27.03.2004 - Taubenschlag
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27.03.2004 - Taubenschlag
SEHEN STATT HÖREN ... 27. März 2004 In dieser Sendung: „MORBUS MENIÉRE“ „SCHATTENSPRÜNGE“ 1174. Sendung Therapien gegen Drehschwindel in Bad Grönenbach Literatur von Schwerhörigen und Ertaubten Präsentator Jürgen Stachlewitz: Hallo, willkommen bei Sehen statt Hören! Unser erstes Thema heute kommt aus dem Bereich der Medizin. Es geht um „Morbus Menière“, eine chronische Krankheit. Das ist die Fachgebärde dafür. Sie tritt wesentlich seltener auf als Tinnitus, aber es sind doch immer wieder auch Gehörlose und Schwerhörige von ihr betroffen. Was sind ihre Symptome? Und welche Therapien sind möglich? Wir waren in Bad Grönenbach und haben uns dort bei Patienten, Ärzten und Betreuern darüber informiert. Danach lassen wir uns von einer ertaubten Dichterin in das Reich der Poesie führen, und wir stellen Ihnen neue Literatur von schwerhörigen Autoren vor! REHA FÜR MORBUS-MENIÈRE Vor der Klinik Bad Grönenbach im Allgäu Jürgen Stachlewitz: Ich habe mich hier mit Axel Schneider aus Mönchengladbach getroffen. Er ist zur Zeit in der Kurklinik „Am Stiftsberg“, aufgrund seiner Krankheit „Morbus Menière“, auf die wir in diesem Film gleich näher eingehen werden. Wie bist du in diese Klinik gekommen? Axel Schneider: Ein gehörloser Bekannter hat mir ein Informationsprospekt über die Menièrsche Krankheit gegeben. Darin waren Informationen, Angebote und Beratungsmöglichkeiten mit Gebärdensprachdolmetscher dieser Klinik beschrieben. Die etwas geringen Informationen von Gehörlosen haben mir nicht gereicht. Deshalb bin ich hier. Untersuchung Die HNO-Ärztin untersucht die Beschaffenheit des äußeren Ohres und des Trommelfells. Sie will ausschließen, dass die Beschwerden daher kommen. Jürgen: Wann hast du bemerkt, dass du von der Menièrschen Krankheit selbst betroffen bist? Axel: Vom Arzt die Diagnose „Morbus Menière“ zu erfahren, war damals sehr hart für mich. Damals hatte ich schon längere Zeit Tinnitus; bin zum HNO-Arzt gegangen und habe mich untersuchen lassen. Dieser hat Tinnitus festgestellt und mir entsprechende Medikamente verschrieben. Die Medika- mente habe ich über längere Zeit eingenommen. Plötzlich, vor ungefähr 3 / 4 Jahren, habe ich Schwindelgefühle bekommen. Ich dachte, es würde am Blutdruck liegen. Mein Hausarzt teilte mir mit, dass mein Blutdruck in Ordnung sei und empfahl mir, zum HNOArzt zu gehen. Allerdings legten sich die Schwindelgefühle wieder, und ich entschied, den HNO-Arzt nicht mehr aufzusuchen. Doch eines Tages hatte ich einen so starken Schwindelanfall, bei dem ich ständig das Gefühl hatte, nach links und rechts umzukippen und das Gleichgewicht zu verlieren. Ich musste mich erst einmal festhalten und hatte ziemliches Herzrasen. Daraufhin bin ich gleich zum Hausarzt, der mich zum HNOArzt überwies. Dort habe ich von meinem Schwindelanfall und meinen Gleichgewichtsproblemen erzählt. Dann musste ich ins Krankenhaus, um eine Infusion zu bekommen. Danach wurde ich entlassen und ich dachte, alles wäre in Ordnung. Doch plötzlich hatte ich wieder einen Rückfall. Mir ist schwindelig geworden, ich hatte keine Kontrolle über mein Gleichgewicht und musste mich zusätzlich übergeben. Diese Situation werde ich nie vergessen. Das war damals im Bahnhof; die Leute haben mich angestarrt, das war mir sehr unangenehm. Mein Arzt teilte mir daraufhin die Diagnose „Morbus Menière“ mit. Ich habe mich in Folge dessen über diese Krankheit informiert und erfahren, dass sie unheilbar ist. Jürgen: Was kann man überhaupt gegen diese Menièresche Krankheit tun? Helfen Tabletten oder bestimmte Therapieformen? Axel: Aus meinen eigenen Recherchen i m Internet oder in Fachbüchern habe ich erfahren, dass es so gut wie keine Therapiemöglichkeiten gibt. Dann bin ich hierher zur Klinik gefahren und konnte mich näher informieren. Der leitende Arzt, der sich auf Morbus Menière spezialisiert hat, hielt innerhalb einer Woche viele Vorträge. Er sprach von vielen Möglichkeiten, diese Krankheit zu therapieren. Die Betroffenen können beispielsweise das Gleichgewicht durch spezielle Übungen (wie mit dem Trampolin) besser kontrollieren. Weitere Fortschritte kommen vielleicht noch in der Zukunft. Übungen Axel Schneider macht regelmäßig Gleichgewichtsübungen. So soll er die Angst vor Schwindel-Attacken verlieren. Sicherheit gibt auch das Trampolin. Wer sich hier hält und seinen Körper beherrscht, den wirft auch sonst so leicht nichts mehr um. Wichtig ist: die Angst muss verloren gehen! Axel: Bei der Krankheit „Morbus Menière“ gibt es keine bestimmten Momente oder Phasen, wo die Symptome auftreten. Die Anfälle kommen ganz plötzlich und unerwartet. Es ist also gut, wenn die Betroffenen ihr Umfeld informieren. Ich persönlich habe zum Beispiel meine Kollegen über meine Krankheit aufgeklärt. Bei einem Anfall brauche ich Unterstützung und die Möglichkeit mich für 1 – 2 Stunden hinzulegen und zu schlafen. Meine Partnerin habe ich ebenso informiert. Sie begleitet mich in diesem Wissen zu verschiedenen Veranstaltungen oder Theaterbesuchen. Sobald ich eine Attacke bekomme, fährt sie mich nach Hause. Jürgen: Dann hast du also keine Vorahnung, wann es passieren könnte? So ein Anfall könnte jederzeit, bei der Arbeit, im Theater oder beim Sport auftreten? Axel: Ich hatte zum Beispiel ein Erlebnis bei einer Grillparty. Dort habe ich eine Wurst gegessen, und plötzlich bekam ich einen Anfall. Dabei wurde mir schwindelig und ich musste mich übergeben. Die anderen Gäste waren in dem Moment total geschockt und haben vermutet, dass es an der Wurst liegen würde. Meine Freundin hat die Gäste gleich über meine Krankheit und deren Symptome aufgeklärt, und dass es nichts mit dem Es- sen zu tun hat. Daraufhin sind wir gleich nach Hause gefahren. Jürgen: Das ist Herr Dr. Kratzsch, der Direktor der Reha-Klinik hier in Bad Grönenbach. Was sind denn die Kennzeichen von Morbus Menière? Dr. med. Volker Kratzsch, Ärztlicher Direktor der Klinik am Stiftsberg, Bad Grönenbach: Morbus Menière ist eine chronische Erkrankung, die gekennzeichnet ist einerseits durch akute Drehschwindelattacken, die den Patienten meistens ganz plötzlich überraschen, einer zunehmenden Schwerhörigkeit und einem chronischen Tinnitus. Wichtig für die Erkrankung ist, dass sie einen chronischen Verlauf hat. Also, ich kann nicht hingehen und kann sagen, ein Patient hat einmal eine Drehschwindelattacke und er ist schwerhörig oder hat Tinnitus und dann ist das ein Menière, sondern ein Menière ist gekennzeichnet dadurch, dass ein Patient immer wieder plötzlich einsetzende Drehschwindelattacken hat, im Rahmen der Drehschwindelattacken sich das Hörvermögen zunehmend verschlechtert, bis hin zur Ertaubung möglicherweise, und der Patient einen Tinnitus hat, der meistens auch i m Rahmen der Attacken sich in der Lautheit verschlechtert. Jürgen: Und welche Ursachen hat diese Krankheit? Dr. Kratzsch: Wir müssen sagen, dass wir über die Ursache der Menièreschen Erkrankung leider Gottes noch sehr wenig wissen. Angenommen wird, dass es sich um eine Schwellung im Bereich des Gleichgewichtsorgans, das sich auf beiden Seiten im Innenohr befindet, handelt. Die allermeisten Patienten, nämlich 90%, sind nur einseitig von dieser Erkrankung betroffen. Aber woher diese Schwellung im Bereich des Innenohres, des Gleichgewichtsorganes des Innenohres kommt, das wissen wir überhaupt nicht. Insofern kann man auch keine Vorbeugung machen, sondern in der Regel ist es so, dass die Patienten von dieser Erkrankung völlig überrascht werden, und man sich davor nicht schützen kann. Jürgen: Gibt es denn Heilungschancen? Dr. Kratzsch: Da wir nicht sicher wissen, was diese Erkrankung auslöst, haben wir auch keine Therapie, die diese Erkrankung mit Sicherheit beseitigt. Wir können trotzdem sehr vielen dieser Patienten heute helfen. Es gibt eine inzwischen sehr gut dokumentierte Therapie, nämlich die Applikation von einem Antibiotikum in das Mittelohr, die dazu führt, dass diese Drehschwindelattacken unterbrochen werden können, und hier sind wir in der weiteren Entwicklung und hoffen, dass wir in Zukunft den Patienten noch eher helfen können, insbesondere unter weitgehender Schonung des Hörvermögens, denn das ist leider Gottes immer noch eine Nebenwirkung auch dieser Therapie. Schwerhörige Patienten In Bad Grönenbach sind auch Schwerhörige, die von der Meniérschen Krankheit betroffen sind. So wie Gabi Mehl und Volker Svenson. Sie haben oft mit anderen Problemen zu kämpfen als z. B. Axel Schneider. Im Fitnessraum sollen sie selbstbewusster werden. Ihre Ängste sollen sie in den Griff bekommen. Dazu machen sie hier diese Übungen, wie Axel Schneider auf dem Trampolin. Der Schwindelanfall soll als beherrschbar angesehen werden. Dazu muss man ein sicheres Körpergefühl entwickeln. Jürgen: Sie sind beide Morbus Menière Patienten. Wie ist speziell bei Ihnen diese Krankheit ausgeprägt? Können Sie uns darüber etwas erzählen? Volker Svenson: Ich leide seit 12 Jahren links an Morbus Menière und seit Januar 2003 ist das auch auf das rechte Ohr übergegangen, und leide eben seit 2003 an Morbus Menière beidseitig, mit Tinnitus, Schwindelanfällen. Gabi Mehl: Ich habe seit sieben Monaten Morbus Menière. Ich hatte einen Anfall, und meine Tochter hat mich gleich in die Klinik gebracht. Und wurde dort mit Gentamycin (ein Antibiotikum) behandelt, so dass der Gleichgewichtsnerv auf der linken Seite ausgeschaltet wurde, und ich jetzt versuche, mit dem rechten Gleichgewichtsnerv das Ganze zu koordinieren. Und hatte auch seit dieser Zeit keinen Anfall mehr. Jürgen: Welche Auswirkungen hat Ihre Krankheit auf Ihre berufliche Tätigkeit? Volker: Ja, ich habe aufgrund der Zeit seit Januar 2003 meine Arbeit verloren, weil bei mir die Anfälle auch unkontrolliert kommen. Ich kann keine Termine wahrnehmen oder schwer wahrnehmen, weil ich nicht mehr verlässlich bin, und aufgrund dessen musste ich die Selbständigkeit aufgeben, und – man muss sich dran gewöhnen, sich fahren zu lassen oder mit dem Bus zu fahren. Aber ich fahre gerne, eigentlich nur in Begleitung. Jürgen: Wenn Sie z. B. in der Stadt unterwegs sind und plötzlich einen Anfall bekommen, brauchen Sie spezielle Hilfe oder was machen Sie dann? Volker: Es ist leider so, dass viele glauben, man hat getrunken, man ist betrunken, weil man ja auch spucken muss. Nicht immer, aber in den meisten Fällen. Ich habe dann ein Handy bei mir und eine Karte von der Selbsthilfegruppe, von der KIMM. Ich bitte dann die Leute, mir aufzuhelfen, mich ins Taxi zu setzen oder meine Frau anzurufen, die mich dann abholt. Dipl. Psych. Wolf Wirth: Frau Mehl, Sie sind ja jetzt schon drei Wochen hier bei uns in der Klinik. Ich möchte Sie fragen: Was hat Ihnen das bisher so gebracht, und was sind s o Ihre Fortschritte bis jetzt?“ Gabi: Bevor ich hierher kam, war ich kaum in der Lage, allein einkaufen zu gehen, ich konnte kein Auto fahren, ich hab mich völlig zurückgezogen, keinen Kontakt mehr mit Freunden. Und in den drei Wochen hier – ich kann alleine spazieren gehen, ja, und vom Gleichgewicht her hat sich das unheimlich gebessert. Jürgen: Dieser Herr ist Wolf Wirth. Er ist Psychologe und betreut hier die MorbusMenière-Patienten. Was können Sie für die Patienten tun, die von der Menièrschen Krankheit betroffen sind? Hat das auch etwas mit Psychologie zu tun? Wolf Wirth: Das ist eine gute Frage. Man sollte wissen, dass viele Morbus Menière Patienten bei einem Anfall einen Drehschwindel bekommen oder erbrechen müssen. Sie sind dann z. B. auf der Straße unterwegs und kippen ganz plötzlich um. Sie werden dann oft von den Passanten angestarrt und haben große Angst und würden am liebsten der Situation entfliehen. Das ist bei einem ersten Anfall so, aber auch bei weiteren. Das bedeutet: Die Angst ist für die Betroffenen ein ständiger Begleiter. Sie abzubauen, das ist meine Aufgabe. Gruppengespräch Wichtig ist auch die Gruppenbetreuung, bei der die Betroffenen ihre Erfahrungen austauschen und sehen können, dass sie nicht allein mit ihrer Krankheit sind. Und, dass Hilfe und Besserung möglich ist. Internet: www.klinik-am-stiftsberg.de Selbsthilfegruppe Menière-Betroffener: KIMM e.V. (Kontakte und Informationen für Morbus Menière e. V.), c/o Inge von dem Bussche, Strümpfelbacher Straße 63, 71384 Weinstadt-Ebersbach, www.kimm-ev.de Bericht: Kamera: Schnitt: Dolmetscher: Moderation: Manfred Schramm Marion Heinz Jochen Dorchholz Alexandra Königsmann Holger Ruppert Jürgen Stachlewitz Moderation Jürgen Stachlewitz: Therapien müssen nicht immer nur medizinisch sein. Vielleicht ist es auch eine Form von Therapie, wenn man eine Lebenskrise damit zu bewältigen versucht, dass man Gedichte oder Geschichten schreibt? Die ertaubte Dichterin Maryanne Becker hat mit ihrem Gedichtband „Schattensprünge“ auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet. Viele andere hörgeschädigte Autorinnen und Autoren haben sich bereits an ihr ein Beispiel genommen und sich auch als Buchautoren betätigt. Am Schluss dieser Sendung stellen wir einige von ihnen vor. „Schattensprünge“ Thomas Zander gebärdet als Schattenspiel den Titel „Schattensprünge“ „Schatten“ In der Wüste Abendrot geht mein Schatten mir voraus. Zum Denken und Alleine sein zog es mich hier hinaus. Doch wo ich gehe oder stehe zieht mich mein Schatten in den Bann. Bin nicht alleine und nicht frei der Seele Freiheit such´ ich dann. Schatten! Du gehörst zu mir, zeigst mir den Weg zwingst mich zu schauen der Ganzheit Schmerz und Not. Ines bei Frau Becker auf Balkon: Wie kamen Sie auf die Idee, Gedichte zu schreiben? Maryanne Becker, Autorin: Ich habe immer gerne geschrieben und habe im Laufe des Lebens die Erfahrung gemacht, dass mir das Schreiben hilft, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Thomas gebärdet „Entpuppung“ (Selbstgespräch mit Spiegelbild) „Entpuppung“ Nicht mehr mit mir schrie die Raupe und spiegelte sich sonnenbeschienen in der Pfütze Da sah sie einen leuchtenden Schmetterling. Ines: Die Taubheit gehörte plötzlich wie ein Schatten, dem man nicht entweichen kann, zu Ihnen. Wie hat sich dadurch Ihr Leben verändert? Maryanne: Es hat sich alles verändert. Es ging zum Schluss gar nichts mehr. Ich habe mich ja nicht mehr verständigen können, ich wusste nicht, was passiert. Ich hab keine Klingel gehört, ich wusste nicht, worüber geredet wird. Ich konnte keine Nachrichten i m Fernsehen sehen. Ich habe mich auch nicht mehr getraut, einkaufen zu gehen, weil ich befürchtete, ich könnte eine Nachbarin treffen und dann vielleicht als unfreundlich gelten, weil ich gar nicht mehr merke, wenn sie mich anspricht. Dann habe ich meinen Arbeitsplatz verloren. Thomas: gebärdet „Allein“ (als Unterhaltung mit seinem Spiegelbild) „Allein“ Es gibt keine Erklärung: Ein Mysterium. Ich kann nicht mehr hören ich weiß nicht, warum. Wenn ich allein bin Ist alles normal, mein Gehirn funktioniert beinah´ optimal. Doch, sind da andre, bin ich nicht mehr ich. Dort ist die Norm, dahinter bin ich. Es trennt uns ein Nebel. Die Mauer aus Watte. Ihr seid zusammen. Ich bin allein. Maryanne: Ich war plötzlich total die Dumme. Vorher hatte ich eine Führungsposition mit 20 Mitarbeitern. Jetzt war ich nicht mehr in der Lage, meine Türklingel zu hören. Oder überhaupt zu wissen was passiert. Meine Kinder hatten natürlich auch Schwierigkeiten. Foto Sohn Valentin, 16 Ich konnte nicht mehr zum Elternabend gehen. Bzw. ich konnte nicht verstehen, was dort passiert. Foto Felix, 18 Mein Sohn war im Gymnasium im Probehalbjahr und seine Leistungen verschlechterten sich, weil er keine richtige Ansprechpartnerin mehr hatte. Ich musste die Lehrerin bitten, alles aufzuschreiben, wenn sie mit mir sprach. Ich war einfach nicht mehr ich selbst, ich war wie ein Schatten meiner selbst. Aus der heutigen Perspektive würde ich sagen: Ich war ganz nah dran am Identitätsverlust. Thomas: gebärdet „Knoten“ Ich will ihn lösen, diesen Knoten, der mir den Weg versperrt. Ich will mich freuen und genießen. Ich will lachen, Freiheit spüren, Leichtigkeit erfahren. Ist das verboten? Ines Desjardins: Wie sind Sie mit der veränderten Lebenssituation umgegangen? Und wie haben Sie diesen Knoten gelöst? Maryanne: Das hat schon eine bestimmte Zeit gedauert. Ich habe Kommunikationsstrategien und Taktiken erlernt. Ich habe sehr schnell Absehen gelernt, habe Kontakt aufgenommen mit anderen Hörbehinderten. Mir blieb keine Wahl: Entweder meine Situation und mich mit meiner Behinderung zu akzeptieren, oder unter zu gehen. Und untergehen, das wollte ich nicht. Thomas: Gebärdenpoesie „Shalom“ „Shalom“ Seele in der Dunkelheit rückwärts geschaut. Die Vergangenheit harrt des Angenommenwerdens. Schauen wir ihr in die Augen: Shalom Ines: Shalom heißt Frieden! Was hat Sie zu diesem Gedicht angeregt? Maryanne: Frieden bedeutet auch: innerer Frieden. Für mich bedeutet „innerer Frieden“ die Akzeptanz der Hörbehinderung. Sie gehört zu mir, und wenn ich sie akzeptiert habe, habe ich meinen inneren Frieden wieder. Ich habe Hörbehinderte kennen gelernt, die mit ihrer Behinderung zurecht kommen, die sich selbst akzeptieren. Dies hat mir nicht nur Mut gegeben, sondern auch den Weg zum inneren Frieden. Audiotherapie: Frau Becker erteilt Audiotherapie-Stunden, um mit der Taubheit leben zu lernen. (Absehen lernen:) „Gerade Spätertaubte brauchen ein umfassendes Kommunikationstraining“. Ingrid Grimme, 65: Das habe ich nicht verstanden. Gerade Spätertaubte ... Gerade! Ja, richtig.. Klasse! Ines: Wir haben gerade gesehen, dass Sie jetzt als Audiotherapeutin arbeiten. Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Maryanne: Ich bin gerade dabei, eine eigene Praxis als Audiotherapeutin zu gründen. Dabei möchte ich mit schwerhörigen und ertaubten Erwachsenen in Einzel- oder Gruppenarbeit zusammen arbeiten. Ansonsten plane ich, weiter Theater mit und für Schwerhörige zu machen. Wenn mir dann noch Zeit und Muße bleibt, möchte ich gern ein Buch schreiben, so in der Richtung Krimi oder Roman. Ines: Zum Schluss zeigen wir Ihnen die Uraufführung des Gedichts „Beugehaft“, welches Maryanne Beckers jetzige Haltung zu Lebenskrisen zeigt. Tschüss! Gebärdensprachpoesie Thomas Zander: „Beugehaft“ Was haftest du auf mir, auf dass ich mich beuge? Unbeugsam bin ich! Was drückt mein Genick, auf das ich mich biege? Unbiegsam bin ich! Jetzt kriegst du mich klein doch ich komme zurück! Dometscher/innen: Autorin: Moderation: Gebärdenpoesie: Kamera: Schnitt: Angela Wosylus Ines Desjardins Thomas Zander Gunnar Lehmann Holger Ruppert Rita Wangemann Thomas Mayer Doris Gmach Moderation J. Stachlewitz: Die Nachfrage nach diesem Gedichtband war so groß, dass er zur Zeit vergriffen ist. Aber Frau Becker hat bereits wieder ein neues Buch herausgebracht, ein Sachbuch, mit dem Titel: „Hörverlust und Identitätskrise“. Und weil auch andere schwerhörige und ertaubte Autoren in letzter Zeit sehr produktiv waren, kann der kleine Selbsthilfeverlag in Dortmund, die „Literaturwerkstatt“, jetzt stolz eine ganze Buchreihe mit Literatur von Hörgeschädigten präsentieren! Es sind hauptsächlich Gedichte und Kurzgeschichten. Die Titel lesen sich interessant: „Die Flügel halten das Gleichgewicht“ (Gedichte von Regine Grabowsky) oder „Der König, der kein Schloss hatte“ (von Linde Kampf). Wie ich sehe, passen einige dieser Geschichten auch gut zu Ostern, z. B. die vom „Hasen Löffelsteif“. Das hat sicher mit der Redewendung „Halt die Ohren steif“ zu tun! Ausschnitt aus Buch Einblendung Internetadressen: http://home.t-online.de/home/Behindertenarchiv www.schwerhoerigen-netz.de Man kann diese Bücher auch einzeln kaufen. Aber wenn man alle 7 auf einmal bestellt, sind sie billiger und kosten 35,- Euro (inklusive Porto). Und jetzt möchte ich Ihnen noch diese neue Zeitschrift vorstellen: „EINSICHT“. „EINSICHT - Informationsschrift zur Alltagskultur behinderter Menschen“ Sie kommt ebenfalls aus der Literaturwerkstatt bzw. dem Behindertenarchiv in Dortmund. Die erste Ausgabe hat den Schwerpunkt „Taubblinde“ und „Mehrfach-Behinderte“. Diese Zeitschrift will allen Behindertengruppen und Vereinen, die sich selbst keine eigene Zeitschrift leisten können, die Möglichkeit bieten, eigene Beiträge zu veröffentlichen. Dadurch sollen auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen Gemeinsamkeiten entdecken und sich besser kennen lernen können. Das war’s für heute, tschüß, bis zum nächsten Mal! Literaturwerkstatt/Behindertenarchiv, Christian und Beate Bönschen, Wellinghofer Straße 44 44263 Dortmund (Hörde), Tel. 0231/41 22 42, Schreibtel. 0231/41 73 12, Fax: 0231/41 05 98 Fax-Abruf-Service „Sehen statt Hören“: 0190 / 150 74 107 (EUR 0,62 / Min.) Impressum: Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Redaktion Geisteswissenschaften und Sprachen / SEHEN STATT HÖREN Tel.: 089 / 3806 – 5808, Fax: 089 / 3806 – 7691, E-MAIL: [email protected], Internet-Homepage: www.br-online.de/sehenstatthoeren Redaktion: Francine Gaudray, Bayer. Rundfunk, BR 2004 in Co-Produktion mit WDR Herausgeber: Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e. V. Paradeplatz 3, 24768 Rendsburg, Tel./S-Tel.: 04331/589722, Fax: 04331-589751 Einzel-Exemplar: 1,46 Euro