNA / PHOTO SELECTION C. KOLK / OUTLINE / INTER-TOPICS H 294 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma Fahrzeug wird abgebremst zusätzlicher Sender zur exakten Positionsbestimmung Satellit des Global Positioning System (GPS) 30 500 m 30 Navigationssystem im Armaturenbrett CD-Rom mit gespeicherten Geschwindigkeitsbegrenzungen VERKEHR Wolfsburger Zwangsbremse F ür Aufregung in Industrie und Politik sorgte vergangene Woche ein Workshop über „intelligentes Geschwindigkeitsmanagement“ bei der Bundesanstalt für Straßenwesen in Bergisch Gladbach. Experten aus den Niederlanden, Großbritannien und Schweden präsentierten Versuchsfahrzeuge, die per Satellitenstrahl automatisch auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit abgebremst werden können. Die Zwangsbremse besteht aus einer Kombination aus Satellitennavigator und Tempomat – zwei Geräten, die längst auf dem Markt sind. Auf der CD-Rom im Navigationsgerät sind nicht nur die einzelnen Straßen, sondern auch die dort jeweils zulässigen Höchstgeschwindigkeiten verzeichnet. Beim Einfahren in eine Tempolimit-Zone aktiviert der Navigator automatisch den Tempomat, der sich, anders als bei derzeitigen Systemen, nicht durch Gasgeben deaktivieren lässt. Was technisch einfach zu realisieren ist, erscheint politisch kaum durchsetzbar. Das deutsche Verkehrsministerium distanziert sich kategorisch von jeglicher Zwangsbremsung: „Leitbild bleibt der eigenverantwortliche Kraftfahrer.“ Im Nachbarland Holland hingegen lässt das dortige Verkehrsministerium die automatische Tempodrosselung jetzt in einem Großversuch erproben. Zwangsgebremst wurde indes auch das Management beim niederländischen VW-Importeur „Pon’s Automobielhandel“, der die 20 Versuchsfahrzeuge vom Typ „Bora“ geliefert hat. Ursprünglich wollten die Volkswagen-Statthalter im Zusammenhang mit dem Autopilot-Projekt öffentlich auftreten. Ein PR-Manager aus der Wolfsburger Konzernzentrale sagte dazu: „Wenn ihr euch einen neuen Job suchen wollt, könnt ihr das gerne tun.“ Konzern-Chef Ferdinand Piëch missbilligt den Einsatz von VWFahrzeugen für den Pilotversuch zur Zwangsbremsung. MEDIZIN Lästige Nasenpilze ie Auslöser einer chronischen Entzündung der Nasennebenhöhlen („Sinusitis“) sind offenbar in mehr als 90 Prozent aller Fälle Pilze, die in den Schleimhäuten siedeln. Bislang hatten Mediziner die Erkrankung, von der etwa 15 Prozent aller Erwachsenen betroffen sind, überwiegend auf bakterielle Erreger zurückgeführt. Doch dies trifft nur auf die akute, längstens vier Wochen dauernde Entzündung der Stirn- und Kieferhöhlen zu, bei der auch eine Behandlung mit Antibiotika Erfolg bringt. Forscher an der amerikanischen Mayo-Klinik in Rochester haben nun in einer zwei Jahre dauernden Studie an 210 Patienten mit chronischer Sinusitis festgestellt, dass in fast allen Fällen offenbar eine Fehlreaktion des Immunsystems auf in der Nase praktisch jedes Menschen siedelnde Pilze zu der chronischen Erkrankung führte. Die neue Fährte, so hoffen die Wissenschaftler, könnte „in zwei bis vier Jahren“ zu einer wirksameren Therapie führen. FOTOS: M. DARDEN D „Subaru“-Sternwarte auf Hawaii ASTRONOMIE Japanisches Riesenteleskop A uf dem 4205 Meter hohen Mauna Kea, dem höchsten Gipfel von Hawaii, haben japanische Astronomen ein optisches Riesenteleskop errichtet, das schärfere Bilder vom Sternenhimmel liefern soll als alle bisherigen Observatorien. Das am Freitag vorletzter Woche offiziell eingeweihte Himmelsauge verfügt über einen Spiegel mit einem Gesamtdurchmesser von über acht Metern und ist das ehrgeizigste Projekt, das japanische Wissenschaftler bislang außerhalb ihres Landes verwirklicht haben. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Für umgerechnet 650 Millionen Mark errichtet, soll das auf den Namen „Subaru“ (so die japanische Bezeichnung für den Sternhaufen der Plejaden) getaufte Instrument Japans Astronomie mit einem Sprung „aus relativer Bedeutungslosigkeit in die vordersten Rei„Subaru“-Teleskop hen der himmelsbeobachtenden Nationen befördern“, wie die „New York Times“ kommentierte. Das außergewöhnlich gute, auf Vergleichsaufnahmen mit Fotos des Weltraumteleskops „Hubble“ bereits gezeigte Auflösungsvermögen ihres Subaru-Teleskops führen die Japaner auf zahlreiche Innovationen bei seiner Konstruktion zurück. So werden bei dem bislang unerreicht dünnen und entsprechend leichten Spiegel schon geringste Abweichungen mit Hilfe von 261 Kleinmotoren wieder ausgeglichen. 297 Prisma Computer ELEKTRONIK Quakende Cyberkröte E FOTOS: TECMATH r ist ein Fossil der Computer-Steinzeit: der Sound-Chip „Mos 6581“. Das Sound Interface Device (Sid) wurde anno 1983 für den Heimcomputer Commodore 64 entwickelt. Seine für damalige Verhältnisse enorme Leistung ermöglichte es, Computerspiele mit mehrstimmiger Begleitmusik zu untermalen. Das Gedudel der Soundtracks von Spielen wie „Commando“ oder „Wizball“ brannte sich in die Hirne einer ganzen Generation von Computerfans. Drei 25-jährige schwedische Ingenieurstudenten wollen die Klangästhetik jener Epoche in der Musik wieder beleben. Das Team um Daniel Hansson hat die „Sidstation“ entwickelt, einen Synthesizer im handgebördelten Aluminiumgehäuse, in dem der Mos 6581 sein Werk „Mann im Anzug“ in der Pfalzgalerie, Kunststoffrohling (unten) AU S S T E L L U N G Kunst aus dem Automaten F. SCHUMANN / DER SPIEGEL F „Sidstation“ tut. Nur drei Töne gleichzeitig kann das Gerät erzeugen. Britzeln und Fiepen als Ruhegeräusch verbietet den Begriff HiFi, doch charakterstarken Klängen mit so bizarren Namen wie „Spaceducks“ und „Fatburger“ tut das keinen Abbruch. „Der Sound der Originalchips des Jahrgangs 1987 ist mit nichts zu vergleichen“, schwärmt Hansson. Manche Töne gemahnen an eine quakende Cyberkröte; andere klingen, als würde Darth Vader furzen oder der Roboter R2D2 durchgekitzelt. Die Fachpresse erhebt die Maschine zum Kultgerät, auch wenn der spartanische Klangerzeuger mit rund 1240 Mark im Internet-Versand nicht gerade billig ist. Techno-Produzenten müssen sich beeilen, denn der Sid-Baustein wird seit 1991 nicht mehr hergestellt. „Über einen Mittelsmann, der nicht verrät, wo sie herkommen, haben wir die letzten 1000 Chips aufgestöbert“, erklärt Hansson, „dann ist endgültig Schluss.“ www.sidstation.com 298 ünfzig Bundesbürger stehen in der Pfalzgalerie in Kaiserslautern unter Glas – als Kunststofffiguren im Maßstab 1:10. Die Konzeptkünstlerin Karin Sander hat die Miniaturen mit modernster Technik anfertigen lassen. Die repräsentativ ausgewählten Bürger, darunter FCK-Spieler Ratinho, Oberbürgermeister Bernhard Deubig und der Museumshausmeister Rudolf Bernert, wurden in je zwölf Sekunden per Laserstrahl von einem „Body-Scanner“ der Firma Tecmath abgetastet. Die Datensätze reisten auf CD-Rom nach Olpe, wo der „Extruder“ der Firma Glatz Engineering die Modelle in je 30 Stunden aufbaute: In Schichten von 0,2 Millimeter Dicke formte der Roboter die Kontur durch präzise Steuerung eines dünnen Strahls geschmolzenen ABS-Kunststoffs. Ein Airbrush-Spezialist in Donzdorf kolorierte die Rohlinge. Sander verbot den Technikern, die feinen Schichtkanten zu glätten: „Die sichtbaren Stufen sind so authentisch wie die Schnitzspuren einer Holzskulptur“, erläutert sie. Bis zum 31. Oktober sind die Kunstmenschen in Kaiserslautern zu sehen, dann reist die Ausstellung nach Madrid, New York und Tokio. SPIELZEUG Puzzlesteine mit Hirn R und ein Jahr nach der Premiere in den USA bringt Lego seinen Elektrobaukasten „Mindstorms“ auch auf den deutschen Markt. Ab Oktober ist das „Robotics Invention System“ für 450 Mark im Handel. Herzstück ist ein gelber Riesenklotz mit Mikroprozessor, der bis zu drei Elektromotoren steuern und durch sinnreiche Verkabelung mit Lichtschranken und Berührungssensoren mit der Außenwelt in Kontakt treten kann. Programmiert wird der Baustein vom PC aus, auf dessen Monitor Nachwuchs-Erfinder ab zwölf Jahren Programmelemente wie Puzzlestücke grafisch zusammenfügen können – eine kindgerechte Programmier„Mindstorms“-Roboter methode, die am amerikanischen MIT erdacht wurde. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite JAUCH UND SCHEIKOWSKI Titel Übermensch-Visionen Terminator, Superman, Androidin (aus dem Film „Metropolis“): „37 Millionen Dichter von der Qualität Homers“ Zucht und deutsche Ordnung Mit Vokabeln wie „Menschenzucht“ und „Anthropotechniken“ entfachte der Philosoph Sloterdijk einen sehr deutschen Intellektuellen-Streit. Dämmert eine Ära des genoptimierten Menschen? Mehr als die Gentechnik könnte der Wandel des Menschenbildes die Welt verändern. 300 AKG Nietzsche d e r s p i e g e l dijk mit dem Humanismus abgerechnet. Sich auf Nietzsche berufend, hatte er dafür plädiert, anstelle der herkömmlichen gesellschaftlichen „Zähmungen“ des obersten Zweibeiners im Tierreich auch an „züchterische Steuerung der Reproduktion“, an „Selektionen“, zu denken. Mehr noch: Gezielt setzte der Metaphernakrobat Vokabeln ein, die ungläubigen Abscheu provozieren mussten – „Menschenzucht“ und „Anthropotechnik“. Kaum einer gab vor, das Raunen Sloterdijks recht verstanden zu haben. Träumt er von Lara Croft oder Superman aus der Retorte? Die schwierige Frage einer zukünftigen Nutzung der Gentechnik jedenfalls geht er mit größtmöglicher Unschärfe an, „in der Weise eines Rorschachtests“, wie der Philosoph Ernst TuT. STEPHAN sprochen, was Geistesgrößen wie Martin Heidegger und Friedrich Nietzsche auch schon beschäftigt habe, nämlich das „autoplastische Potenzial von Homo sapiens“. Damit hatte er ein weiteres Mal einen jener dunklen Begriffe geprägt, mit denen er nun seit mehr als zwei Wochen die Intellektuellen der Republik erregt: In einem Vortrag auf einer Heidegger-Tagung im bayerischen Schloss Elmau hatte Sloter- AKG S einen Wortcocktail hatte der Provokateur wieder mal gut geschüttelt. An einer „Versachlichung der Diskussion“ sei ihm gelegen, begann Peter Sloterdijk bräsig, schließlich sei „die bürgerliche Öffentlichkeit“ zum Diskutieren da. Dann aber, warm geworden, zeigte der ehemalige Bhagwan-Jünger mit der schütteren Haarmähne, was er unter Diskussion versteht: „Paparazzotum“ sei „in die Philosophie eingedrungen“, verkündete der Denker den versammelten Journalisten, die sich am vorletzten Wochenende zu einem „Philosophicum“ im Wintersportort Lech am Arlberg eingefunden hatten. Mit genießerischer Grämlichkeit stilisierte sich Sloterdijk zum Opfer „linksfaschistischer Agitationen“. Er habe doch nur in einer „literarisch hochcodierten Form“ ange- Platon Sloterdijk 3 9 / 1 9 9 9 CINETEXT FOTOS: A. BREKER / GALERIE FÜR GEGENSTÄNDLICHE KUNST / KIRCHHEIM / TECK (l.); CORE DESIGN (r.) Übermensch-Vision Lara Croft: Neuer Adel Ideal-Menschen im Relief (von Arno Breker): Angst vor genetischer Vermüllung gendhat in der „Zeit“ klagte. Warum entfachte dann ausgerechnet diese nebulöse Rede eine derartige Kanonade wechselseitiger Beschimpfungen? Zwar mag Sloterdijk mit dem Begriff der „Anthropotechnik“ eine zum Streit taugliche Reizvokabel ersonnen haben. Aber genügt dies, um den Aufruhr der Intellektuellen zu erklären? Schließlich geistert die Vision vom planmäßig gestalteten Menschen seit langem durch die Kolumnen. Spätestens seit in dem schottischen Dörfchen Roslin ein Klonschaf neugierig und zutraulich eine Truppe von Fotografen und Journalisten beschnupperte und der schüchterne Bioforscher Ian Wilmut sich als sein Schöpfer zu erkennen gab, sahen viele Experten die Ära des Reißbrett-Menschen angebrochen. „Jetzt wird alles machbar“, hatte damals, im Februar 1997, der amerikanische Biologe Lee Silver verkündet. Der britische Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat sah gar „die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel“. Anfang dieses Monats, während in der deutschen Presse gerade die publizistische d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Schlacht um Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“ entbrannte, stellte ein USBiologen-Team die neueste Labor-Kreatur vor: eine Maus, deren Intelligenz sie mit gentechnischer Hilfe aufgerüstet hatten.War damit nicht ein Vorbote des optimierten Menschen aufgetaucht? Und hätte dies nicht besser getaugt als Aufreger für eine Debatte über die Zukunft der Biotechnik? So sehr sie die Methoden der Fortpflanzung auch durcheinander gewirbelt haben – bisher haben die Wissenschaftler das menschliche Erbgut der Keimzellen selbst noch nicht angetastet. Noch ist die Humangenetik eine rein diagnostische Disziplin, die im klinischen Alltag eher eine Nebenrolle spielt. Gleichwohl hat sich die moderne Medizin schon längst des Menschen als Modelliermasse bemächtigt. Chirurgen und Organzüchter, Babymacher und Entwickler von Psychopillen – sie alle haben es sich zum Ziel gesetzt, Körper und Geist zu formen. Sie begnügen sich nicht damit, ihn gesünder zu machen; sie wollen auch den schöneren, leistungsfähigeren und glücklicheren Menschen schaffen. Schon reifen in den Labors der Biotechnologen Haut und Knorpel heran. Ärzte formen pulverisierte Knochen zu Kiefern, bauen Ohrmuscheln aus dem Rohstoff von Menschenzellen, sie lassen Leber- und Bindegewebe wie Spalierobst an feinverästelten Kunststoffgerippen ranken und wollen aus Embryozellen Zweitorgane für Schwerkranke züchten. Auch Methoden, Geist und Gemüt mit medizinischen Mitteln zu formen, haben 301 Titel Eine Plastikwanne, in der künstliches Fruchtwasser schwappt, soll dereinst die Gebärmutter ersetzen. Ziegenföten konnten die Wissenschaftler darin bereits drei Wochen lang am Leben erhalten. Empfängnis, Geburt, seelische Gesundheit und Tod: Alles, was einst – je nach Weltauffassung – als Domäne des Schöpfers, des Schicksals oder der Natur galt, wurde inzwischen vom Gestaltungswillen der Biowissenschaften usurpiert. Und doch ist all dies in den Augen vieler Visionäre nur das Präludium. Das „Jahrhundert der Biologie“, so prophezeien sie, sei noch gar nicht angebrochen. Jetzt erst hätten die Biotechniker das letzte Tabu, den Eingriff in die menschliche Keimbahn, ins Visier genommen. Damit stehe der wahrlich genetisch verbesserte Mensch auf dem Programm. „Wir übernehmen gerade die Kontrolle über unsere eigene Evolution“, verkündet der Biophysiker Gregory Stock von der University of California in Los Angeles. Und um Widerspruch gar nicht erst aufkommen zu lassen, fügt er sogleich hinzu: „Es gibt keinen Weg, diese Technik aufzuhalten.“ Mit seiner Einschätzung steht Stock nicht allein. Das Gen-Design werde „bedeutsamer als die Atomspaltung und nicht minder gefährlich“ sein, mahnt die New Yorker Molekularbiologin Liebe Cavalieri, U nlängst fanden viele es noch witzig, wenn der Metaphernjongleur ihnen überraschende Namen gab. Wer Geistliche zu Versicherungsangestellten erklärt, amüsiert selbst die so Genannten. Auch eine Festversammlung von Industriebossen durfte sich geschmeichelt fühlen, als Peter Sloterdijk ihr das pikante Kompliment machte, sie seien Berufsrevolutionäre – schließlich verlange ihr Gewerbe ja pausenloses Umdenken. Seit kurzem jedoch erfreuen die vielen bunten Vergleiche des Karlsruher Ästhetik-Professors niemanden mehr. Seinen Protest gegen die Entlassung des Münchner Theaterchefs Dieter Dorn nahm Sloterdijk Ende Februar zum Anlass, die „neue Mitte“ als „Unterwerfung der Begabten unter die Mittelmäßigen“ anzuprangern – ein ziemlich durchsichtiger Versuch, Personalquerelen für den eigenen Auftritt zu nutzen. Und nun probt der Denker, der sich gern ostentativ bescheiden „Schriftsteller“ nennt, den richtig groben Ton: Mit Geiferwörtern jeder Art überzieht Sloterdijk, 52, mittlerweile all jene, die vor seiner raunenden Rede über „Anthropotechnik“ warnen. Wie konnte es so weit kommen? Jahrelang galt der gelernte Literaturwissenschaftler als Harlekin der Philosophen- T. WAGNER / SABA Eingang in die ärztliche Praxis gefunden: Millionen von Zappelkindern schlucken das Medikament Ritalin, das ihre Nervosität, zugleich aber, so mahnen Kritiker, auch ihren kreativen Übermut zähmt. Mehr als ein Zehntel der US-Amerikaner ist dank Prozac oder einem seiner chemischen Verwandten glücklich gestimmt. Ist die Pharmakologie auf diese Weise nicht längst im Begriff, einen neuen, modischen Menschentypus zu erschaffen? Am weitesten auf dem Weg zur Menschenzucht ist die Reproduktionsmedizin fortgeschritten. In amerikanischen Samenbanken können sich Frauen in umfänglichen Katalogen einen Vater für ihre Kinder aussuchen. Alle Haar- und Hautfarben, Größen, Abstammungen und akademischen Titel – bis hin zum Nobelpreisträger – stehen zur Wahl. „Praktisch betreiben wir ja schon Auslese“, sagt der Bonner Hirnforscher Detlef Linke, „im Fetozid, in der Sperma-Auslese – da ist schon Realität, was viele für unmöglich halten.“ Und alljährlich wird mehr möglich: In der letzten Woche verkündete ein Ärzteteam, dass es ihm erstmals gelungen sei, einer 30jährigen Tänzerin aus Arizona einen Eierstock zu implantieren. Prompt legten Forscher aus New York noch nach: Sie planen die Verpflanzung eines Hoden. In Japan wird derweil bereits am nächsten Kapitel der Fortpflanzungsmedizin gearbeitet: Ziegen-Fötus in künstlicher Gebärmutter (an der Juntendo-Universität in Tokio): „Es ist schon Realität, was viele für unmöglich halten“ 302 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Harlekins Griff nach der Macht Mit immer neuen Begriffs-Kapriolen unterhält Peter Sloterdijk seit Jahren seine Leser. Nun aber geht der wendige Ästhetik-Professor aufs Ganze: In Spekulationen über „Menschenproduktion“ will er sich als Groß-Denker etablieren. CAMERA PRESS K. SCHNE / ZEITENSPIEGEL schlottern wie in einer sprich: gute Versicherungen. Hauptsache, Wundertüte, und zwang so die Hörer sind verblüfft. Auch seine Elmauer Rede inszenierjedes Mal die Feuilletonisten zu rätseln, „was genau- te Sloterdijk mit der Geheimnistuerei er er gemeint hat“ („Süd- eines Zauberkünstlers. Das humanistische „Phantasma“ sei „unwiderruflich deutsche Zeitung“). Gern gibt sich Sloterdijk abgelaufen“, erwiderte Sloterdijk auf auch heute noch als Ideen- Martin Heideggers „Brief über den Husurfer, dem nur daran liegt, manismus“. Heutige Massenmenschen sich „in die Bewegung seien keine „Hirten des Seins“ (Heidegdes Elements einzulassen“, ger) mehr; überhaupt verbreite das als Anwalt eremitischer Bild vom Hirten dubiose pastorale Har„Weltfremdheit“ oder gar monie. Anstatt „bescheiden und zahm“ zu des „mystischen Weges“. Gleich darauf mimt er den bleiben wie die verkümmerten „letzten Geisteslenker und fordert, Menschen“, die Nietzsches Zarathustra „dass das Subjekt einen „Haustiere“ nennt, müsse man in ZuPhilosoph Sloterdijk: Platzende Fruchtblase planetarischen Realismus kunft die Herausforderung der „Menszene. Während ringsum Kritischer Ra- entwickeln muß“. Ob er „Subversions- schenproduktion“ „aktiv aufgreifen“ – tionalismus, Hermeneutik und andere übungen gegen den Absolutismus der Ge- erzieherische „Zähmung und BefreunDenkerclubs unscheinbar ihr Wesen trie- schichte“ macht, einen „neuen Weltver- dung“ reiche nicht aus. So „verschwomben, reiste Sloterdijk 1980 zum Bhagwan trag“ anmahnt (ohne ihn überhaupt zu men und nicht geheuer“ es klinge, man nach Poona und kam erleuchtet zurück. skizzieren) oder, wie in der jetzt erschei- müsse über „Merkmalsplanung“ nachDrei Jahre darauf überraschte er mit ei- nenden Trilogie „Sphären“, das Urbild denken. Dann fallen die Stichwörter „Anmenschlicher Sicherheit und Gefährdung thropotechnik“ und „Züchtung“. ner „Kritik der zynischen Vernunft“. Kein Wunder, dass diese Mixtur aus geHinter dem großspurig bei Immanuel in der platzenden Fruchtblase finden will, fährlich Ungefährem etliche IntellektuelKant geborgten Titel verbarg sich, von al- stets spielt er ums große Ganze. Auf dem Weg zur kynischen Macht- le entsetzte. Doch inhaltlich hat Sloterdijk lerlei „Erheiterungsarbeit“ umrahmt, eine Abrechnung mit den angeblich gräm- ergreifung ist er auch schon recht weit sich bis heute nicht auf die Proteste einlichen Denkern der Gegenwart und ihren gekommen. 1992 erhielt er einen Lehr- gelassen. Viel lieber stilisiert er die Angriffe zum zynischen KesAhnherren: Sloterdijk sortierte die ge- stuhl an der Hochschule für seltreiben und erklärt mit samte Ideengeschichte nach fröhlich- Gestaltung in seiner Vaterwenig kynischem Machtfrechen „Kynikern“ und bösen „Zyni- stadt Karlsruhe. Nach viel anspruch: „Die Kritische kern“, Wölfen im Schafspelz der Auf- Palaver wurde er Anfang Theorie ist gestorben.“ klärung. Nur Kyniker wie Moses, David, 1993 Leiter eines „Instituts Konkret: Jürgen Habermas, Luther oder Eulenspiegel, Intellektuelle, für Kulturphilosophie und ihr Nestor, habe als Oberdie auch Watschen als Argument nicht Wahrnehmungslehre“ an zyniker abgewirtschaftet. scheuten, seien die wirklich treibende der Wiener Akademie der Doch für solche Eil-AbKraft des Geistes gewesen. Spätere „Her- bildenden Künste. Der Diewicklungen eignet sich Harenzyniker“ dagegen hätten keine gute, derichs Verlag gründete bermas, übrigens ebenfalls freche Stimmung verbreitet. In ihren eine Buchreihe „PhilosoSuhrkamp-Berater, denk„Großtheorien“ herrsche ein übler „Zu- phie jetzt!“ mit Sloterdijk bar schlecht. Weltweit ansammenhang zwischen Erkenntnistheo- als Herausgeber. Und neuerkannt als wichtigster leerdings ist er als Berater des rie und Erkennungsdienst“. bender GesellschaftstheoDie zwei dicken, süffig geschriebenen Frankfurter Suhrkamp Ver- Heidegger (1968) retiker Deutschlands, hat er Bände wurden rasch ein Bestseller und lages tätig. Inzwischen hat er sein Talent zum ne- stets den Dialog der Begriffsarbeiter gemachten Sloterdijk zum Star. Erfinderisch hat er seither das Freund-Feind-Schema bulosen Ausdruck weiter trainieren kön- sucht. So begrüßte er auch 1983 ein neuvariiert und fortgeschrieben. Er bot neue nen. Vergangenes Jahr, am 9. November, es Buch, weil es eine „glanzvolle VerbinPolaritäten auf wie „Kopernikanische taufte er die Nation zur „Stress-Gemein- dung zwischen philosophischer EssayisMobilmachung und ptolemäische Abrüs- schaft“ um. Beim Bundesverband deut- tik und Zeitdiagnose“ enthalte. Ironie tung“, grübelte dem „Eurotaoismus“ scher Banken empfahl er gegen den der Geschichte: Das gelobte Werk war oder der „Hyperpolitik“ nach, schrieb Schock der Globalisierung einen für je- Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Essays, in denen Wortmonster umher- den Menschen eigenen „Immun-Mix“ – Vernunft“. Johannes Saltzwedel d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 303 Titel Schöne neue Welt? Biotechnische Eingriffe am Menschen VERFAHREN CHANCEN UND RISIKEN Fahndung nach dem Gen für eine Erbkrankheit im Erbgut des ungeborenen Kindes. Erweist sich das Gen als defekt, so besteht die Möglichkeit einer Abtreibung. Zwar ist die „eugenische Indikation“ im geltenden Recht abgeschafft, trotzdem sind Abtreibungen bei bestimmten Erbkrankheiten üblich. Allerdings beschränkt sich diese Methode auf Eltern, bei denen eine erbliche Belastung bekannt ist. Genetischer Test des Embryos im Labor. Nur solche Embryonen werden in die Gebärmutter implantiert, die das defekte Gen nicht im Erbgut tragen. Nach deutschem Recht nicht zulässig – doch der Druck, auch diese Methode zu erlauben, wächst. Patienten mit einer Erbkrankheit wird ein intaktes Gen in kranke Zellen eingeschleust. Bisher in hunderten klinischen Studien, unter anderem auch in Deutschland, getestet, allerdings nahezu ohne jeden Erfolg. Kopie aus der Retorte Klonen Züchtung der genetisch identischen Kopie eines Menschen. Technisch vermutlich möglich, nach deutschem Recht aber verboten. Diese Methode hätte keinerlei therapeutischen Nutzen, sondern würde nur dem Bedürfnis Einzelner dienen, sich selbst – zumindest genetisch – zu einer Wiedergeburt zu verhelfen. Reparatur nach der Zeugung Ein defektes Gen wird schon im befruchteten Ei durch ein intaktes ausgetauscht. Der so korrigierte Embryo wird der Mutter implantiert. Technisch nach Auffassung vieler Experten einfacher als die somatische Gentherapie. Nach deutschem Recht aber verboten, denn die Veränderung im Erbgut würde auch an die Nachkommen des behandelten Embryos weitergegeben. Gene, welche das Risiko an Krankheiten wie Krebs, Fettsucht oder Asthma erhöhen, werden vor der Einpflanzung in die Gebärmutter ausgeschaltet. Nach deutschem Recht verboten. Zudem ist völlig ungewiss, ob derartige Eingriffe ins Erbgut möglich sind, ohne zugleich in unkontrollierter Weise andere Vorgänge im Körper zu beeinflussen. Ein Gen, das Schutz vor Krankheiten wie Aids gewährt, wird ins Erbgut einer befruchteten Eizelle geschleust. Mit dieser Methode wäre ein entscheidender Schritt in Richtung auf gezielte Erbgutverbesserung gemacht: Nicht nur Träger von Krankheits- oder RisikoGenen könnten mit ihr behandelt werden, sondern im Prinzip jeder. Theoretisch ließen sich auch Eigenschaften wie Intelligenz, Aggressivität oder Schönheit genetisch verändern. Mit dieser Form der Manipulation stünde die Tür zum genetischen Design des Menschen offen. Noch allerdings ist die Wissenschaft von dieser Möglichkeit weit entfernt: Wie die Gene die komplexen Eigenschaften des Menschen steuern, ist bisher unbekannt. Außerdem würde sich jeder Eingriff ins Erbgut in vielfältiger und möglicherweise schädlicher Weise im Körper auswirken. Euthanasie im Mutterleib pränatale Gendiagnostik Selektion im Labor Präimplantationsdiagnostik Reparatur aus der Spritze somatische Gentherapie Keimbahntherapie von Erbkrankheiten Prävention im Erbgut Ausschalten von Risiko-Genen Schutzschild vor Krankheit Einbau von ResistenzGenen Übermensch aus dem Labor Genetische Optimierung 304 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 ihr Kollege Lee Silver von der Princeton University sieht gar die Geburt einer neuen Menschen-Spezies heraufdämmern: Die Reichen würden ihr Erbgut so lange aufrüsten, bis sie sich mit den Armen nicht länger paaren wollten oder könnten. Auch in der deutschen Presse fehlte es nicht an ähnlichen Weissagungen. In der „Süddeutschen Zeitung“ ließ sich der Berliner Molekularbiologe und Essayist Jens Reich Anfang Februar mit der Prognose vernehmen: „Nicht nur der Lebensanfang und die konstitutionelle Ausstattung des Menschen werden unter technische Machbarkeit fallen, sondern auch der Lebenslauf und die Lebenserwartung.“ Wenig später folgte ihm Francis Fukuyama: Die Menschheit, so der US-Politologe, befinde sich „am Scheitelpunkt einer neuen Explosion technologischer Innovation“ – sie sei im Begriff, „einen neuen Menschentypus zu schaffen“. In seinem Aufsatz stellte Fukuyama – Wochen bevor Sloterdijks Rede das „Deutsche Beben“ („Zeit“) auslöste – den „SZ“Lesern in Aussicht, die Technik werde künftig „das Züchten von weniger gewaltsamen Menschen“ erlauben, und dieser Möglichkeit werde man sich kaum verweigern können. Auch von „Nietzsches Übermenschen in der Flasche“ und einer „posthumanen Geschichte“ war da die Rede – warum gab es darüber keinen Krach? Dass ein deutscher Denker so daherredet, wie Sloterdijk es tat – das war es, was die Sache zum Skandalon erhob. In der Tat: Das Vokabular, dessen sich der Provokateur bediente, wäre in diesem Land noch vor kurzer Zeit unvorstellbar gewesen. Seit den sechziger Jahren hatte in Deutschland der intellektuelle Geist konstant von links geweht. Seine Utopie war die klassenlose Gesellschaft des demokratischen Sozialismus, in der sich der „Neue Mensch“ in harmonischer Selbstverwirklichung frei entfalten sollte. In Sloterdijks „Menschenpark“ sind die schönen Träume der 68er wie mit einem rhetorischen Knall zerstoben; sie muten aus dieser Sicht fern an wie das Mittelalter. Schon die Einseitigkeit, mit der Sloterdijk seine philosophischen Zeugen – Platon, Nietzsche, Heidegger – ausschlachtet, ist ein Rückfall in eine andere Welt. Seine Textmontagen künden von einer elitären, antidemokratischen Geisteshaltung, von tiefem Misstrauen gegen die menschliche Natur, der laut Sloterdijk mit „Zähmung“ kaum noch beizukommen ist. Wo der linksliberale Zeitgeist noch kürzlich nach sexueller Befreiung, sanfter Pädagogik oder humanerem Strafvollzug rief, sieht Sloterdijk eine „beispiellose Enthemmungswelle“ rollen – ein Wüten entfesselter Triebe, dem Einhalt geboten werden müsse, womöglich durch züchterische Maßnahmen, wie der Philosoph insinuiert: Er spricht – wortgewaltig, aber vage – von einer „genetischen Reform der Gattungs- Werbeseite Werbeseite Titel Der antiliberale Reflex Ob bei Botho Strauß’ „Bocksgesang“, der Walser-Bubis-Debatte oder der Polemik um Peter Sloterdijk – stets zielt die intellektuelle Provokation auf den linksliberalen Mainstream. P eter Sloterdijk auf allen Kanälen: die den Unwillen nachdrängender, vorSloterdijk, das Opfer „linksfaschis- auseilender oder sonstwie unzeitgemäßer tischer Agitation“, einer „Starnber- Denker erregt. Dies umso mehr, als die ger Fatwa“ von Ajatollah Habermas und „light version“ der Kritischen Theorie in seinen „Mudschahidin der Kritischen all ihren Popularisierungen unterdessen Theorie“. Sloterdijk, der tapfere Philo- eine Art Nationaleigentum, Common soph, als Objekt von „Paparazzotum“ und Sense der westlich orientierten „neuen „Erregungsjournalismus“ – tagaus, tagein Mitte“ geworden ist wie „1968“ und präsentierte sich der Vordenker der „Re- Woodstock. Sämtliche deutsche Großdebatten des geln für den Menschenpark“ während der vergangenen Wochen in einem wahren In- vergangenen Jahrzehnts – ob der Walserterview-Feuer als kämpferischer Visionär, Bubis-Streit vor einem Jahr, die Polemik der von einer Verschwörung der Ewig- um Botho Strauß’ „Anschwellenden gestrigen, den skrupellosen Adepten einer Bocksgesang“, der Historikerstreit über linksliberalen „political correctness“ gna- die Singularität von Auschwitz und die Auseinandersetzung über das Holocaustdenlos verfolgt wird. In der Sendung „Kulturzeit“ (3Sat) kam er vergangene Woche noch einmal auf den Kern seiner skandalträchtigen Intervention zurück – natürlich in Form einer „Prophezeiung“: Nach der gegenwärtigen Schmutzkampagne werde sich die Debatte wieder auf die Fragen der gentechnologischen Perspektiven konzentrieren, um dann aber, so Sloterdijk, in eine „sehr harte“ Auseinandersetzung über die Kritische Theorie von Habermas & Co. zu münden. Dem philosophischen Angreifer schien es nichts auszumachen, dass er dabei den Kampf um einen Leichnam annoncierte – denn dass die Kritische Theorie tot sei, hatte er schon Anfang September erklärt. Sei’s drum, die Stoßrich- Schlagzeilen über Tabu-Verstöße tung seiner publizistischen Attacken ist klar: Es geht um die seit den sech- Mahnmal in Berlin – drehten sich um die ziger Jahren bestehende Vorherrschaft Interpretationshoheit über die Gegender Kritischen Theorie und ihres Alters- wart, die sich in Deutschland immer noch präsidenten Habermas – mit dem, pikant, und unweigerlich im Verhältnis zur jüngsSloterdijk auch noch im selben verlege- ten Vergangenheit, vor dem Hintergrund rischen Boot sitzt, dem Suhrkamp-Ver- des Völkermords an den Juden entscheidet: Wer sagt, wie die Lage ist – und mit lag in Frankfurt. Freilich hat die kritische Gesellschafts- welchen Worten? Es ist kein Zufall, dass die großen intheorie der Gründerväter Adorno und Horkheimer („Dialektik der Auf- tellektuellen Auseinandersetzungen der klärung“) sich längst ihrer Radikalität letzten Jahre stets eher von „rechts“ denn entledigt und ist, nicht selten auch in ei- von „links“ angezettelt wurden – von nem verwaschenen Mainstream-Konsens, einem aus alten Tiefen schöpfenden als diffus-linksliberales Dauerunbehagen Kulturpessimismus, der an der ökonoan der Wirklichkeit tendenziell mehr- mistisch-profanen Massendemokratie heitsfähig. Es scheint gerade diese eher westlichen Zuschnitts irre wird und, grübverhaltene Ratio von reformistischer Kri- lerisch-raunend, nach neuen (oder ganz tik und kommunikativer Skepsis zu sein, alten) Ufern sucht. Jede geistige Provo- 306 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 kation muss sich daher auf gleich zwei Objekte stürzen: auf die vermeintlich vorherrschende Denkweise (samt ihrer Theoretiker) und auf ihre Interpretation der nationalsozialistischen Vergangenheit – samt ihren Folgerungen. Es ist offenkundig, dass Sloterdijk beide Ziele ins Visier genommen hat, indem er mit Begriffen wie „Selektion“ und „Menschenzüchtung“ hantierte und die Kritik an seiner frivolen Fascho-Semantik als hysterische Anfälle eines jakobinischen Antifa-Alarmismus denunzierte, dessen Denken sich in Reflexen erschöpfe. Dass sich seine eigene Denkweise in raunender Andeutung künftiger Horizonte der „Menschenproduktion“ unterm Banner fortgeschrittener „Anthropotechniken“ erschöpft, spielt dabei keine Rolle. Schon vor einigen Jahren hat der geübte Provokateur des Zeitgeists in einem Bändchen unter dem Titel „Selbstversuch“ darüber räsoniert, „was ein Autor tut, indem er gefährliche Ansichten von gefährlichen Stoffen ausprobiert“ – er sucht die „Chance zum Metaskandal“ in Erwartung altlinksliberaler „Entrüstungsreflexe“, die im Handumdrehen seine These beweisen sollen: Ein letztes Mal heult hier, vom Heranrauschen des Neuen schwer getroffen, das alte morsche Denken auf – doch seine Zeit ist abgelaufen. Quod erat demonstrandum. Auch Martin Walser bediente sich vor Jahresfrist dieses assoziativen Zirkelschlusses – auch er attackierte den linksliberalen Common Sense, auch er führte die „Unschärfe im Umgang mit dem Skandalösen als Pose“ vor, wie die „taz“ über Sloterdijk urteilte, auch er fühlte sich missverstanden und von den „Meinungssoldaten“ in den Medien gar mit „vorgehaltener Moralpistole“ verfolgt. Auch Walser kokettierte mit Grenzüberschreitung und Tabubruch, ohne sie tatsächlich zu begründen, das heißt, mit guten Argumenten zu belegen und vor allem: das neue, angeblich befreite Terrain zu skizzieren. Auch bei ihm schwebte allzu vieles zwischen den Zeilen und im Raume, als rhetorische Frage formuliert und letztlich doch als Bekenntnis in die Welt gestoßen: „Bestimmt schon zwanzigmal“ habe er S. MOSES d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 307 DPA „weggeschaut“, wenn im Fernsehen Filme über den Holocaust liefen, jene „Dauerpräsentation unserer Schande“, die das Schreckliche nur „zu gegenwärtigen Zwecken“ instrumentalisiere. Wie Sloterdijk vermischte Walser in seiner literarischen Selbst- und Fremderkundung Analyse und Behauptung auf kaum entwirrbare Weise. Begriffsgranaten wie „Gewissenswarte der Nation“, „Meinungsdienst“ und „Moralkeule“ wirbelten durch die Hirne des Publikums, doch eine neue Klarheit, gar Dichter Walser bei Friedenspreisverleihung (1998): Begriffsgranaten wirbeln durch die Hirne des Publikums eine neue Wahrheit hinterließen sie nicht. Marcel Reich-Ranicki die westlich-konsumistische Mediengeeigenschaften“, von „expliziter Merknannte Walsers Paulskirchen-Bekenntnis sellschaft: „Das Regime der telekratimalsplanung“ und „pränataler Selektion“. schließlich eine „unseriöse Provokation“, schen Öffentlichkeit“, so Strauß, „ist die So tollkühn hat sich, zumindest in der eine „verantwortungslose Rede“: „Das ist unblutigste Gewaltherrschaft und zuWortwahl, noch kein deutscher Intellekder eigentliche Skandal: Sie nennt nicht gleich der umfassendste Totalitarismus tueller über die Tabus hinweggesetzt, die Ross und Reiter“ – stattdessen wimmele der Geschichte.“ Ein Passepartout, das seit Auschwitz in der Bundesrepublik als es in ihr „von unklaren und vagen Darle- auch Peter Handke immer wieder gern unantastbar galten – und das auch noch gungen“, mit denen sie „Argumente für benutzt, um gegen die Verheerungen des pünktlich zum Beginn der „Berliner Redie Stammtische“ liefere. Ein höchst ak- „Amerikanismus“ zu Felde zu ziehen. publik“, während auch die Politik sich von Es liegt in der Logik der intellektuellen tuelles Urteil. der Geschichte zu verabschieden sucht. Jene eigentümliche Verbindung von Skandaldebatte, dass die Lesarten und Schwer vorstellbar, dass Sloterdijk die Bri„Antiliberalismus“, „Angst-, Gefähr- Interpretationen verschieden, ja gesanz seines provokanten Vortrags falsch dungs- sowie Erlösungsdenken“, „Elita- gensätzlich sind, dass mit unzähligen eingeschätzt hat. rismus“ und „Einzelgängertum“ fiel auch Worten und Invektiven aufeinander Dass seine gentechnischen ZüchtungsKritikern von Botho Strauß’ Essay „An- eingedroschen wird, ohne dass Arguphantasien, wissenschaftlich betrachtet, schwellender Bocksgesang“ auf, der 1993 mente zum Zuge kämen, denen alle vorerst eher wirklichkeitsfremd sind, über Monate die Gemüter der Nation Kontrahenten Geltung und Plausibilität spielt dabei eine geringe Rolle. Die „gatzubilligen könnten – mit deren Hilfe gar erregte. tungspolitischen Entscheidungen“, die er „Von der Gestalt der künftigen Tra- ein gewisses Einvernehmen zu erzielen anpeilt, sind auch in seinen Augen noch gödie wissen wir nichts“, schrieb der wäre. Stattdessen geht es allein um die ferne Zukunftsmusik. Was Sloterdijks WiSchriftsteller und Theaterautor ahnungs- Macht des Diskurses, Positionskämpfe dersacher vielmehr auf den Plan ruft, ist voll. „Wir hören nur den lauter werden- und die Bastionen des Zeitgeists. Für die politische Dimension seines Vortraden Mysterienlärm, den Bocksgesang Esprit, für Clarté oder gar Humor ist da ges, der einen prinzipiellen Wechsel in der Tiefe unseres Handelns“. Irgend- kein Platz. Die Sache ist bitterernst. ankündigt: Züchtung statt Erziehung, BioIm Berliner „Tagesspiegel“ ließ Slowann, so prophezeite er in apokalyplogie statt Politik, Rasse statt Klasse. tischer Rede, werde es zu einem „gewal- terdijk schon mal erkennen, dass er sich „Er hätte sich bewusst sein müssen, seine Kritiker, blitzgescheitigen Ausbruch gegen den dass hier eine sehr hohe Sensibilität bete und niveauvolle BurSinnenbetrug“ kommen. steht“, sagt der Bioethiker Dietmar Mieth schen wie er selbst, für die Auch er polemisierte wie von der Katholisch-theologischen Fakultät nächste Großdebatte lieber die Romantiker, Antimoder Universität Tübingen und wirft Slogleich im Biolabor herandernisten und Gegenaufterdijk ein „Defizit an Bedächtigkeit“ vor. züchten werde: „Wenn ich klärer des 19. und 20. Jahr„Im provokativen Sinn“, meint der ehean meine völlig naturbelashunderts gegen die „Totalmalige DDR-Bürgerrechtler Reich, sei senen Denunzianten denherrschaft der Gegenwart“, „die jetzige Aufregung sinnvoll“ – aber ke“, so Sloterdijk wörtlich, gegen die „öffentliche Inauch er fügt hinzu: „Die ganze Tradition „würde ich allerdings wüntelligenz“ der „gewitzten gefällt mir nicht, in der das daherkommt.“ schen, die Kunst, gebildete und zerknirschten GewisFestzustellen bleibt, dass keineswegs und sympathische Mensenswächter“, gegen den erst mit dem NS-Rassenwahn die Ideen schen hervorzubringen, „Drill des Vorübergehenvon erblicher Manipulation und Menwäre doch schon ein wenig den“ und das „Ausmerzen schenzucht in die Welt kamen. Der Traum, weiter.“ mythischer Zeit“. dass im Zuge eines umfassenden WanVoilà, Züchters Traum, Auch bei ihm gipfelt die dels der Gesellschaft auch jeder Einzelne tomorrow’s world. It’s just a konservative Kulturkritik zum Idealwesen mutieren müsse, hat im zombie. im maßlosen Urteil über Autor Strauß Abendland eine lange Tradition. Reinhard Mohr Stichwortgeber vieler Utopisten wurde der Athener Platon, der um 375 vor Titel Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden Menschen“ – das Christentum, so Nietzsche später abfällig, sei dagegen „Heerdenthier-Züchtung“. Zwar meinte er mit „Züchtung“ und „Zucht“ fast immer strengste, elitäre Erziehung. Aber mit der Zeit machte sich Nietzsche auch Notizen über eine „Verbesserung der Gattung“ selbst. Im Herbst 1881 grübelte er bereits, „ob nicht ein Theil der Menschen auf Kosten des anderen zu einer höheren Rasse zu erziehen ist“, ein „neuer Adel“, wie er bald hinzufügte. In „Also sprach Zarathustra“ trat dann das fatale Wort vom „Übermenschen“ seine Laufbahn an. Noch später zögerte Nietzsche nicht mit dem Vorschlag, „grosse Wagnisse und Gesamt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ,Geschichte‘ hiess, ein Ende zu machen“. Die platten Schlüsse aus solchen Visionen zogen andere – mit bekannten Folgen. Der Dichter Gottfried Benn schrieb im Juni 1933, er erwarte, dass ein Große und schöne Frauen werRassenkunde-Plakat (um 1933): Weltweit bejubelten Experten … neuer „deutscher Mensch“ entden nur mit großen und tüchtistehe, „halb aus Mutation und gen Männern verbunden, dicke Frauen mit Für derlei Fabelziele, glaubte Fourier, halb aus Züchtung“. Nietzsche war zum mageren Männern und schlanke Frauen genüge eine durchgreifende Veränderung Kronzeugen einer wahnhaften Rassenlenmit starkleibigen Männern, damit sie sich der Gesellschaft – ähnliche Doktrinen ent- kungsidee geworden. in erfolgreicher Weise ausgleichen … Im Für deutsche Ohren klingt der Begriff wickelten später auch die Marxisten. ErSchlafgemach stehen schöne Bildwerke ziehung und Indoktrination galten ihnen „Eugenik“ stets und unweigerlich nach eiberühmter Männer. ner der Varianten von Hitlers Züchtungsals Mittel der Menschen-Manipulation. Erst im Zeitalter der Aufklärung setzte Selbst nach Darwins bahnbrechendem und Vernichtungswahn: Im Namen der Eusich dann die Idee vom besseren Menschen Buch über die „natürliche Zuchtwahl“ genik haben die Nazis hunderttausende in den Köpfen fest. Jean-Jacques Rousseau (1859) dauerte es noch 16 Jahre, bis Fried- sterilisiert und Millionen getötet. Doch Eugenik ist keine Erfindung der hatte seinem „Émile“ (1762) eine strikt rich Nietzsche, Griechisch-Professor und natürliche Erziehung zukommen lassen Platon-Kenner in Basel, notierte: „Man Nationalsozialisten. Jahrzehntelang galt sie wollen, damit er so die üblen Begleitum- kann durch glückliche Erfindungen das vielen Wissenschaftlern als Königsweg für stände der Zivilisation umgehe. Als die we- grosse Individuum noch ganz anders und die Zukunft des Menschen. Zu ihren Beniger skeptische Mehrheit den Fortschritt höher erziehen, als es bis jetzt durch die wunderern zählten nicht nur Hitler und als Triebfeder geschichtlicher Entwicklung Zufälle erzogen wurde. Da liegen meine Mussolini, sondern auch Churchill und Roosevelt. Lange vor 1933 entdeckte, tauchte ebenso rasch die Frage wurde eugenisches Gedanauf: Warum sollte der Homo sapiens selbst kengut in rechten wie in linvon ihm ausgeschlossen sein? ken Kreisen akzeptiert, in Los Charles Fourier, Kaufmann und PläneAngeles ebenso wie in Lonmacher, träumte 1808 von einer Zukunft, don oder Berlin. da die Menschen nach strikten Regeln in Francis Galton, ein Vetter Landkommunen lebten, so genannten Phavon Darwin, prägte 1883 den lanstères. Dort würden sie 144 Jahre alt, jeBegriff „Eugenik“ (griechisch der bis zu zwei Meter groß und 200 Kilo im Sinne von: „gut im Erbschwer. Die Begabungen, errechnete der gut“) und definierte ihn als die Frühsozialist, könnten sich geradezu astroWissenschaft der genetischen nomisch steigern: Eine Weltbevölkerung Verbesserung des Menschen von drei Milliarden – damals eine ungedurch Zucht. Seither drängte heure Zahl – brächte ohne weiteres 37 Millionen Dichter von der Qualität Homers, 37 Millionen Mathematiker mit den Geistes* Beamte des Rasseforschungsinstituts gaben eines Newton und zahllose weitere suchen nach Merkmalen des „nordiSupertalente hervor. … das deutsche Modell: Rassenforschung der Nazis* schen Typs“. 308 AKG Christus in seinem Dialog „Politeia“ („Der Staat“) Sokrates die Frage stellen ließ, was Gerechtigkeit sei. Platon entwarf ein streng nach Kasten gegliedertes Gemeinwesen, in dem „Philosophenkönige“ darüber bestimmen könnten, wann und wie „die besten Männer mit den besten Frauen möglichst oft zusammenkommen“ durften. Das Erbgut der Herrenrasse, der „Wächter“, sollte reingehalten, ja möglichst nach Schönheit und Intelligenz gesteigert werden. In die Tat umgesetzt wurde das Programm von antiken Machthabern nie – und ebenso wenig von den Christen im frommen Mittelalter, die nicht daran zu denken wagten, dass das Ebenbild Gottes verbesserbar sein könnte. In den Aufbruchsjahren der Reformation kam dann der britische Kronjurist Thomas More in seinem Staatsentwurf „Utopia“ auf einige Lenkungsideen Platons zurück. Ein Jahrhundert später ersann auch der kalabresische Dominikaner Tommaso Campanella einen „Sonnenstaat“, in dem beste Zuchtbedingungen herrschen: d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel FLASHLIGHT SIPA ker ihre Phantasien ab 1933 hemes Forscher, den Traum von der biomungslos in die Tat umsetzen konnlogischen Verbesserung der Menschten. Rassenhygiene und Eugenik heit endlich anzugehen, der Eingriff wurden Grundbausteine der Hitlerin das Erbgut galt ihnen geradezu als schen Diktatur. ethisches Gebot. Weltweit gründeten Wenige Monate nach Hitlers sich nach der Jahrhundertwende euMachtübernahme wurde das „Gegenische Fachgesellschaften. setz zur Verhütung erbkranken Ihre Vision: Gelänge es, die ÜberNachwuchses“ erlassen. Es hatte die tragung von Krankheits- oder andeZwangssterilisation tausender Schiren schädlichen Genen zu verhinzophrener, Epileptiker, Blinder, Taudern, dann werde die Menschheit ber, Missgebildeter, Alkoholiker und binnen weniger Generationen der geistig Behinderter zur Folge. Erbhygiene in einen völlig anderen Das Ehegesundheitsgesetz verbot Zustand erhoben sein: frei von die Eheschließung von „ErbbelasteKrankheit und Siechtum, frei von Erten“. In Heil- und Pflegeanstalten scheinungen wie Alkoholismus und wurden die Insassen zur „erbbiologiKriminalität, sogar frei von Armut. schen Bestandsaufnahme“ gedrängt Ohne Eugenik, so die neue Heils– die Voraussetzung der Massenverlehre, drohe die genetische Vermülnichtung von psychisch Kranken. lung und der sichere Untergang, mit An „erbgesunde“, nichtjüdische ihr stehe eine glorreiche Zukunft be„Volksgenossen“ dagegen gaben die vor – wie glorreich, das machte der Nazis Ehestandsdarlehen – in der spätere Nobelpreisträger Hermann Hoffnung, damit die Reproduktion Joseph Muller 1935 klar: Im Verlauf von genetisch Höherstehenden anvon nur 200jähriger Menschenzucht, zukurbeln. Am abstrusesten wurde so Muller, sei es „für die Mehrheit der Gedanke der Menschenzüchtung der Bevölkerung möglich, Anlagen im „Lebensborn“ verwirklicht, eivon der Qualität solcher Männer wie nem Geheimprojekt von Himmler. Lenin, Newton, Leonardo, Pasteur, Arische Frauen sollten dort mögBeethoven“ zu besitzen. lichst von SS-Männern geschwängert Eugenik stand selbst bei jenen hoch im Kurs, die später ihre Opfer Proben in Samenbank: Nobelpreis-Gene aus dem Katalog werden und arisch-erbreinen Nachwuchs in Serie produzieren. wurden: Der deutsche Zionist ArDamals jubelten viele Experten in der thur Ruppin forderte 1919 eine „Auslese Hund bringen – künftige Amerikaner würdes Menschenmaterials“ zur Besiedlung den „dunkler in der Pigmentierung, kleiner Welt dem deutschen Modell zu. DeutschPalästinas – nur solche Juden von beson- in der Statur, unbeständiger“ und „stärker land, so hieß es in „Eugenical News“, dem derer „körperlicher, beruflicher und mo- Verbrechen wie Diebstahl, Kindesent- Blatt der internationalen Eugeniker-Geralischer Beschaffenheit“ sollten in das Ge- führung, Gewalttätigkeit, Mord, Vergewal- meinde, sei viel weiter als andere Länder tigung und Lasterhaftigkeit verfallen“. in der „biologischen Fundierung des nalobte Land eingelassen werden. Um dergleichen abzuwenden, schreck- tionalen Charakters“. Das deutsche SteriDie damaligen Eugeniker waren keineswegs nur jene Chauvis und Wegbereiter ten die USA vor der „negativen Eugenik“ lisationsgesetz, so hieß es 1933, stelle einen der nationalsozialistischen Vernichtung, als nicht zurück. Massenhaft ließen sie in den Meilenstein dar in der eugenischen „Kondie sie heute erscheinen. Viele von ihnen zwanziger und dreißiger Jahren Menschen trolle der menschlichen Fortpflanzung“. waren ernsthafte, bekümmerte Sozialre- sterilisieren, die angeblich Träger schlech- Bis zum Kriegseintritt der USA 1941 floss formatoren, die hofften, mittels Eugenik ter Gene waren. Gleichzeitig wurden Ein- amerikanisches Geld in die eugenische Foreine bessere Welt zu schaffen, in der Eu- wanderer penibel auf die vermeintliche schung der Deutschen. Erst nach Kriegsende, als das Entsetzen genik sahen sie eine Grundlagenwissen- Qualität ihres Erbguts untersucht. In Deutschland hatte sich die eugeni- über Auschwitz und den Umfang eugenisch schaft der Sozialpolitik. In den USA wurde schon 1910 das Eu- sche Forschung nicht anders entwickelt als inspirierter NS-Verbrechen sich verbreitegenics Record Office gegründet, finanziert in anderen Ländern auch – nur mit dem te, galt die Eugenik weltweit als diskredivon Stiftungsmillionen unter anderem der Unterschied, dass die deutschen Eugeni- tiert. Nur einige Biologen und Mediziner mochten sich von dem Gedanken Carnegie Institution. Forscher arnicht lösen. Der Amerikaner Mulbeiteten an Studien zur Vererbler zum Beispiel, Medizin-Nobelbarkeit von „Nomadismus“, von preisträger des Jahres 1946, be„Unbeholfenheit“ und sogar von harrte darauf: Wolle man der Wei„Liebe zum Meer“, die sie besonterverbreitung schädlicher Erbanders oft bei Marineoffizieren lagen Einhalt gebieten, müssten glaubten nachweisen zu können. drei Prozent der Bevölkerung Wer arm war, galt damals die„von der Fortpflanzung eliminiert sen Forschern nicht als Produkt werden“. 1962, bei einer hochgesellschaftlicher Verhältnisse, karätig besetzten Konferenz zur sondern als Träger ungünstiger Zukunft des Menschen, trat MulMoral- und Lern-Gene. Charles ler als Wortführer hervor – aufs Davenport, einer der führenden Neue berauschten sich die GeneUS-Eugeniker, sah daher schwarz tiker an den alten Theorien. für die Zukunft der USA. Der Niemand hat den Schrecken „große Zustrom von Blut aus Südüber die eugenischen Phantasteosteuropa“, so schrieb er, werde das US-Volk genetisch auf den Frühgeborenes im Brutkasten: Der Mensch als Modelliermasse reien besser auf den Punkt ge310 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel DPA GAMMA / STUDIO X Zwar hat die pränatale Gendiagnose ihren festen Platz im klinischen Alltag gefunden. Doch beschränkt sie sich darauf, in den vergleichsweise seltenen Fällen, in denen eine erbliche Belastung der Eltern bekannt ist, die Frucht im Mutterleib zu untersuchen. Und als einzige „Therapie“ für die diagnostizierte Krankheit bietet sie die Abtreibung an. Noch weniger Erfolge kann die sogenannte somatischen Gentherapie vorweisen. Als der Pionier French Anderson 1990 erstmals ein erbkrankes Mädchen mit einem intakten Gen behandelte, sprachen Beobachter von einer Zeitenwende in der Medizingeschichte. Inzwischen klagt selbst James Watson, ehedem einer der glühendsten Verfechter dieser Methode: „Wenn wir auf Erfolge warten wollen, warten wir, bis die Sonne erlischt.“ Die Biologie erwies sich als weit komplexer, als es der Optimismus der Forscher hatte wahrhaben wollen. Doch nicht Enttäuschung macht sich unter Watson und seinen Mitstreitern breit. Im Gegenteil: Die bisherigen Versuche, so die LehGentherapeut Anderson: Zeitenwende in der Medizingeschichte? re, die sie aus den Misserfolgen der Verbracht als Aldous Huxley in seinem geln. Begeistert begrüßten die meisten Me- gangenheit zogen, seien nicht weit genug Roman „Schöne neue Welt“ (1932). Die diziner die Genforschung. Nun schien es gegangen. Den Durchbruch versprechen sie sich darin geschilderte Herrschaft von Alpha- endlich möglich, auch die bisher so hartMenschen über die mit einer Glücksdroge näckigen und unbesiegbar scheinenden nun von der sogenannten Keimbahnruhig gestellten Arbeitssklaven der Retor- Übel bei der Wurzel zu packen. Denn alle therapie – bereits in der befruchteten ten-Gammas, -Deltas und -Epsilons wurde Biologie, so die Doktrin der neuen Wis- Eizelle müsse der Genchirurg eingreifen. senschaft, hat ihren Ursprung in den spi- Auf dem Programm steht damit erstmals zum Sinnbild der Gen-Diktatur. in der Geschichte der wahrhaft genmaniHuxleys visionäre Kraft ist umso be- raligen Bauplan-Molekülen. Aber hält die angekündigte Revolution, pulierte Mensch. „Wenn wir bessere merkenswerter, als er noch nichts wissen konnte von der Sprache der Gene. Bis die was sie verspricht? Dämmert die Ära einer Menschen herstellen könnten durch das beiden Wissenschaftler Francis Crick und alle Krankheiten niederringenden Medizin Hinzufügen von Genen“, so Watsons erJames Watson mit Pappmodellen von Ba- herauf, die schon im Erbgut den krankma- klärtes Ziel, „warum sollten wir das nicht tun?“ senmolekülen herumgespielt und schließ- chenden Faktoren zu Leibe rückt? Bisher fällt die Bilanz nüchtern aus. 20 Noch ist allerdings gänzlich ungewiss, lich ein spiralförmiges Gebilde zusammengepuzzelt hatten, waren alle Eugenik- Jahre lang blieb die Genmedizin weitge- ob dieses Programm von mehr Erfolg geVerfechter auf die archaische Methode der hend das, was sie an ihrem Ursprung war: krönt sein wird als alle früheren. Es scheint eine Ankündigungs-Wissenschaft. Fast durchaus möglich, ja vielen sogar wahrViehzüchter verwiesen. Inzwischen ist die Doppelhelix zur Iko- täglich finden sich die Fanfarenstöße der scheinlich, dass sich auch hier die Biologie ne einer ganzen Wissenschaft geworden: Genforscher in der Presse. Und doch si- den Visionären verweigert. Bisher haben die Genforscher allenfalls das molekulare Substrat alles Vererbbaren gnalisieren Worte wie „Hoffnung“, „Erund damit zugleich jener Rohstoff, aus dem wartung“ oder „Möglichkeit“, dass die an der Oberfläche das unermesslich komsich neue, verstiegene Pläne für das Men- medizinische Ernte der wissenschaftlichen plizierte Wechselspiel der Moleküle im Entdeckungen auf eine ungewisse Zukunft Körper verstanden. Jeder Eingriff in dieses schen-Design schmieden ließen. Räderwerk der Natur könnte Folgen nach Es dauerte weitere 20 Jahre, bis auch vertagt wird. sich ziehen, die niemand abdas Rüstzeug bereitstand, mit dem sich dieschätzen kann. ser Rohstoff bearbeiten ließ: Seit Anfang Gene, die bei Menschen der siebziger Jahre können Biotechniker Krankheiten verursachen, sind den Erbgutstrang auch zerschneiden und von der Evolution nicht erneu zusammenkitten. Im Reagenzglas dacht worden, um sie zu entstanden Tabakpflanzen, die dank eipiesacken. Die Anlage zur ner Genspende vom Glühwürmchen leuchZuckerkrankheit etwa, so nehten, und breitschultrige Mäuse mit Hühnermen die Forscher an, ist einst genen. als Anpassung an Hunger entDen Medizinern kam die Geburt der standen. Träger der DiabetesGentechnik sehr zupass: Es schien sich eine Gene konnten die Nahrung neue Perspektive zu eröffnen, um den in den siebziger Jahren ins Stocken geratenen besser verwerten und waren Fortschritt der Heilkunst wieder zu beflüdeshalb eher im Stande, Notzeiten zu überstehen. Gentechniker, die solche Gene * In Boston züchteten Forscher 1995 aus Menschenzeltilgen wollen, setzen damit len eine Ohrmuschel und transplantierten sie in den womöglich aufs Spiel, dass Maus mit Menschenohr*: Eingriff in die Natur Rücken einer felllosen Maus. 312 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel dereinst möglicherweise dämmernde Ära der Menschenzucht aufzustellen vermag; die Frage lautet vielmehr, ob sie diesen von der Naturwissenschaft insinuierten Wandel des Menschenbildes nur hinnimmt oder ihm etwas entgegenzusetzen hat. Um nicht von philosophischen Bedenken belästigt zu werden, haben die Biologen zunächst in den USA ihre eigenen Philosophen gekürt: Innerhalb der letzten 25 Jahre hat sich die Disziplin der Bioethik entwickelt, deren erklärte Aufgabe es ist, Handlungsanweisungen zu geben, wie mit den neuen Techniken aus dem Biolabor umzugehen sei. Als Import aus den USA hat sich die junge Disziplin inzwischen auch in Deutschland etabliert. In Bonn, Freiburg, Göttingen und Tübingen wurden BioethikZentren gegründet. Philosophisch betrachtet, ist die Formation eines neuen Ethikzweiges ein weit rei- medizinischen Väter des Retortenkindes Louise Brown: „Die Ethik muss sich der Wissenschaft anpassen, nicht umgekehrt.“ Wohin die damit verbundene langsame Erosion aller humanen Prämissen führen kann, zeigt die Argumentation des umstrittenen Bioethikers Peter Singer, der gerade seine Professur an der Elite-Universität Princeton angetreten hat: Debile stellt er, aus ethischer Sicht, auf eine Stufe mit Schimpansen und erklärt die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener für zulässig. Zum Amtsantritt in der letzten Woche verglichen ihn Demonstranten in Rollstühlen auf Plakaten mit Hitler. Die Strategie, dass mit der künftigen Manipulationstechnik der Weg geebnet wird, exerzieren die Gentechniker und ihr bioethisches Gefolge derzeit beim Eingriff in die Keimbahn vor. Nur wenige Jahre ist es her, da dies unumstritten als letzte Grenze galt, welche die Genforscher niemals überschreiten wollten. Vor zwei Jahren dann schien den US-Wissenschaftlern die Technik fortgeschritten genug, um an dem Tabu zu rütteln. Nahe Washingtons versammelten sie sich zur ersten „Gene Therapy Policy Conference“. Erklärtes Ziel: Vorgaben für den Eingriff in die menschliche Keimbahn zu erarbeiten. Die Experten schickten sich an, die alte Utopie vom besseren Menschen in die Tat umzusetzen. Und sie waren überzeugt, diesmal das technische Werkzeug dafür in Händen zu halten. Zugleich aber wussten sie, welch erbitterte politische, ethische und religiöse Widerstände sie würden brechen müssen. Deshalb zogen sie sich auf eine Strategie zurück, die sich immer wieder als erfolgreich erwiesen hat: Sie zerlegten den epochalen Schritt zum Menschen-Design in viele kleinere Etappen, die sich jede für sich leichter bagatellisieren lassen. Denn die Akzeptanz für ihr Jahrhundert-Unterfangen wird nur in Raten zu erlangen sein. Zunächst, so beteuern sie, sei einzig die genetische Korrektur einiger weniger schwerer Erbkrankheiten in Reichweite. Und wer könne dies verurteilen? Wer Patienten am Tay-Sachs-Syndrom, an Muskeldystrophie oder Chorea Huntington habe leiden sehen, der könne kaum bestreiten, dass es ein Segen wäre, wenn sich diese Leiden gentherapeutisch ausmerzen ließen. „Wir sind uns doch einig, dass dies Fehler der Natur sind, schreckliGAMMA / STUDIO X Menschen sich künftig an eine veränderte Umwelt nicht mehr anpassen können. Andere Erbkrankheiten werfen bereits für die Lebenden eine Art Dividende ab. Die Sichelzellenanämie beispielsweise breitete sich im südlichen Afrika aus, weil das defekte Gen einen Schutz bietet vor der tödlichen Malaria tropica. Ähnliche Geflechte im Erbgut bestehen zuhauf: Kein Gentechniker könnte absehen, welche Kettenreaktionen er entfacht, wenn er in diese Mechanismen eingreift. Doch so vage die Aussicht auf den Zuchtmenschen aus der Bioretorte auch sein mag, so unübersehbar ist in der Wissenschaft die Debatte über ihn entbrannt. Unverhohlen suchen ihn die Visionäre der Genmedizin zunächst in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Zumindest eines scheint ihnen dabei schon jetzt zu gelingen: Die Naturwissenschaften sind im Begriff, das Bild vom Menschen zu wandeln. Klonschaf Dolly, Schöpfer Wilmut: „Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel“ Die langsame Neudefinition vollzieht sich in den nüchternen Protokollen der Wissenschaftsmagazine, in denen die Bandenmuster der Genforscher, die monotonen Buchstabenabfolgen der Gensequenzen und die kryptischen Kürzel zu sehen sind, mit denen die Abschnitte der Erbgutmoleküle bezeichnet werden. Unbeirrt von allen bisherigen Misserfolgen, fahren sie fort, nach dem molekularen Substrat von Intelligenz, Aggressivität oder Partnertreue zu fahnden. Die Vielfalt des Lebens wird so auf genetische Information reduziert; das Hirn, ehedem Sitz einer Seele, wird zur „wetware“ (in Analogie zur Soft- und Hardware der Computer) degradiert. Für die Philosophie stellt sich damit weniger die Frage, ob sie die Regeln für eine 314 chender Schritt. Denn so tiefgreifend Chemie, Atom- oder Informationstechnik die Welt auch verändert haben mögen, keine dieser Wissenschaften brachte eine eigene Ethik hervor. Allein die Biologie misst sich eine Sonderrolle zu – weil sie sich mit dem Wesen des Menschen selbst befasst. Mit der Formulierung einer Bioethik hat sich, von vielen unbemerkt, das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik umgekehrt. Die in der deutschen Philosophie wurzelnde Ethik geht von einem Verständnis von der Natur des Menschen aus und leitet daraus Kriterien für das Handeln ab. Ganz anders die aus den angelsächsischen Ländern stammende Bioethik. Niemand hat dies prägnanter auf den Punkt gebracht als Robert Edwards, einer der d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel SABA che Krankheiten mit einer simplen Ursa- Menschen betrachten“, beteuerte Watson che“, beschwor der Genmediziner Theo- bei seiner Berliner Rede. „Nie wieder dürdore Friedmann seine Kollegen. fen sie zu Dienern politischer und sozialer Ist aber einmal dieser erste Schritt getan, Planer werden.“ dann werden sich die Forscher dem nächsGenau dieses Gebot aber ist mit dem ten zuwenden – und sich dabei auf den Eingriff in die Keimbahn in Gefahr. Zum eiersten berufen: Wenn die Korrektur eines nen liegt es im Wesen dieser Methode, dass Krankheitsgens zulässig ist, warum sollte andere – Eltern, Ärzte oder der Staat – das Ausschalten eines Gens, welches das über die Genausstattung zukünftiger MenRisiko für Krebs oder Alzheimer in sich schen befinden. Der Einzelne ist dem Urbirgt, verboten sein? Und was schließlich teil seiner Schöpfer ausgeliefert. ist daran zu verdammen, wenn Eltern Zum anderen eignet sich die Keimihrem Kind mehr Intelligenz mit auf den bahnmanipulation geradezu ideal, um die Lebensweg geben wollen? uralte Utopie von der gezielten VerbesseBestandteil des Werbefeldzugs für das rung des Menschen zu verwirklichen – und Projekt des Menschen aus der Genretorte damit wird sie zum Instrument der Macht. ist es auch, die zögerlichen Deutschen für Auch in Sloterdijks Elmauer Rede klanden großen Plan zu begeistern. Dies war gen solche Untertöne deutlich an. Sloterbezweckt, als James Watson 1997 bei einer dijks Vortrag ist durchtränkt von Begrifmolekularbiologischen Konferenz in Berlin fen, die den Verdacht wecken, er mache seinen deutschen Kollegen zurief: „Es ist sich für eine gezielte, politische Menan der Zeit, Hitler hinter uns zu lassen.“ schenzucht stark. In der Tat verläuft die Debatte über die „Zucht“ setzt einen „Züchter“ voraus, Fortschritte der Humangenetik, Gentech- der eugenische, rassische Ziele verfolgt. nik und Reproduktionsmedizin in Deutsch- Wenn Sloterdijk von „gattungspolitischen land anders als in jedem anderen Land. Entscheidungen“ und „Regeln für den Men„Die Diskussion hat die schenpark“ spricht, dann Form, die sie in der Bunlassen sich diese Worte desrepublik immer hat: kaum anders deuten. leicht hysterisch“, konAndere, die sich an der statiert Molekularbiologe Debatte jetzt beteiligen, Reich angesichts des warnen vor allzu großen Streits um Sloterdijk. Berührungsängsten. „So Verwirrt nehmen die was muss auf den Tisch“, Deutschen wahr, wie biosagt Jens Reich. „Es ist logische Fragen die politibesser, die Diskussion in schen Fronten bröckeln der Öffentlichkeit zu halassen. Gleichgültig, ob es ben, weil das Probleme um die Abtreibung erbsind, die auf uns zukomkranker Föten geht, um men.“ das Lebensrecht beatmeDer Bonner Hirnforter Hirntoter mit schlascher Linke geht noch eigendem Herzen oder um nen Schritt weiter: „Dass die Vision vom gentechwir einmal in das Unbenisch verbesserten Menwusste runtersteigen, wie schen: Stets finden sich Erzeugung eines Klons im Labor Sloterdijk das vorgeführt die Linken in einer eigenhat, ist sicher gut.“ Allerartigen Koalition mit der katholischen Kir- dings müsse man danach „auch wieder ins che wieder. Die von der Faschismus-Erfah- Bewusste einsteigen“. rung traumatisierten Linken wie die kon„Problematisch“ findet auch Linke, dass servativ-religiös argumentierenden Rech- Sloterdijk „das Vokabular des Rassismus ten verstehen sich, wenn es um bioethische benutzt, ohne sich wirklich davon zu disFragen geht, als Hüter der Menschennatur. tanzieren“. Ein „Skandal“ sei im Übrigen Damit stoßen sie bei den von amerika- „die Verbindung mit Heidegger“. nischem Pragmatismus geleiteten BioethiDass der Menschenplaner aus Karlsruhe kern meist auf Unverständnis. Für diese ist eine Diskussion angestachelt hat, der sich mit der voranschreitenden Wissenschaft die Gesellschaft am Ende dieses Jahrhunauch das Bild in stetem Flusse, das man derts zu stellen hat, wird von kaum jemand sich von der Natur des Menschen zu ma- bestritten. Ob sein Beitrag hilfreich ist, chen habe. Jede neue Technik erfordere umso mehr. eine neue Debatte darüber, welche Form „Ich muss gestehen“, schreibt der Phider Menschen-Manipulation ethisch zuläs- losoph Tugendhat über die Sloterdijksig oder verwerflich ist. Rede, „dass ich nicht verstanden habe, Ein einziges moralisches Gebot gilt es worum es dem Autor überhaupt geht. Was nach Auffassung der US-Bioethiker zu be- will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas herzigen: Dem Einzelnen müsse das Recht in diesem Aufsatz, was wir jetzt besser vervorbehalten bleiben, selbst über die An- stehen würden?“ Resigniert konstatiert er: wendung neuer Methoden zu entscheiden. „Ich habe nichts gefunden.“ Marco Evers, Klaus Franke, Johann Grolle „Genetiker müssen sich als Diener der 316 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Titel „Der Mensch droht zu stolpern“ Der Bonner Philosoph und Bioethiker Ludger Honnefelder über Genexperimente mit Föten, die Irrungen seines Kollegen Sloterdijk und die Renaissance einer naturwissenschaftlich aufgeklärten Moral SPIEGEL: … Sie meinen das er- H. G. OED folgreiche Klonen des schottischen Schafs … Honnefelder: … ein neues Kind zeuge, das mit dem verstorbenen genetisch identisch ist, einen zeitversetzten eineiigen Zwilling sozusagen, dann nehme ich diesem Kind das Stück Freiheit, das im Zufall liegt. SPIEGEL: Aber die Genetik möchte die Macht des Schicksals begrenzen. In der vorgeburtlichen Diagnostik zum Beispiel. Dort erhoffen sich viele Eltern Auskunft über mögliche Behinderungen ihrer Kinder. Was ist daran aus Sicht eines Ethikers problematisch? Honnefelder: Hier kann es zum Konflikt zweier grundlegender Güter kommen. Die große Gefahr ist eine ungewollte Eugenik von unten. SPIEGEL: Gibt es noch andere Bedenken der Philosophen gegen die Genmedizin? Honnefelder: Bei der Keimbahntherapie zum Beispiel … SPIEGEL: … die bedeutet, dass ein Eingriff an den Genen vorgenommen wird, der auch die zukünftigen Kinder prägt … Honnefelder: Ja, Befürworter sagen, diese Intervention in das Genmaterial sei gerechtfertigt, wenn der zukünftige Mensch eine so schwere Krankheit hätte, dass man unterstellen kann, dass er als Betroffener sie nicht wollen kann. Dann, so sagen manche, wäre es doch geradezu die Pflicht des Arztes, diese Therapie anzuwenden. SPIEGEL: Was als „Krankheit“ gilt, ist allerdings soziokulturell bestimmt. Honnefelder: Eben hier beginnt das Problem. SPIEGEL: Vielleicht wäre Händel nie zur Geburt zugelassen worden – er war Epileptiker. Honnefelder: Das ist der Grund für mich, einer solchen Argumentation nicht zuzustimmen. Wir müssten ein wirklich eindeutiges Kriterium für eine schwere Krankheit haben. Dass einer den Veitstanz als genetische Disposition seinen Nachkommen nicht wünscht, leuchtet ein. Aber wie steht es mit Zwergwüchsigkeit, bestimmten Philosoph Honnefelder: „Die Natur ist keine Blaupause“ Honnefelder, 63, lehrt an der Universität Bonn Philosophie und ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik. In mehreren Beratergremien untersucht er mit Medizinern und Biologen die moralischen Probleme der modernen Gentechnik. SPIEGEL: Herr Professor Honnefelder, Ihr Kollege Sloterdijk will allen Ernstes die Zähmung der Bestie Mensch durch genetische „Züchtung“ erreichen. Versagen die Philosophen als seriöse Kritiker der Biotechnologie? Honnefelder: Dass Gentechnik und Biotechnologie die größte ethische Herausforderung der Gegenwart sind, ist längt bekannt. Der Rat der Philosophen wird gesucht. SPIEGEL: Zum Beispiel? Honnefelder: Ein Anruf der urologischen Abteilung einer Universitätsklinik mit der Frage: „Dürfen wir dem Wunsch einer Patientin entsprechen und den Samen ihres gerade bei einem Unfall ums Lebens gekommenen Ehemanns übertragen? Wir werden von dem Wunsch der Patientin bedrängt und wissen nicht, was wir tun sollen.“ SPIEGEL: Hatten Sie Mitleid? Honnefelder: Natürlich. Aber das Interesse des Kindes hat Vorrang. Deshalb verbietet das deutsche Recht solche Übertragung. SPIEGEL: Gilt die Zustimmung aller Betroffener als Voraussetzung und Grenze des Machbaren? Gerade beim Klonen, also dem genetischen Kopieren eines Menschen, könnte die Zustimmung doch gar nicht eingeholt werden? Honnefelder: Durch Klonen würde ein Mensch hergestellt, der zum größten Teil eine Kopie eines Genoms eines anderen Menschen ist. Ihm würde etwas genommen, was bisher zur natürlichen Ausstattung eines Menschen gehört: dass seine Abstammung sich dem Zufall der Kombination des elterlichen Erbguts verdankt. Er würde aus der genetischen Lotterie herausgenommen und der Verfügung durch einen Dritten ausgeliefert. SPIEGEL: Warum erzeugt ein geklontes Wesen Angst? Honnefelder: Es ist die Fremdbestimmung, die im Klonen liegt, die die Ablehnung begründet. Wenn ich ein Kind, das ich durch einen Unfall verloren habe, wieder zum Leben erwecken will, indem ich mit Hilfe des Dolly-Verfahrens … d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 317 Titel 318 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Honnefelder: Dabei geht es um die Fra- ge, ob man „überzählige“ Embryonen als Zwischenstationen benutzen darf, um daraus dann Gewebe und Organe zu züchten. SPIEGEL: Wie haben Sie ethisch argumentiert? Honnefelder: Wir betrachten den menschliche Embryo als ein Lebewesen, das dem mit der Menschenwürde verbundenen Schutz und damit dem Instrumentalisierungsverbot unterliegt. Selbst wenn es um höhere Zwecke ginge, darf ein menschliches Lebewesen nicht instrumentalisiert werden. SPIEGEL: Sloterdijk fragt, was der Humanismus zur Zähmung des Menschen überhaupt noch leisten kann. Honnefelder: Es ist doch umgekehrt: Wir brauchen die Idee der Humanität mehr denn je. Das Argument, dass das Projekt des Humanismus durch Menschenzüchtung abgelöst werden soll, widerlegt sich schon dadurch, dass sich die Genetiker über die Ziele einig werden müssten – und dann wären wir wieder bei der Frage nach der Humanität. Genetiker wie Ethiker müssten erst einen Konsens über den gewünschten, den wünschbaren Menschen erzielen. Dass wir auf das Expertenwissen der wenigen, kundigen Ideenfreunde zurückgreifen sollen, wäre eine Lösung, die durch die Philosophiegeschichte längst als widerlegt gilt. SPIEGEL: Kommt die öffentliche Diskussion in Deutschland nicht viel zu spät? Honnefelder: Sie hat inzwischen intensiv eingesetzt, doch gibt es immer noch die Tendenz zu Schwarzweißmalerei. Manche verfahren nach dem Motto: Wenn die Dinge zu komplex sind, vermeidet man die Diskussion lieber ganz und ruft nach Verbot. Oder man folgt einfach dem zynischen Argument: Was technisch möglich ist, wird sowieso gemacht. SPIEGEL: Woran liegt das? Honnefelder: Wir müssen angemessene Formen für ethische Auseinandersetzungen in Wissenschaft und Gesellschaft finden. Die Probleme der Gentechnik treffen uns in einer Situation, in der viele geglaubt hatten, die Moral zu einer Privatsache erklären zu können oder sich auf rechtliche Regelungen zu beschränken. Nun entdecken wir, dass die Moral der „Preis der Moderne“ ist, wie Otfried Höffe sagt. Die Menschheit hat Jahrtausende gegen den Widerstand der Natur angekämpft, diesem Widerstand sein Leben abgerungen. Nachdem der Widerstand der Natur in wichtigen Teilen weggefallen ist, droht der Mensch nach vorne zu fallen und zu stolpern. Nicht mehr die Natur setzt ihm Grenzen, er muss sich selbst Grenzen setzen. J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS Augenfehlern? Wo ist die Grenze? Von den SPIEGEL: Hegel sagt, dass die Philosophie Menschenversuchen, die erforderlich wä- ihren Flug immer erst in der Dämmerung ren, ganz abgesehen. beginnt, also wenn es schon spät ist. Muss SPIEGEL: Ästhetischen Bedürfnissen soll die nicht Ihr Fach – gerade bei einer so stürmisch sich entwickelnden Wissenschaft wie Gentherapie also auf keinen Fall dienen? Honnefelder: Weltweit ist man sich einig, der Humangenetik – hinterherhinken? dass auf jeden Fall die Verbesserung von Honnefelder: Die Gefahr, immer zu spät zu wünschenswerten Eigenschaften wie bei- kommen, ist zweifelsohne gegeben. Aber spielsweise Eingriffe zu Gunsten eines bes- bei der Entwicklung der Gentechnik hat seren Aussehens oder Gedächtnisses ver- die kritische Reflexion sehr früh eingesetzt. boten werden müssen. SPIEGEL: Mit welchen Ergebnissen? SPIEGEL: Ihr Kollege Sloterdijk überschrei- Honnefelder: Die Keimbahnintervention ist tet doch diese Grenze, wenn er bessere in Deutschland durch das EmbryonenMenschen züchten will. Ist seine Vorstel- schutzgesetz verboten und auch nach der lung im Kern faschistisch? Menschenrechtskonvention des EuropaHonnefelder: Die von Sloterdijk ins Gespräch gebrachte Menschenzüchtung beruht auf einer viel zu deterministischen Vorstellung von Genetik, die nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht. Dahinter steht ein völlig falsches Verständnis von Natur, als sei sie nach einer Blaupause gemacht, bei der man bestimmte fehlerhafte Einzelheiten reparieren kann.Wir wissen heute mehr denn je, dass die Natur ein hochkomplexes Ganzes ist, das die gezielte Erzeugung eines neuen Menschentyps ausschließt. SPIEGEL: Noch oder für immer? Honnefelder: Ich vermute, dass das immer so bleibt. Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Wir werden nach Abschluss des GenomProjekts zwar eine weitgehende Entzifferung des menschlichen Erbguts haben, aber das Zusammenwirken der Gene im Rahmen der Zellbiologie ist bisher noch eine Terra incognita. SPIEGEL: Haben Sie einen moralischen Einwand gegen Sloterdijk? Er schlägt Zwillinge: „Wir brauchen die Idee der Humanität“ ja vor, die Philosophen sollten „aktiv“ werden und in das „Spiel“ der Züch- rats nicht erlaubt. Sie wird weltweit nicht tung des Menschen eingreifen. praktiziert. Honnefelder: Die Absicht von Experten, SPIEGEL: Aber daran wird doch schon geüber andere zu bestimmen, auch wenn sie arbeitet? noch so gut gemeint wäre und erstrebens- Honnefelder: Es ist die Frage, was Sie unter werte Eigenschaften zum Ziel hätte, stellte „arbeiten“ verstehen. Es gibt Experimeneinen Tugendterror dar und verstieße gegen te mit Spermien und unbefruchteten die ethische Selbstbestimmung, die jedem Eizellen. Möglicherweise auch im Früheigen ist. Ein Menschenbild, das „Züchter“ stadium von befruchteten Eizellen. Aber und „Gezüchtete“ unterscheidet, ist ein ele- es wäre mir neu, wenn man versucht hätmentarer Verstoß gegen das Gleichheits- te, solche Experimente bis hin zur prinzip, das darauf beruht, dass jeder das Schwangerschaft und Geburt weiterzuVermögen hat, sittliches Subjekt zu sein. führen. SPIEGEL: Wenn die Philosophen nicht als SPIEGEL: Aber wenn es trotzdem pas„Züchter“ des moralischen Menschen be- siert, würden Sie mal wieder zu spät rufen sind, inwieweit taugen sie als Kon- kommen. Wann ist es Ihnen denn schon trolleure der Genforschung? mal gelungen, der Forschung voraus zu Honnefelder: Die großen moralischen Theo- sein? rien verstehen sich – im Gegensatz zu Slo- Honnefelder: Hinsichtlich der jüngsten, beterdijk und einer bestimmten Platon-In- sonders aktuellen Forschung an menschliterpretation – als Aufklärung des morali- chen embryonalen Stammzellen sind die schen Urteils von jedermann. Es ist ein ethischen Probleme bereits zum GegenMissverständnis, dass die Ethiker so etwas stand gemacht worden, noch bevor die erswie ein Vormund sein könnten. Die Ethik ten Experimente im Humanbereich bekann nur bei der moralischen Urteilsfin- gannen. dung behilflich sein. SPIEGEL: Worum geht es dabei? Interview: Carolin Emcke, Nikolaus von Festenberg Werbeseite Werbeseite B. SCHWARZ / DER SPIEGEL Anthropologe Clarke*: Behutsam wie ein Zahnarzt bei der Wurzelbehandlung ANTHROPOLOGIE Meister des Knochenpuzzles Wie kaum ein anderer vermag der Brite Ron Clarke fossilen Knochen Geheimnisse zu entlocken. Lange wurde er verkannt. Jetzt verhilft ihm das Skelett eines Vormenschen zu Weltruhm. I REUTERS m Schein einer Handlampe legen Ron funden, welches kein Affe mehr war, aber Clarke und seine beiden Assistenten auch noch kein Mensch. Millimeter für Millimeter ein Skelett Vor dreieinhalb Millionen Jahren war frei, das ins Sediment einer Tropfsteinhöhle die Kreatur durch einen schmalen Spalt eingeschlossen ist. Nicht größer als Corn- 22 Meter tief gefallen. Panisch muss sie flakes sind die Stücke, die sie aus dem be- nach einem Ausgang gesucht haben, ehe sie tonharten Gestein meißeln. verendete. Der Sturz selbst Jeder zu kräftige Schlag sei nicht tödlich gewesen, könnte irrtümlich einen versichert Clarke. Denn Knochen zertrümmern. dort, wo das Skelett gefunEs ist kein gewöhnliches den wurde, könne es nicht Skelett, das die drei Mänhingeschlagen sein. Die feiner Stück für Stück aus nen Kalkablagerungen, die dem Felsen schälen. Vollsich zwischen Fels und ständig freigelegt wird es Knochen schoben, verraten einzigartige Erkenntnisse dem Urmenschenforscher über die Menschwerdung des Affen liefern. Denn nie * Oben: Bei Ausgrabung in der zuvor wurde ein so intakter Sterkfontein-Höhle; unten: KnöchelÜberrest eines Wesens ge- Vormenschen-Knochen* fragmente des „Little Foot“. 320 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 zudem: „Es war noch Fleisch auf den Knochen, als Geröllmassen den Körper unter sich begruben.“ Der Affenmensch liegt, eingebettet in einen steilen Hang, auf der rechten Gesichtshälfte. Ober- und Unterkiefer sind zum makaberen Totenkopf-Grinsen erstarrt, die Zähne zusammengebissen. Sein linker Arm ist über den Kopf gestreckt. Das deutet darauf hin, dass er ins Rutschen geraten war und dann versucht hat, sich an einem Felsvorsprung festzuhalten. Beim Sturz in die Tiefe muss er sich den linken Unterarm gebrochen haben, denn Elle und Speiche weisen beide an der gleichen Stelle Brüche auf. Der Rest seines Körpers, Rippen, Wirbelsäule und auch das Becken, sind noch von Fels umschlossen. Seit mehr als zehn Jahren sucht Clarke, 55, nun schon in Südafrikas fossilreicher Sterkfontein-Höhle nach Überresten aus einer Zeit, als der erste Mensch noch nicht geboren war. Die Ausbeute aus den grundwasserreichen unterirdischen Kammern füllt ganze Wandschränke der Universität Witwatersrand im 50 Kilometer entfernten Johannesburg; und in einer unscheinbaren Wellblechhütte am Rande der Ausgrabungsstätte lagern weitere Kisten voller Jahrmillionen alter Relikte: mineralisierte Schädel Blatt fressender Affen, Lianenfossilien, Skelettfragmente ausgestorbener Raubkatzen. Hätte der Anthropologe nicht vor fünf Jahren in einem dieser Kartons vier kieselsteingroße Vormenschenknochen entdeckt, er wäre vermutlich als erfolgloser Knochensucher in die Annalen seiner missgünstigen Zunft eingegangen. Noch Ende vergangenen Jahres schalt ihn sein neuer ehrgeiziger Forschungsleiter als „Mann ohne besondere Fähigkeiten“. Zu diesem Zeitpunkt hatte Clarke seinen Jahrhundertfund längst gemacht. Doch wollte er den Fundort und sich selbst vor einem Ansturm Neugieriger schützen. Und so wussten nur seine beiden Assistenten und seine Frau davon. Den Weg zu dieser größten Entdeckung seiner Karriere hatte Clarke indes schon im September 1994 gebahnt. Damals hatte er Kisten und Kästchen in der Wellblechhütte durchforstet. Er stieß dabei auf vier kleine Knöchelchen, die das Etikett als Antilopenfossilien auswies. Neugierig drehte und wendete er seinen Fund und erkannte plötzlich, dass er versteinerte Knöchel eines linken Vormenschenfußes in Händen hielt. Seine Erkenntnis sollte die gängige Lehrmeinung hinfällig machen, nach welcher der Urmensch erst in der Steppe das aufrechte Laufen erlernte. Der Fuß besaß zwar den für Klettertiere typischen abgespreizten großen Zeh; doch ließ er zugleich den federnden Spann eines Zweibeiners erkennen. Er musste demnach einem Zwitterwesen gehört haben, das sich sowohl von Ast zu Ast schwingen konnte, als auch Werbeseite Werbeseite Wissenschaft 322 d e r Schienbein, das nahtlos an den „LittleFoot“-Fund passte. Auch ein rechter Unterschenkelknochen stammte offensichtlich von demselben Exemplar. Damit wurde Clarke schlagartig klar: Eine Beute von langbeinigen Jagdhyänen oder Säbelzahnkatzen konnte dieser Menschenaffe nicht geworden sein, denn ein Raubtier hätte als erstes Hände und Füße verspeist. Und weil das rechte Schenkelstück eine relativ frische Bruchstelle aufwies, musste der Rest der Leiche noch im Fels der Grotte eingeschlossen sein. Die Füße waren offenbar Ende der zwanziger Jahre weggesprengt worden, als in der Höhle Kalk gebrochen wurde. Der Detektiv im Forscher erwachte. Mit dem aberwitzigen Auftrag, die passende Bruchstelle in einer der Höhlenwände zu finden, schickte Clarke seine Assistenten Stephen Motsumi und Nkwane Molefe in das 80 Quadratmeter große Gewölbe. Nach nur anderthalb Tagen wurden die beiden fündig. Seither ver- J. KUUS / SIPA auf zwei Beinen ging. Und weil die Vegetation an der Fundstelle vor über drei Millionen Jahren eindeutig einer Waldfauna entsprach, bewiesen die „Little Foot“ getauften Knöchel: Dieser Affe war schon im Dschungel gut zu Fuß. Der Coup war nicht der Erste, bei dem sich Clarke als Meister des Knochenpuzzles erwies. Selbst unauffällige Besonderheiten an Schädeln, Wirbeln, Beckenknochen brennen sich in sein Gedächtnis ein wie Feuerzeichen. Immer wieder gelang es ihm, Knochenfragmente zusammenzufügen, von denen niemand sonst vermutet hätte, dass sie ineinander greifen. Dieser Fähigkeit und dem fast zwanghaften Bedürfnis, Ordnung in eine nur noch bruchstückhaft erhaltene Vergangenheit zu bringen, verdankte der gebürtige Brite erste bahnbrechende Erfolge, als er noch ein Neuling auf dem Gebiet der Urmenschenforschung war. Erstmals hatte sich Clarke vor 30 Jahren nach einem Besuch im Transvaal-Museum in Pretoria einen Namen gemacht. In einer Zunft, in der der Weg zum Ruhm normalerweise über ebenso teure wie rare Schürfrechte führt, erregte dies einige Aufmerksamkeit. Dem jungen Mann mit dem Faible für uralte Knochen war aufgefallen, dass es sich bei einem als „Nussknackermann“ (Paranthropus robustus) ausgezeichneten Exponat tatsächlich um den Schädel eines sehr viel jüngeren Verwandten des Menschen handelte. Und nicht nur das: Clarke sichtete ein paar Vitrinen weiter ein Stück Oberkiefer, das perfekt in den falsch bezeichneten Schädel passte. 20 Jahre lang waren die beiden Fragmente getrennt ausgestellt worden. Scharen von Wissenschaftlern hatten sie betrachtet. Niemandem war etwas aufgefallen. „Die meisten Menschen glauben, was man ihnen vorsetzt“, sagt Clarke. „Sie können Form und Gestalt einfach nicht sehen.“ Das Sehen hat Clarke bei dem Entdecker des Nussknackermanns selbst, bei Louis Leakey, gelernt. Von einem Vortrag Leakeys über dessen Fund in der tansanischen Olduvai-Schlucht fasziniert, brach er sein Archäologie-Studium in London ab und folgte dem Forscher in die Steppe Ostafrikas. Leakeys Hominiden-Truppe war berühmt für ihren trainierten Blick; sie stand im Ruf, eine Art „geistiges Radar“ zu besitzen, einen seherisch anmutenden Spürsinn, den bald auch Clarke erwarb. Puzzleaufgaben haben den britischen Anthropologen seither immer wieder fasziniert. Und so ließ ihm auch „Little Foot“ keine Ruhe. In der Hoffnung, weitere Vormenschenüberreste zu finden, durchstöberte er beharrlich sämtliche Kisten mit Fossilientrümmern aus jenem Winkel der Sterkfontein-Höhle, aus dem der Zwitterfuß stammte – lange vergebens. Erst zweieinhalb Jahre später stieß er aus purem Zufall auf weitere Knöchel und ein Wadenbeinstück sowie ein Stück Fußmodelle von Gorilla, Vormensch, Mensch „Es war noch Fleisch auf den Knochen“ bringt Clarke seine Zeit am liebsten unter Tage. Behutsam und präzise wie ein Zahnarzt bei einer Wurzelbehandlung hat er inzwischen eine Gelenkpfanne des Unterarms freigelegt. Sie ist anders gewölbt als die aller bisher bekannten Vormenschenarten. Möglich, dass er eine neue Spezies entdeckt hat. Und weil er gern querdenkt, hofft Clarke, am Ende des Arms „eine Hand mit langen Fingern“ zu finden, wie sie ein Orang-Utan hat. Das würde seiner Detektivarbeit „besondere Würze“ verleihen. Clarke weiß, dass er mit solchen Vermutungen den Spott vieler Kollegen auf sich zieht. Denn falls der Affenmensch am Grunde der Sterkfontein-Höhle tatsächlich dem langarmigen, rotzotteligen Wesen aus Borneo ähnelt, so müsste die Vorgeschichte des Menschen wohl neu geschrieben werden. Der Puzzler Clarke fühlt sich von dieser Vorstellung inspiriert – zumal noch Zeit bleibt für Spekulationen: Es werden Jahre vergehen, bis die unbekannte Leiche vollständig geborgen ist und Clarke das letzte Kapitel seines prähistorischen Krimis schreiben kann. Birgit Schwarz s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Motor und Sport“ nach ersten Testfahrten im vergangenen Oktober, stelle „alles in den Schatten, was bisher als wohlabgestimmte Federung galt“. Auf Autobahnen werde die S-Klasse „zum fliegenden Teppich“. Andere teilten dieses uneingeschränkte Lob jedoch nicht. Ein Tester der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bezeichnete den Komfort der Mercedes-Limousine zwar als „sänftenähnlich“, monierte aber „unpräzises Fahrverhalten“ und „unerwünschte Aufbaubewegungen bei schneller Kurvenfahrt“. Das empfanden viele Kunden offenbar ähnlich. Seit dem Verkaufsstart bekam das Werk zwar nur von 1,5 Prozent der Käufer Neues Mercedes-CL-Coupé: Mit Hochdruck gegen Nickbewegungen kritische Rückmeldungen. Der Inhalt der Kritik war jedoch AU T O M O B I L E häufig gleich. Die Lenker der S-Klasse empfanden das Fahrverhalten als unpräzise, manche hatten gar das Gefühl, in dem schwäbischen Luxuswagen „seekrank“ zu werden. Nach Aussagen eines Mercedes-Sprechers kamen diese Verwöhnte Mercedes-Kunden Eindrücke fast ausschließlich sind von der Luftfederung von Kunden, die vom VorgänMercedes-S-Klasse im Fahrtest: „Glitschige Fuhre“ in der neuen S-Klasse genervt. germodell umgestiegen waren Schwankbewegungen der Karosserie na- und nun „nicht mehr das gewohnte Im CL-Coupé werden jetzt Gefühl der Schwere“ hatten. Die neue hezu vollständig verhindert. wieder Stahlfedern eingebaut. Erstaunlich ist dabei, dass die Stuttgar- S-Klasse ist immerhin um sechs Zentner einerlei Kompromisse sollen die ter Ingenieure ein anderes, erst vor einem leichter als die alte. Gleichwohl gingen die Ingenieure den Premiere des jüngsten und teuers- Jahr in der neuen S-Klasse eingeführtes ten Mercedes trüben. Das neue Fahrwerksprinzip mit dem CL wieder ver- Beschwerden nach und mussten sich einCL-Coupé, prahlt Entwicklungschef Hans- lassen. Während der Aufbau der großen Li- gestehen, dass das Schwank-Phänomen Joachim Schöpf, „ist das derzeit an- mousine auf Luftkissen ruht, wird der des nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Vor spruchsvollste Automobil Deutschlands“. Coupés von konventionellen Stahlfedern allem bei hohen Geschwindigkeiten und Aus Tradition gilt der von der S-Klasse getragen. Die Luftfederung, seit Jahrzehn- Seitenwindböen erwies sich der weich geabgeleitete, luxuriöse Zweitürer als Zuga- ten ein Wunschtraum vieler Fahrwerks- federte Luxuswagen als nicht ganz so spurbe der Ingenieure, in der die modernste techniker, setzt sich somit wieder mal nicht stabil wie erwünscht. „Da wurde die Fuhre etwas glitschig“, kommentiert ein MerTechnik des Hauses eingebaut wird. Die- durch. sem Prinzip folgend, schufen die EntwickBereits 1956 erprobten Mercedes-Inge- cedes-Manager. Die Techniker besserten nach. Seit April ler 1992 einen klotzigen Panzer, der die nieure diese Technik an einem Prototyp monströse S-Klasse noch einmal um 80 Ki- des „Adenauer-Wagens“ vom Typ 300c werden die Limousinen der S-Klasse mit eilogramm Leergewicht übertraf und somit und vier Jahre später an zwei weiteren Ver- nem in drei Punkten modifizierten Fahrden Gipfel eines fahrzeugtechnischen Irr- suchsfahrzeugen. Die Werksfahrer notier- werk ausgeliefert: wegs markierte. ten jedoch „kräftiges Stuckern“ und „un- π Eine Umprogrammierung in der Steuerelektronik sorgt dafür, dass die StoßDas neue CL-Coupé, das mit Motorleis- angenehm wirkendes Wanken“. Mitte der dämpfung früher gestrafft wird, wenn tungen ab 306 PS zu Preisen ab 175 392 Sechziger kam die Luftfederung dann in das Auto ins Wanken gerät. Mark auf den Markt kommt, soll jetzt als Spitzenmodellen der S-Klasse und der erlesenes Destillat der aktuellen, wesent- Staatskarosse Mercedes 600 zum Serien- π Härtere Gummi-Metall-Lager an der Hinterachse erhöhen die Fahrstabilität lich schlankeren S-Klasse weniger durch einsatz, überzeugte aber nicht und wurde des Wagens. Wuchtigkeit als durch technische Finesse bald wieder ausgemustert. brillieren. 32 Neuentwicklungen birgt der Allein der französische Hersteller π Die Kraft der Servolenkung wird bei hohen Geschwindigkeiten stärker als Wagen laut Herstellerauskunft. Citroën pflegt bis heute eine Kombination bisher verringert – das Auto reagiert daAls bedeutendste Innovation wohnt al- aus Luft- und Öldruckfederung, Hydrodurch weniger flatterhaft. len CL-Modellen eine serienmäßige Er- pneumatik genannt, als schrulliges MarDie Kunden wurden über diese Modifirungenschaft inne, deren Kürzel an Ele- kenzeichen, ohne dass nennenswerte Vormentarschule denken lässt: ABC steht je- teile der Technik je die Fachwelt überzeugt kationen nicht informiert. Auch werden die doch für „Active Body Control“ und soll hätten. Allein die theoriegeleitete Über- Fahrwerke der vor April ausgelieferten dem Spitzenmodell laut Mercedes „ein bis- zeugung, dass sanfte Luftpolster letztlich S-Klassen nur für solche Kunden kostenfrei lang unerreichtes Optimum an Fahrdyna- mehr Fahrkomfort ermöglichen müssten nachgebessert, die von sich aus das Fahrals elastischer Stahl, lässt die Ingenieure verhalten bemängeln. mik“ verleihen. Denn die höhere Fahrstabilität geht klar Kern des Systems ist eine Hochdruck- bis heute nicht ruhen. Mit der neuen S-Klasse schien der zu Lasten des Komforts. Die Vorteile der Hydraulik, die beim Anfahren, Bremsen oder in Kurven sekundenschnell die Durchbruch geschafft. Deren Luftfede- aufwendigen Luftfederung werden somit Stoßdämpfung strafft und somit Nick- oder rung, schwärmte das Fachblatt „Auto, wieder kassiert. Christian Wüst T. BADER Seekrank in der Sänfte K 324 d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite V E R H A LT E N S F O R S C H U N G Hilfloses Gekicher Warum ist Kitzeln schrecklich und schön zugleich? Neue Theorien versuchen eine der seltsamsten Verhaltensweisen des Menschen zu erklären. H 326 Achseln Taille Rippen Füße Hier kitzelt es am schlimmsten Knie Kehle Gekitzelte Körperregionen und Lachdauer in Sekunden Nacken Handinnenflächen 0,0 0,4 0,8 1,2 Quelle: American Scientist 1,6 2,0 2,4 2,8 ihre Handinnenflächen mit einem kleinen Schwämmchen und zeichneten dabei die Hirnströme der Testpersonen auf. Erwartungsgemäß kicherten die Freiwilligen zunächst leise vor sich hin. Gleichzeitig regten sich Hirnzellen, die Berührungsreize verarbeiten. Kitzelten sich die Probanden jedoch selbst, kam kein Juchzer mehr über ihre Lippen. Das Kleinhirn hatte die Kontrolle im Kopf übernommen und den Körper gleichsam vorgewarnt. „Der Kitzel-Reiz kommt nicht mehr als Überraschung“, erläutert der Londoner Neurologe Christopher Frith. Viele Forscher finden die Reflextheorie jedoch zu simpel, um das Mysterium zu erklären. Sie glauben an eine starke soziad e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 TONY STONE exen und Kobolde kitzelten einst das Vieh im Stall, um es zu ärgern. Wenn Liebende einander „in die Hände“ killern, so weiß der Volksmund, erhöht das die Liebesleidenschaft. Aus Siebenbürgen wiederum stammt der Rat, bei Säuglingen nicht zu viel killekille zu machen – sonst werde der Sprössling später „stottern“. Kaum eine menschliche Verhaltensweise ist so sonderbar wie das Kitzeln. Wie kann es sein, dass sich ein Kitzel-Opfer gleichzeitig quält und halb totlacht? Warum ist es unmöglich, sich selbst zu kitzeln? Und schließlich: Welcher biologische Sinn steckt hinter dem masochistischen Gegacker? Seit kurzem glauben Forscher dem Geheimnis auf der Spur zu sein. Mit eigens konstruierten Kitzel-Maschinen lösen sie bei festgeschnallten Versuchspersonen immer neue Lachsalven aus. Minutiös zeichnen sie dabei die Hirnaktivität und die Dauer der Heiterkeit auf, um das Rätsel zu lösen. „Ursprünglich ist das Kitzeln dazu da, etwas Fremdes auf dem Körper zu entdecken“, sagt Robert Provine, Psychologe an der University of Maryland. Haarige Spinnen und giftige Skorpione hat der Forscher dabei im Sinn. Schon dem primitiven Säuger krabbelten diese hin und wieder den Nacken hinauf und mussten zwecks Lebensrettung schnellstmöglich entfernt werden. Den sanften Druck von Spinnenbeinen zählen die Forscher dabei zum „leichten Kitzeln“, „Knismesis“ genannt. Um „starkes Kitzeln“ („Gargalesis“) auszulösen, bedarf es dagegen heftigerer Reize. Geeignet sind etwa zeitlich gut gewählte Attacken, bei denen sich Zeigefinger neckisch in zarte Körperseiten bohren. Blitzschnell und unbewusst ist die Reaktion auf derartige Übergriffe. In kaum kontrollierbaren Spasmen windet sich der Gekitzelte. Zwerchfell und Eingeweide wogen im Schüttelkrampf. Ein Stakkato glucksenden Juchzens entweicht der Kehle. Erst kürzlich konnten britische Wissenschaftler nachweisen, dass diese Reaktion reflexartig abläuft. Gleichzeitig fanden sie heraus, warum es nicht zum Lachen ist, sich selbst zu kitzeln. Die Forscher schnallten als kitzelig eingestufte Probanden auf eine Liege, reizten Liebespaar beim Kitzeln Trainingsprogramm für den Zweikampf? le Komponente. „Kitzeln gehört zu den ersten Verhaltensweisen, die Mutter und Kind aneinander binden“, sagt etwa Kitzelforscher Provine. „Und es ist ein wichtiger Teil der körperlichen Liebe.“ Sex und Kitzeln, Lust und Qual – spätestens seit Marquis de Sades Empfehlungen zur Sexualpraktik liegen sie nah beieinander. Die Internet-Seite „Joys of Abrasion“ („Freuden des Abriebs“) etwa empfiehlt, die „Schleifmaschine in der Garage“ zu lassen, weil es mit dem Kitzeln eine „wesentlich effektivere Methode gebe, den Partner zu erregen“. Und Michael Treasure vom „Leather Archives & Museum“ in Chicago führt Interessenten gern durch eine Sammlung von „Objekten und Strukturen zum Stimulieren der Haut“. Bestätigung für die Theorie des sozialen Kitzelns zieht Lach-Experte Provine auch aus Versuchen mit Schimpansen, die er im Dienst der Forschung zu fröhlichem Gelächter („ein hechelndes Geräusch“) animierte. „Affen sind ganz groß im Kitzeln“, berichtet Provine. Zusammen mit anderen Formen des Spiels wie Fangen oder Ringen werde beim Kitzeln das Sozialverhalten trainiert. Auch beim Menschen seien es fast immer „Partner, Freunde und Verwandte“, die sich kitzelten. „Man kitzelt nur, wen man liebt“, will der Psychologe beobachtet haben. Mit einer Umfrage hat Provine auch versucht, seine These zu belegen. 70 Prozent der Befragten bestätigten, dass „andere mich kitzeln, weil sie Zuneigung zeigen wollen“. 64 Prozent allerdings beschrieben Kitzeln als oftmals unangenehm. Die Hälfte der Befragten erklärte gar, dass Kitzeln darauf ziele, andere zu ärgern. Dieser Widerspruch ist es, der die Forscher am meisten verwirrt. Obwohl auf Kitzeln oft fröhliches Kichern folgt, entdecken Generationen von Kindern immer wieder neu, wie sie ihre Spielkameraden mit gut organisierten Kitzel-Attacken martern können. Im Mittelalter wurde der tätliche Angriff auf die Lachmuskeln sogar als Folter angewandt: Die gefesselten Füße wurden mit Salz bestreut, das eine Ziege sodann aufleckte. So mancher Unglückselige musste sich zu Tode lachen. „Viele Menschen sind davon überzeugt, dass andere es toll finden, gekitzelt zu werden“, sagt die Psychologin Christine Harris von der University of California in San Diego. Bei den meisten löse Kitzeln jedoch sehr zwiespältige Gefühle aus. „Anhaltendes Kitzeln kann äußerst qualvoll sein“, sagt Harris und bekennt: „Ich hasse es, gekitzelt zu werden.“ Die Forscherin glaubt, dass die widersprüchlichen Gefühle beim Kitzeln Teil eines angeborenen Trainingsprogramms sein könnten, das den Menschen für den Zweikampf mit wilden Tieren oder mordlüsternen Artgenossen stählen soll: „Kitzelig sind vor allem solche Stellen des Körpers, die auch verwundbar sind.“ Das unangenehme Gefühl beim Kitzeln, argumentiert Harris, ermutige Kinder dazu, sich selbst zu verteidigen. Weil die Kleinen dabei aber zugleich so vergnügt lachten, würden die Eltern darin bestärkt, immer weiter zu kitzeln – so werde der Lerneffekt optimiert. Mit der Theorie vom frühkindlichen Nahkampftraining ließe sich auch erklären, weshalb die stärker im Zweikampf engagierten Männer kitzeliger sind als Frauen. Die Anzahl der Rezeptoren, die in der Haut den Kitzel-Reiz registrieren, sei allerdings bei allen Menschen fast gleich, betont der Physiologe Robert Foreman von der University of Oklahoma. Für besonders empfindliche Gemüter, die schon beim Gedanken ans Kitzeln in „hilfloses Gekicher“ verfallen, hat Foreman deshalb nur eine Empfehlung parat: „Willensstärke“. Philip Bethge d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: [email protected] Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. 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(00431) 5331732, Fax 5331732-10 D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; JörgHinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 18. 9. 18. bis 24. September SPIEGEL TV MONTAG, 20. 9. MONTAG 0.05 – 0.35 UHR SAT 1 KAUKASUS Zum Kampf gegen islamische BEFRIEDUNG In Osttimor landen die Rebellen, mutmaßlich verantwortlich für Bombenanschläge in Russlands Großstädten, verschanzen sich russische Truppen in Tschetschenien. ersten Einheiten der australischen UnoFriedenstruppen. MILITÄR In Stettin formiert sich ein multinationales Corps dänischer, polnischer und deutscher Soldaten; militärische Ausrichtung: „gegen niemanden“. SONNTAG, 19. 9. SCHLAPPE In Sachsen holt sich die SPD innerhalb von zwei Wochen die fünfte Abfuhr bei Landtags- und Kommunalwahlen. „König Kurt“ Biedenkopf sichert der CDU mit 56,9 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit im Landtag, die PDS wird zur zweitstärksten Fraktion (22,2 Prozent), und die SPD kommt auf nur noch 10,7 Prozent – ein historischer Tiefstand. PROTEST Mit Tränengas und Wasserwer- fern bekämpft die malaysische Polizei vor der Nationalen Moschee in Kuala Lumpur 10 000 demonstrierende Anhänger des inhaftierten Oppositionspolitikers Anwar Ibrahim. KATASTROPHEN In Taiwan bebt innerhalb von 29 Minuten fünfmal die Erde; bei Richterskalawerten bis zu 7,6 kommen mehr als 2000 Menschen zu Tode, über 8000 werden verletzt. SPIEGEL TV REPORTAGE Unterm Rotlicht – St. Pauli bei Tag und bei Nacht Die Stripperin in der Nachtbar und der Polizist von der Davidwache, der Arzt im Hafenkrankenhaus und die Prosti- DIENSTAG, 21. 9. BESUCHER Israels Ministerpräsident Ehud Barak betritt als erster ausländischer Staatsgast das Berliner Bundeskanzleramt. RENTEN Arbeitsminister Riester will Geringverdienenden die private Altersvorsorge mit einer Sparzulage erleichtern. DICHTER Literaturkritiker küren Gottfried Benn zum deutschsprachigen Top-Lyriker des Jahrhunderts, auf den Plätzen: Paul Celan, Bertolt Brecht und Rainer Rilke. MITTWOCH, 22. 9. REFORM Vor der Uno-Vollversammlung fordert Außenminister Joschka Fischer, im Sicherheitsrat das Vetorecht einzuschränken, um die Durchführung von Uno-Aktionen zu beschleunigen. ÄRZTE Gesundheitsministerin Andrea Fischer wirft den Kassenärzten Politikunfähigkeit vor und bricht den Dialog über die Gesundheitsreform ab. Kiez in Hamburg ACTION PRESS tuierte, der Koberer vor dem Sexclub und der Imbissbudenpächter: Sie alle leben und arbeiten im größten Rotlichtviertel der Republik. Eine Reportage über Menschenschicksale in HamburgSt. Pauli. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Der Alptraumjob – unterwegs mit deutschen Fernfahrern in Europa Scharfe Kontrollen erwarten die BrummiFahrer auf deutschen Autobahnen: Etwa 130 Inspekteure des Bundesamtes für Güterverkehr führen täglich Untersuchungen über Lenk- und Ruhezeiten durch. Eine Reportage über die Last mit den Lastern. DONNERSTAG, 23. 9. RAUMSONDEN Der erste inter- planetarische Wettersatellit erreicht den Planeten Mars – dann bricht der Funkkontakt ab. PARTEIEN Führende Politiker der Bündnisgrünen drohen mit einem Ausstieg aus der Regierung. FREITAG, 24. 9. SYGMA BENZIN Für süddeutsche Matchpoint für die Tennisspieler Steffi Graf und Andre Agassi: Während einer Boxgala in Las Vegas gaben sich die beiden Sport-Stars erstmal in der Öffentlichkeit einen Kuss. Autofahrer lohnt sich die Tankfahrt nach Österreich oder in die Schweiz, wo der Preis pro Liter um bis zu 28 Pfennig niedriger ist. KIRCHE Die katholischen Bischöfe können sich nicht auf einen gemeinsamen Kurs im Streit um die Konfliktberatung für Schwangere einigen. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 SAMSTAG 22.00 – 23.05 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Das Überlebens-Paket – die Ausbildung deutscher Tornado-Piloten Vier Millionen Mark investiert das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik pro Pilot, um ihn für das Leben zwischen Tod und Überschall zu drillen. In der Jetpiloten-Schmiede in Sheppard, mitten in der texanischen Wüste, bringen Ausbilder der US-Luftwaffe den Aspiranten aus Germany das Fliegen bei. SONNTAG RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die Sendung entfällt wegen der LiveÜbertragung der Mediengala zur Verleihung des Deutschen Fernsehpreises. 329 geistreicher Buchautor, humorvoller Kolumnist und amüsanter Plauderer. Stets hielt er sich an sein erstes Gebot: Die Kurse müssen langfristig steigen, weil es an der Börse „mehr Dummköpfe als Papiere gibt“. Er selbst sammelte Aktien, vor allem US-Blue-Chips, wie andere Briefmarken. Seine Witwe Françoise wird einige Zeit brauchen, das Sammelsurium seiner Depots mit mehr als 500 verschiedenen Titeln zu ordnen. André Kostolany starb am 14. September in Paris. Gestorben Willy Millowitsch, 90. Das gleichnamige Volkstheater existiert seit 1895 in Köln, und sein nachmaliger Besitzer herrschte hier als Prinzipal fast sechs Jahrzehnte lang. Subventionen hat es nie für Millowitsch gegeben, abgesehen von ein paar Aufbauhilfen durch den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer unmittelbar nach Kriegsende – „dat de Leute wieder wat zu lachen haben“. 1953 flimmerte aus dem 1000-Plät- ze-Haus mit dem Militärschwank „Der Etappenhase“ die erste TV-Originalübertragung eines Theaterstücks in deutsche Wohnzimmer. Frühe Fernsehgewaltige riefen „Kulturschande“, aber Millowitsch war ein Straßenfeger (heute: Quotenkönig), der es auf Sehbeteiligungen bis zu 90 Prozent brachte. Der begnadete Charakterkomiker mit der oft überbordenden Gestik, der im wahren Leben auch gerne den Mürrischen gab, spielte in mehr als hundert Fernsehstücken und Kinofilmen mit, ab und an stand er auch auf seriöser Bühne. Wenn Millowitsch, der Kölscheste aller Kölschen, zu Karnevalszeiten das Beicht-Liedchen „Wir sind alle kleine Sünderlein“ anstimmte, sangen selbst abgedrehte HipHopper mit.Willy Millowitsch starb letzten Montag in seiner Heimatstadt an Herzschwäche. André Kostolany, 93. Als „Börsenguru“ haben ihn seine Fans verehrt. Doch konkrete Tipps hat ihnen „Kosto“ nie gegeben. Als „Spekulant“ ließ er sich feiern. Aber gezockt hat der pfiffige Alte schon lange nicht mehr. Eigentlich wollte der Ungar lieber Pianist oder Komponist werden. Der Vater, ein Budapester Schnapsfabrikant, schickte den Jüngling jedoch zu einem befreundeten Börsenmakler nach Paris in die Lehre. Die schillernde Welt der Aktienzocker und Finanzhaie ließ ihn nie wieder los. 1941 floh der Kosmopolit mit jüdischen Vorfahren vor den Nazis in die USA, 1948 war der Börsianer wieder da. Schon bald machte er sich einen Namen als 330 d e r te er, in Hollywood und am Broadway abgeblitzt, das Trinken angefangen, als der Chef des New Yorker Shakespeare-Festivals ihm die Titelrolle in ,,Richard III“ anbot. Von da an ging’s bergauf. Vom verknöcherten Geizhals Scrooge aus Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ bis zum durchgeknallten General Turgidson in Kubricks „Dr. Seltsam“ – stets waren es die anspruchsvolleren Rollen, die Scott auf der Bühne, im Fernsehen und in über 30 Kinofilmen verkörperte. Das Publikum verehrte ihn; zahlreiche Kritikerpreise folgten. Sein Groll gegen das Hollywood-Establishment aber blieb: Als ihm 1971 für seine Darstellung des kantigen Weltkrieg-IIGenerals Patton der „Oscar“ verliehen werden sollte, verweigerte er die Annahme. Die Auszeichnung sei „bedeutungslos“, beschied er die Bosse, die Zeremonie eine würdelose „Fleischbeschau“. George C. Scott starb am vergangenen Mittwoch in seinem Haus nahe Los Angeles. AP WDR George C. Scott, 71. In jungen Jahren hat- Urt ei l Friedel Balsam, 57, Gründer des westfälischen Sportbodenherstellers Balsam, wurde am vergangenen Montag vom Landgericht Bielefeld zu acht Jahren Haft verurteilt. Nach dreieinhalbjähriger Verhandlungszeit sah es das Gericht als erwiesen an, dass Balsam zusammen mit seinem inzwischen untergetauchten Finanzchef Klaus Schlienkamp 45 Banken durch Luftgeschäfte und falsche Rechnungen um mehr als 1,3 Milliarden Mark geschädigt hat. Anders als Schlienkamp, der während der Untersuchungshaft ein 230 Seiten umfassendes Geständnis unter dem Titel „Das Milliardengrab“ verfasste (SPIEGEL 17/1996), hatte Balsam bis zum Schluss jede Schuld abgestritten. s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 M. DARCHINGER Register Werbeseite Werbeseite Ehepaare Lafontaine, Strauss-Kahn/Sinclair und ehemaliger Vorsitzender der SPD, wird in Frankreich auch nach seinem Rücktritt noch hoch geschätzt. Kein Geheimnis macht der französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, 50, daraus, dass er sich in Begleitung seiner Frau Anne Sinclair, 51, mit dem Ehepaar Lafontaine zu einem privaten Mittagessen traf, während zwischen den beiden Regierungen das große Schweigen herrscht. Das Magazin „Paris Match“ druckte von diesem Treffen ein Foto über eineinhalb Seiten. „Unentwegt“, so das Blatt, „webt der Finanzminister am Band der sozialdemokratischen Freundschaften“. Die Gesprächsthemen bei den Begegnungen mit Gleichgesinnten stehen unter dem Leitmotiv: „Wir dürfen unser sozialistisches Erbe, das die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhang betont, nicht unter den Tisch kehren. Mehr Markt verlangt mehr Regulierung.“ Das heißt mehr Staat. Es gehe, so das Magazin, um „einen Diskurs, der gegen die ,andere‘ europäische Linke gerichtet ist, verkörpert von den Strauss-Kahn feindlich gesinnten Brüdern: Blair und Schröder“. Edelgard Bulmahn, 48, Bundesfor- schungsministerin, weiß auch aus ChauviSprüchen das Beste zu machen. Die Politikerin, untergebracht im denkmalgeschützten Gebäude der ehemaligen Ständigen Vertretung in Berlin, das mit recht muffig riechendem Mobiliar aus den siebziger Jahren ausgestattet ist, geht schon mal zum Luftschnappen ein Stockwerk höher. Dabei stieß sie jüngst auf einen Tischler, der an 332 der Treppe werkelte. Ob er sie bitte vorbeilassen würde? Der junge Mann, so erinnert sich die Ministerin, musterte die Fragende von oben bis unten: „Aber immer doch. Für so eine junge, gut aussehende Frau unterbreche ich doch gerne mal mei- Rena Mero, 30, unter dem Namen „Sable“ F. OSSENBRINK Oskar Lafontaine, 56, Ex-Finanzminister Mathieu oder Catherine Deneuve – als Gipsbüste der nationalen „Marianne“ in den Hallen der „Hôtel de ville“ platziert wird. Dem Chef des Camembert-Geburtsorts („seit 1791“) stinkt es, dass die auf die Französische Revolution von 1789 zurückgehende Galionsfigur der Republik „wie eine Schaufensterpuppe“ ständig ausgewechselt wird („kein Camembert-Logo wird laufend verändert“) und dass die Funktionäre des Bürgermeisterverbandes eigenmächtig nur sechs Kandidatinnen ihres Geschmacks angeboten haben. Gaubert plädiert für eine PuppenMarianne, die der „Figaro“-Karikaturist Jacques Faizant, selbst eine nationale Institution, 1986 entworfen hat. Die putzige Gips-Französin erhielt schon bei der Geburt ihre höchste Weihe: Der verstorbene Staatspräsident François Mitterrand, lange Bürgermeister von Château-Chinon an der Loire, ließ sie zu seinen Lebzeiten als einzige Marianne- Chirac, Marianne Variante ins Mitterrand-Museum stellen; und auch der jetzige Staatspräsident Jacques Chirac, 66, hatte noch vor seinem Amtsantritt 1995 keine Einwände gegen einen Fototermin gemeinsam mit Faizants Marianne. N. ALAIN / SYGMA PARIS MATCH Personalien Bulmahn ne Arbeit.“ Bulmahn interpretierte die Anmache flugs um in eine regierungsfreundliche Äußerung: „Endlich mal einer, der es zu schätzen weiß, was wir für das Handwerk tun.“ Jean Gaubert, 62, Bürgermeister des westfranzösischen Käse-Dorfs Camembert, bringt mit einer Revolte gegen institutionalisierte Covergirls wie die Schauspielerin Laetitia Casta oder die TV-Moderatorin Estelle Hallyday das für den 23. November angesetzte Marianne-Fest in die Bredouille. Bis dahin sollen rund 36 000 französische Rathauschefs eine Mademoiselle küren, die – Nachfolgerin von feschen Französinnen wie Brigitte Bardot, Mireille d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 berühmte Schau-Ringerin, steht im Mittelpunkt eines Rechtsstreits. Die World Wrestling Federation (WWF) beansprucht in einer beim Bundesgericht in Manhattan eingereichten Klage gegen das US-Herrenmagazin „Playboy“ die Rechte an dem Künstlernamen „Sable“. Grund der Klage: Das Magazin plant ein Heft, das ausschließlich der mehr oder weniger verhüllten Rena Mero gewidmet ist, mit dem Titel: „Playboy’s Wrestling Superstar. Die Frau, die Sie als ,Sable‘ im Naturzustand liebten“. Als „Sable“ war Mero der weibliche Champion der WWF und eine Figur mit ganz speziellen Eigenschaften, die sich die Wrestler-Organisatoren ausgedacht hatten: eine „heiße Verführerin“ in eng sitzendem Overall, die ihre „Hüften und ihren Körper in einer äußerst aufreizenden Manier zu bewegen hatte“. Kurzum, „Sable“ war eine Erfindung der WWF und somit deren „geistiges Eigentum“, so die Mero als „Sable“ Klageschrift. Deshalb er- ein Einsatzleiter-Fahrzeug, zwei Polizisten wurden als Eskorte abkommandiert und Naumann und die Seinen bis zum Eingang des Kanzleramts geleitet. Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, erfreute sich gemeinsam mit seinem Duzfreund, dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski, 44, an einem Fotoalbum. Das hatte der Pole am vergangenen Mittwoch nach Berlin mitgebracht zu einem 20-minütigen Meinungsaustausch in kleinster Runde. Inhalt des Albums: Fo- F. OSSENBRINK Michael Naumann, 57, Staatsminister für Kultur und Ex-Verleger, ist im neuen Amt Frust gewohnt. Doch was ihm am vergangenen Dienstag vor dem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Barak widerfuhr, wäre auch für duldsamere Gemüter eine Prüfung gewesen. Dem Staatsminister wurde auf dem Weg ins Kanzleramt am Schlossplatz von Berliner Polizei der Durchgang verwehrt, schließlich sollte im Laufe des späteren Nachmittags der Hubschrauber mit dem hohen Besucher landen. Naumann, im Umgang mit Vertretern der Obrigkeit noch aus heißen Studententagen erfahren, zückte sogleich seinen Dienstausweis. Doch die Polizisten blieben unbeeindruckt. Auch die Bemerkung einer Naumann-Begleiterin: „Lesen Sie keine Zeitung?“, die das Verhältnis von unten und oben wieder herstellen sollte, ließ die Beamten kalt. Schließlich gab sich Naumann listig: „Begleiten Sie mich in mein Büro, dann sehen Sie ja, dass wir da keine Bomben legen wollen.“ Da näherte sich Kwa śniewski (l.), Schröder (r.), Mitarbeiter ACTION PRESS tos von den Treffen der beiden Politiker in den vergangenen zwei Jahren. Gastgeber und Besucher vertieften sich in den Anblick der Bilder und gerieten ins Schwärmen, auf Englisch und auf Deutsch. Schröder: „Eins muss man euch lassen in Polen: Tolle Frauen habt ihr da.“ Kwaśniewski gab das Kompliment höchst angeregt zurück: „Aber schau an deine Seite. Tolle Frauen auch in Deutschland.“ Bei der Betrachtung der letzten Seiten des Albums kam der Kanzler um die Einsicht nicht herum: „Aber so ein Mist. Da sieht man mal, wie wir älter geworden sind.“ Mero wartet die WWF vom Gericht, dass es dem „Playboy“ untersagt, die Handelsmarke „Sable“ für eine Nacktfotostrecke zu benutzen. Einer der WWF-Juristen brachte es auf den Punkt: Wenn der „Playboy“ „Sable“Nacktfotos veröffentlicht, sei das nichts anderes, als wenn die WWF für sich mit dem „,Playboy‘-Bunny Werbung machte“. Rena Mero hat sich übrigens bereits im Juni von der WWF getrennt wegen angeblicher sexueller Belästigung und Vertragsbruch. d e r Karsten Voigt, 58, Amerika-Koordinator im Auswärtigen Amt, bekam es dieser Tage mit Spätfolgen der deutschen Wiedervereinigung zu tun. Auf seinem Schreibtisch in Berlin landete ein Telegramm, das sein Amtsvorgänger Werner Weidenfeld 1991 an einen Empfänger in Dresden geschickt hatte. Inhalt: Eine Einladung zu einer Podiumsdiskussion. Aus den diversen Aufklebern und handschriftlichen Vermerken von Zustellern versuchte Voigt das Schicksal des Irrläufers zu rekonstruieren. In Dresden war am Tag nach der Versendung in Bonn ein Zusteller erfolglos: „Name nicht an Klingeln. Klingeln im Haus erfolglos.“ Ein zweiter Zusteller schließlich gab mit knapper Notiz alle Mühen auf: „Empf. unb. 17. 8. 91“, meldet der letzte Vermerk aus Dresden. Wo das Telegramm acht Jahre lang verschwand, bevor es nun wieder per normaler Briefzustellung in der Bonner Außenstelle des Auswärtigen Amtes landete, ist nicht ganz klar. Voigt sinniert nun über das Tempo der deutschen Vereinigung: „Gute Dinge brauchen manchmal länger.“ s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9 333 Hohlspiegel Rückspiegel Zitate Aus der „Bild“-Zeitung Aus der „Neuen Ruhr-Zeitung“ Aus der „Westdeutschen Zeitung“: „Für Heinrich Stang war selbst das heimische Mettmann kein gutes Pflaster, denn auch hier kam er nicht über 40 Prozent, während Oberkreisdirektor Robert Wirtz, ebenfalls Mettmanner, hier doch deutlich im zweistelligen Bereich ankam.“ Aus der „Zeit“ Aus der „Freizeit Revue“ Aus der „Landeszeitung“ für die Lüneburger Heide Aus der „Badischen Zeitung“: „Jackson Pollock wurde Maler und Held und das schon zu Lebzeiten. Sein früher Tod gab ihm den Rest: Ein Mythos entstand aus Kaltem Krieg und freiem Westen, aus Spätmoderne und einer Kunst, die sich zum ersten Mal ,spezifisch amerikanisch‘ nennen durfte.“ Aus dem „Südhessen Morgen“ Aus dem „Badischen Tagblatt“: „… alle Beziehungen zwischen China und Taiwan, das sich 1949 vom Festland löste, werden von politischen Hintergedanken bestimmt.“ 334 Die „Stuttgarter Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch mit dem designierten SPD-Generalsekretär Franz Müntefering über die Krise seiner Partei „Wir sind umgekegelt“ (Nr. 38/1999): Franz Müntefering ist ein Mann, der kaum etwas dem Zufall überlässt. So dürfte es auch kaltes Kalkül sein, dass er ausgerechnet zu Beginn dieser Woche, in der er im Berliner Willy-Brandt-Haus die Macht übernommen hat, im SPIEGEL mit dicken Pinselstrichen sein öffentliches Bild noch einmal konturierte: „Ich bin Volksschüler, und man hat dann eine bestimmte einfache Art, zu sprechen und sich zu bewegen“, gab der Mann dort zu Protokoll, der einmal von sich selbst gesagt hat: „Ich kann nur kurze Sätze.“ Die „taz“ zur SPIEGEL-Meldung „Panorama – Berichte für Pieroth“ (Nr. 36/1999), wonach Elmar Pieroth Wohnzimmergespräche initiierte, bei denen West-Politiker und Prominente Ost-Berlinern in deren Wohnungen begegneten und anschließend darüber Berichte abfassten. Die umworbenen Multiplikatoren im Osten sind über die Enthüllung wenig amüsiert. „Das liest sich wie meine Stasi-Akte“, empörte sich einer der Besuchten. Um „Rückkopplung“ sei es gegangen, redet sich Pieroth nun heraus. Als ob das eine Entschuldigung wäre. Um nichts anderes als eine „Rückkopplung“ zwischen SEDParolen und dem real existierenden Volk ging es doch schon Mielkes Mannen. Der SPIEGEL berichtete … … in Nr. 23/1999 „Rechtsextremisten – Angriff der Phantompartei“ über die dubiose Kandidatenaufstellung der DVU zur Landtagswahl in Brandenburg. Zwei Wochen nach der Wahl ist in Brandenburg ein Streit darüber ausgebrochen, ob die DVU zur Wahl zugelassen werden durfte und ob die Wähler wegen der ominösen Kandidatenaufstellung erneut an die Urnen gerufen werden müssen. Die DVU hatte knapp die Fünf-Prozent-Hürde geschafft. Kritisiert wird vor allem Landeswahlleiter Arend Steenken, der die DVUAnmeldung angenommen hatte. Ihm seien keine Verstöße gegen das Wahlgesetz bekannt gewesen, rechtfertigt er sich. Verfassungsschutzchef Hasso Lieber verweist hingegen auf den SPIEGEL-Bericht vom Juni, dessen Darstellung er bestätigte und den jeder hätte lesen können. Den SPIEGEL, so die Ausflucht Steenkens, habe er nicht gelesen. Juristen sehen allerdings kaum Chancen für eine Wahlwiederholung. d e r s p i e g e l 3 9 / 1 9 9 9