Wie Tom Hanks im Film: Er ist ein Forrest Gump
Transcrição
Wie Tom Hanks im Film: Er ist ein Forrest Gump
10 Lokales Dienstag, 12. Dezember 2006 GALAKTOSÄMIE: HAN-SERIE ÜBER EINE TÜCKISCHE STOFFWECHSELKRANKHEIT / LETZTER TEIL Wie Tom Hanks im Film: Er ist ein Forrest Gump Malte aus Westergellersen besucht die Sonderschule – und läuft allen davon Eine unheilbare Krankheit isoliert Malte. Doch er tritt die Flucht nach vorn an und treibt leidenschaftlich gern Sport. Von Jan-Hendrik Frank Westergellersen. „Blut austauschen? Geht denn das?“ Malte sitzt am Küchentisch, aufrecht, die Schultern nach hinten gedrückt, die Hände auf der Holzplatte ineinander gelegt. Aufmerksam hört der 14-Jährige seiner Mutter zu, die von den dramatischen Tagen nach seiner Geburt berichtet. Und er wundert sich: „Wenn immer etwas Blut abfließt und neues hinzugefügt wird, mischt es sich dann nicht?“ Er überlegt einen Moment, bevor er spricht. Seine Worte klingen gewählt. Fragend schaut er seine Mutter an. „Es vermengt sich nur ein bisschen“, erläutert Nicole Wöpperling ihrem Sohn. „Aber man kann nicht erst das gesamte Blut eines Menschen ablassen und dann neues hinzugeben. Das würde niemand überleben.“ Die 36-Jährige ist Kinderkrankenschwester am Kinderkrankenhaus in Altona. Sie weiß, wie der menschliche Körper funktioniert. Auf der Entbindungsstation des Klinikums Lüneburg vor 14 Jahren aber ist sie Mutter geworden – und nichts funktionierte, wie es sollte. „Malte ist ganz gelb geworden, hat immerzu erbrochen, dann setzte die Leber aus“, erinnert sich Nicole Wöpperling. Das Organ konnte die eigentlich harmlosen Bestandteile des Milchzuckers nicht abbauen. Sie schädigten die Leber und überschwemmten sein Blut. „Wir hatten ihn durch die Muttermilch vergiftet“, stellt sein Vater, Bernd Krukenberg, fest. Das Blut musste ausgetauscht, die Milch abgesetzt werden. „Wir hatten Angst, dass der Junge verhungert“, so der 39-Jährige. Die Diagnose: Malte leidet an der seltenen, angeborenen Stoffwechselkrankheit Galaktosämie. Unbehandelt kann sie zum Tod führen. Auch bei einer strengen Diät lassen sich Schäden der körperlichen und geistigen Entwicklung kaum vermeiden. N icole Wöpperling (links) und Bernd Krukenberg (rechts) versuchen, ihren Sohn Malte (vorn) so gut wie möglich zu fördern. Sümeyra (von links) und Sinan sind Wöpperlings Kinder aus zweiter Ehe. Foto: jhf Heute geht es Malte so gut, dass er seine Mutter mit überraschenden Fragen am Küchentisch herausfordern kann. Doch einfach ist es nicht, mit der Krankheit zu leben. Der 14-Jährige darf nicht alles essen. Kuhmilch muss er durch Sojamilch, die Marken-Schokocreme durch ein Bio-Produkt ersetzen, das aber den drei- fachen Preis kostet. Seine Ernährung muss laktose- sowie möglichst galaktosefrei sein – und das ist teuer. „Unsere Elterninitiative hat Markenfirmen um Angabe der Inhaltsstoffe ihrer Lebensmittel gebeten. Daher sind wir oft auf Markenprodukte angewiesen“, erläutert Bernd Krukenberg. Vor allem freut sich Malte, dass die Elterinitiative auch die Menüs seines Lieblings-Fastfood-Restaurants auf ihre Lebensmittelliste gesetzt hat. So wählt er dort gezielt aus, was er essen darf. Nur leider wohnen die Kumpels, mit denen Malte gern essen gehen würde, weit weg. Denn er besucht eine Lernhilfeschule in dem etwa zehn Kilometer entfernten Oedeme, einem Stadtteil Lüneburgs. „Die Krankheit isoliert ihn“, stellt seine Mutter traurig fest. Über die Entfernung nach Lüneburg sei es schwierig, Kontakte zu Schulkameraden zu pflegen. Im Ort habe er keine Freunde. „Doch am meisten Angst habe ich, dass er keinen Ausbildungsplatz findet“, sagt die 36-Jährige. Gern würde sie ihn zum Nachhilfeunterricht schicken. Aber das könne sie sich nicht leisten und der Staat helfe nicht. Die Eltern versuchen Malte daher aus eigener Kraft so gut zu fördern, wie es nur geht. Eine Karriere als Kinder-Model hat Malte schon hinter sich. „Mit einigen Jungen und Mädchen bin ich einem Rudi-Völler-Double hinterhergelaufen“, erzählt er begeistert. Gedreht wurde ein Werbespot für einen Fischstäbchen-Hersteller. Inzwischen hat der Teenager neue Interessen. Im vergangenen Jahr ist er Jugendbestmann der Salzhausener Schützenkompanie geworden. Und als die Schülerschaft antrat, das Laufabzeichen abzulegen, bewies er die beste Ausdauer. Zwei Stunden lang ist er gerannt. „Die Lehrerin hatte das Rennen schon längst abgewunken, aber ich wollte noch weiterlaufen“, berichtet Malte und lächelt. Dabei sei er als Kind sehr unsicher auf den Beinen gewesen. „Er ist eben ein Forrest Gump“, beschreibt Bernd Krukenberg seinen Sohn mit Blick auf den gleichnamigen Kinofilm. Der Schauspieler Tom Hanks spielt darin einen in der Entwicklung beeinträchtigten Mann, der sich als Glückspilz und nicht zuletzt als guter Läufer erweist. Maltes Mutter sucht nun einen Lauftreff für ihn. Ob er Ambitionen für Olympia hat? Diesmal überlegt Malte nicht lange: „Vielleicht“, sagt er und grinst. – ENDE – Spenden Sie für die Forschung! E ines von 40 000 lebend geborenen Kindern in West- und Mitteleuropa leidet an der Stoffwechselkrankheit Galaktosämie. In Norwegen und Schweden kommt die Galaktosämie nur halb so oft vor. Auch in Deutschland sind etwas weniger Neugeborene als im europäischen Durchschnitt betroffen, nämlich eines von 55 000. Dennoch ist diese vergleichsweise kleine Gruppe als Kundenstamm für die Pharma-Industrie zu uninteressant. Forschungsprojekte auf dem Gebiet der Galaktosämie werden fast ausschließlich durch die „Gemeinnützige Elterninitiative Galaktosämie“ angeregt und finanziert. Wer die Arbeit dieses Vereins unterstützen möchte, spendet an: Sparkasse Warstein-Rüthen Bankleitzahl: 416 525 60 Konto-Nr.: 50 50 40 Stichwort: Harburg Spender erhalten eine von der Steuer abzugsfähige Bescheinigung über den überwiesenen Betrag. HINTERGRUND Galaktosämie G alaktosämie ist eine vererbte, bislang unheilbare, sehr seltene Stoffwechselkrankheit. Aufgrund eines defekten Gens ist das Enzym Galaktose-1Phosphat-Uridyltransferase (GALT) bei Galaktosämie-Patienten nur eingeschränkt aktiv. In Folge kann der in Mutterund Kuhmilch enthaltene Milchzucker (Laktose) nicht vollständig abgebaut werden. Zwar wird der Zweifachzucker Laktose in die Einfachzucker Traubenzucker (Glukose) und Galaktose zerlegt. Auch werden beide Zucker ins Blut aufgenommen und zur Leber transportiert. Dort wird Galaktose bei gesunden Menschen in Glukose umgewandelt. Doch das funktioniert bei Galaktosämie-Patienten nicht. Galaktose wird zwar zum Teil in das Galaktose-1-Phosphat sowie in Galaktitol umgewandelt. Während das Galaktitol über den Urin ausgeschieden wird, stauen sich die anderen beide Stoffe aber an und vergiften die Leber. Eine Voraussage über die Entwicklung von GalaktosämiePatienten ist bisher nicht möglich. Der überwiegende Teil aber hat einen Intelligenz-Quotient von nur etwa 70. Viele leiden zudem an körperlichen Einschränkungen. (jhf) HINTERGRUND II Milchunverträglichkeit G alaktosämie lässt sich leicht mit der Laktose-Intoleranz (Milchunverträglichkeit) verwechseln. Etwa 15 bis 30 Prozent der Europäer leiden daran. In asiatischen Kulturen ist diese Krankheit sogar noch weiter verbreitet. Die Patienten beider Krankheiten müssen auf Kuhmilch und deren Produkte verzichten. Das hat aber jeweils unterschiedliche Gründe. Die Milchunverträglichkeit ist eine Verdauungsstörung in der Wand des Dünndarms und nicht – wie bei der Galaktosämie – in der Leber. Galaktosämie-Kindern fehlt das Enzym Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase (GALT). Patienten mit Milchunverträglichkeit mangelt es dagegen an dem Enzym Laktase. In der Darmwand spaltet die Laktase den mit der Milch aufgenommenen Zweifachzucker Laktose in die Einfachzucker Glukose und Galaktose. Anschließend werden die Einfachzucker an das Blut abgegeben. Fehlt Laktase, bleibt der Zweifachzucker unverdaut im Dünndarm zurück. Mit dem weiteren Darminhalt wird er in den Dickdarm transportiert und dient dort den Darmbakterien als willkommener Nährstoff. Sie spalten die Laktose aber nicht, sondern vergären sie. Es entstehen Gase, die zu Völlegefühl und Blähungen führen können. Auch krampfartige Bauchschmerzen und Durchfälle treten bei Menschen mit Laktasemangel nach dem Genuss von Milch auf. Die Symptome klingen ab, sobald der Milchzucker ausgeschieden wird. Über den Magen-Darm-Trakt hinaus verursacht der Laktase-Mangel keine Beschwerden. Die Therapie besteht darin, dass die Betroffenen herausfinden, wie viel Milchzucker sie vertragen, sodass sie ihre Essgewohnheiten anpassen können. Außerdem ist es möglich, künstlich hergestellte Laktase einzunehmen. Dieser Ersatz des fehlenden Enzyms durch ein Medikamten ist bei der Galaktosämie nicht möglich. (jhf) HINTERGRUND III HINTERGRUND IV Kompetenzzentrum in Düsseldorf Eine Krankheit – drei Schicksale 150 000 Euro haben die 280 Mitglieder der Elterninitiative Galaktosämie zusammengelegt, um an der Universitätsklinik Düsseldorf im Zentrum für pädiatrische Stoffwechselstörungen ein Kompetenzzentrum Galaktosämie ins Leben zu rufen. Mit den Spenden der Eltern ist für zweieinhalb Jahre eine Assistenzarzt-Stelle in diesem Bereich finanziert worden. Seit Juli 2003 unterstützen Dr. Björn Hoffmann sowie einige Doktoranden dort die Forschungsarbeit der Stoffwechselspezialisten und Hochschulprofessoren Dr. Udo Wendel, Dr. Susanne Schweitzer-Krantz und Dr. Peter Schadewaldt. Sie haben die Arbeitsbereiche Patientenversorgung, Klinische Studien, Labordiagnostik und Grundlagenforschung aufgebaut. 2004 startete Hoffmann eine Studie zum Langzeitverlauf der Galaktosämie. Außerdem arbeitet er in einer Stoffwechselambulanz mit, in der etwa 20 Galaktosämie-Kinder betreut werden. Ab 2007 wird Dr. Udo Wendel (63) leitet das Zentrum für seine Stelle pädiatrische Stoffwechselstörung an der Uni- durch die Klinik versitätsklinik in Düsseldorf. Foto: ein getragen. „Die 150 000 Euro galten als Anschubfinanzierung“, erläutert Peter Hoscheit, Vorstandsvorsitzender der Elterninitiative, dessen an Galaktosämie leidende Tochter heute den neunten Geburtstag feiert. Die langfristige Unterhaltung der Arbeit stehe jedoch auf wackeligen Füßen. Zwar habe der 47-Jährige erst vor kurzem die Zusage erhalten, dass die Universitätsklinik die Arbeitsbereiche Klinische Studien und Patientenversorgung 2007 tragen werde. Das gelte aber nicht für die Grundlagenforschung, die laut Hoffmann noch nicht abgeschlossen sei. „Derzeit untersuchen wir das Problem, dass der Körper selbst Galaktose produziert, sodass Patienten sich auch unabhängig von der Ernährung vergiften“, erläutert Zentrumsleiter Dr. Udo Wendel. Dieses Projekt wird zukünftig überwiegend durch die Elterninitiative Galaktosämie getragen, die auch dafür Spenden braucht. (jhf) A lina, Yvonne und Malte verbindet eines: Sie leben im Einzugsgebiet der HAN und leiden an Galaktosämie. Heute und in den vergangenen beiden Sonnabend-Ausgaben der HAN haben wir sie unseren Lesern vorgestellt. Deutlich wurde dabei, wie unterschiedlich sich diese Stoffwechselkrankheit auswirkt. Alinas Eltern gehen davon aus, dass die Sechsjährige in ih- Die sechsjährige Alina stellten wir am Sonnabend, 25. November, vor. Foto: to rer Entwicklung etwa zwei Jahre zurück ist, der Siebenjährige Yvonne fehle laut ihrer Mutter dagegen nur ein halbes Jahr. Für Alina stellen die gemeinsamen Mahlzeiten im Kindergarten eine Herausforderung dar. Die Eltern des Grundschulkinds Yvonne dagegen sorgen sich darum, ob das Mädchen mit dem Pensum der Sprachheilschule mitkommt oder in die Sonderschule versetzt werden muss. Wenn der 14-Jährige Malte an die Ausbildung denkt, geht es nicht nur um seinen Wissensstand. Er fragt sich auch, ob er den Belastungen des Berufslebens standhält. Die sexuelle Entwicklung stellt einen weiteren Unterschied dar. An Galaktosämie erkrankte Mädchen kommen ohne die Zugabe von Hormonen nicht immer in die Pubertät. Die Entwicklung der männlichen Sexualität dagegen wird nicht so ausgeprägt gehemmt. Eines ist Alina, Yvonne und Malte jedoch gemeinsam: Sie bedürfen alle der besonderen Förderung. Ihre Eltern stehen immer wieder vor dem Problem, dass ihnen dazu nicht nur die privaten Mittel, sondern auch die staatliche Unterstützung fehlt. Die Elterninitiative versucht daher, betroffene Familien in der Zusammenarbeit mit den fördernden Einrichtungen zu unterstützen. Spenden helfen der Initiative bei dieser wichtigen Arbeit. (jhf) Yvonnes Porträt war am Sonnabend, 2. Dezember, in den HAN zu lesen. Foto: jhf