Du bist, was du ritzt

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Du bist, was du ritzt
Prüfung: Kulturrealien, II. Studienblock, 29. 3. 2012
Du bist, was du ritzt!
Wie Facebook uns begeistert zu pubertären Fans und Ich-Botschaftern regredieren ließ
SPEX - Magazin für Popkultur
Ein Aufsatz von Armin Lintzel
bearbeitet
Es ist eine bekannte Klage, dass das Internet uns in infantile oder zumindest pubertäre Phasen
unserer Existenz zurückversetze. Schließlich könne sich das narzisstische Selbst im Netz
pausenlos sofortige Wunscherfüllung verschaffen. Die Befriedigung ist nur den berühmten
Klick entfernt und keinem wird auf die Finger geklopft. Nur ist es müßig und langweilig,
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diese abgenudelte Diagnose kulturkritisch und medienpessimistisch aufzuladen. Schließlich
erzählen einige der besten Popsongs von der Regression in „instant pleasures“. 1 Es ist eine
notorisch bekannte Wahrheit: Das Wartenmüssen ist der Feind des Pop schlechthin. Peter
Hein spitzte es mit seiner Band Family5 einst so zu: „Warten, warten, ist alles was ich hör /
Ich will aber sofort, was mir gehört.“
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Nicht zuletzt das pubertäre Begehren war es denn wohl auch, welches 2008 Facebook zum
ultimativen Durchbruch verhalf. Eine für Spex durchgeführte repräsentative Feldstudie belegt,
dass dieses Jahr Facebook zur entscheidenden Vergesellschaftungsinstanz für Leute aus dem
Musik- und Kunstmilieu wurde. Mit rasender Geschwindigkeit wurde es zu einer allgemeinen
Plattform der Selbstdarstellung. Treffen kann man dort beispielsweise Gudrun Gut und
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Amelie von Wulffen, Morgen Geist und Pantha du Prince, Ron Trent und Dan Treacy von
TVP. Und natürlich unzählige Protagonisten mehr.
Haben all diese Leute nichts Besseres zu tun? Nein, der Grund für diese Hyperaktivität ist,
dass bei Facebook wie nirgendwo sonst eine höchst angenehme Regression in frühere Stadien
der eigenen (Pop-)Sozialisation möglich ist. Nicht nur, dass sich das narzistische Selbst mit
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permanent aktualisierten Ich-Botschaften austoben kann - auch beim Sammeln möglichst
vieler interessanter und hipper Freunde und beim Bilden von Fangruppen sind genau jene
sozialen Mechanismen am Werk, die früher zwischen Schulhof, Tanke und Jugendzentrum
maßgeblich waren. Man steht bei den Richtigen und hängt mit den Coolen ab und kann mit
der Funktion „Anstupsen“ - so heißt das bei Facebook - um deren Aufmerksamkeit buhlen.
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Wenn das nicht auf Gegenliebe stößt, helfen womöglich ulkige Applikationen wie „Send a
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Vergnügen „zum schnellen Verbrauch“.
Drink“ oder „Send Art“ weiter. Facebook ist ein virtueller Nachhall pubertären
Sozialverhaltens und wird als ebensolcher genossen.
Während man einige der genannten Phänomene auch auf anderen Plattformen finden kann,
zeichnet sich Facebook durch eine weitere Kulturtechnik aus: das ungezügelte öffentliche
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Erklären von Fanleidenschaften. „Wolfgang ist jetzt ein Fan von Todd Haynes“, „Barbara ist
jetzt ein Fan von Steely Dan“ - all diese Messages, die im Minutentakt auf dem Bildschirm
erscheinen, wirken wie eine beschleunigte Fortsetzung des Schulbank-Ritzens mit digitalen
Mitteln (nur das hier kaum jemand „Punk’s not dead“ oder „RAF“ für eine Nachricht wert
hielte). Das ist für viele der entscheidende Facebook-Attraktor: Hier darf man ohne
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diskurstheoretische Skrupel seine Faszinationen performen; ganz im Sinne des „Hey, super“
von Rainald Goetz, für den dieser Sprechakt ja die einzig vernünftige Weise ist, über Pop zu
reden.
Und dennoch ist die süße Regression in stumpfes Fanverhalten keineswegs eine schlichte
Widerholung des längst Gewesenen. Ein maßgeblicher Unterschied muss hervorgehoben
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werden:
Früher
musste
aufgrund
des
konfrontativen
Charakters
jugendkultureller
Gruppenbildung Komplexität verknappt werden, sodass klare Positionen bezogen wurden:
Der Fan von Kiss wäre keinesfalls an den Karten für ein Konzert von AC/DC interessiert,
nicht einmal geschenkt hätte er sie gewollt. Der Verehrer von BAP hätte sich die Platte von
Den Toten Hosen nicht einmal angekuckt, geschweige denn angehört. Wenn man in
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zermürbenden Mathestunden die Buchstaben K-a-j-a-g-o-o-g-o-o ins Holz kerbte, hätte man
sich nie ein T-Shirt mit der Anschrift Duran Duran gekauft. Als Fan vom VfB hätte man die
Vereinsfarben vom HSV peinlichst gemieden. Knapp und kurz: Bestimmte Fanvorlieben
würden sich gegenseitig völlig ausschließen.
Heute ist dagegen grenzenlose Dauerverfeinerung jenseits von Freund-Feind-Gegensätzen
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möglich, die in Extremform bis zur Auflösung von ehemals festgelegten Dichotomien führt.
Es gibt bei Facebook Leute, die werden an einem Vormittag Fan von Guy Debord, Nike Air
Force 1, Wolfgang Tillmans und A Tribe Called Quest. 2 Für die Maßlosigkeit, mit der man
hier seine eigene Pop-Identität digital markieren kann, hätte eine Schulbank nie im Leben
gereicht. Denn während damals der jugendliche Fan während der endlosen Unterrichtsstunden
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in störrischer Langeweile langwierig (und meistens jahrelang) den immer gleichen
Bandnamen ins Holz kerbte, bietet der digitale Raum inzwischen Platz für eine obsessive
Detailmanie, die oft als ironische Übertreibung vorgetragen wird.
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Bei den genannten Interpreten und Bands handelt es sich um eher sehr unterschiedliche Stilrichtungen.
Was in der kuscheligen Atmosphäre der „social networks“ freilich verlorengegangen ist, ist
das Moment des Kampfes, das ehemals durch festgelegte Freund-Feind-Grenzen
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vorprogrammiert war. Subkultureller Heroismus ist vorbei, da alles zugänglich ist. Es gibt
keine „gefährlichen Orte“ mehr zu erobern, und die Fan-Messages der Facebooker richten
sich nicht mehr gegen konkrete Lehrkörper oder abstrakte Über-Ichs. Die Regression ins
Pubertäre hat keine Widerstände mehr zu überwinden und wird deshalb exzessiv. Nirgendwo
kann diese überbordende Energie so wollüstig fließen wie bei Facebook. Natürlich ist diese
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Ausgeburt des Umhertreibens deshalb nicht das „ganz Andere“ des Networkings, denn auch
hier können sanft Geschäfte angebahnt werden. Und doch ist der allzu „erwachsene“ und
hyperprofessionelle Selbstdarstellungsstress entschärft. Also: Regression, Baby.
I. TEXTERKLÄRUNG
Beantworten Sie folgende Fragen zum Text in ganzen Sätzen und in eigenen Worten:
1) Der Autor geht von der Annahme aus, dass Facebook die Nutzer in „infantile oder
zumindest pubertäre Phasen“ versetzt. Mit welchen Argumenten stützt er diese Annahme?
[3 Punkte]
2) Was wird unter dem Begriff „Regression“ verstanden und wie bewertet der Autor des
Aufsatzes dieses Phänomen?
[4 Punkte]
3) Was hat Facebook mit den anderen Plattformen der Kommunikation im Bereich der PopKultur gemeinsam?
[3 Punkte]
4) Welche Phänomene in der Pop-Szene betrachtet Lintzel bei Facebook als „neu“? Kann man
anhand der „Erzählhaltung“ des Autors erkennen, wie er die Neuerungen bewertet?
[4 Punkte]
5) Welchen Einfluss übt Facebook auf die sgn. Pop-Identität aus?
[3 Punkte]
6) Erklären Sie den Begriff „subkultureller Heroismus“. Wie wurde diese Haltung durch
Facebook verändert?
[4 Punkte]
7) Versuchen Sie, anhand des Textes die „Vorteile“ und „Nachteile“ zusammenzufassen, die
Facebook für die Pop-Kultur mit sich brachte. Kann man dem Text entnehmen, welche
Position der Autor bezieht?
[5 Punkte]
II. WORTERKLÄRUNG
Entscheiden Sie sich für 5 Wörter/Wortverbindungen von den 10 angegebenen und
erklären Sie diese nach ihrer Bedeutung im Text. (Wenn Sie mehrere Worterklärungen
als 5 abgeben, wird dies nicht berücksichtigt/bepunktet.) (je 1,5 Punkte = 7,5).
Die kursiv geschriebenen Lexeme müssen nicht geändert werden
1) aufzuladen (Z. 5)
2) der Feind schlechthin (Z. 7)
3) austoben (Z. 20)
4) sind am Werk (Z. 21/22)
5) buhlen (Z. 24)
6) ulkige (Z. 25)
7) ungezügelte (Z. 29)
8) verknappt werden (Z. 41)
9) Ausgeburt (Z. 64)
10) angebahnt werden (Z. 66)
III. UMFORMUNGSÜBUNG
Ersetzen Sie die unterstrichenen Textteile der linken Spalte durch die Ausdrücke in der
rechten Spalte. Formen Sie die Sätze nach Bedarf um und schreiben Sie sie vollständig
nieder!
Heute
ist
Dauerverfeinerung
Feind-Gegensätzen
dagegen
jenseits
grenzenlose [Synonym]
von
möglich,
Freunddie
in Möglichkeit
Extremform bis zur Auflösung von ehemals auflösen
festgelegten Dichotomien führt. Es gibt bei
Facebook Leute, die werden an einem erklären
Vormittag Fan von Guy Debord, Nike Air
Force 1, Wolfgang Tillmans und A Tribe
Called Quest. 3 Für die Maßlosigkeit, mit der [ ]
man hier seine eigene Pop-Identität digital
markieren kann, hätte eine Schulbank nie im
Leben gereicht.
Platz
Denn während damals der jugendliche Fan Zeit
während der endlosen Unterrichtsstunden in
störrischer
Langeweile
langwierig
(und
meistens jahrelang) den immer gleichen
Bandnamen ins Holz kerbte, bietet der verfügen
digitale Raum inzwischen Platz für eine
obsessive Detailmanie, die oft als ironische selten
Übertreibung vorgetragen wird.
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sich äußern
Bei den genannten Interpreten und Bands handelt es sich um eher sehr unterschiedliche Stilrichtungen.