Welt Kompakt_20121105_keane_konzertkritik

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Welt Kompakt_20121105_keane_konzertkritik
Die Welt kompakt 05.11.12, 9:51
The Voice kommt aus East Sussex
Die britische Band Keane begeistert im ausverkauften Tempodrom
Von Lena Kappei
Unfassbar, was der für eine Stimme hat. Das klingt wie auf der CD!" Mit offenem
Mund und glänzenden Augen steht die Frau am Samstagabend in der Mitte der
Stehplatzarena des Berliner Tempodroms und lauscht Tom Chaplins Stimme, dem
Frontmann von Keane, der sich ausnahmsweise einmal selbst am Klavier begleitet.
Soeben schraubt er sich im Refrain des Songs "She Has No Time" hoch in die
Kopfstimme. Glasklar, jeder Ton sitzt, vollkommen unangestrengt. Kein Wunder, dass
kaum zehn Minuten später mein Vordermann seiner Begleitung zuflüstert: "Also, ich
kann das ja nicht beurteilen, aber der kann wirklich toll singen." Für ein Rockkonzert
sind dies eher ungewöhnliche Kommentare im Publikum, zählen bei einem solchen
doch in der Regel die Gitarrenriffs und harte Schlagzeug-Einlagen. Doch wer die
Briten aus dem Süden Englands kennt, weiß, dass sie eben das volle Programm
bieten.
Keane begannen ihre Karriere mit poppigen Piano-Sounds und eingängigen,
radiotauglichen Melodien, wie die ersten Singles "Somewhere Only We Know" oder
"This Is The Last Time" bewiesen. Leider werden diese zu oft im TV als
Hintergrundmusik für melodramatische Szenen missbraucht.
Das Debütalbum "Hopes And Fears" kam 2004 heraus, das in Großbritannien direkt
Platz eins belegte. Mit dem Dritten namens "Perfect Symmetry" wagten sie sich 2008
in eine Synthesizer-lastige, sehr bunte Poprichtung. Mit ihrem neuen, mittlerweile
vierten Werk "Strangeland" stehen die Briten nun für eine ausgewogene und doch
weiterentwickelte Mischung aus keanetypischen, samtigen Balladen und UpbeatSounds, die unweigerlich zum Mitsingen verführen. Die tiefgründigen Texte des
Pianisten Tim Rice-Oxley, der auch schon Co-Writer für Stars wie Gwen Stefani und
Kylie Minogue war, sowie die hörbar im Chor ausgebildete Stimme des Sängers Tom
Chaplin sind die unverkennbaren Markenzeichen der Band.
Dass sie nun nach vier Jahren wieder das Tempodrom beehren, begeistert nicht nur
die Fans, sondern auch die Bandmitglieder selbst. "Wir haben eine besondere
Beziehung zu Berlin, dieser tollen und vibrierenden Stadt", ruft Chaplin der Menge
zu. "Hier nahmen wir unser Album ,Perfect Symmetry' zum Teil auf und lernten diese
Stadt kennen und lieben." Dann versichert er den Jubelnden noch, dass das
Tempodrom "eine der besten Konzertlocations der Europatour" sei, die sie derzeit
durchlaufen. Man nimmt es ihm ab. Der runde, einem Zirkuszelt ähnelnde
Veranstaltungsort ist zwar nicht die O2-Arena in London, die Keane als britische
Nationalhelden im Übrigen voll machen, aber er ist perfekt für ihren Berlin-Besuch:
Groß genug, um mit Stadion-Lautstärke die Beats von "Spiralling" durch die Körper
der Menschen zu pumpen, und klein genug, um die intime Atmosphäre von "Sea
Fog" zwischen Band und Publikum zu schaffen.
Ein Jammer, dass während der ersten Hälfte des Konzerts die Tonmischung nicht
stimmte. Chaplins Gesang klang partiell wie von einem Rauschen belegt und wurde
von Bass und Schlagzeug fast übertönt. Glücklicherweise tat dies der durchweg
tragenden Qualität des Gesangs wenig Abbruch.
Keane pflegen einen besonderen Kontakt zu ihren Fans, lassen sie über ihre
Homepage teilhaben am rastlosen Leben einer Rockband aus dem englischen East
Sussex. Obligatorisch war somit der "Crowd-Fotoshoot", also das Foto des Publikums,
das der Drummer Richard Hughes regelmäßig schießt. Hughes beherrscht nicht nur
verlässlich und "tight" das Schlagzeug, sondern hält auch begeistert die Orte und
Erlebnisse der Band während des Tourens mit seiner Spiegelreflexkamera fest. Im
Publikumsfoto darf sich der Keane-Fan der ersten Reihe nach dem Konzert also ganz
nach Wo-ist-Walter-Art suchen. Die Musiker werden damit zu Fans ihrer Fans.
Nach einer munteren Mischung von gut 20 Songs, von 2004 bis heute, wagen Keane
eine ultimative Zugabe, die im ersten Reflex ein No-Go in der Musikszene ist: Sie
covern einen Queen-Song. Was sie aber mit ihrer Version von "Under Pressure"
ablieferten, war ein überraschendes Fest für das Berliner Ohr. Für die Londoner wäre
es selbstverständlich gewesen: Tom Chaplin trat bereits gemeinsam mit den
verbliebenen Queen-Mitgliedern Brian May und Roger Taylor auf. Im Londoner Savoy
performte er zudem "The Show Must Go On" zu Ehren des 65. Geburtstags des
verstorbenen Queen-Sängers Freddy Mercury. Was ein Queen-Cover von Keane zu
einem besonderen Genuss macht, ist die frappierend ähnliche Stimmfarbe Chaplins
mit der von Mercury. Wenn also jemand Freddy covern darf, dann Tom Chaplin mit
Keane.
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Quelle: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/berlin/article110616052/The-Voicekommt-aus-East-Sussex.html