Fernsehen und Bildung

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Fernsehen und Bildung
tv diskurs 36
T I T E LT H E M A
Fernsehen und Bildung
Drei Studien untersuchen den Zusammenhang zwischen Intensität des Fernsehkonsums im Kindesalter und späteren beruflichen Qualifikationen. Danach
wirkt sich vor allem auf Kinder mit mittlerer Intelligenz hoher Fernsehkonsum
nachteilig auf die intellektuellen und beruflichen Leistungen aus – besonders
bei solchen, die bereits im Alter unter 3 Jahren fernsehen.
Manfred Spitzer
Die von Bildschirmmedien ausgehenden Ge-
gen im Alter von 13, 15 und 21 Jahren wurden
Da niedriger IQ und niedriger sozioöko-
fahren sind in der Vergangenheit bereits mehr-
die Teilnehmer selbst zu ihrem Fernsehkonsum
nomischer Status sowohl mit schlechterem Aus-
fach benannt worden (Spitzer 2003a; 2004abc;
an Wochentagen und an Wochenenden be-
bildungsabschluss als auch mit vermehrtem
2005abc). Wenn es hier um die Auswirkungen
fragt. Aus diesen Daten wurde die mittlere
Fernsehkonsum korrelierte, ist von Bedeutung,
des Fernsehkonsums auf die Bildung geht – auf
Fernsehdauer zwischen 5 und 15 Jahren be-
dass man diese beiden Faktoren aus dem Zu-
das vom Individuum erreichte Bildungsniveau,
rechnet. Darüber hinaus wurde der Fernseh-
sammenhang von Fernsehkonsum und Bil-
das im angloamerikanischen Sprachraum als
konsum für die Zeiträume Kindheit (5–11 Jahre)
dungsniveau herausrechnete. Auch danach
„academic achievement“ bezeichnet wird –,
und Jugend (13 –15 Jahre) separat berechnet.
blieb er bestehen und war signifikant. Mit an-
dann sei dies dadurch gerechtfertigt, dass es
Im Alter von 26 Jahren wurde das erreichte Bil-
deren Worten: Es ist durchaus der Fall, dass
neue Erkenntnisse hierzu gibt. In der Juli 2005-
dungsniveau auf einer Skala von 1 (keine be-
weniger begabte Kinder bzw. Kinder aus un-
Ausgabe der Zeitschrift „Archives for Pediatrics
rufliche Qualifikation) bis 4 (Universitätsab-
teren sozialen Schichten mehr fernsehen, aber
and Adolescence Medicine“ erschienen gleich
schluss) eingestuft. Mittels eines Fragebogens
dieser Effekt allein kann den Zusammenhang
drei wichtige Arbeiten, die im Folgenden kurz
wurde zudem der sozioökonomische Status der
zwischen Fernsehkonsum und Bildung nicht
dargestellt und diskutiert werden sollen.
Herkunftsfamilie (berechnet als Mittelwert der
vollständig erklären. Dieser Zusammenhang –
entsprechenden Variablen zwischen der Ge-
je mehr ferngesehen wird, desto schlechter das
burt und dem Alter von 15 Jahren) erfasst, mit-
erreichte Bildungsniveau – ist damit real und
tels Intelligenztests zu den Messzeitpunkten
kein statistisches Artefakt.
Drei Studien
Robert Hancox und Mitarbeiter (2005) berich-
wurde der IQ der Kinder bestimmt.
Interessant ist weiterhin die Tatsache, dass
ten über die weltweit erste prospektive Ge-
Der wesentliche Befund der Studie, deren
der Fernsehkonsum im Jugendalter (13 und 15
burtskohortenstudie zu den Auswirkungen des
Daten aufgrund ihres Längsschnittcharakters
Jahre) vor allem mit dem Verlassen der Schule
Fernsehens von Kindern und Jugendlichen auf
als sehr verlässlich eingestuft werden können,
ohne jeglichen Abschluss in Zusammenhang
deren Bildungsniveau als Erwachsene. Hierzu
ist der, dass der Fernsehkonsum der Kinder
stand, ein geringer Fernsehkonsum im Kindes-
wurden zunächst alle Kinder erfasst, die im neu-
bzw. Jugendlichen im Alter zwischen 5 und 15
alter dagegen am stärksten mit dem Erreichen
seeländischen Dunedin, einer Stadt auf der
Jahren mit einem geringeren erreichten Bil-
eines Universitätsabschlusses zusammenhing.
Südinsel, vom 1. April 1972 bis 31. März 1973
dungsniveau im Alter von 26 Jahren einher-
Beim ersten Befund ist nämlich die Richtung
geboren worden waren (vgl. Silva/Stanton
geht.
der Verursachung nicht klar: Es könnte sein,
(Siehe Abbildung 1)
1996). Als die Kinder 3 Jahre alt waren, wurden
die Familien erstmals untersucht, wodurch man
eine Gruppengröße von 1.037 Kindern erhielt.
In weiteren Abständen von 2 – 3 Jahren (d. h.
im Alter von 5, 7, 9, 11, 13, 15, 18 und 21 Jahren) wurden dann weitere Untersuchungen
durchgeführt. Zuletzt geschah dies im Alter von
26 Jahren, wo es immerhin gelang, 980 (96 %)
der 1.019 noch lebenden Teilnehmer der Studie zu untersuchen.
Als die Kinder 5, 7, 9 und 11 Jahre alt waren, wurden die Eltern nach der Zeit des durchschnittlichen Fernsehkonsums an einem Wochentag befragt. Bei den späteren Befragun-
Abbildung 1:
Einfluss des täglichen Fernsehkonsums
in Kindheit und Jugend auf die berufliche
Qualifikation im Alter von 26 Jahren.
Jede Säule entspricht 100 % der
jeweiligen Untergruppe mit einem
täglichen Fernsehkonsum von
weniger als 1 Stunde, 1– 2 Stunden,
2 – 3 Stunden und mehr als 3 Stunden
(Daten aus Hancox u. a. 2005, S. 616).
(Angaben in %)
■
■
■
■
100,0
80,0
60,0
40,0
Universitätsabschluss
beruflicher Abschluss
Schulabschluss
keine Qualifikation
20,0
0,0
<1
(n = 59)
36
1– 2
(n = 312)
2– 3
(n = 396)
>3
(n = 200)
Täglicher Fernsehkonsum in Stunden
(Größe der Untergruppe)
2 | 2006 | 10. Jg.
tv diskurs 36
dass die Jugendlichen zu viel fernsehen und
of Pediatrics), Kinder vor dem zweiten Lebens-
deswegen die Schule verlassen; es könnte aber
jahr nicht vor den Fernseher zu setzen, mehr
auch sein, dass sie sich in der Schule langweilen
Nachdruck zu verleihen sei. Im Lichte von Da-
und deswegen mehr fernsehen. Der negative
ten zum Lernen während der Gehirnentwick-
Zusammenhang zwischen Fernsehen in der
lung (Spitzer 2003b) kann man dem nur zu-
Kindheit und Universitätsabschluss hingegen
stimmen.
lässt sich nicht in dieser Weise kausal-neutral
deuten: Hier bleibt nur die Interpretation, dass
Die dritte Studie von Borzekowski und Robin-
das Fernsehen den erreichten Bildungsab-
son (2005) untersuchte an 341 Schülern der
schluss negativ beeinträchtigt.
dritten Klassen von sechs Schulen im US-ame-
Man fand weiterhin, dass das Fernsehen
rikanischen Staat Kalifornien den Zusammen-
die berufliche Qualifikation der Kinder mit mitt-
hang zwischen dem Vorhandensein eines Fern-
lerem Intelligenzniveau am deutlichsten be-
sehers im Kinderzimmer und den schulischen
einflusste. Mit anderen Worten: Der gering Be-
Leistungen in Mathematik, im Lesen und in
gabte hat eher keinen Abschluss relativ unab-
Sprachen und Kunst.
hängig vom täglichen Fernsehkonsum, und der
Die Studie ergab: Kinder ohne eigenen
Hochbegabte landet an der Universität, eben-
Fernseher schneiden in allen drei Bereichen
so unabhängig vom täglichen Fernsehkonsum.
besser ab als diejenigen Kinder, die über einen
Was aber mit der breiten Masse in der Mitte
eigenen Fernseher verfügen.
geschieht, hängt sehr wesentlich davon ab, wie
viel ferngesehen wird.
Resümee
Die zweite Studie von Zimmerman und Christa-
Betrachtet man die Ergebnisse der drei disku-
kis (2005) bezieht sich auf einen US-amerikani-
tierten Studien zusammen, ergibt sich ein sehr
schen großen nationalen und repräsentativen
klares Bild: Fernsehkonsum hat ungünstige
Datensatz. Bei 1.797 Kindern wurde der Fern-
Auswirkungen auf die schulischen Leistungen.
sehkonsum (von den Müttern berichtet) im Al-
Der Effekt betrifft alle Fächer, ist nicht mit an-
ter von vor 3 Jahren sowie im Alter von 3 bis 5
deren Faktoren (Intelligenz, sozioökonomischer
Jahren mit Testwerten für eine Reihe kogniti-
Status) zu erklären und wirkt sich langfristig auf
ver Funktionen (Konzentration, Lesefähigkeit,
den erreichten Ausbildungsgrad aus. Beson-
Sprachverständnis, mathematische Fähigkei-
ders beunruhigend ist, dass sich gerade das
ten) im Alter von 6 Jahren in Verbindung ge-
Fernsehen in sehr jungen Jahren langfristig sehr
bracht. Zudem wurden die soziale Herkunft und
ungünstig auswirkt: Ein Vierteljahrhundert nach
das Intelligenzniveau der Mütter erfasst, um
dem Fernsehkonsum in der frühen Kindheit
den Einfluss dieser Messgrößen aus den Effek-
zeigt er sich am Vorhandensein bzw. dem Feh-
ten des Fernsehens herausrechnen zu können.
len eines universitären Abschlusses. Im Zeital-
Der durchschnittliche Fernsehkonsum vor
ter des „Unterschichtenfernsehens“ (5,5 Stun-
dem dritten Lebensjahr lag in dieser Studie bei
den täglich bei Arbeitslosen im Vergleich zum
2,2 Stunden und bei 3,3 Stunden zwischen dem
Durchschnitt von 3,5 Stunden) sei nicht uner-
dritten und dem fünften Lebensjahr. Mit 6 Jah-
wähnt, dass man davon ausgehen muss, dass
ren schauten die Kinder im Durchschnitt 3,5
die Auswirkungen des Fernsehkonsums zu ei-
Stunden täglich fern. Insgesamt zeigte sich
ner Verstärkung der schichtenspezifischen Un-
beim Vergleich der Vielseher (mehr als 3 Stun-
terschiede führen. Anstatt also sozial auszu-
den täglich) mit den Wenigsehern (weniger als
gleichen, bewirkt das Fernsehen zunehmende
3 Stunden täglich) ein deutlicher Effekt des
soziale Ungleichheit.
Fernsehens im Sinne einer Beeinträchtigung
Noch einmal also in aller Kürze: Fernsehen
der kognitiven Fähigkeiten. Dieser Effekt blieb
macht dumm, vor allem die Kinder sozial
auch bestehen, wenn man die zusätzlich ge-
schwacher Schichten. Es wird Zeit, dass wir über
messenen Variablen berücksichtigte, und er
diesen sozialen Sprengstoff nachdenken. Wir
war für das Fernsehen vor dem dritten Lebens-
sind es unseren Kindern schuldig. Und wir dür-
jahr besonders ausgeprägt.
fen nicht länger zuschauen.
T I T E LT H E M A
Literatur:
Borzekowski, D. L. G./
Robinson, T. N.:
The remote, the mouse,
and the No. 2 pencil. In:
Archives for Pediatrics and
Adolescence Medicine
159/2005, S. 607– 613
Spitzer, M.:
Macht Punkt!: Tödliche
Geschosse, PräsentationsSoftware und kognitiver Stil
(Editorial). In: Nervenheilkunde 23/2004b,
S. 123 –126
Hancox, R. J./Milne, B. J./
Poulton, R.:
Association of television
viewing during childhood
with poor educational
achievement. In: Archives
for Pediatrics and Adolescence Medicine 159/2005,
S. 614 – 618
Spitzer, M.:
Internet für die Mädchen!
(Editorial). In: Nervenheilkunde 23/2004c, S. 186 f.
Spitzer, M.:
Fernsehen und Kinder in
Deutschland – Emotionen,
Schulen, Körper und Geist.
In: Nervenheilkunde
22/2003a, S. 113 –115
Spitzer, M.:
Noise und Neuroplastizität:
Umweltlärm und Sprachfähigkeit. In: Nervenheilkunde 22/2003b, S. 278 – 280
Spitzer, M.:
Arme virtuelle Realität:
Kleinkinder und elektronische Medien. In:
Nervenheilkunde 23/2004a,
S. 183 – 185
Spitzer, M.:
Vorsicht Bildschirm.
Stuttgart 2005a
Spitzer, M.:
Macht Fernsehen dick?
In: Nervenheilkunde
24/2005b, S. 66 – 72
Spitzer, M.:
Gewalt im Fernsehen –
aus medizinischer Sicht.
In R. Hänsel (Hrsg.): Da spiel
ich nicht mit! Donauwörth
2005c, S. 88 –104
Zimmerman, F. J./
Christakis, D. A.:
Children’s television viewing
and cognitive outcomes.
A longitudinal analysis of
national data. In: Archives
for Pediatrics and Adolescence Medicine 159/2005,
S. 619 – 625
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
ist Ärztlicher Direktor der
Universitätsklinik für
Psychiatrie in Ulm.
Entsprechend folgern die Autoren, dass
den Empfehlungen der Amerikanischen Akademie für Kinderheilkunde (American Academy
2 | 2006 | 10. Jg.
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