Max Frisch Montauk

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Max Frisch Montauk
Suhrkamp
Max Frisch
Montauk
suhrkamp
ebooktaschenbuch
Suhrkamp 700
Montauk ist ein indianischer Name, er bezeichnet die nördliche
Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan ent­
fernt; dort findet das Wochenende statt, das erzählt wird.
»In Montauk heißt es: >Ich möchte dieses Wochenende beschreiben
können, ohne etwas zu erfinden, diese dünne G e g e n w a r t . . .< D e r
Erzähler ist entschlossen, das Wochenende >autobiographisch< zu
beschreiben: >Ohne Personnagen zu erfinden, ohne Ereignisse zu
erfinden, die exemplarischer sind als seine Wirklichkeit; ohne aus­
zuweichen in Erfindungen.< D e r große Fabulierer, der Meister der
Parabel, bekennt: >Er möchte bloß erzählen . . .: sein Leben.< Nie hat
er knapper und karger und zugleich präziser und prägnanter, nie an­
schaulicher und anregender geschrieben. Montauk ist eine poetische
Bilanz: ein Buch der Liebe, geschrieben von einem Dichter der
Angst.«
Marcel Reich-Ranicki
Max Frisch, am 1 5 . Mai 1 9 1 1 in Zürich geboren, starb dort am 4.
April 1 9 9 1 . Seine wichtigsten Prosaveröffendichungen: Tagebuch
1946-1949 (1950), Stiller (19s 4), Homo faber (1957), Mein Name
sei Gantenbein (1964), Tagebuch 1966-19 JI (1972), Dienstbüchlein
(1974), Montauk (1975), Der Traum des Apothekers von Locarno.
Erzählungen (1978), Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzäh­
lung (1979), Blaubart. Erzählung (1982). Stücke u. a.: Graf Öderland(i<)$ 1), Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie ( 1 9 5 3 ) , Bieder­
mann und die Brandstifter (1958), Andorra ( 1 9 6 1 ) , Biografie: Ein
Spiel (1967), Triptychon. Drei szenische Bilder (1978). Sein Werk im
Suhrkamp Verlag ist ab Seite 2 1 0 notiert.
Max Frisch
Montauk
Eine Erzählung
Suhrkamp
Umschlagfoto: Stephan Erfurt
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
www.suhrkamp.de
eISBN ----
D I E S IST EIN AUFRICHTIGES B U C H , L E S E R , ES WARNT DICH
SCHON BEIM EINTRITT, DASS ICH MIR DARIN KEIN ANDERES
E N D E VORGESETZT HABE A L S EIN HÄUSLICHES UND PRIVATES . . .
I C H HABE ES DEM PERSÖNLICHEN G E B R A U C H MEINER
F R E U N D E UND A N G E H Ö R I G E N GEWIDMET, AUF DASS SIE, W E N N
SIE MICH V E R L O R E N HABEN, DARIN EINIGE ZüGE MEINER LE­
BENSART UND MEINER G E M Ü T S V E R F A S S U N G W I E D E R F I N D E N . . .
D E N N ICH BIN ES, D E N ICH DARSTELLE. M E I N E F E H L E R WIRD
MAN HIER FINDEN, SO WIE SIE SIND, UND MEIN UNBEFANGENES
W E S E N , SO WEIT ES NUR DIE ÖFFENTLICHE SCHICKLICHKEIT
ERLAUBT . . . S O BIN ICH SELBER, L E S E R , DER EINZIGE I N H A L T
MEINES B U C H E S ; ES IST NICHT BILLIG, DASS DU DEINE M Ü S S E
AUF E I N E N SO EITLEN UND GERINGFÜGIGEN G E G E N S T A N D VER­
WENDEST. / M I T G O T T DENN, Z U M O N T A I G N E , AM ERSTEN
MÄRZ
1580.
Ein Schild, das Aussicht über die Insel verspricht:
OVERLOOK. E s ist sein Vorschlag gewesen, hier zu
stoppen. Ein Parkplatz für mindestens hundert W a ­
gen, zur Zeit leer; ihr Wagen steht als einziger in dem
Raster, das auf den Asphalt gemalt ist. E s ist Vormit­
tag. Sonnig. Büsche und Gestrüpp um den leeren
Parkplatz; keine Aussicht also, aber es gibt einen Pfad,
der durch das Gestrüpp führt, und sie haben nicht lang
beraten: der Pfad wird sie zur großen Aussicht führen.
Dann ist sie nochmals zum Wagen zurückgegangen.
E r wartet; sie haben Zeit. Ein ganzes Wochenende. E r
steht und weiß nicht, was er im Augenblick grad
denkt. . . In Berlin ist es jetzt schon drei U h r nach­
mittags . . . E r wartet sonst ungern. E s ist ihr eingefal­
len, daß sie, um den Atlantik zu sehen, eigentlich ihre
Handtasche nicht braucht. E s kommt ihm alles etwas
unwahrscheinlich vor, aber nach einer Weile sieht er es
als einfache Wirklichkeit: Rascheln in den Büschen,
dann ihre Hosen (das verwaschene Hellblau natürlich)
und ihre Füße auf dem Pfad, hinter viel Zweigen und
Ästen ihr ziemlich rotes Haar. Ihr G a n g zum Wagen
hat sich gelohnt: YOURPIPE. U n d dann geht sie wieder
voran; sie duckt sich da und dort unter den wirren
Ästen, und er duckt sich unter den selben Ästen, wenn
sie schon wieder aufrecht geht noch immer durch
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Dickicht. E s ist eine A r t von Pfad, nicht immer deut­
lich, ein verwilderter Pfad. Zuerst ist er vorangegan­
gen: als Mann, der sich hier so wenig auskennt wie sie.
Einmal ein sumpfiger Graben, w o er ihr hat helfen
müssen, und seither geht sie voran. Das ist ihm auch
lieber. E s macht ihr Freude, das zeigt ihr leichter und
flinker Gang. D e r Atlantik kann nicht fern sein.
Hochoben eine vereinzelte M ö w e . Im Gehen stopft er
die Pfeife und wundert sich, ohne wissen zu wollen,
worüber er sich wundert. Stellenweise riecht es nach
Blüten; keine Ahnung, was da blüht; es sind fremde
Gewächse. E r hat dafür gebürgt, daß er den Wagen
jederzeit wieder finden werde, und sie scheint ihm zu
vertrauen. U m dann die Pfeife anzuzünden, muß er
kurz stehenbleiben, es ist windig, fünf Streichhölzer
sind nötig, und sie ist unterdessen weiter gegangen, so
daß er sie für Augenblicke nicht mehr sieht; für A u ­
genblicke kommt es ihm wie eine Einbildung vor oder
wie eine ferne Erinnerung: dieser Gang mit einer
jungen Frau. Eigentlich gibt es viele Pfade oder was
wie ein Pfad aussieht; deswegen ist sie stehengeblie­
ben: Wohin jetzt? Die Landkarte, die er gestern ge­
kauft hat, liegt im Wagen; sie würde in diesem Gelän­
de auch nicht viel helfen. Sie gehen nach der Sonne.
Kein Pfad für Gespräche. W o einmal kein Dickicht ist,
sieht man das Gelände ringsum: nicht fremd, obschon
er noch nie in seinem Leben hier gewesen ist. Das ist
nicht
Griechenland; eine ganz andere Vegetation.
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T r o t z d e m denkt er an G r i e c h e n l a n d , dann w i e d e r an
S y l t . E s stört ihn, daß i m m e r E r i n n e r u n g e n da sind.
Sie sind schon eine halbe Stunde gegangen. Sie wollen
den A t l a n t i k sehen. Sie haben nichts anderes z u t u n ;
sie haben Zeit. A u c h ist das nicht in der Bretagne, w o
er zuletzt am Meer gewesen ist vor einem Jahr. Die
gleiche Küstenluft. E s kann sein, daß er das gleiche
H e m d trägt, die gleichen Schuhe, alles ein Jahr älter.
E r weiß, w o sie sich befinden:
MONTAUK
ein indianischer N a m e ; er bezeichnet die nördliche
Spitze von L o n g Island, hundertzehn Meilen von
Manhattan entfernt, und er könnte auch das Datum
nennen:
i i . 5. 1 9 7 4
E s gibt nicht nur Äste, die über den Pfad hängen, so
daß man sich ducken muß; ab und zu liegt auch ein
dürrer A s t auf dem Boden, dann hüpft sie darüber. Sie
ist sehr schlank, nicht knochig. Ihre Bluejeans sind bis
zu den Waden gekrempelt; ihr kleines Gesäß in der
knappen Hose, die sie ohne Gürtel trägt, und in der
Seitentasche steckt ein Kamm. Sie ist nicht größer und
nicht kleiner als er, aber leicht. Ihr Haar, wenn sie es
offen trägt, reicht bis zu den Hüften; jetzt hat sie es
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