Venezuela - Amazonien
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Venezuela - Amazonien
Reiner Hildebrand: Reisetagebuch 42: Venezuela und Brasilien Port-of-Spain, Trinidad 1. Januar 2008 Die Nacht war kurz, Reggae live und Rum am Strand von Castara. Jetzt bin ich wieder auf der riesigen Fähre von Tobago nach Trinidad unterwegs. Nur unter Qualen ist die Dauerbeschallung auf dem Schiff zu ertragen. Böse Maschinenwesen kämpfen auf den Bildschirmen gegen amerikanische Menschen, die ebenso wenig friedlich sind. Der Soundtrack, dem man sich nirgendwo entziehen kann, ist Folter. Ohrstöpsel habe ich vergessen mitzunehmen. Port of Spain ist am Neujahrstag wie ausgestorben, nur ein paar Obdachlose liegen auf den ansonsten völlig leeren Straßen. Durch eine glückliche Fügung muss ich nur etwa eine halbe Stunde lang laufen, bis ich ein Taxi finde, das mich zum Motown Guesthouse und seinen zwei netten Herren bringt, dieser Oase in jener grauenhaften Stadt. Hier muss ich noch eine Nacht verbringen. Güiria, Venezuela Die „Sea Crawler“ ist ein überraschend kleines und angenehm langsames Schiff mit einem Sonnendeck, auf dem gleich drei kleiderschrankgroße Lautsprecherboxen für Urlaubsstimmung sorgen, indem sie die aktuellen Hits einspielen: „What a natural beauty ... she’s a queen ... I want her in my life ... she has the qualities of a queen when she moves ...“ Oder das “suicidal girl”, welch ein Ohrwurm. Alle, aber auch wirklich alle, mit denen ich über Venezuela sprach, haben mich gewarnt. Auch in den Reiseführern stehen eindringliche Warnungen. Und das Auswärtige Amt hat eine Reisewarnung herausgegeben. Wolf meinte, was kümmere schon einen armen Venezolaner meine abgeschnittene Hand, wenn er meine Armbanduhr dafür bekäme? Ich würde mich später nicht damit herausreden können, ich hätte nichts gewusst. Entsprechend vorsichtig verlasse ich das Schiff, weiche Blicken der ersten Venezolaner aus, vergewissere mich, dass meine Dokumente bestens gesichert sind und misstraue den wartenden Taxifahrern. Wollen sie mein Leben oder nur das Geld? Eine junge hübsche und sehr nette Venezolanerin mit Kind, mit der ich auf der Überfahrt Kontakt bekomme und die heute auch nicht weiter kommt als Güiria, deutete an, dass man sich vielleicht ein Hotelzimmer teilen könne. Selbst dieses Angebot muss ich schweren Herzens ausschlagen, weil sie auch meine Hilfe in Anspruch nehmen wollte, ihr eine Tasche durch den Zoll zu tragen. Bei so etwas bin ich ja extrem misstrauisch, obgleich die Hauptschmuggelrichtung für Drogen in umgekehrter Richtung verläuft. Der „Lonely Planet“ ist als sehr guter Reiseführer bekannt, aber das empfohlene Hotel neben dem Hafen existiert nur noch als Ruine. Ich lerne Miguel kennen, der mich zur Plaza Bólivar bringt und später ein Bier spendiert bekommt. Jetzt bin ich also zum ersten Mal in Südamerika. Kolumbus kam hier an, Walter Raleigh, Alexander von Humboldt, Theodor Koch-Grünberg auch und jetzt ich. Jetzt brauche ich erstmal Geld, aber 4 ATMs weisen meine Kreditkarte ab und erst am dritten Bankschalter habe ich Erfolg und bekomme Cash. Welch ein Herzklopfen zuvor! Ich darf gar nicht daran denken, was gewesen wäre wenn das nicht geklappt hätte, ohne einen Pfennig in der Tasche. Nur ein paar TT-Dollar hätte ich noch versilbern können. Jetzt geht das Rechnen los: Euro, US-$, TT-$, Bolivares und auch noch Bolivares Fuerzo. Ja, seit genau heute gibt es in diesem Land diese neue Währung. Einfach drei Nullen weggestrichen und die Inflation ist besiegt. Die Leute, bei denen ich mit meinen neuen Scheinen bezahle, sehen sie zum ersten Mal aus meiner Hand! Endlich, es ist 16 Uhr, kann ich mir etwas zu Essen kaufen und ich erlebe eine erfreuliche Abwechslung in der Speisekarte. Vorbei die Zeiten der Hühnerfastfood, jetzt gibt es Rindersteak und Rindfleischsuppe mit Knochen. Von Güiria nach Maturín, Venezuela 3. Januar 2008 Früh stehe ich auf, weil es längst hell ist. Aber sonst ist alles ruhig in Güiria. Heute ist doch nicht schon wieder ein Feiertag? Wo bekomme ich einen Kaffee her? Ich muss doch zum Boot, soll um 9, besser schon um 8 da sein. Lange laufe ich umher, bis ich schließlich irgendwo einen Nescafé bekomme. Vor 8:30h läuft hier gar nichts, sehr sympathisch eigentlich. Dann mit dem Gepäck zum Hafen. In diesem Land gibt es wohl überall und jederzeit Taxis, ein Riesenvorteil gegenüber Trinidad. Es ist aber nicht zu erkennen, dass heute ein Boot ausläuft nach Tucupitá. Ein paar junge Männer bieten mir eine Extratour an, zu einem horrenden Preis, aber vermutlich wollen sie meine Leiche in den Golfo de Paria werfen. Sicher entscheide ich mich in meiner Ungeduld jetzt falsch, entschließe mich für den Landweg zum Delta Amacuro lasse mich aber mit dem Taxi zu dem Platz fahren, von dem aus Busse und Por Puestos1 abfahren und schon sitze ich in einem solchen mit vier hübschen und sehr jungen Frauen und noch ein paar Typen. Die olle Rappelkiste erinnert an das Gefährt der Blues Brothers, ist völlig ausgelutscht, aber geräumig und der Achtzylinder bullert sehr kräftig. Anders als in Kuba stammen die Straßenkreuzer hier eher aus den Siebzigerjahren, sind aber in einem vergleichbaren Erhaltungszustand. Sie werden vor allem als öffentliche Verkehrsmittel genutzt, bieten die beiden Sitzbänke doch genügend Platz, um 7 Leute unterzubringen. Es will mir scheinen, dass die Art, wie man sich in einem Land hauptsächlich fortbewegt, ein ganz wesentlicher Bestandteil der Kultur ist und zur Unterscheidung der Kulturen brauchbar ist. Haben Anthropologen das bereits erkannt? Ich werde an dieser Theorie weiterarbeiten. Die Stecke nach Carúpano ist landschaftlich sehr schön, die Bäume wachsen über der Straße zusammen und man bewegt sich durch eine Tunnelallee. Nach 2 ½ Stunden wechsle ich das Por Puesto. 1 PKW-Sammeltaxen, die feste Strecken bedienen und die abfahren, wenn alle Plätze besetzt sind Die Fahrt durch die Llanos, durch deren Ausläufer wir auf kerzengerader Schnellstraße fahren, sind eine offene Savannenlandschaft mit Baumgruppen und auch mal mit Pinienwäldern. Riesige Herden weißer Rinder weiden hier oder überqueren auch mal die Straße. Bunte Tafeln mit Papageien werben für den Nationalpark, rote Fahnen für Hugo Chavéz („Si!“). Nach weiteren 2 ½ Stunden bin ich in Maturín und freue mich die Knochen wieder ausstrecken zu können. Es ist wohl angenehm, zwischen gut gebauten und gut aussehenden Girls eingequetscht zu sein, aber nicht auf Dauer. Solch eine Fahrt ist immer auch ein musikalisches Erlebnis. Salsa oder Merengue, hier gibt es beides und zwar reichlich laut. Wenn diese Corazón-Lieder2 gespielt werden, kennen alle außer mir die Texte und singen mit. Ich konnte jetzt feststellen, dass in etwa 0,1% dieser Lieder das Wort corazón NICHT vorkommt. Dann sind es aber mit Sicherheit die suenos3. Die Straßen in Venezuela sind gut ausgebaut und es herrscht reger Verkehr. So ein USOldie entwickelt vergleichsweise viel Power und die Fahrer haben eine haarsträubende Art, damit umzugehen. 150 statt 60 km/h auf der städtischen Schnellstraße sind da noch eher harmlos. An diesem Tag kommen wir an 4 oder 5 schweren Unfällen vorbei, die entstanden, weil auf kurvigen Abschnitten falsch überholt wurde. Auch zwei halbe Hunde waren am Fahrbahnrand zu sehen. 2 3 Ausdruck stammt von mir. Das Wort corazón (span.= Herz) kommt in praktisch jedem dieser Lieder vor. (span.) Träume Maturín, Venezuela 4. Januar 2008 Ich hatte mir vorgenommen, mit einem Bus um 11 Uhr nach Tucupitá ins Delta Amacuro4 Gewagt eigentlich, weil es Freitag ist und das Bargeld nicht über das Wochenende reichen würde. In Deutschland wären Geld holen und Busfahrkarte lösen eine Sache von 10 Minuten. In Venezuela geht das so: Ich stehe nach Sonnenaufgang auf und bin der erste beim Frühstück. Das große graue Hotel beim Busbahnhof sieht aus wie ein Leipziger Messehotel zu DDR-Zeiten, im obersten Stock gibt es morgens heiße Croissants mit Schinken und Käse belegt. Dann gehe ich zum Busbahnhof rüber, esse ein Eis bei der süßen Chica von gestern und checke ab, welche der beiden Busgesellschaften, die Tucupitá bedienen, mir geneigt ist ein Ticket zu verkaufen. Das eine Büro erklärt sich für nicht zuständig, das andere hat zu. Mit einem Taxi fahre ich erst einmal ins Zentrum vn Maturín zur Nationalbank von Venezuela. Die hat aber noch nicht auf. Nach meiner Uhr ist es jetzt 8, tatsächlich aber 7:30h. Sicher ist Chavéz auch daran schuld, dass sich sein Land aus der East Coast Time Zone ausgeklinkt hat, zu der es geografisch gehört. Also warte ich mehr als eine Stunde auf der Straße auf die Öffnung der Bank. Aber ich bin nicht allein.Als die Türen endlich geöffnet werden, umfasst die Schlange der Wartenden immerhin 40 Personen. Und denen wird auch noch das Schauspiel der Anlieferung des Geldes geboten. Wie in einem Actionfilm wird der Bürgersteig von Passanten befreit, als der Panzerwagen vorfährt. Dann zwei Männer in schusssicheren Westen und ein weiterer im Wagen. Einer mit Schnellfeuergewehr und Patronengürtel auf der Straße hält den Autoverkehr an. Ruckzuck ist der Sack durch das Hauptportal in die Bank gelangt und schon ist die Aufführung zu Ende. Schließlich werden wir hereingelassen. Ein High-Tech-Wartenummernsystem sorgt für Gerechtigkeit, ein bewaffneter Wachmann für Sicherheit. Als die Frau am Schalter beginnt, meine Ausweisdaten in ihre Formulare zu übernehmen, beginne ich zuversichtlich zu werden, nicht ohne Geld in Venezuela sein zu müssen und ggf. die Postbank in Deutschland oder die Deutsche Botschaft in Caracas um Beistand bemühen zu müssen. Doch es kommt anders. Schon war meine Kreditkarte mit einem Bleistift auf ein Formular frottiert, waren noch zwei weitere Kollegen hinzugezogen, weil der Computer den Vorgang blockiert, da musste ich mich erst einmal wieder hinsetzen und schließlich in ein anderes Büro gehen zu einem anderen Angestellten. Das erfüllte mich mit Zuversicht, war es doch in Güiria auch so und führte schließlich zu Barem. Hier nicht. Der Mann ist sehr nett, geht mit mir zusammen aus seiner Bank heraus, über die Straße, um die Ecke, den Block entlang. Wir kommen kurz ins Gespräch über meine Reise, die 4 Bezeichnung für das Delta des Orinoco jetzt wohl gleich zu Ende ist. Er lobt mein Spanisch, aber das ist wohl eher gelogen. Ich kann zwar alles mögliche sagen, aber die Antworten zu verstehen, darin besteht die Kunst. Er zeigt mir die Banco Mercantil. Ob ich es da noch mal versuchen wollte? In der Handelsbank gibt es ein noch effektiveres High-Tech-Wartenummernsystem und einen bewaffneten Soldaten im Schalterraum. Bald bin ich dran, aber zunächst am falschen Schalter. Dann, am Schalter 6, tippt der Angestellte nervös auf seiner Tastatur umher und ich sehe meine letzte Hoffnung schwinden, weil das sistema für No! plädiert. Doch dann fällt ihm schließlich seine Ritsch-Ratsch-Maschine ein, wie sie in der Zeit vor dem Internet überall üblich war. Dann geht alles ganz schnell. Nur noch mal für ein Foto in die Kamera schauen, eine Fotokopie von meinem Pass machen, einen Fingerabdruck von meinem Daumen und schon liegt ein Stapel Scheine vor mir. Dass von einer Bank am vierten Tag der Einführung der neuen Währung noch die alte ausgegeben wird, ist mir jetzt auch egal. 10 Minuten vor der Abfahrtszeit des Busses von „Guayanesa“ ist der Schalter noch immer unbesetzt und einen Bus von „Guayanesa“ sehe ich auch nicht. Also wieder in ein Por Puesto. Im Delta Amacuro Am Samstagfrüh stehe ich vereinbarungsgemäß am Schiffsanleger des Rio Manamito, einer der drei Hauptarme des Orinocodeltas. Dann wird gebunkert: Benzin, Lebensmittel, Wasser, Gas, Hängematten. José ist der Führer des Bootes, das ich für die nächsten Tage gechartert habe, ich nenne ihn den „Commandante“, das passt gut zu seiner unnahbaren Art. Seine Frau Saber ist fürs Kochen zuständig und dann ist da noch ein echter WaraoIndianer mit an Bord, wir rufen ihn „Indio“. Meine Crew ist merkwürdig. Es ist nicht üblich, Hallo oder Guten Tag zu sagen, auch wenn wir jetzt für längere Zeit etwas gemeinsam unternehmen. Nicht einmal mein Lächeln wird erwidert. „Reservado“ nennen sie das hier, sehr ungewohnt für mich. Ein kleines Boot mit einem 115 PS – Außenbordmotor macht mächtig Dampf und wir fliegen nur so übers Wasser. Der Manamo fließt braun und träge dahin, auf seiner Oberfläche treiben größere und kleinere Verbände von Wasserhyazinthe, an seinen Ufern schöner Galeriewald mit Lianen. Einmal stoppen wir wegen Brüllaffen auf, die sich in einer Baumkrone aufhalten, ein andermal wegen eines Guacharagua de Agua, einem riesigen Vogel. Am seichten Ufer wachsen Mangroven bis zu drei Meter Höhe. Schon bald springen Flussdelfine vor uns aus dem Wasser, mehrmals dreht mein Commandante das Gas zurück. Mittagspause in den Hängematten eines „Campamiento Ubanoco“. Hier ist das Paradies. Ein Meer von Blüten, Kolibris, Schmetterlinge, Papageien. Nachmittags erreichen wir ein anderes Camp, ein Anleger mit überdachter Bretterplattform, Kochgelegenheit, mehr nicht. Eine Indianerfamilie empfängt uns dort. Der Commandante erklärt, wie man aus Draht allerfeinste Angelhaken bastelt, verteilt Köder und bald haben wir den ersten Piranha am Haken. Er ist kleiner als eine Hand, auf der Unterseite blutrot und wenn man dem Tier ein Blatt in das Maul steckt, schneiden die rasiermesserscharfen Zähnchen daraus einen Halbkreis aus. Wir sind ein Stück flussaufwärts gefahren um zu fischen. Indio und ich gehen dort auch an Land, er schlägt mit der Machete einen Weg durch das Mangrovendickicht, wir sind beide fett gegen Moskitos eingeschmiert, aber es hilft nur wenig. So arbeiten wir uns langsam ein paar Hundert Meter vorwärts, bis uns das Boot wieder aufnimmt. Auch der Rio Manamo teilt sich weiter auf, seine Seitenarme umschlingen Inseln, unser Seitenarm wird Rio Manamito genannt. Spätnachmittags fahren wir noch ein wenig weiter flussabwärts und machen kurz in einem Dorf der Warao Halt. Die Indianerfamilie, die uns in unserem Camp in Empfang genommen hatte, fährt mit dorthin und nimmt den riesigen Ara und zwei geschossene Pecaris mit. Zwei Hunde lassen sie uns da. Pünktlich 30 Minuten vor Sonnenuntergang setzt „La plaga“ ein, das Naturschauspiel bestimmter zweiflügliger Insekten. Diese Sorte Moskitos ist anders als andere, die ich kennen gelernt habe. Sie erscheinen in einer Unzahl, sind ziemlich groß, aber eher lahm. Genüsslich kann man sie zerquetschen, wobei sie leicht knacken und sich dann als dunkler Niederschlag auf dem Schoß ansammeln. Wenn wir zu viert nebeneinander auf dem Holzbänkchen hocken, um das Abendlicht über dem Orinoco zu genießen, hört man neben den Stimmen der Vögel und Zikaden und den Motorengeräuschen der 40 PS – Außenborder vor allem unser ständiges Klatschen. Wirklich extrem lästig, aber ich möchte den Tierchen zugute halten, dass ihre Stiche nicht jucken, ganz anders als bei den Miststücken in der Karibik. Und anders als bei den winzigen Gnitzen, die sie hier PuriPuri nennen und die noch vor den Moskitos auf dem Zeitplan stehen. Schon bald nach Sonnenuntergang verziehen wir uns unter die Mociteros5, die wir über die Hamacas6 gespannt haben, aber ich schlafe sehr schlecht ein und höre noch lange den Geräuschen des Urwaldes zu. Fledermäuse, die über unseren Netzen jagen, werden heute reichlich satt. Am nächsten Morgen fahren wir in so eine Art Sackgasse an unserem Fluss, in deren Ende sich die Wasserhyazinthe staut. Hier versuchen wir noch einmal unser Anglerglück. Eigentlich ist es nicht zu fassen, ich befinde mich nach einer reichlich beschwerlichen Reise am Orinoco, der mich seit Studientagen mit Sehnsucht und Fernweh erfüllt und fische hier mit echten Indianern echte Piranhas, die wir wenig später paniert und gebraten zum Reis essen. Fressen und gefressen werden. Minimorena, Venezuela Die Indianersiedlung Culeritá haben wir ja gestern schon kennen gelernt. Heute stehen Minamorena I und II auf dem Programm. Die Warao bauen Pfahlbauten ins seichte 5 6 Moskitonetz Hängematte Wasser am Ufer, also direkt über der Moskitobrut. Ihre Malocas sind manchmal achteckig und werden mit Palmblättern gedeckt. Nach allen Seiten hin offen, findet das Leben auf der ebenen hölzernen Plattform statt, auf der sich jeglicher Hausrat findet, soweit er nicht, wie alle Kleidung und Nahrung, an der Dachkonstruktion aufgehängt wird, ein unglaublicher Saustall nach unseren Begriffen. Die Häuser sind untereinander durch einen aufgeständerten Holzbohlenweg miteinander verbunden, die Hauptstraße. Es gibt eine Generatorenstation und die Regierung Chavéz baut in jedem der Dörfer eine neue Schule, das größte Gebäude von allen. Auch diese Leute reagieren nicht auf Ola! oder Buenos tardes!, nehmen keine Notiz von mir außer den jugendlichen Mädchen, die nackt baden und kreischen, als wir ankommen. Der Fischfang geschieht mit Netzen, die vom Boot, z.T. vom Einbaum aus, ausgebracht werden und kommt dann in die elektrische Kühltruhe. Ansonsten gibt es Fernsehapparate und DVD-Player, die männliche Jugend sieht Actionfilme. Häufig sind Waschmaschinen, was mich wundert, weil die Leute ja nur 2-3 Wäschestücke am Leib tragen, die Kinder gar keine, und weil man allerorten Frauen, die sonst ohnehin nicht viel zu tun haben, am Fluss beim Waschen sieht. Männer sehe ich mit primitiven Mitteln damit beschäftigt, Holzboote herzustellen, Frauen machen Flechtwerk, Kinder baden oder spielen mit einem Waschbär, den sie als Haustier halten. Ansonsten gibt es Hühner, Schweine, Hunde, rote Ibisse, eine Idylle im Abendlicht. Einer der Waraos kommt bei uns mit seinem Einbaum längsseits und paddelt mich in einen Kanal, der innerhalb einer der hundert Inseln verläuft. Sofort sind wir in einer anderen Welt. So schöne Tropenvegetation gab es bisher nur in meiner Phantasie, und ich war ja schon viel in den Tropen unterwegs. Das lässt sich nicht beschreiben und es bleibt zu wünschen, dass die Bilder, die meine billige Ersatzkamera macht, besser werden als was auf dem defekten Display zu erkennen ist. Auf dem Rückweg zu unserem Camp ist es so warm, dass trotz heftigem Fahrtwind das T-shirt genügt. Das Abendlicht taucht die Szenerie in warme Farben. Ich beginne von Humboldt und Koch-Grünberg jetzt noch intensiver zu verstehen. Ich befinde mich völlig im Einklang mit mir selber. Schule ist für mich weiter weg als ein Krater auf dem Mond. Sta. Elena de Uairen, Venezuela Amazonien ist unfassbare 7 Millionen Quadratkilometer groß. St. Elena de Uairen ist ein winziger Punkt mittendrin, eine geschäftige kleine Stadt mit ganz eigenem, wenn auch spröden Charme. Hier laufen Menschen mit Outdoorklamotten herum und hochbeinigen Geländewagen ist anzusehen, dass sie bestimmt nicht von feinen Damen zum Shopping genutzt werden wie bei uns. In den zahlreichen Läden gibt es alles, was Menschen in der Wildnis zum Wandern, Klettern, Erforschen, Überleben benötigen, vor allem aber, wie überall in der spanischen Welt, Schuhe. Viele Tour Operators buhlen um die Gunst der jungen Ausländer, die es bis hier her geschafft haben, um aufzubrechen zum höchsten Wasserfall Venezuelas, dem Salto Angel oder wie ich, zum Monte Roroima. In St. Elena wird mir bewusst, dass ich schon seit 8 Tagen keinen meinesgleichen mehr gesehen habe. Hier trifft man wieder auf Vertreter des internationalen Rucksacktourismus, allerdings solche einer besonders abgehärteten Sorte. Ich brauche erst einmal Geld. Wenn ich hier meinen Reisepass verlieren würde oder geklaut bekäme, wäre das sehr ernst. Aber ich habe Kopien nicht nur an anderem Ort im Gepäck, sondern auch im Internet. Mit Hilfe der deutschen Botschaft in Caracas käme ich irgendwie davon. Dasselbe gilt für die Rückfahrts- und Rückflugtickets, die ich ständig zwischen Bauch und Unterhose und nachts unter der Matratze verwahre, auf der ich schlafe. Das hat sich auf Hunderten von Reisen in dreißig Jahren gut bewährt. Alles andere ist sowieso leicht zu ersetzen. Würde ich aber meine Kreditkarte nicht mehr haben, auf die ich hier voll setze, befände ich mich in einer extrem schwierigen Situation und wüsste nicht einmal, wie ich die nächsten Tage überleben könnte. Gestern war es soweit. Blut schoss mir in den Kopf, wo um Himmelswillen ist nur meine VISA-Karte ??? Sollte sie beim Umkleiden auf dem finistren Klo vom Busbahnhof ....? Nein, kann doch gar nicht. Beim Schuhkauf? O Gott, das Geschäft hat längst zu und jetzt ist Wochenende. Ruhe bewahren, nur nicht hektisch werden! Langsam krame ich zum wiederholten Mal alles durch. Und da ist sie, war durch einen Schlitz hinter das Futter meiner Geldbörse gerutscht. Sehr große Erleichterung. Aber was nützt die VISA-Karte in Venezuela, wenn jede Transaktion ein solches Dilemma ist? Fast hätte ich keine Schuhe kaufen können, immer soll ich die letzten beiden Nummern meiner venezolanischen ID-Karte angeben. Aber es ging dann doch, immer unter Vorlage des Passes. Heute morgen auf der Bank in Sta. Elena, ich bin ja bereits auf das Schlimmste gefasst und habe wirklich Herzklopfen, ob ich tatsächlich Geld bekäme. Wieder steht bereits eine Schlange vor den beiden Schaltern bis auf die Straße. Brav stelle ich mich an und warte geduldig eine Stunde und 10 Minuten, bis ich dran bin. Aber die Antwort ist knapp und eindeutig. Bei ihnen gibt es keine avance effectivo. Ich solle es bei der Banca Industriale versuchen. Das ist jetzt aber wirklich meine letzte Chance, in vielen hundert Kilometern Umkreis gibt es keine weitere Bank. Bei der anderen Bank komme ich schneller dran und überhaupt werde ich zuversichtlich, als ich ein großes „VISA“-Zeichen bereits auf der Eingangstür sehe. Die Dame erklärt mir aber, dass heute nichts ginge, weil das sistema nicht funktioniere, also ihre Computereinrichtungen. Mich packt Verzweiflung, foltert Spott. Ich solle es doch um halb vier noch einmal versuchen. Um 15:20 h gehe ich wieder hin, aber bereits jetzt lässt der Bewaffnete trotz Bettelns und Flehens keinen mehr in die Bank. In der Schalterhalle wieder eine Schlange und die soll wohl bis 16 Uhr abgearbeitet sein. Ich versuche es auch draußen noch einmal am Geldautomaten, aber weshalb eigentlich? Ich fluche auf den „Lonely Planet“, der in seiner Ausgabe von 2002 geschrieben hat, dass die VISA-Karte in diesem Land ein beliebtes und überall gängiges Zahlungsmittel ist, aber das Gegenteil ist der Fall, überall will man cash sehen. Jetzt stehe ich sehr dumm da, denn mit dem Gegenwert von 20 €, die ich noch in Bolivar Fuerzo bei mir führe, komme ich nicht mehr weit. Viele Möglichkeiten habe ich jetzt nicht mehr. Erst einmal tausche ich abends 40 US-$ im Schwarzhandel und bekomme dafür doppelt so viel Landeswährung wie auf der Bank. Eure Schuld, Venezolaner! Was mit den Dollars jetzt geschieht, die die obskuren Männer bündelweise sammeln, bekomme ich nicht verraten. Ich nehme an, sie fließen entweder in die kolumbianische Drogengeldwäsche oder in die venezolanische Konterrevolution. 6 Monate Gefängnis drohen mir jetzt. Jairo, mit dem ich über eine Tour zur Besteigung des Monte Roroima in Verhandlung bin, empfiehlt mir, die 250 km bis Boa Vista in Brasilien zu fahren, dort funktionierten alle Geldautomaten. Der „Lonely Planet“ behauptet das Gegenteil, also könnte es stimmen. Am nächsten Morgen gehe ich aber noch einmal zur Banca Industriale. Es gibt zwei Schalter. Vor einem ist Schlange, vor dem anderen nicht. Da laufe ich drauf zu, denn links und rechts der Panzerglasscheibe hängen VISA-Wimpel. Ich bin sofort dran und sehe mich am Ziel meiner Wünsche. Nach dem Eintippen meiner Daten ins sistema bedarf es eines Telefonats. Ich werde wieder ängstlich. Aber als die Angestellte sich schließlich die alte Ritsch-Ratsch-Maschine vornimmt, habe ich gewonnen. Noch ein paar Fotokopien, Unterschriften, einen Daumenabdruck und ein Foto von mir und schon kann ich zur Kasse. Nicht einmal eine halbe Stunde hat das Ganze gedauert und dann habe ich Bolivar Fuerzo in kleinen Scheinen direkt aus der Druckerpresse. El Pauji, Venezuela Dienstag, 22. Januar 2008 15 Leute passen in den Land Cruizer, wenn sie nur eng genug sitzen, trotzdem bleibt Platz genug für Gepäck und zum Kinderstillen. Nach El Pauji (sprich El Pau-i) sind es nur 1½ Stunden, allerdings über schwieriges Terrain, eine Asphaltstraße gibt es nicht dorthin. Wenn Sta. Elena de Uiarén bereits am Rande der Zivilisation liegt, so nähert sich zwangsläufig alles, was dahinter noch kommt, bereits dem Rande der Erdscheibe. Immer wieder werden wir hier dicht an der Grenze zu Brasilien durch Posten der Guardia Civil angehalten und kontrolliert, eine willkommene Gelegenheit, um beim Aussteigen mal die Knochen zu strecken. Dreimal muss ich auf den 70 km meinen roten Reisepass vorzeigen. In El Pauji lässt man mich am Haus von Markus, einem Schweizer, heraus, die anderen fahren noch bis Ikabarú weiter. Markus wurde mir als Ansprechpartner in Sachen Gold und Diamanten empfohlen, gern hätte ich ja mal eine Mine besichtigt, aber leider ist Markus zur Zeit gar nicht da und seine reizende Tochter hat keinen Schlüssel zu den Unterkünften. Ich finde aber nebenan bei zwei alten Herrschaften eine nette Cabana, die sauberste Unterkunft übrigens, seit ich auf dem amerikanischen Kontinent bin. Sie liegt in einer gepflegten Gartenanlage mit der üblichen Vegetation, ist über einen Sandweg erreichbar und alles erinnert eher an eine Ferienhaussiedlung in MecklenburgVorpommern als an die von mir erwartete Wildweststadt mit zwielichtigen Kneipen, in denen Typen wie Charles Bronson als Desperados ihr Geld vom Goldschürfen versaufen, wo schmierige Nutten herumhängen und nach Einbruch der Dunkelheit die Fremden erst ausgeraubt und dann erschossen werden oder umgekehrt. Dieses El-Pauji also besteht aus weitläufig verstreuten gepflegten Häuschen in Gartengrundstücken und alle Stunde mal sieht man einen Geländewagen langsam durch die Straßen holpern. Ein Lädchen, ein Kirchlein und die Büste von Simón Bolivar markieren den Ortskern. Wenn jemand Stille, Abgeschiedenheit und klare Luft sucht, ist er hier völlig richtig. Was aber soll ich jetzt mit meiner Zeit anfangen, in der ich eigentlich Goldschürfer und Diamantminen kennen lernen wollte? Ich beginne eine ausgedehnte Wanderung und zwei nette große Hunde schließen sich mir an und begleiten mich stundenlang. Auf der Wasserscheide zwischen Caroni/Orinoco und dem Amazonas ergeben sich herrliche Ausblicke auf die Tafelberge und die Weiten der Gran Sabana. Die Luft ist glasklar, die Landschaft wunderschön, der Ort ist ja etwas erhöht gelegen und so gibt es von vielen Stellen aus eine gute Rundumsicht auf bewaldete Hügel im Vorder-, und Tafelberge im Hintergrund. Wir laufen über den „Flughafen“, ein Stück gemähtes Land mit einer zerfallenen Wellblechhütte, hinweg ins Gelände, es ist seltsam einsam, still und erhaben. Zweimal begegnen uns Leute in alten Geländewagen, töten mich aber nicht, sondern winken nett und verhalten sich so freundlich, wie Menschen auf der ganzen Welt sich in ländlichen Gegenden verhalten. Dort, wo das Regenwasser die feste obere Bodenschicht aufgerissen hat, erodiert es die losen Sandschichten darunter zu bizarren Formen , die überraschenderweise in vielen Farben vom reinen Weiß über Anthrazit zu Schwarz und von Gelb über Rotbraun zu bläulichen Tönen changieren. Einmal treffe ich auf eine große Sandwespe, die gerade dabei ist, letzte Vorbereitungen zur Aufnahme einer riesigen gelähmten Heuschrecke in ihre Kinderstube zu treffen. Vor einem nicht bestimmungsgemäßen Schicksal des bemitleidenswerten Opfers als Hundefutter konnte es von mir nur mit Schwierigkeiten bewahrt werden. Meine alte Liebe zu den Wirbellosen. Dafür bekommen die Hunde später Erdnussflips mit Käsegeschmack zur Belohnung, da können sie sich nicht beschweren. Weit draußen am Ortsrand steht eine Maloca7, die sich sogar „Maloca“ nennt und eine Kneipe ist. Hier treffe ich auf zwei junge Frauen, die sich zum Essen zu mir setzen. Carina studiert Erziehungswissenschaften, lässt sich aber leider nicht von mir einladen, ein Stück mitzureisen. Die Maloca bietet den Vorteil, dass es Corn Flakes und Milch gibt, also bin ich am nächsten Morgen mit den Hunden wieder zum Frühstück da. Eine Stunde habe ich am Ortsplatz gewartet, dann kam ein Wagen, der mich mitnehmen konnte zurück nach Sta. Elena de Uiarén. War auf der Herfahrt trotz oder gerade wegen der Enge genug Muße, in den spanischen, negriden oder indianischen Gesichtern der Mitreisenden zu lesen, hat die Rückfahrt ganz anderen Charakter. Dem 7 Typische Rundhütte als Gemeinschaftsunterkunft der indianischen Ureinwohner hochkonzentrierten Testosteron hinter dem Steuer gelingt es, diesen Land Cruizer ohne ABS und ohne ESP auf den Gefällstrecken bis auf 120 km/h zu bringen, aller Wellblechpiste, Kies, Steinen, Bodenwellen und Wasserrinnen zum Trotz. Erstaunlich, was das Fahrwerk so wegsteckt. Erfreulicherweise blieb die pralle Fruchtblase, die wir auch mit an Bord hatten, unversehrt. Nach dieser Fahrt bin ich völlig erledigt, sie hätte gern doppelt so lange dauern dürfen, denn die Ausblicke sind teilweise doch atemberaubend. Viel zu früh bin ich in Sta. Elena, wo ich noch Kaffee und Kuchen zu mir nehme und mich von Roxanna verabschiede. La Linea (Venezuela/Brasilien) Schnell erreiche ich mit einem Sammeltaxi La Linea, die Grenze zwischen Venezuela und Brasilien, die ich mir so ganz anders vorgestellt hatte. Eine riesige und sehr zeitgemäß wirkende Abfertigungshalle ist das auf venezolanischer Seite. Eine Menschenschlange reicht weit aus dem Gebäude heraus. Die Ausreise ist wohl noch einmal ein größerer verwaltungsakt, will mir scheinen. Gruppenweise werden wir hereingelassen, als wollten wir den Reichstag in Berlin besichtigen. Schließlich findet man sich vor einem Büro wieder, in dem ein bemitleidenswerter Mensch zwischen zwei offenbar nicht funktionierenden Computern (ich kombiniere: la sistema) sitzt und handschriftlich von allen Aus- und Einreisenden Name, Ausweisnummer, Nationalität und wasweißichnichtnoch an Abkürzungen in ein dickes Buch einträgt und anschließend zwei Stempel in den Pass drückt. Viele andere Staatsdiener sitzen dagegen völlig arbeitslos in den übrigen Büros, die zum Flur hin verglast sind, weshalb man beim Anstehen genügend Muße hat, sich Gedanken über Chavez' Revolution zu machen, die wohl noch nicht ganz zu Ende geführt ist. Nach sage und schreibe 2 Stunden und 15 Minuten bin ich an der Reihe. Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass man mich problemlos ausreisen lässt. Dann geht es weiter zum brasilianischen Grenzposten, über 1 km entfernt. Im Niemandsland parken Massen von LKW. Gut dass ich das Stück von einem freundlichen Pickup-Fahrer mitgenommen werde. Auch die Einreise nach Brasilien ist einfach, eine nette Grenzbeamtin füllt für mich rasch das Formular aus und schon kann ich weiterziehen. Auf der brasilianischen Seite gibt es eine richtige kleine Stadt mit vielen Geschäften, die auf keiner Karte eingezeichnet war. Hier bekomme ich Essen und die Mitfahrt in einem privaten PKW nach Boa Vista. Das werden jetzt sprachlose Tage werden! Niemand spricht hier englisch, aber mit Spanisch werde ich immerhin verstanden. Vieles vom Portugiesischen lässt sich rein intuitiv verstehen, vor allem Geschriebenes. Ansonsten schlage ich mich mit Zeichensprache und Gesten durch. Portugiesisch ist übrigens durch die vielen Sch-Laute eine sehr schöne, weiche Sprache. Gewissermaßen das Gegenteil von Russisch. Eine bestens ausgebaute BR 174 führt durch eine friedliche hügelige Landschaft, hin und wieder gibt es Pferde und weiße Rinder, auch flache Seen in der Grassteppe. Dazwischen überall Ansiedlungen der Waimiri Atroari, entweder traditionelle Malocas, aber viel häufiger diese Lebensform, die für eine bestimmte Kulturstufe auf der gesamten Erde typisch zu sein scheint: Wellblech, Hühner, Hunde, Autowracks und Plastikmüll. Von den kriegerischen Waimiri gibt es nicht mehr viele, eintausend, wenn es hoch kommt. Die meisten starben in den Siebzigerjahren bei den brutalen Auseinandersetzungen um den Bau genau dieser Straße, auf der ich jetzt bequem und schnell weiterkomme, aber auch viele Soldaten sind dem Pfeilgift erlegen. Heute ist das durchschnittene Indianerterritorium eingezäunt. Man darf nicht mal anhalten, nicht aussteigen. Nachts ist die BR 174 im Indigenogebiet völlig gesperrt. Wir überqueren den Rio Urarícuera, jener Verbindung zwischen Orinoco und Amazonas, der mir auch deshalb so vertraut ist, weil sich T. Koch-Grünberg seiner Erforschung so ausführlich gewidmet hat. Boa Vista, Brasilien 10. Januar 2008 Boa Vista ist eine schlimme Stadt und es ist schade, dass ich nicht gleich morgen früh weiterfahren kann. Auf der Landkarte und bei Google Earth sah das ganz gut aus, was da in Anlehnung an Brasilia oder Karlsruhe auf dem Reißbrett geplant war, aber die Planung hat eine wenig lebenswerte extrem weitläufige Stadt für Autofahrer entstehen lassen. Ich laufe mir hier die Hacken ab, weil es wohl Verkehrsmittel außer privaten PKW gibt, diese aber selten dorthin fahren, wo ich hin möchte. Außerdem alles reichlich teuer hier. Ein privates Taxis vom Hotel ins Zentrum kostet 10 €, das Mitfahren im Sammeltaxi, welches per Handwink angehalten werden kann fast 2 €, ebensoviel wie die Fahrkarte ohne Umsteigen im fast leeren gepflegten Stadtbus. Immerhin gibt es auf Anhieb aus dem ersten ATM Geld auf Kreditkarte, fünf Minuten, kein Thema. Gerade sitze ich auf einer überdachten Terrasse eines Restaurants am Rio Branco, die Bedienung ist hübsch und freundlich, es ist sehr heiß, Rockmusik kommt aus den Boxen des Lokals. Der Rio Branco fließt breit und träge durch die Savannenlandschaft, jetzt in der Trockenzeit gibt er schöne Sandbänke frei. Eine Brücke überspannt den Fluss. Die Hitze ist drückend. Das Zentrum von Boa Vista ist fein hergerichtet, Strand, Restaurants, Lampen, Treppen, Denkmal für die Entdecker und Erforscher, alles picobello in hellem Stein, aber kaum ein Mensch treibt sich hier herum, schon gar kein Tourist. Im Museu Integrada war ich der erste nichtbrasilianische Besucher seit 8 Monaten, da kam mal ein Amerikaner, wie das Besucherbuch ausweist. Sie zeigen in einer kleinen Ausstellung neben Ökologie, Zoologie und Botanik auch Ethnografisches, Flechtsachen der Macuxi und der Taulepang. Ich fühle mich Theodor Koch nahe, dem sie sogar eine Gedenkplatte vor den Eingang gesetzt haben. Deus caritas est! Vermutlich ist seit 1924 niemand aus Grünberg mehr hier gewesen. Großer Schock! Plötzlich ist meine neue, die Ersatzkamera kaputt. Sooft ich auch einund ausschalte und herumprobiere, auf dem Display zeigt sich eine moderne abstrakte Farbgrafik, mit der man an einer Hochschule für Gestaltung Eindruck machen könnte. Ich hatte mir die Kamera erst vor drei Wochen gekauft, nachdem meine Casio mitten auf dem Atlantik in Kaffee ertrunken war. Oder in Hühnersuppe, war nicht herauszufinden, keiner wollte es gewesen sein. Muss ich mir jetzt schon wieder eine neue Kamera kaufen? Hätte ich mich nicht für diese zweifelhafte Sumishi entscheiden sollen, die angesichts von Preisen und Angeboten auf St. Lucia der einzigmögliche Kompromiss war? Aber ich höre immerhin den Verschluss leise klicken, sollte vielleicht nur das Display ausgefallen sein? Glücklicherweise war mir von meinen Spaziergängen durch Boa Vista ein Hinterhof - Computerbastel- und Fotoprintladen in Erinnerung geblieben. Dorthin gehe ich zurück in der prallen Hitze, erläutere in Spanisch und in Zeichensprache den netten jungen Leuten das Problem und dann nehmen sie einen neuen Disketten- und Kartenleser aus der Verpackung, verbinden ihn und meine Speicherkarte mit einem Rechner und schon zeigen sich auf dem Bildschirm meine letzten Aufnahmen. Uff, Glück im Unglück. Ich kann weiter fotografieren, muss aber auf Display und Menüänderungen verzichten. Für mich gibt es kaum etwas anderes zu tun als auf die Abfahrt meines Busses zu warten. Boa Vista ist langweilig, seine Schuhgeschäfte interessieren mich nicht, das Internet ist so langsam, dass die Seiten kaum laden, die alte Nutte vor dem Hotel „Tres Naciones“ nervt und schöne Cafes gibt es auch nicht. Besonders anstrengend ist aber, dass immer und überall ein Fernseher läuft, man kann sich dem praktisch nicht entziehen: In jedem Straßenlokal und Restaurant, in jedem Laden, dem Busbahnhof, an der Haltestelle der Stadtbusse, an Verkaufsständen für Damenunterwäsche, in der Eisdiele, in der Autoreparaturwerkstatt, auf dem Navi-Bildschirm vom Taxi, auf Großleinwänden in der Stadt, in der Hotelrezeption und natürlich im Bus. Von Boa Vista nach Manaus, Brasilien 11. Januar 2009 Die 13-stündige nächtliche Busfahrt möchte ich bald wieder vergessen. Dabei sind die Reisebusse, die in Venezuela und in Brasilien verkehren, die komfortabelsten, die ich je kennengelernt habe. Die dreiachsigen Ein- oder auch Zweidecker haben Liegesitze mit Beinstützen wie im Flugzeug in der Business Class. Trotzdem ist es wieder, wie schon in Venezuela, schlichtweg die Hölle. Nicht nur dass ein Kleinkind schrie wie am Spieß gebraten, nicht nur dass der Alte in der Reihe vor mir ständig hustete und den Rotz hochzog, es war wieder mal die A/C, die mich wirklich ärgerte. In dreizehn beschäftigungslosen Stunden kann man sich da auch gut in seinen Zorn hereinsteigern. Es hätten angenehme 24°C im Fahrzeug sein können, so die nächtliche Außentemperatur, aber sie kühlen den Innenraum auf 16°C herunter, so dass die Scheiben von außen beschlagen. Mit dicken Jacken und Decken fügen sich die Tropenbewohner kritiklos in diesen Irrsinn, scheinen es aber zu akzeptieren. Sollte ich denn als einziger und zudem der Sprache unkundiger Fremder eine Bemerkung machen? Ich habe T-shirt, langes Hemd und Pulli an und friere trotzdem so stark, dass ich nicht einschlafen kann. Der Pullover ist zu dünn und Schulter und Oberkörper vereisen langsam, obwohl wir gerade den Äquator überqueren. Hätte ich meine dick gefütterte Seglerjacke nicht so leichtfertig auf Martinique verschenken sollen? Manaus, Brasilien Ein Theater mitten in Amazonien! Welch ein Geistesblitz, welch mutige und zugleich abgefahrene Idee! Heute freilich ist es keine Besonderheit, dass eine Stadt mit einskommaacht Millionen Einwohnern auch ein Opernhaus hat, aber welche Wirkung muss das vor 100 Jahren entfaltet haben, als noch halbnackte Indianer hier herum sprangen? Zu meinem Glück ist heute gerade Symphoniekonzert und eine lange Schlange von Menschen hat sich bis zu seiner Rückseite um das neoklassische Gebäude gewickelt. Dvorak und Mozart am Amazonas! Das Orchester ist klasse und hat herausragende Solisten, das Publikum aber ist anders als bei uns. Niemand hier hat graue Haare, Mütter haben ihre Babys mit dabei, zappelige Kinder laufen umher und überall sieht man die Displays von Kameras und Handys aufleuchten. Ich versuche mir vorzustellen, wie zum Höhepunkt des Kautschukbooms die Leute mit der Straßenbahn vorfuhren oder mit der Kutsche auf dem Pflaster aus Gummi. Hat Theodor Koch auch im 1. Rang gesessen oder war er gar nicht drinnen, nur beschäftigt mit seinen 48 Kisten, die nicht rechtzeitig eintrafen? Er hat das gerade eingeweihte Theater in seinen Reisebeschreibungen gar nicht erwähnt. Wie haben der italienische Marmor, das französische Gusseisen auf ihn gewirkt? Für mich ist dieses Unikum mit seinen blassen Crème-, Gold- und Altrottönen ein lebendes Fossil. Werner Herzog hat in „Fitzcarraldo“ diese Stimmung grandios verpackt. An jeder Bushaltestelle in Manaus ist für ein Konzert mehrerer Rockbands in einer bestimmten Bar plakatiert. Ein großer Event offenbar und für mich Gelegenheit, unter Leute zu kommen. Also habe ich mich gestern dorthin fahren lassen, dabei aber zu spät gemerkt, dass mich der Taxifahrer bei einem anderen Ereignis absetzte. Na egal, vielleicht lerne ich ja auch so Leute kennen, dachte ich mir, aber es ging nicht. Die machen hier ihr ganz eigenes Ding. Eine Band, vor allem aus Perkussionisten bestehend, spielt Salsa und die Jugend tanzt oder trinkt dazu. Schon bald lasse ich mich zurück fahren. Taxikosten sechsmal so hoch wie der Eintritt, aber immerhin habe ich dadurch auch Manaus' verslumte Außenbezirke kennen gelernt. Rio Araca, Brasilien Krokodile fängt man am besten nachts. Wenn der Halbmond das glatte Wasser des Rio Araca in ein mildes Licht taucht, wenn zahllose Fledermäuse über dem warmen Wasser jagen, liegen die Reptilien dicht beim Ufer im seichten Wasser und verraten sich durch ihre Augen, die schon von weitem im Schein der Taschenlampe reflektieren. Dann lassen wir den Bootsführer den Motor ausstellen und lautlos gleitet das hölzerne Kanu weiter bis neben das geblendete Tier, das dann mit einem beherzten Griff hinter den Kopf aus dem Wasser gezogen und am Umherschlagen gehindert wird. Die größeren entkommen aber trotzdem, tauchen blitzschnell unter und sind dann erstmal lange nicht sichtbar. So holen wir nur zwei kleine heraus und setzen sie natürlich auch wieder zurück. Wo ist eigentlich die „Grüne Lunge der Erde“, wo sind die unermesslichen Regenwälder Amazoniens? Hier jedenfalls nicht. In weitem Umkreis um Manaus, auch um Boa Vista und entlang sämtlicher Hauptverkehrsstraßen gibt es keinen Primärwald mehr. Man hat es immer wieder gelesen und gehört, wenn man aber tagelang durch Amazonien reist und gar keinen Urwald gesehen hat, stellt sich schon ein sehr beklemmendes Gefühl ein. Auch unsere schlichte Lodge liegt nicht im, sondern nahe von Urwaldresten. Sie ist umgeben von Weideland. Schweine statt Tapire, Hunde statt Jaguare, Hühner statt Tucane. Heute sind Tatjana, Steven und ich früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang über dem Fluss zu erleben. Nach dem nächsten Frühstück machen wir wieder eine Bootstour, wir sehen Süßwasserdelfine, ein Faultier, eine Horde Affen, viele große und bunte Vögel. Eine Wanderung führt in schönen Urwald mit riesigen Bäumen mit hellen und dunklen Stämmen, haufenweise Lianen, Epiphythen, bunten Pilzen, Schmetterlingen. Die Moskitos hier sind nur schwer erträglich, aber langes Hemd und lange helle Hose sind bereits die halbe Miete. Alles klebt am Körper, gut dass wir nicht allzu weit weg sind von der Lodge, auch deshalb, weil um Punkt 12 wieder für drei Stunden ein unglaublicher Regen einsetzt, der jede Konversation unter dem Wellblechdach unmöglich macht. Das weitere Programm entspricht nicht dem mit mir vereinbarten. Mir wurden drei Nächte in einem richtigen Bett versprochen und verkauft, Tatjana und Steven haben Übernachtungen im Urwald in Hängematten gebucht. Die charmante Erin aus USA wurde von ihrem Reiseagenten im Stich gelassen und schließt sich dem SurvivalProgramm an. Wenn ich nicht mitgehe, habe ich meinen Guide, Rinaldo, umsonst bezahlt, er kann die Gruppe nicht teilen. Trotzdem bleibe ich mit Tatjana in der Lodge zurück, auch weil ich mir in den Bussen eine Erkältung geholt habe und mich sehr matt fühle. Außerdem ist die ganze Wäsche noch feucht. So sitzen wir jetzt auf der harten Holzbank, trinken kaltes Wasser aus Polystyrolbechern, beobachten das Treiben der kingfisher und anderen riesigen Vögel, die majestätisch über Fluss und Flussufer schweben, ich werfe abwechselnd Aspirin und Imodium ein und nieße, weil alles klamm ist und ich nachts gefroren hatte. Tatjana ist eine 27-jährige Brasilianerin, die in London lebt, wir hängen heute den Tag ab. Die ganze Nacht hinduch und den gesamten Vormittag regnet es heftigst, die Geräuschkulisse unter dem Wellblechdach ist ohrenbetäubend und erst am Nachmittag setzt der Regen aus. 250 mm Niederschlag fallen hier im Januar, fast so viel wie bei uns zu Hause im Halbjahr. Wie schön muss es unter diesen Bedingungen doch sein, malen wir uns hämisch aus, stundenlang, wie die anderen jetzt, im offenen Kanu zu sitzen und abends ohne Regenschutz in einer Hängematte in der Wildnis zu übernachten? Hier in der Lodge ist es auch nicht komfortabel, aber wir haben wenigstens ein halbwegs wasserdichtes Dach, ein halbwegs ordentliches Bett mit Moskitonetz, in der zweiten Nacht sogar eine Decke gegen Kälte. Dieser unsägliche polygonale Mehrzweckbau hat unten einen Gemeinschaftsraum auf unebenen nacktem Betonboden, schmalen harten Bänken ohne Rückenlehne, Plastiktischdecken, ein annehmbares Klo mit Dusche und zahlreiche Haken für Hängematten. Sonst gar nichts. Inmitten des Runds führt eine Treppe hinauf auf eine zweite Ebene, sie ist quadratisch und frei im Raum aufgeständert. Hier befinden sich die Gästezimmerchen. Anfangs sind noch vier einheimische Extremangler da. Diese lieben schlichten Menschen wie Homero und Marjareta, die in ihrem Leben noch nie über Manaus hinausgekommen sind und den Rest der Welt nur aus ihrem kleinen Fernseher kennen, servieren uns Kaffee und Avocados, Bananen und Orangen, süße Maismilchpampe und knatschige Wecke zum Frühstück oder Piranha mit Reis und Bohnen zum Mittagessen. Im übrigen sind sie mit sich selbst beschäftigt. Die Jungs mit Betonieren, die Frauen mit dem Waschen meiner Klamotten oder dem Einflechten von Glasperlen in Plastiksandalen. Sieht man von allen Unzulänglichkeiten ab, bleibt eine friedliche abgeschiedene Welt, ein stiller Fluss, auf dem gelegentlich Menschen auf schmalen Booten entlangtuckern, ständig lärmende Papageien, handtellergroße bunter Schmetterlinge, die Fledermäuse und kingfisher, Kaimane und Affen in einer Welt, die vom 21. Jahrhundert wenig berührt ist, auch wenn es ein wenig Strom gibt und den TV, ein Handy natürlich und den Außenborder, den sie wie alle hier aus einem Stromgeneratormotor herstellen. An dessen Kurbelwelle wird nach Art asiatischer long-tails8 eine selbst gefertigte Schraubenwelle angebracht, die es im Gemischtwarenladen neben Reis, Scheuerlappen, Kopfschmerztabletten und Bekleidung für wenig Geld zu kaufen gibt. Das sollte man wiederum den Asiaten oder den Venezolanern zeigen, dass man sich auch mit 5,5 PS gut fortbewegen kann. Überhaupt könnte interkultureller Austausch nicht schaden. Von den Warao-Indianern könnten sie lernen, wie man sich von Hütte zu Hütte bewegen kann, ohne Schlamm zwischen die Zehen zu bekommen und wenn sie eine Persenning oder gar einen Bootsschuppen für ihre Kanus verwenden würden, müssten sie diese nicht täglich erneut mit der halbierten PET-Flasche ausschöpfen. Anderntags gehe ich mal zum Baden. Schwimmen unter Piranhas. Als Jugendlicher hatte ich mal gehört, wenn man ein Schwein in den Amazonas werfen würde, wäre es in Sekundenschnelle von diesen Tieren bis aufs Skelett abgenagt. Diese Vorstellung hat jahrzehntelang meine Vorstellung von diesen kleinen Fischen geprägt. Aber jetzt schwimme ich nackt unter ihnen und sie tun mir nichts. Ein ungutes Gefühl bleibt dennoch, sie könnten irgendwo anbeißen. Tatjana ist nicht mitgekommen, liegt auf dem Bett herum und hat Angst vor allem, was sich bewegt. Sie ist hier völlig deplaziert, wäre lieber an einem Strand oder auf der Copacabana. 8 Eigenbauboote mit Außenbord-Automotoren und langer gerader Antriebswelle Mit Roberto rudere ich im Kanu Marjarete und ihrem Mann hinterher, wir sind eingeladen beim Fischen zuzusehen. Nach einiger Zeit biegen sie in einen kleinen Seitenarm des Rio Araca ein. Mit dem Stechpaddel aus Tropenholz, das zu heben allein schon viel Kraft erfordert, machen sie die Wasseroberfläche frei von all den Wasserlinsen und schwimmenden Gräsern, durch die man mit dem Boot nur schwer hindurch kommt und die sich in fließendem Wasser in großen Schubverbänden flussabwärts bewegen. Dann wird ein längliches Netz von rechts nach links über den Seitenarm angebracht, die beiden wirbeln mit den Rudern im Wasser hin und her, worauf die Piranhas sich in Bewegung setzen und in den Maschen verfangen. Einen ganzen Sack voll holt das Paar auf diese Weise heraus, ein Teil davon wird dann zu unserem Abendessen. Vom Äquator zurück in die Karibik (1) Der Wendepunkt meiner Reise ist erreicht. Die Rückreise beginnt. In einigen Wochen muss ich ein Flugzeug von Tobago nach Frankfurt erreichen, Luftlinie etwa 1800 km von hier. Noch bin ich 4° südlich des Äquators. Den Anfang macht das Boot bis zur Nationalstraße, dort kann ich einen VW-Transporter anhalten, der mich zur Amazonas-Fähre mitnimmt. Diese Bullys vom Typ 2 versehen hier Linienbusdienste. Das alte Gerät ist schon proppenvoll, als ich zusteige, der Herr neben mir muss auf den Holzhocker zwischen den beiden vorderen Sitzen. An der Tankstelle holt er eine große Flasche Amazonas-Cola oder, besser gesagt, dunkles Guaraná9 und ein paar Plastikbecher für alle und versorgt uns großzügig. Die Konversation ist holprig wie die Straße, irgendwie geht es um die wichtigen Dinge im Leben, Tanzen, Frauen, Fußball. Guaraná ist übrigens ein grandioses Wundermittel und wäre allein schon eine Reise nach Brasilien wert, ich trinke es sooft es geht, seit ich hier bin. Unübertroffen ist der Mix aus frischem Guaraná und Maracuja mit Milch, Mehl und Eis, wie es ihn in einer bestimmten Fruchtsaftbar in Manaus zu kaufen gibt, die ich nie vergessen werde. Alte Erinnerungen an dieses Automodell werden durch das typische Geräusch des zurückschnellenden Kupplungspedals wachgerufen. Mit dem Typ 2 habe ich als Student Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt, um Popp Mayonaise, Modezeitschriften, L'Oréal Haarkosmetik oder BMW-Ersatzteile auszuliefern. Diese VDO-Armaturen! Nur der Heizungsregler fehlt in Brasilien. Schade, denn mir ist kühl. Auf dem offenen Boot hatte ich einen heftigen Regenschauer mitbekommen, jetzt haben sie beim Fahren gern die Fenster auf, obwohl es wieder regnet. Dann ist es wieder schwül am Bootsanleger, später gibt es heftig Fahrtwind im Speedboot über die Encuentra des Aguas10, anschließend Eiszeit im A/C-Taxi und im Hotel. Ich huste und nieße, die Nase läuft, Schulter und Rücken sind verkühlt, weil ich 9 Getränk, das aus den Früchten einer Lianenart hergestellt wird. “Guaraná besitzt die stimulierende Wirkung des Kaffees. Die anregende Substanz wird jedoch im Gegensatz zu dem im Kaffee enthaltenen Coffein erst nach und nach freigesetzt; die Wirkung hält somit vier bis sechs Stunden an.” (Wikipedia) auch nachts nicht richtig warm liege. Frieren am Amazonas, das hätte mir einer mal vorher sagen sollen! Telefonieren Ich sollte wieder einmal ein paar Telefonate nach Hause machen, aber in der Abgeschiedenheit des Araca war das nicht möglich. Man ist ja entweder weit weg von einem Telefon oder von der Netzabdeckung oder es ist, weil man ja gegenüber MEZ sechs Zeitzonen zurück liegt, zu früh oder zu spät zum Anrufen. Es ist einfach schwierig und wird Zeit, dass ich mich um eine globale SIM-Karte bemühe, aber das geht von hier aus nicht. Auch ein WIFI-Telefon wäre besser als der jetzige Zustand. Eine brasilianische SIM-Karte war nicht zu erhalten, dann kamen die Ladenschlusszeiten dazwischen. Mit meiner Calling Card komme ich zwar kostenlos bis zur T-Com, aber meine PIN wird nicht akzeptiert, dabei hatte ich sie via Internet erst neu eingerichtet. Jetzt habe ich mir eine Karte für das Kartentelefon gekauft, Münzfernsprecher gibt es hier gar nicht mehr. Die Geräte sind jedoch nur in Ausnahmen für internationale Gespräche eingerichtet. Als ich diesen Text schreibe, bin ich wieder nach Venezuela zurückgekehrt also trage ich jetzt eine nicht verwendete brasilianische SIM-Karte mit mir herum, die der kaum verwendeten spanischen Calling Card und der nicht nutzbaren italienischen Vodafone-Aufladekarte sowie einer deutschen und einer Prepaidkarte von Trinidad und Tobago Gesellschaft leistet. In Venezuela hatte ich beschlossen, mir eine Movistar-SIMKarte zuzulegen, aber das war gar nicht so einfach, weil es in den Movistar-Läden wohl Handys gibt, aber nicht unbedingt SIM-Karten. Als ich schließlich im richtigen Laden bin, sagt mir die Verkäuferin, es habe sowieso keinen Sinn, weil es dort, wo ich hinwolle, ohnehin keine Netzabdeckung gibt. Kann ich vielleicht eine globale Calling Card per Kreditkarte im Internet bekommen? Auch das lasse ich nicht unversucht, aber das Internet ist heute abend wieder so langsam, dass nicht mal der Seitenaufbau funktioniert, ich komme nicht zu teltarif.de durch. Ich beginne zu verstehen, weshalb in diesem Land an vielen Straßenecken, Bushaltestellen und in Läden Festnetztelefone zum allgemeinen Gebrauch aufgestellt sind und zwar immer eine ganze Batterie nebeneinander, die über verschiedene Telefongesellschaften laufen. Im Internetcafe logge ich mich wieder auf meinem T-Home-Kundenkonto ein, richte die PIN nochmals ein, die in Brasilien nicht akzeptiert wurde und erfahre, dass diese Calling Card sowieso nicht in Venezuela funktioniert, na denn ... 11 Paraytepui, Venezuela Meine Besteigung des Roroima muss wohl ins Wasser fallen. Zwar war vor Tagen bereits alles mit Jairo besprochen, aber es ist heute den ganzen Tag nicht in seinem Büro gewesen, obwohl ich angemeldet war und telefonisch erreichbar war er auch nicht. 10 Encuentra des Aguas heißt Treffen der Wasser. Bei Manaus treffen der Rio Solimoes und der Rio Branco zusammen und bilden den an dieser Stelle bis zu 17 km breiten Amazonasstrom. Das Wasser der beiden Flüsse ist unterschiedlich gefärbt und fließt zunächst gut sichtbar einige Zeit nebeneinander her. 11 Zum diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht herausgefunden, wie wunderbar sich über Skype ins Festnetz telefonieren lässt. Morgen früh sollte es doch losgehen? Sein Nachbar bietet die Tour ebenfalls an, hat auch schon vier Leute, die morgen aufbrechen wollen, aber um mitzukommen müsste ich innerhalb von 40 Minuten Bargeld besorgen, ausgeschlossen in Venezuela, an einem Samstagabend zudem. Außerdem brauchte ich noch einen Rucksack, weil seine Porter auf der 60 km – Tour weder mein Zelt, noch den Schlafsack oder die Isomatte tragen würden... wozu benötige ich unter diesen Umständen eigentlich Porter? Mittlerweile habe ich auch mehr Informationen über diese Tour sammeln können. Sie muss extrem anstrengend sein und unbequem. Fernsicht ist wegen häufigen Nebels und Regens nicht garantiert, nur Puri-Puri können versprochen werden. Unter diesen Umständen bin ich klammheimlich sogar etwas erleichtert, dass es nicht klappen würde. Das Hotel „Augusta“ in Sta. Elena de Uairen ist eine Oase der Ruhe, es ist mein drittes Hotel in dieser Stadt und ich hätte es schon viel früher finden sollen. Um einen palmenbepflanzten Innenhof herum liegen die Zimmer, einen Springbrunnen mit Fischen gibt es hier, eine Wendeltreppe zu den Zimmern oben, gepolsterte Korbsessel. Es hat auch so seine Unzulänglichkeiten, versöhnt mich aber wieder nach so vielen losen Klodeckeln, losen Auslaufventilen, Schaben im Kühlschrank, fleckigen Laken, undichten Spülkästen, dreckigen Ventilatoren, speckigen Wänden, schlechten Türschlössern und was ich mir sonst noch so alles gefallen lassen musste. Auch habe ich mittlerweile eine Möglichkeit gefunden, halbwegs gepflegt zu frühstücken. Neben der Eisdiele gibt es das „Tropi Café“ mit Stühlen und Sonnenschirmen an der Straße, wo morgens die warme Sonne hinscheint und wo es guten Kaffee in richtigen Tassen gibt, dazu eine wohlschmeckende Torte, die mich diese fettigen warmen, mit Fleisch gefüllten Teigtaschen umgehen lässt, die die Leute hier ansonsten morgens in sich stopfen. Hier habe ich Carlos getroffen, den man „Puri-Puri“ nennt, so wie diese kleinen ekelhaften Gnitzen, deren Stiche so lästig jucken und rote Punkte auf der Haut machen. Und durch ihn Frank. Mit Frank bin ich bald einig, er will mir am nächsten Tag die Höhepunkte der Gran Sabana zeigen. Am Vorabend kamen sie überraschend in mein Hotel, um eine Anzahlung auf die vereinbarten 70 US-$ abzuholen. Nachdem die beiden wieder weg waren und ich nach meiner Überrumpelung wieder einen klaren Blick hatte, erkannte ich, dass 350000 Bolivar nur dann 70 US-$ ergeben, wenn man einen völlig überhöhten Schwarzmarktkurs zu Grunde legt. Für mich Kreditkartenzahler aber wären das 200 US-$. Schon sehe ich die Tour platzen und die Anzahlung entschwinden, bin fest entschlossen, am Morgen alles abzublasen. Am nächsten Morgen werde ich von einem Fahrer abgeholt und treffe noch Eli, einen Fotografen aus Brasilien, der am Roroima fotografieren möchte. Frank meint, wenn ich kein Dollar- oder Euro-Cash hätte, könnte man das ja über Real regeln, wir würden dann eben noch nach Brasilien rüberfahren, ich sollte mich nicht beunruhigen. Ich willige ein, Frank macht einen vertrauenswürdigen Eindruck auf mich. Schließlich fahren Frank, Puri-Puri, Eli und ich los, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie sich die Bezahlung dieser Tour zur beiderseitigen Zufriedenheit jemals regeln lassen soll. Aber jetzt wird es erst einmal schön. Der Quebrado de Jaspe ist ein Stück Bilderbuchnatur. Inmitten dichter Vegetation fällt das Wasser über Steinstufen, rinnt dann wieder nur zentimeterflach auf großer Breite über flachen Stein, der sich durch Eisen- und Schwefelverbindungen rötlich und bräunlich gefärbt hat. Eine Wohltat, hier barfuß herumzulaufen und dabei das Spiel des Morgenlichts auf dem Wasser zu genießen und zu fotografieren. Wir fahren vorüber an kleinen indianischen Ansiedlungen, die nicht einmal auf allen Karten verzeichnet sind und wenn doch, dann mit widersprüchlichen Angaben, weil es sowohl spanische, als auch wohlklingende indianische Bezeichnungen gibt: Sta. Cruz de Mapari, Sta. Teresa, Uripatá, San Ignacio de Yuruami, Arapaumerú, Pacheco und so fort. Die Straße durchs weite Hügelland der Großen Savanne ist extrem gut ausgebaut. Hervorragende Beschilderungen, Wegweiser, Infotafeln, Parkplätze, Papierkörbe. Der Vorliebe der Venezolaner für große Autos entsprechend, fährt Frank einen 4,5l-24V Toyota Land Cruizer natürlich in der Benzinerversion und er fährt mir eher zu schnell. 25 km abseits der Straße liegt Paraytepui (sprich: Para-i-te-pui), von wo aus die RoroimaTouren starten. Die Offroad-Strecke dorthin über schroffen Fels und Geröll ist schön und abenteuerlich. Von weitem schon sieht man das markante Profil des Roroima und anderer Tepuis12, alle z.T. von Wolken verhangen. In Paraytepui leben etwa 300 Taulipang, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie überhaupt noch gibt. Prof. Th. Koch-Grünberg hat 12 Tafelberge aus Sandstein, die der Erosion widerstanden haben und hoch aus der Ebene aufragen. sich der Erfoschung ihrer Sprache, Tradition, Geschichten, ihres Handwerks ja so intensiv gewidmet und seine Beschreibungen, Bilder und der Film von 1911 sind mir jetzt wieder sehr präsent. Der Lebensstil dieser Indianer ist heute weniger spektakulär als damals, sie leben in eckigen oder runden Lehmhütten, haben ein Kirche, eine große Maloca, in der Dorfversammlungen stattfinden. Ihre Beförderungskooperative besitzt etliche mit bunten Papageien lackierte Land Cruizers mit dem Bild Chavez' darauf. Chavéz Si! Ahora Venezuela es para todos! Will man die Leute in ihrem Schmutz fotografieren, strecken sie die Hand aus und sagen „Dollares!“. In einer offenbar gemeinsam genutzten allseits offenen „Küche“ stehen Kalebassen mit Kaishirí13, der aber heute nicht mehr fermentiert wird, indem Frauen die Maniokwurzeln lange durchkauen und zurückspucken. Eli und Puri-Puri laufen von hier aus auf den Roroima-Tepui wie andere Gruppen auch und ich bin jetzt wirklich froh, dass es für mich nicht geklappt hat mit dieser 6-Tagestour, mit Feuchtigkeit, Frieren, Jucken und Hygienelosigkeit für rund 400 Euro. 13 alkoholisches Getränk der Indianer aus Maniokwurzeln Der Ortsvorsteher lädt uns noch zu einem Umtrunk ein, aber wir sind schon auf Abreise und nehmen noch drei hübsche Indianermädchen in Jeans mit, die in San Francisco de Yurunami einkaufen wollen. Wir essen dort ein vorzügliches Cordon Bleu mit Salat und Kartoffeln, eine willkommene Abwechslung zu dem sonstigen Einheitsfraß auf Venezuelas Straßen. Frank trifft überall auf Bekannte. Als einer während unseres Essens vorüber fährt, springt er schnell in seinen Wagen um die Verfolgung aufzunehmen und lässt mich kurz mit seiner prall gefüllten Brieftasche auf dem Tisch allein. Später greifen wir noch zwei andere Touristen auf, ein argentinisches Pärchen, sie fahren jetzt mit uns weiter. Es ist gut für mich, viel Spanisch zu hören, ich verstehe auch ziemlich viel, es geht übers Reisen, Tanken, Erdgaspipelines, Asien, Indianer und natürlich über Chavéz. Ich kann mich sogar ein wenig in die Diskussion einklinken, was mich freut, weil ich doch sonst so wenig mitbekomme. Wir schauen uns noch zwei weitere Wasserfälle an. Auf einem Geländer einer Straßenbrücke vor dem 50m hohen Salto Kama sitzt plötzlich ein Tukan. Beim Fotografieren kann ich ziemlich dicht drangehen, bevor er auffliegt. Dumm ist eben, dass ich meine Fotos nicht kontrollieren kann, weil ja Display und Menüführung ausgefallen sind. Wie zu Zeiten des Zelluloidfilms muss ich jetzt lange auf die Ergebnisse warten. Am letzten Wasserfall lässt Frank uns allein, weil er noch 30 km weiter zum Tanken fahren und uns auf dem Rückweg wieder mitnehmen will. Als er aber lange nicht wiederkommt, es auch noch kalt und regnerisch wird und die beiden Argentinier auch plötzlich verschwunden sind, vermute ich wieder eine List und sehe mich schon ohne jedes Gepäck und alleingelassen im Indianerland den Rest meiner Tage verbringen. Aber schließlich fügt sich alles, wie es soll. Es ist schon spät geworden, der Regen hält sich, es ist kalt, im Auto läuft die Heizung. Die erhofften Stimmungsfotos mit dem Vollmond über den Tepuis müssen leider ausfallen. Niemand außer uns ist jetzt noch unterwegs. Jetzt müssen wir noch zur brasilianischen Grenze, La Linea. Die hat schon zu, venezolanische Soldaten halten uns kurz an, wir umfahren befackelte Schikanen, kommen aber durch, alles ein wenig unheimlich. Dann fahren wir einfach rüber nach Brasilien ohne dass jemand uns kontrollieren würde. Frank weiß, dass der mittlere ATM der Banco do Brasil geeignet ist und kurz darauf hat er seine Devisen, will auch statt 122,50 nur 100 Real haben, mehr kommen da nachts nicht raus, ich muss laufend Vorurteile abbauen. Jetzt ist es schon sehr spät, aber Frank, obwohl in meinem Alter, ist Junggeselle und hat alle Zeit der Welt. Die Argentinier sind auch noch im Auto und wir haben Hunger. In diesem brasilianischen Grenznest ist so spät abends natürlich Tote Hose, aber vier nette Chicas sind gut drauf und kochen uns Rindfleischsuppe nach Art des Landes, mit dicken Fleischbrocken am Knochen; Wein war leider nicht aufzutreiben, also bleibt es bei Guaraná. Genauso klammheimlich wie wir sie verlassen haben, reisen wir schließlich wieder ein in die Republica Bolivariana de Venezuela. Jedenfalls mag ich solche Abenteuer, diese unerwarteten Überraschungen. Welch ein Tag! Vom Äquator zurück in die Karibik (2) Von der brasilianischen Landesgrenze bis zur Karibikküste ist es eine Qual, die ich nur deshalb über mich ergehen lasse, weil ich die Landschaft erleben möchte, die ich mir so oft schon auf Karten und Atlanten an gesehen habe. Als wir die Escaleros14 erreichen, ist es leider schon Nacht. Wunderbar muss das bei Tage sein, aber die Fahrpläne ließen keine Alternative zu. Bei Nacht und Nebel fährt der Bus über eine Stunde lang so langsam die steilen und engen Serpentinen abwärts, dass man ihn bequem mit dem Fahrrad überholen könnte, was außerdem viel Spaß machen könnte, weil man die vielen Vögel im dichten Regenwald besser sehen und hören könnte. Spät erreichen wir Kilométro Diezyocho. Welch grandiose Idee, diese Ansiedlung nach ihrem Straßenkilometer zu benennen. Auf der Karte steht tatsächlich „Km 88“, es handelt sich um eine Ansammlung von Läden und Buden längs der Nationalstraße. Das banale Nachbarkaff ist nicht besser, heißt aber großspurig El Dorado. El Dorado! Welche unglaublichen Aufwendungen haben Spanier und Engländer vorgenommen, um das sagenhafte Goldland zu finden, welch grausige Verbrechen wurden dafür begangen, wie viele Verluste an Mensch, Pferd, Material hingenommen. Vor meinem geistigen Auge nehmen die Beschreibungen und Reisen von W. Raleigh15 plötzlich Form an, der ebenfalls von Trinidad aus hier unterwegs war, um im Auftrag der britischen Krone den Spaniern Paroli zu bieten. Im 21. Jahrhundert sind die Probleme anderer Art. Wieder leide ich sehr unter der Temperatur im Bus, habe das lange Hemd an, den Anorak darüber, die Kapuze auf, ein Handtuch zusätzlich über den Schultern und friere trotzdem so stark, dass ich bis morgens um 3 nicht einschlafen kann. Immer wieder versuche ich Füße und Hände zu 14 15 (span.) Treppen Sir Walter Raleigh, The Discovery of Guiana, 1595. Als e-Book erhältlich, sehr empfehlenswert! wärmen, indem ich sie mir unter die Oberschenkel stecke, aber es hilft nicht. Andere tragen eine Wollmütze, der Busfahrer hat eine Lederjacke mit dickem Fellfutter. Niemand klagt. Ohren, Nase und Füße sind eiskalt, ich schäume innerlich vor Zorn. Zusätzlich muss ich amerikanische Actionfilme über mich ergehen lassen, insgesamt 5 Stück auf den beiden Busfahrten, die einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauern. Der Venezolaner scheint es zu lieben, wenn seine Helden, immer als Einzelkämpfer zugange, sich etwa mit Helikoptern durch Feuersbrünste bewegen und dabei mit automatischen Waffen anderen, ebenso hoch technisierten Menschen nach dem Leben trachten. Die sterben dann auf spektakuläre Weise, wenn auch blutlos. Untermalt wird die penetrante Filmkulisse mit ebenso penetranter Orchestermusik, die meine Ohrstöpsel nur unzureichend dämpfen können. Niemand im Bus schaut das Programm an, das auf 8 Bildschirmen läuft. Außer mir würde auch niemand die englischen Dialoge verstehen. Muss auch nicht, denn gelegentlich läuft noch, gleichzeitig zu den Filmen, Curazón-Musik. Puerto Ordáz, Venezuela Puerto Ordáz, der südliche Stadtteil von Ciudad Guayana, ist eine moderne große Stadt, eingebettet in eine großartige Szenerie zwischen dem trägen braunen Orinoco und dem Rio Caroni, der hier mündet, nachdem er über sehr schöne Wasserfälle fließt, die in der Mitte dieser Doppelstadt liegen (Parque Cachamáy). Die Menschen hier haben unseren Lebensstil und -standard. Gut gekleidet bewegen sie sich im riesigen und blitzsauberen Einkaufszentrum Ciudad Comercial Alta Vista zwischen Handyläden, Schuhgeschäften und Cafés. Mit kurzer Hose, Sandalen und Eastpack Rucksack fühle ich mich hier eindeutig underdressed. Erst mit dem Taxi zwischen San Felix und Puerto Ordáz unterwegs, lege ich den Rückweg zum Busbahnhof auf der hinteren Stoßstange eines völlig überfüllten Pickups zurück, der hier als preiswertes Sammeltaxi in die ärmeren Stadtteile verkehrt. Ich bin noch immer nicht getötet oder auch nur ausgeraubt worden. Nicht ansatzweise fand ich Venezuela bisher gefährlich. Trotzdem bin ich extrem vorsichtig mit meinen Wertsachen und dem Gepäck. Aber auch nachts auf dem Busbahnhof fühle ich mich nicht unsicherer als nachts auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Die Leute treten mir weiterhin sehr zurückhaltend, wenn ungefragt und ansonsten sehr höflich und zuvorkommend entgegen. Der Schaltermensch der Busgesellschaft hätte mir eigentlich nur sagen müssen, dass sein Bus heute bereits ausverkauft ist. Aber er nannte mir alle Unternehmen, bei denen ich es jetzt noch versuchen könnte, kam dann aus seiner Bude heraus, verschloss sie, ging mit mir zu einem anderen Schalter und fragte für mich dort nach. Das beeindruckt mich sehr. Auch diese Klischees vom lateinamerikanischen machismo kann ich nicht bestätigt finden, Mann und Frau begegnen sich hier nicht anders als bei uns auch, eher eine Spur herzlicher. Allerdings wird hübschen Mädels – und davon gibt es extrem viele in Venezuela – auffallend oft gehupt und nachgepfiffen, bleibt aber wirkungslos. An einem Kreisel springe ich, schon in der Dunkelheit, von der Stoßstange des Pickup, gut dass ich mich auf meinen Orientierungssinn immer verlassen kann. Noch ein Taxi zum Terminal de Pasajeros und dann rein in den Nachtbus. Vom Äquator zurück in die Karibik (3) Wieder fahre ich über den Caroni und über den Orinoco, diesmal auf einer Brücke, die an die Golden Gate erinnert. Die Fahrt auf autobahnähnlichen Straßen führt durch langweilige Llanos, zersiedelte und industrialisierte Gebiete, oft verlässt der Bus die Hauptstraße, um kleinen Orte anzufahren, es zieht sich. Wieder bin ich hauptsächlich mit der Kälte beschäftigt, sie steckt mir in allen Gliedern. Es gibt auch nichts Richtiges zum Essen und mein Bedürfnis nach einem Klo, in dem auch Wasser fließt, wird größer. Der Kontakt zu den Leuten im halbvollen Tiefkühlfach bleibt aufs Geringste beschränkt und außer einem Deutschen gestern sind mir schon ganz lange keine Europäer mehr begegnet. Dem Busfahrer war es eher unrecht, dass eine Schlepperin mich mit dem Fahrtwunsch Barcelona anbrachte und als ich gar kein Ticket ausgestellt bekam und das Gepäck mit auf den Sitz nehmen sollte, schwante mir schon nichts Gutes. Irgendwann am Nachmittag zeigte der extrem unfreundliche Busbegleiter dann auf mich: “He!“. Er hätte auch sagen können: „Su parada, senor!“, aber er ist ein rotzhochziehendes Arschloch mit fleckiger Hose. An einer staubigen Ausfallstraße vor irgendwelchen Einkaufsmärkten werde ich mit meiner Tasche und den besten Empfehlungen des Fahrers am Straßenrand abgesetzt und darf mich kurzzeitig der plötzlichen Hitze erfreuen, die hier draußen herrscht und die man in den Tropen ja eigentlich auch erwarten darf. Mit einem Taxi fahre ich zum Flughafen. Es ist Freitag und spät nachmittags und meine Hoffnung, mit einem auf Dienstag datierten E-Ticket heute noch stand-by zu einem bei Einheimischen beliebten Wochenendziel zu fliegen, ist gering. So ist es denn auch. Die freundliche Senora von der Aeropostal hat keinen Zugang zum Reservierungssystem, la sistéma, wieder einmal, es gibt heute auch keinen Flug mehr und Bargeld an den Bankschaltern auch nicht, hoffentlich komme ich mit meinen 250 Bolivares gut übers Wochenende. Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf Venezuela und wenn ich sofort wegfliegen könnte, würde ich es tun. Aber jetzt muss ich erst einmal in Barcelona bleiben, einem Ort an der Karibikküste gegenüber der Ferieninsel Margarita. Barcelona, Venezuela So setze ich mich für teures Geld wieder in ein Taxi. In der Nähe des Flughafens gibt es ein Schutzgebiet für Iguanas. Einer davon, vielleicht 1,10m lang, überquert vor uns majestätisch den Kreisel vor dem Terminal. Stadteinwärts gibt es einen elenden Stau klappriger Blechkisten und die Fahrt dauert sehr lange. Tausende von Menschen sind auf der Avenida de Julio 5, einer Fußgängerzone, unterwegs, es gibt kein Vorankommen. Irgendetwas ist hier heute los, aber der Taxifahrer kann es mir nicht erklären. Werde ich überhaupt ein Hotel finden? Nachdem die ersten beiden ausgebucht sind, muss ich ein Zimmer in der Posada Madrid nehmen, einer viertklassigen Absteige. Diese und mein Raum spotten jeder Beschreibung, weshalb ich mir diese auch lieber erspare. Positiv vermerken möchte ich nur, dass es Wasser und Handtuch gab und dass ich das Zimmer auch stundenweise hätte mieten können. Die Hotels in Barcelona sind, wie auch Geschäfte und Restaurants, durch sehr schwere Eisengitter gesichert, die nur durch Klingeln oder Zuruf geöffnet werden. Leben und Speisen hinter Gittern. Selbst ins Internetcafe kommt man nur, nachdem ein Gitter geöffnet wird, aber die Verbindungsgeschwindigkeit ist ohnehin ein Witz. 45 Minuten, um zwei Emails zu lesen und um eine einzige abzusetzen. La sistema schlägt wieder einmal zu. Ich nehme an, dass alle Computerleitungen von hier aus über die USA laufen und dass man dann schlechte Karten gezogen hat, wenn man ständig dessen Präsidenten reizt und außerdem ankündigt, Bill Gates' Produkte vollständig durch Linux zu ersetzen. Ich fühle mich sehr unwohl. Es gibt nichts mehr zu tun für mich in diesem Land, auf das ich mich so gefreut hatte. Jahrzehntelang habe ich mich immer wieder damit beschäftigt, habe ich mir vorgenommen, mir all das selber anzusehen und der herausragende Pavillon Venezuelas auf der EXPO 2000 war dann nur noch ein letzter Anstoß. Jetzt bin ich Venezuela leid. Ich verplembere im Moment Zeit und Geld und will nur noch raus,. Ich hätte noch Zeit, könnte noch einmal über Puerto Ayacucho orinocoaufwärts in die Quellgebiete reisen, oder an den Maracaibo-See, noch einmal ins Delta Amacuro oder ich könnte mich noch einmal mit Angelita in San Felix treffen. Aber nicht unter diesen Bedingungen. Die Revolution muss ohne mich weitergehen. Am nächsten Morgen setze ich mich auf Verdacht in ein Taxi zum Flughafen von Barcelona. Es ist wieder so eine Klapperkiste, bei der die Türschlösser nur von außen zu öffnen sind. Obwohl es Samstagmorgen ist, gibt es stadtauswärts einen heftigen Stau. Als Grund wird mir genannt, dass es heute Milch gäbe. Tatsächlich stehen auf einen großen Platz vor den Toren der Stadt Hunderte von Menschen in mehreren Warteschlangen, durch Zäune und Drehkreuze geordnet in der prallen Sonne bei einem Sattelschlepper, aus dem offenbar die 2-Liter-Beutel kommen, in denen das Milchpulver verpackt ist. Das Wort cola16 hat hier einen deutlich negativen Beigeschmack, es gehört leider zu den häufiger verwendeten Wörtern. Cola gibt es in dem erölexportierenden Land sogar vor den Tankstellen, einmal zählte ich sonntagabends 40 Fahrzeuge, die in einer Cola vor der 16 (span.) Warteschlange Tankstelle geparkt waren, während ihre Besitzer zu Hause der Öffnung am andern Tag entgegensahen. Am Flughafen bekomme ich wieder aus allen drei Geldautomaten kein Geld. Auch die Wechselstube hat geschlossen. Ich versuche jetzt, mit meinem Ticket nach Porlarmar zu kommen, um von dort wieder auf die West Indies auszureisen. Die Bedingungen sind günstig, der Flug ist nur zu einem Drittel gebucht. Leider habe ich aber nur ein E-Ticket und die Dame von der Aeropostal kann nicht ausmachen, ob es bezahlt ist, weil sie keinen Zugriff auf das sistema hat. Alles Diskutieren und Lamentieren nützt jetzt nichts, auch nicht ihr Telefonat in die Zentrale. Entweder ich warte noch 4 Tage hier oder ich kaufe ein zweites Ticket, und zwar gegen cash. Ich entscheide mich schweren Herzens für die zweite Option, habe aber gar nicht genügend cash. Wundersamerweise funktioniert jetzt der Kreditkartenleser ganz plötzlich. 90 US-$ für ein Ticket, das ich schon einmal bezahlt habe, Geld, das ich nie wieder sehen werde. Jetzt noch die Flughafengebühr bezahlen und schon fliege ich mit der kleinen ATR-72 rüber auf die Insel. Beim Einsteigen lächelt keine Stewardess17, niemand kontrolliert meinen Sitzgurt, nimmt Anstoß an meinem Rucksack auf dem Nebensitz oder erläutert die Rettungsweste. Porlamar, Venezuela Auf dem Flughafen von Isla de Margarita gibt es zwei ATMs, aber die funktionieren nicht. Ich brauche jetzt dringend Bargeld. Vier Wechselstuben gibt es hier, alle geschlossen, die Touristeninformation auch. Ich werde auch gar nicht so bald wegkommen von hier, schon gar nicht heute. Die Conviasa ist ausgebucht für die nächsten 4 Tage, sagt man mir, also muss ich erst einmal in die Stadt, nach Porlarmar. Aber Por Puestos gibt es nicht am Flughafen, Linienbusse auch nicht. Der Taxifahrer tauscht mir immerhin ein paar Dollar, so dass ich heute und morgen nicht hungern muss. Ich fahre also in die Stadt, obwohl ich nur noch heraus möchte aus Venezuela. Porlarmar ist laut, schmutzig und voller Geschäfte, Schuhgeschäfte vor allem, klar. Araber und Chinesen sorgen dafür, dass alles gut funktioniert. Lange schleppe ich mich noch mit dem Rucksack durch Hitze und Menschenmassen, bis ich endlich am alten Hafen freundliche Aufnahme in einem Hotel mit wunderbarer Aussicht und mit Rindfleischsuppe finde. Ich könnte hier eventuell abhängen, am Montag öffnen ja die Banken, immerhin sind Filialen vielversprechender Institute ganz in der Nähe. Nachmittags besehe ich mir gelangweilt den bekanntesten Strand, den Playa del Agua und treffe -kurzzeitig- wieder mal auf Europäer, die mit TUI & Co. hier hergekommen sind. Der Strand ist kilometerlang und dicht gedrängt liegt und bräunt man sich auf Liegestühlen, einheimisches Publikum größtenteils, Rimini in der Karibik. Erwähnenswert erscheint mir, dass der Stadtbus dorthin keine Klimaanlage hat und keine Fernsehmonitore. Vorsichtig reagiert die Bevölkerung auf den Fremden. 17 veralteter Ausdruck für Flight Attendant Die Planung sagt jetzt, dass ich versuchen werde, stand-by nach Port of Spain zu kommen und vielleicht nach Castries weiterzufliegen, um Alicia wiederzutreffen. Alternativ würde ich versuchen, spätnachmittags in Tobago noch auf den Condor-Jet nach Frankfurt aufzuspringen und diese Reise zu beenden. Ich bin das Reisen jetzt Leid, möchte nichts Neues mehr sehen, brauche Ruhe und Abstand, möchte jetzt lieber in Vietnam meine Füße ausstrecken und nicht mehr den Trip im pazifischen Raum fortsetzen, wie ursprünglich angedacht. Die Cook-Islands und das Great Barrier Reef kann ich mir auch später im Leben noch ansehen, wenn ich wieder aufnahmebereiter bin. Aber erst einmal bin ich noch in Venezuela und das Herauskommen ist nicht minder schwer wie das Hereinkommen. Sonntagmorgen fahre ich einfach auf Verdacht wieder zum Flughafen. Was heißt schon „ausgebucht“ für einen abgehärteten Traveller? Wieder funktionieren am Internationalen Flughafen „De Caribe“ die Geldautomaten nicht, sind die Wechselstuben geschlossen. Obwohl der Flug erst um 15 Uhr geht, empfahl man mir, für stand-by bereits um 10 dort zu sein. Das musste wohl Gründe haben, auch wenn ich sie nicht herausgefunden habe. Also warte ich geduldig stundenlang, bis förmlich in letzter Minute vor Schalterschluss auch der letzte schnell entschlossene Barzahler noch sein stand-by-Ticket erhält. Dann wird es sehr eng, aber wahr: es gibt noch einen Sitzplatz für mich und ich darf heute raus. Mitpassagiere geben mir noch Bolivares gegen Reste von TT- und US-Dollar, damit kann ich das Austrittsgeld, eine heftige Airport Departure Tax von 50 USD, bezahlen. Jetzt wäre Abflugzeit, aber die Security und der Zoll machen erst einmal Siesta und 30 Minuten lang stehen wir in einer cola untätig vor den Gepäckscannern. Gelegentlich sollen wir uns etwas weiter nach rechts oder um die Ecke herum gruppieren auf dem ansonsten gähnend leeren Flughafen. Jetzt das nächste Herzklopfen. Alle anderen Touristen hier haben eine Immigration Card in ihrem Pass liegen, ich aber nicht. Ich habe so etwas bei meiner Einreise aus Brasilien nicht bekommen, welchen Ärger wird es jetzt gleich geben? Aber erst einmal kommt einer von der Conviasa direkt auf mich zu, ich müsse noch einmal irgendeine Steuer bezahlen, 22 USD, cash natürlich. Umstehende wechseln mir noch einmal TT-$ in USD, dann kommt der Stempel in meinen Pass, die Immigration Form wurde glücklicherweise nicht verlangt. Im Duty-Free-Bereich könnte ich mir noch eine aufziehbare Puppe von Hugo Chavez in Militäruniform kaufen, aber bei aller Sympathie für seine Revolution habe ich heute auch darauf keine Lust mehr. Nach über vier Stunden Aufregung bin ich schließlich draußen aus seinem Land, sitze wieder in einer ATR-72 und fliege nach Trinidad rüber. Dort erkennt mich die Frau von der Immigration wieder und freut sich, dass ich wieder da bin. Ich bin auch froh. Jetzt geht alles ganz flott. Eine riesige Leuchtreklame hinterm Zoll verheißt mir, dass ich gleich vor einem VISA-Geldautomaten stehen werde. Fünf Minuten später habe ich ausreichend Bares. Weitere fünf Minuten später bin ich im Besitz eines Tickets nach Tobago, kurz darauf sitze ich bereits in der nächsten Turboprop und bald lande ich am Crown Point auf Tobago. So einfach kann das Leben sein. Man ist in „Trinibago“, wenn man von Venezuela kommt, in einer anderen Welt. Der Anschluss an die Zivilisation ist wieder hergestellt.