Wahrer Reichtum

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Wahrer Reichtum
magazine
EDITORIAL
Joseph S. Blatter
FIFA-Präsident
W
ährend Jahren war die FIFA
Fussball-Weltmeisterschaft
2006™ Mittelpunkt zahlreicher Betrachtungen, Erhebungen und
Vorschauen. Im Rahmen einer grossen Konferenz vom 11. bis 13. September in Berlin
standen die Analysen an, und am Ende des
Jahres, anlässlich der FIFA World Player
Gala in Zürich, werden die besten Akteure
ausgezeichnet.
Die Bedeutung der WM für die FIFA
und für den Fussball als Ganzes ist immens,
in sportlicher wie auch in wirtschaftlicher
Hinsicht. Dank der WM befindet sich die
FIFA heute in der komfortablen Lage, den
sportlichen Reichtum des Fussballs mehren
zu können.
Denn der wahre Reichtum des Fussballs
und die Grundlage für seine weiterhin prosperierende Zukunft liegt in seiner Vielfalt.
Etwas mehr als einen Monat nach dem
Schlusspfiff in Berlin haben die besten Nachwuchsspielerinnen der Welt in Russland die
dritte U-20-Weltmeisterschaft begonnen, im
November wird Rio de Janeiro Austragungsort der zweiten Beach-Soccer-WM sein, und
im Dezember steht die nächste Austragung
der Klub-Weltmeisterschaft an.
Frauenfussball, Fussball am Strand, Duelle der besten Vereinsmannschaften der
Welt oder Futsal: Diese Vielfalt setzt sich innerhalb der Landesverbände fort. Nicht nur
organisatorisch, weil sie dank der Unterstützung der FIFA Wettbewerbe organisieren
können. Vielmehr werden so auch die sozi-
alen und erzieherischen Werte des Fussballs
in der Gesellschaft breit abgestützt. Fairplay
und Frieden, wie dies die FIFA mit ihrem
jährlichen FIFA-Fairplay-Tag zum Ausdruck
bringt, den sie gemeinsam mit dem Friedenstag der Vereinten Nationen begeht, sind
damit auf das Engste verbunden.
Ebenso legt die FIFA Wert darauf, dass die
Fussballerinnen und Fussballer sämtlicher
Kategorien ohne Zuhilfenahme unerlaubter
Substanzen Spitzenleistungen erbringen. Im
Kampf gegen Doping erachten wir die Aufklärung und Prävention als ebenso wichtig
wie Sanktionen. Wer leistungsfähig bleiben,
Verletzungen vermeiden und seine körperlichen und taktischen Fähigkeiten voll zur
Geltung bringen möchte, hat eine wirksamere Alternative als Doping: eine gesunde
Lebensweise, zusammen mit einer ausgewogenen Ernährung im Sinne von „mens sana
in corpore sano“. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist leider keine Selbstverständlichkeit, wie die medizinischen Spezi-
Wahrer
Reichtum
alisten der FIFA beim Gedankenaustausch
bei Sitzungen und Kongressen sowie im
Rahmen ihrer Langzeitstudien immer wieder feststellen müssen.
Die FIFA wird auch in Zukunft ihre finanziellen Mittel zielgerichtet einsetzen und mit
ihren Reglementen und Massnahmen dafür
sorgen, dass sich der Fussball mit all seinen
Spielarten, den unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen entsprechend,
weiterentwickeln kann. Der wahre Reichtum des Fussballs bleibt erhalten, wenn wir
dies im Einklang mit unserer neuen Vision
tun: das Spiel fördern, die Welt bewegen
und eine bessere Zukunft gestalten.
OKTOBER 2006
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INHALT
magazine
INHALT
AUGENBLICKE.................................................. 7–9
TICKER
Die wichtigsten Momente der WM 2006 ......... 19–21
DER COUP
JAPAN
Trainer Ivica Osim vor einer schwieriger Mission ... 25–27
Italiens Weg zum Titel
SHAKA HISLOP
Torhüter von Trinidad und Tobago .................... 28–29
FUTSAL
Spektakulär und schnell ................................... 34–41
Wie sich die Stimmung in und um die Mannschaft während
des Aufenthaltes in Deutschland änderte
SPORTMEDIZIN
So ernähren sich Fussballer richtig .................... 42–47
10–13
PAKISTAN
Der erste internationale Auftritt des
Frauenteams .................................................... 48–49
INTERVIEW
Deco: „Ich bin stolz
und auch enttäuscht“
STEVE McCLAREN
20 FRAGEN, 20 ANTWORTEN
Hernán Crespo................................................. 52–53
Englands
neuer Trainer
DAMALS UND HEUTE
Taribo West, nigerianischer Verteidiger ............. 54–57
Wer ist der Nachfolger von Sven-Göran Eriksson?
Porträt einer ungewöhnlichen Persönlichkeit
FIFA INSIDE .................................................. 63–82
30–33
FIFA magazine
Nummer 10, Oktober 2006
BRASILIEN
Der Neuanfang
So verarbeitet der fünffache Weltmeister das
schwache Abschneiden bei der FIFA FussballWeltmeisterschaft Deutschland 2006™
22–24
OKTOBER 2006
Sind Sie ein Fussballexperte?
Seiten
50–51
Monatlich erscheinende offizielle Publikation der
Fédération Internationale de Football Association (FIFA).
Italien
www.figc.it
10–13
FC Barcelona
www.fcbarcelona.com
14–17
Carlos Dunga
www.jubi-net.com/dunga/eng.htm
22–24
Japan
www.jfa.or.jp/
25–27
Shaka Hislop
www.socawarriors.net/shaka_hislop.htm
28–29
England
www.thefa.com/
30–33
Hernán Crespo
www.hernancrespo.net/
52–53
Taribo West
www.nigerianplayers.com/player.asp?pid=32
54–57
Herausgeberin: FIFA, FIFA-Str. 20, Postfach, CH-8044 Zürich
Telefon: +41-(0)43-222 7777. Telefax: +41-(0)43-222 7878
Internet: www.FIFA.com E-Mail: [email protected]
Präsident: Joseph S. Blatter
Generalsekretär: Urs Linsi
Verantwortlich für den Inhalt
Direktor: Markus Siegler
Redaktion: Andreas Werz, Georg Heitz
Produktion: Hans-Peter Frei (Leitung)
Layout: Marco Bernet, Philipp Mahrer
Druck: Vogt-Schild Druck AG,
Gutenbergstrasse 1, 4552 Derendingen, Schweiz
www.FIFA.com
WEBSITE
14–17
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ES WAR EINMAL IM OKTOBER ................. 60–61
Titelbild: Deco. FOTO: FOTO-NET
Portugals Stratege über die WM, den FC Barcelona
und die UEFA Champions League
Quiz
MAGAZETTE ................................................. 58–59
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[email protected]
Redaktionsschluss dieser Ausgabe:
Donnerstag, 10. August 2006
Die im FIFA magazine ausgedrückten Meinungen geben nicht in jedem
Fall jene der FIFA wieder. Der Nachdruck von Fotos und Artikeln – auch
auszugsweise – ist nur mit Genehmigung der Redaktion erlaubt und
unter Quellenangabe (Copyright: FIFA) zu veröffentlichen. Die Redaktion
ist nicht verpflichtet, unaufgefordert eingesandte Manuskripte
und Fotos zu publizieren. Das FIFA-Signet ist ein eingetragenes
Warenzeichen. In der Schweiz produziert und gedruckt © FIFA 2006.
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AUGENBLICKE
Heimspiel!
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Offizieller Partner der FIFA WM 2006™.
BRASILIEN GEGEN JAPAN
Im Juni trafen bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006™ Brasilien und Japan
aufeinander. Die Südamerikaner gewannen 4:1. Etwas weniger intensiv war die Begegnung
zuvor in einem Aquarium in Yokohama gewesen, wo sich gelbe und blaue Fische,
die WM-Kontrahenten symbolisierend, um einen mit Fischfutter gefüllten Ball stritten.
FOTO: KEYSTONE
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AUGENBLICKE
AUGENBLICKE
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7,5 KILOGRAMM
Bei diesem Unterwasser-Fussballturnier in Deutschland wurde ein
7,5 Kilogramm schwerer Ball verwendet. Die jeweils vier Spieler
der Teams trugen 15 Kilogramm schwere Gewichte, um die
Bodenhaftung nicht zu verlieren.
GIGANTISCHE WM
Parallel zur FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ fand in Thailand
eine WM der Giganten statt. Ob der Dickhäuter, der England
repräsentierte, den Titel holte, ist nicht überliefert.
EINSAME POKALE
FOTOS: KEYSTONE
Der FC Bayern München ist deutscher Meister und Pokalsieger 2006. Darauf ist der
Klub zu Recht stolz – und liess deshalb beim offiziellen Fototermin zur neuen Saison
die beiden Trophäen bereitstellen, noch ehe die Spieler eintrafen.
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ITALIEN
Schöner als
in der Fantasie
Auf dem Weg zum
Weltmeistertitel 2006
musste die italienische
Nationalmannschaft
so manche Hürde
nehmen. Doch
Cannavaro und Co.
liessen sich nicht
einmal durch den
Fussballskandal in der
Heimat vom grössten
Erfolg ihrer Karriere
abhalten.
VON SERGIO DI CESARE
I
talien ist Weltmeister 2006. Wahrhaft ein Traum, wie es für Dänemark
einer war, als es 1992 Europameister
wurde. Die Realität übertrifft die kühnsten Fantasien, das Unvorhersehbare
macht eben den Reiz des Fussballs aus.
Vor dem Turnier in Deutschland hatte
es in den italienischen Zeitungen noch
geheissen: „Marcello Lippi, Gianluigi
Buffon und Fabio Cannavaro müssen zu
Hause bleiben: Sie können unser Land
nicht vertreten“, oder gar: „Jetzt gilt es,
Mut und moralische Integrität an den zu
Tag legen: Verzichten wir auf die Reise
nach Deutschland.“
Franz Beckenbauer, Präsident des
lokalen Organisationskomitees, fügte
hinzu: „Es ist unmöglich, dass die
Nationalmannschaft unbeschwert und
konzentriert ins Turnier einsteigt, denn
die zermürbenden Ereignisse des italienischen Fussballs werden sie auf jeden
Fall belasten.“ Der Skandal, der in Italien
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unter dem Namen „Calciopoli“ läuft, ist
vielleicht der grösste der italienischen
Fussballgeschichte.
Wie es schien, waren Trainer, Torhüter und Kapitän der Nationalelf darin
verwickelt. Die „Squadra azzurra“, sogar
von den eigenen Fans abgelehnt, hatte
dabei kaum die Möglichkeit, den Imageverlust wieder gutzumachen. Nicht einmal der Vergleich mit 1982 vermochte
Hoffnung aufkommen zu lassen. Als die
„Azzurri“ in Spanien den dritten WMTitel eroberten, war Italien gerade aus
den Abgründen einer ähnlichen Begebenheit aufgetaucht (es ging um einen
Wettskandal, die so genannte TotoneroAffäre): „Diesmal sind sie zu weit gegangen“, entrüsteten sich damals namhafte
Kommentatoren, „für Italien einzustehen, ist jetzt zutiefst unbehaglich.“
Der Triumph von 2006 jedoch, mit
Lippi, Buffon und Cannavaro in den
Hauptrollen, erlaubte es dem italie-
nischen Fussball, sich wieder voller Stolz
aufzurichten und sich von der Last der
unsagbaren Ereignisse zu befreien. Die
Affäre war zwar nur auf wenige Personen
beschränkt, schien jedoch das gesamte
Umfeld seiner Glaubwürdigkeit zu berauben. Der Präsident des italienischen
Fussballverbandes, Guido Rossi, hatte
recht, als er anlässlich der Sternfahrt
von Coverciano erklärte: „Das Nationalteam wird das erste Zeichen der Erneuerung und Säuberung unseres Fussballs
setzen.“
Die moralischen und menschlichen
Qualitäten der Fussballer haben – noch
vor Technik und Taktik – der Nationalelf wieder zu internationalem Renommee verholfen. Die Mannschaft
als sportliches Sinnbild des Landes hat
einem Volk, das sich vom Fussball verraten und enttäuscht fühlte, die Freude an
diesem Sport zurückgegeben. Die Spieler, die bei ihrer Abreise unter den Be-
schimpfungen zu leiden hatten, wurden
bei ihrer Rückkehr nach Italien umarmt;
zwei Millionen Menschen empfingen
sie zwischen dem Kolosseum und dem
„Circus Maximus“ mit den Ehren, die
im Rom der Antike nur den Kaisern zuteil wurden.
Die italienische Mannschaft, Ausgabe
2006, entsprach so gar nicht dem Bild,
das sich die Welt in den letzten Jahren
zurechtgelegt hatte. Man sprach von
den Ausnahmetalenten (Francesco Totti, Alessandro Del Piero und Alessandro
Nesta), aber auch von den kollektiven
Unzulänglichkeiten des Teams auf dem
Feld und ausserhalb davon. Die „Azzurri“ vertrauten auf die Bescheidenheit, die
Solidarität, die Bodenständigkeit und das
Temperament weniger beachteter Spieler
wie Gianluca Zambrotta, Fabio Grosso,
Andrea Pirlo, Gennaro Gattuso, Daniele
De Rossi und Luca Toni. Auch Marco
Materazzi, Filippo Inzaghi, Vicenzo
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ITALIEN
Del Piero hadert.
– Das Teamhotel
Italiens in Duisburg.
FOTOS: IMAGO (6), FOTO-NET (3)
Iaquinta und Alberto Gilardino, die
meist auf der Ersatzbank Platz nehmen
mussten, schossen bedeutende Tore.
„Unsere Mannschaft besteht aus echten Männern“, antwortete Gattuso denjenigen, die ihnen fehlende Ethik vorgeworfen hatten, noch bevor sie es gegen
Deutschland und Frankreich beweisen
konnten. Um es mit Elio Petris Kultfilm
„Die Arbeiterklasse geht ins Paradies“
auszudrücken, galt Italien als das Land,
das dem Dolce Vita, dem Individualismus und der Genialität frönt, jedoch
in schwierigen Momenten seine ganze
Kraft sammelt und dank Aufopferung
und harter Arbeit aussergewöhnliche
Resultate erzielt. Diese Fähigkeiten kann
man mit einem einzigen Wort umschreiben: Professionalität.
DER BUNKER IN DUISBURG
Nach zwei vom Skandal überschatteten
Vorbereitungswochen, in denen Buffon,
Cannavaro, Lippi und dessen Sohn Davide (als Miteigentümer der Spielervermittlungsagentur GEA) wiederholt von
Polizisten und Richtern befragt wurden,
verstärkten die Freundschaftsspiele gegen
die Schweiz (1:1) und die Ukraine (0:0)
den Eindruck von Mutlosigkeit und
Pessimismus. Zambrotta und Gattuso
verletzten sich, Del Piero und Totti waren nicht in Form. Das Team wurde in
Deutschland von den italienischen Gastarbeitern ausgepfiffen und beschimpft,
die nicht verstanden, dass die Spieler
kaum bereit waren, einer Öffentlichkeit
zuzulächeln, die sie bereits vor dem Turnier verurteilt hatte. Viele der Fans hat-
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ten erfolglos hunderte von Kilometern
zurückgelegt und stundenlang gewartet,
um ein Autogramm zu erhalten, und
wurden dann enttäuscht.
Einen Monat später jedoch zählten
diese Emigranten zu den glücklichsten
Menschen der Welt. Am Anfang hatten
einige italienische Intellektuelle noch
eine Erklärung „Ich bin für Ghana“
unterzeichnet, doch je mehr sich die
Medien ereiferten, desto mehr wuchsen
Lippi und seine Spieler zu einer Einheit
zusammen. Das „Milsner Landhaus“ in
Duisburg, wo die Spieler untergebracht
waren, wurde zu einem regelrechten
Bunker. Hier wurden während des Trainings hinter verschlossenen Türen die
Grundlagen für den Triumph gelegt. In
der Anlage hatten die Spieler eine einzige Möglichkeit, sich zu entspannen:
Sie fischten im hoteleigenen See. Das
Hotel, das vor kurzem noch so unzugänglich wie ein Mönchskloster war,
ist heute eine Wallfahrtsstätte für italienische Touristen.
Gegen Ghana (2:0) präsentierten sich
die Italiener aber wieder als Mannschaft,
die sich ihrer nationalen Identität nicht
mehr länger schämte. Trotz der drückenden Hitze trug Verbandspräsident
Rossi als Ausdruck seines Nationalstolzes
etwa einen blauen Schal, den er bis zum
Endspiel nicht mehr ablegte. Das Klima
im Team blieb jedoch angespannt, denn
der auf die Ersatzbank verdonnerte Del
Piero identifizierte sich mit dem homerischen Helden Achilles und hüllte sich
in ablehnendes Schweigen. Er erklärte: „Ich warte auf die entscheidenden
Spiele.“ Gegen Deutschland und Frankreich spielte er dann tatsächlich, und wie.
Zuvor im Training jedoch hatte er seine
Wut mit Tritten an einem jungen gegnerischen Spieler ausgelassen und handelte
sich damit eine öffentliche Rüge Lippis
ein. Das Spiel gegen die USA (1:1, De
Rossi wurde wegen eines Ellbogenstosses
gegen McBride des Feldes verwiesen)
liess den Missmut wieder aufflackern,
und auch Totti landete auf der Ersatzbank. Inzaghi polemisierte, De Rossi (für
vier Spiele gesperrt und von Lippi ignoriert) wollte wieder zurück nach Rom,
die Stimmung war angespannt. Doch im
Endspiel in Berlin war De Rossi wieder
mit von der Partie und verwandelte seinen Elfmeter gegen Frankreich.
NEUE MARSCHRICHTUNG
Cannavaro und Gattuso entschlossen
sich mitten im Turnier, gegen die offensiv geprägte Fussballphilosophie Lippis
aufzubegehren und erklärten die neue
Marschrichtung: „Zurück zum Fussball
nach italienischer Art. Wenn unsere
Spieler nicht leistungsfähig sind, müssen
wir auf unsere defensive Stärke setzen.“
Nun war Schluss mit drei Angreifern,
lediglich Toni blieb. Die Partie gegen die
Tschechische Republik (2:0) entschieden die zwei Ersatzspieler Materazzi und
Inzaghi. Während der ganzen sieben
Spiele des Turniers liess die italienische
Verteidigung nur zwei Tore zu, ein Eigentor von Cristian Zaccardo und einen
Elfmeter von Zinedine Zidane.
Lippis Nerven hielten das nicht aus.
Die neue Spielausrichtung, die der
Mannschaft Auftrieb verlieh, traf ihn in
seinem Stolz. Der Trainer ärgerte sich
zudem über die Journalisten, die ihn
kritisierten, und griff diese seinerseits
an: „Schämt euch. Wenn ihr euch wie
Idioten aufführt, tue ich das auch. Es
dauert sowieso nicht mehr lange …“ Als
hätte er seinen Abschied am Ende des
Turniers damals schon ankündigen wollen. Die Fussball-Seifenoper in der Heimat enthüllte derweil noch ein früheres
Telefongespräch zwischen den ehemaligen Juventus-Chefs Antonio Giraudo und Luciano Moggi: „Lippi? Er hat
nicht den Charakter, um die Nationalelf zu führen. In zehn Monaten wird er
mindestens zehn wichtige Spieler gegen
sich haben.“
Die Mannschaft jedoch stand glücklicherweise und trotz der Abkehr von dessen Taktik geschlossen hinter Lippi. Gegen Australien (1:0) behauptete sie sich
lange nur mit zehn Spielern (nachdem
Materazzi ausgeschlossen worden war),
und fünf Sekunden vor Ende der Nachspielzeit schaffte es Fabio Grosso nach
einem beeindruckenden Alleingang, einen Elfmeter herauszuholen. Totti, der
erst seit wenigen Minuten spielte, widerstand der Versuchung eines Schusses
nach Art des Panenka-Hebers, aber an
jenem felsenschweren Ball reagierte er all
seine Wut und diejenige seiner Mitspieler ab. „Bin ich nun in einer Viertelstunde vom halben Spieler zum Meister geworden?“, fragte er die Journalisten, die
ihn vorher verschmäht hatten und nun
in den Himmel hoben.
LIPPIS IRONIE
Ein dramatisches Ereignis schweisste
die Mannschaft noch enger zusammen.
Anlässlich einer Pressekonferenz kündigte Cannavaro seinen temporären
Weggang aus dem WM-Camp an. Er
und seine Juventus-Kollegen verliessen
Duisburg und flogen zum Sitz der Juventus nach Turin, wo sich ihr ehemaliger
Mitspieler Gianluca Pessotto vom Dach
gestürzt hatte. Von diesem Augenblick
an war Pessotto so etwas wie der 24. Spieler des Nationalteams. Italien schlug die
Ukraine (3:0) souverän, und die Spieler
widmeten den Sieg mit dem Transparent
„Pessottino, wir sind alle bei dir“ ihrem
mit dem Tod ringenden Kollegen.
Nun war das deutsche Team an der Reihe, im Stadion von Dortmund, in dem diese Mannschaft bis dahin noch kein Spiel
verloren hatte. Die deutschen Zeitungen
schossen im Vorfeld ihre Giftpfeile gegen
die Italiener ab und bezeichneten sie als
„Parasiten und Muttersöhnchen“ (Der
Spiegel) oder riefen zum „Boykott von
Pizza und Spaghetti“ auf (Bild). Auf diese
„Komplimente“ reagierten die „Azzurri“
auf dem Spielfeld: Durch die von Grosso
und Del Piero erzielten magischen Tore
(2:0) wurde der WM-Gastgeber bezwungen. Materazzi feierte und umarmte den
mexikanischen Schiedsrichter auf Knien,
Beckenbauer applaudierte im Stehen, als
wolle er sich bei der ganzen Welt für seine
Vorhersagen entschuldigen, und der italienische Premierminister Prodi sang neben
der deutschen Bundeskanzlerin Angela
Merkel „O’ sole mio“.
Für die Italiener in Deutschland stehen
ab sofort vier sonnige Jahre mit Würsteln
und Sauerkraut an. Und Lippi richtete
sich mit einer ironischen Aussage an die
ausgewanderten Italiener: „Esst weder
Pizza noch Spaghetti, wenn sie von den
Deutschen zubereitet sind …“
Der Triumph gegen Frankreich war
nicht nur eine Wiedergutmachung des
EM-Finales 2000 (in Rotterdam war das
Golden Goal von David Trézéguet entscheidend gewesen, in Berlin verpatzte
er den Elfmeter), sondern beendete vor
allem eine Pechsträhne, an die sich wenige erinnern. Im „Elfmeterroulette“ hatte
Italien schon dreimal höhere WM-Weihen verpasst: 1990 im Halbfinale gegen
Argentinien, 1994 im Finale gegen Brasilien und 1998 im Viertelfinale gegen
Frankreich! Diesmal hatte Italien das
Schicksal ausgetrickst.
Es hätte das Turnier des ewiglächelnden Fussballmagiers Ronaldinho werden
sollen, doch auf den Titelseiten erschien
nun Fabio Grosso, der unbekannte Verteidiger, der den letzten Elfmeter geschossen hatte. Italien hatte die Gegner mit
Entschlossenheit, einwandfreier Technik
und viel Geistesgegenwart bezwungen.
Grossos Frau Jessica, die ihr erstes Kind
erwartete, fieberte auf der Tribüne mit,
während ihr Mann ausser sich vor Freude die Arme hin und her schwenkte: „Ich
glaube es nicht, ich glaube es nicht …“ Es
war eben ganz wie in einem Märchen.
Donadoni –
Lippis Nachfolger
Sieg und Abschied
von Marcello Lippi:
Drei Tage nachdem
er mit seiner Mannschaft den WM-Titel
erobert hatte, kündigte der Nationaltrainer aus Viareggio
eine sechsmonatige
Ruhepause an. Er
möchte die während
zweier Jahre angesammelte Spannung abbauen und in Ruhe
entscheiden, wie, wann und wo er wieder ein
Team trainiert.
Da es unmöglich ist, einen Trainer mit so viel Erfahrung, einem solchen Charisma und vergleichbaren
Ergebnissen zu finden, fiel die Entscheidung des
italienischen Fusballverbandes (FIGC) auf einen
jüngeren, unverbrauchten Fussballlehrer, den
ehemaligen Internationalen Roberto Donadoni
(43, Foto). Dieser spielte von 1986 bis 1996 bei
Berlusconis AC Milan und gewann in diesen zehn
Jahren sechsmal die italienische Meisterschaft,
dreimal die UEFA Champions League, dreimal
den europäischen Superpokal und zwei Interkontinental-Pokale. Für die Nationalmannschaft
bestritt Donadoni 63 Spiele (fünf Tore). Er verlor
im Elfmeterschiessen sowohl das Halbfinale gegen
Argentinien bei der WM 1990 als auch das Finale
gegen Brasilien im Turnier von 1994.
Donadoni gab sein Debüt als Trainer 2001 in
Lecco (Serie C), dann übernahm er die Leitung
des FC Genua (Serie B) und schliesslich von Livorno (Serie B und Serie A). Der eher als schweigsam
geltende Donadoni hat die Fussballschule von
Arrigo Sacchi und Fabio Capello durchlaufen.
Er beabsichtigt weder die Mannschaft noch die
Spielmodule Lippis zu verändern, er muss jedoch
die Auswirkungen von „Calciopoli“ ausbaden,
weil einige Nationalspieler ins Ausland gezogen
sind oder sogar in der Serie B spielen müssen.
Auch in der italienischen U-21-Mannschaft
weht ein frischer Wind. Mit fünf europäischen
Titeln in den letzten acht Turnieren hat diese
Mannschaft die Qualität der italienischen Schule
unter Beweis gestellt. Im Hinblick auf die EURO
2008 und vor allem auf die Olympischen Spiele
von 2008 wurde Trainer Claudio Gentile durch
zwei andere ehemalige Nationalspieler ersetzt:
Pierluigi Casiraghi (37) und Gianfranco Zola (40).
sce
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