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NEBOJŠA TABAČKI (UNIVERSITÄT DER KÜNSTE BERLIN)
Hi–Tech–Theater. Die Rolle der Szenografie in der Wiedererfindung
des Theaters am Anfang des 21. Jahrhunderts
Zusammenfassung
In den 1960er und 1970er Jahren sind die aufwendigsten technologischen Experimente in
der Szenografie der Nachkriegszeit umgesetzt worden. Im Zentrum des Interesses stand die
kinetische Bühne, die als Anhaltspunkt für die erfinderischen Konzepte der andersartigen
Theatergebäude diente. Parallel zu Experimenten in der Szenografie wurde die Idee des
Mehrzwecktheaters in den 1960er Jahre wieder belebt und heiß diskutiert. Als ausgebildete
Architekten nahmen Szenografen, wie Sean Kenny und Josef Svoboda intensiv an diesem
Diskurs teil und entwarfen mehrere innovative Konzepte von Theatergebäuden. Abgesehen
von der fragmentarischen Realisation einiger Ideen wurden diese Entwürfe nie gebaut, ihr
Echo ist aber in den aktuellen Hi–Tech–Theatern für Mainstream–Extravaganzen wie Ká
oder The House of Dancing Water noch zu spüren. Der wiederkehrende Aufwand von Cirque
du Soleil und seinen Spin–Offs inspirierte mich, die Erkenntnisse von Kenny und Svoboda,
die sich in den 1960er und 70er Jahren intensiv mit dem kinetischen Bühnenraum
beschäftigten, zu erörtern. Aufgrund der Abhängigkeit der Innovationen der Szenografie von
neuen Konzepten der Theatergebäude balanciert diese Untersuchung an der Schnittstelle
zwischen Architektur– und Szenografiegeschichte. Mit einem Bogen, der eine Brücke
zwischen den 1960er Jahren und den aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet schlägt, wage
ich die Ergebnisse der Beschäftigung mit der Hochtechnologie in der Szenografie der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen, um ihre Rolle in der Wiedererfindung
des Theaters am Anfang des 21. Jahrhunderts zu schildern.
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Über die »Dreifaltigkeit«: Architektur, Szenografie und Kinetik1
<1>
Auf der Suche nach Möglichkeiten, kinetische Architekturformen in die Praxis umzusetzen,
machte man einen langen Weg von Angelo Invernizzis drehbarem Haus,2 das sich immer
nach der Sonne ausrichtet, über Cedric Prices Projekt Fun Palace,3 ein Ort der Freude, der
seine innere Komposition interaktiv hätte ändern können, bis hin zur japanischen Idee vom
space elevator,4 einem Aufzug, der die Erde mit dem Weltall verbindet – und beeinflusste
einen spannenden Austausch der Ideen zwischen Ingenieurwesen, Kunst und Architektur.
Die beste Voraussetzung jedoch, sich mit den kinetischen Eigenschaften der Architektur
auseinanderzusetzen und sie auszutesten, hatte eine andere künstlerische Disziplin. Die
Befreiung von den funktionellen und konstruktiven Zwängen der Bauentwurfslehre, die Tatlin
mit dem Monument der III. Internationale demonstrierte, entfaltete in der Szenografie des 20.
Jahrhunderts eine Plattform für kinetische Experimente, die es in der Architektur nicht gab.
<2>
Die Auseinandersetzung mit der Kinetik in der Szenografie reicht weit in die Geschichte
zurück. Obwohl als Disziplin in die darstellenden Künste eingeordnet, balancierte
1
»Kinetics, branch of classical mechanics that concerns the effect of forces and torques on the motion of bodies
having mass.«, Vgl.: Britannica, www.britannica.com/EBchecked/ topic/318197/kinetics (Zugegriffen: 10. Juni
2012).
2
Eines der ersten Beispiele der kinetischen Architektur schuf der italienische Ingenieur Angelo Invernizzi. Die
Villa Girasole, erbaut 1935 in der Nähe von Verona, richtet sich ständig nach der Sonne und die Konstruktion
ermöglicht die Drehung des Hauses um bis zu 360 Grad. (Die Abschrift der Radiosendung The Villa Girasole von
Prof.
Dietmar
Froehlich,
University
of
Houston,
http://www.uh.edu/engines/epi2586.htm
(Zugegriffen:
06.08.2012)).
3
»Price's first large-scale project was to be a ›laboratory of fun‹ and ›a university of the streets‹, as its patron
described it. Inspired by a fascination with technology, Price planned for an open steel-gridded structure that
could support a completely flexible program. Hanging rooms for dancing, music, and drama; mobile floors, walls,
ceilings, and walkways; and advanced temperature systems that could disperse and control fog, warm air, and
moisture were all intended to promote active ›fun‹.«, Vgl.: Terence Riley: The Changing of the Avant-Garde:
Visionary Architectural Drawings from the Howard Gilman Collection, New York: The Museum of Modern Art,
2002, S. 44.
4
Als Teil der Dauerausstellung des National Museum of Emerging Science and Innovation in Tokyo, wird Anime
Space Elevator - Future Dreamed by Scientists gezeigt, an dem ein internationales Team von Wissenschaftlern
und Künstlern zusammen gearbeitet hat. Der Film illustriert die Idee vom Weltraum-Aufzug, der die Erde mit dem
Weltall verbindet. (http://www.peregrinationes.de/tokyo/mesci.html (Zugegriffen: 18.12.2011)). Die konkreten
Konzept-Ideen zu dem Thema wurden von Studenten des Ingenieurwesens im 2010 in Tokyo in Rahmen eines
Wettbewerbs vorgestellt. Siehe Blog-Eintrag Engineering students aimed for the stars on the outskirts of Tokyo
on Sunday (August 8, 2010) as they competed to create what many hope may eventually lead to the world's first
space elevator. (http://www.geo.tv/8-10-2010/69750.htm (Zugegriffen: 15.09.2010)).
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Szenografie seit der Antike zwischen Architektur, Ingenieurwesen und Kunst. Als 458 v. Chr.
die skene ein integraler Teil der Theateraufführungen geworden ist, 5 wie anhand der
Überlieferungen vermutet wird,
6
wurden die ersten Mechaniken verwendet. Für die
Darstellung von Orten, wo die Handlung des Dramas stattfand, benutzte man zusätzlich
neben den bemalten Holztafeln auch mechanische Apparate.7 Die Spuren im Marmorboden
des antiken Theaters in Eretria weisen auf die Benutzung von schweren mechanischen
Ausrüstungen hin und befürworten die These, dass seit ihren Anfängen die Szenografie auch
von der Technik und nicht nur von der dekorativen Malerei geprägt war. 8 Mechane, 9
periaktoi10 oder ekkyklema11 waren noch im antiken Griechenland ein Teil der Szenografie.
Die Verflechtungen von Architektur, Szenografie und Kinetik existieren seit den Anfängen des
Theaters, egal für welche Ursprungsoption der Szenografie man sich entscheidet, aufgrund
der Tatsache, dass die festen Beweise fehlen.
<3>
Das Interesse an aktuellen technischen und technologischen Innovationen stärkte die
Interdisziplinarität der Szenografie durch die Jahrhunderte, und nicht selten variierten die
Aufgaben zwischen Entwerfen für die Bühne, Entwerfen der Bühne und manchmal auch
Entwerfen des Theaters. Unabhängig von sozialen, politischen oder gesellschaftlichen
Umständen wurden unterschiedliche Facetten von Aufgaben zu verschiedenen Zeiten an die
Szenografen gestellt, und der Beruf erlebte mehrfache Transformationen bezüglich des
nötigen Wissens, um den Anforderungen der Zeit standzuhalten. Für die spektakulären
Kämpfe der Gladiatoren in Roms Amphitheatern wurden Kenntnisse aus der Mechanik von
5
»[...] skene, or scene house (the literal meaning is ›hut‹ or ›tent‹ ), where the single actor retired to change his
mask (and perhaps his costume) as he discard one character and assumed another.« Vgl.: Oscar Brockett,
Margaret Mitchell und Linda Hardberger: Making the Scene: A History of Stage Design and Technology in Europe
and the United States. San Antonio Tex.: Tobin Theatre Arts Fund 2010, S. 4f.
6
Vgl.: Brockett 2010, S. 4f.
7
Vgl.: Umberto Pappalardo: Antike Theater– Architektur, Kunst und Dichtung der Griechen und Römer,
Petersberg: Imhof 2007, S. 22.
8
Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 9.
9
Mechane – der Kran benutzt für Hebung der Schauspieler und der szenografischen Elementen. Vgl.: Brockett
2010 (wie Anm. 5), S. 10.
10
Periaktoi – vertikale Prismen mit drei unterschiedlich bemalten Seiten, die um ihre vertikale Achse gedreht
wurden. Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 16.
11
Ekkyklema – eine Plattform auf vier Räder, die für die Darstellung der Innenräume benutzt wurde. Vgl.: Brockett
2010 (wie Anm. 5), S. 9.
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Mechinatores 12 verlangt, um die komplexe Maschinerie für die effektvollen Auftritte von
Sklaven und Tieren entwerfen zu können. 13 In der Renaissance fand noch keine klare
Differenzierung zwischen Künstler, Architekten und Szenografen statt. Die erste Drehbühne
wurde z. B. von Leonardo da Vinci im Jahr 1490 konstruiert und bei der Aufführung von Il
Paradiso zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. 14 Von einem der erfolgreichsten
Szenografen der berühmten Bibiena Familie, Giuseppe Bibiena (1669–1757), wurde
dagegen behauptet, mehr Theater gebaut zu haben als jeder andere Architekt seiner Zeit.15
Im Barock waren Ingenieurkenntnisse für aufwendige Bühnenapparaturen und Spezialeffekte
besonders gefragt, um die Veränderung der Szenografie innerhalb weniger Sekunden
ermöglichen zu können.16 Im 19. Jahrhundert wurde die Technologie auf der Bühne weiterhin
bewundert, obwohl die komplizierte Theatermaschinerie vor den Augen der Zuschauer
versteckt war. 17 Die Veränderung der Anforderungen an die Szenografie verursachte das
Umdenken der Arbeitsprozesse und der Organisation im Laufe der Zeit. Die kinetischen
Experimente blieben immer damit eng verbunden. Die Umstände diktierten auch, welche
Berufsgruppen für die Umsetzung der Ideen engagiert werden mussten und beeinflussten
damit den Grad der Interdiszplinarität.
<4>
Der Wandel der Bühnenraumkonzepte hatte im 20. Jahrhundert mehrere wichtige Stationen.
Die Gastspiele der fernöstlichen Theatertruppen18 zwischen 1900 und 1935 wiesen auf die
mangelnden semiotischen Systeme des westlichen Theaters hin. 19 Die Veränderung der
Wahrnehmung der Zuschauer durch hanamichi20 oder die Art der Benutzung von Objekten
auf der Bühne, um sie in ein theatralisches Zeichen zu verwandeln, übten einen wichtigen
12
Die Ingenieure (bzw. Szenografen) die für das Entwerfen der Maschinen für die römischen Spektakel zuständig
waren. Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 23.
13
Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 23.
14
Ottmar Schuberth: Das Bühnenbild; Geschichte, Gestalt, Technik. München: G.D.W. Callwey 1955, S. 44.
15
Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 139.
16
Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 99f.
17
Vgl.: Brockett 2010 (wie Anm. 5), S. 13.
18
Die japanische Truppe Kawakamis kam 1900 nach Europa und gasierte in London, Paris, Berlin, Budapest,
Prag und Wien. Die Kabuki-Truppe mit Ichikawa Sadanji gastierte 1928 in St. Petersburg und Moskau. Der
chinesische Frauendarsteller Mei Lanfang gastierte mit seiner Truppe von März bis November 1935 in Moskau
und übte einen großen Einfluss auf die wichtigen Vertreter der Theateravantgarde wie Eisenstein, Craig, Brecht
oder Piscator. Vgl.: Erika Fischer-Lichte: TheaterAvantgarde: Wahrnehmung, Körper, Sprache. Tübingen:
Francke 1995, S. 235.
19
20
Vgl.: Fischer-Lichte 1995 (wie Anm. 18), S. 182.
Der Laufsteg im japanischen Kabuki-Theater, der sich durch das ganze Auditorium streckt. Neben der Bühne
ist hanamichi eine wichtige Plattform für die Inszenierung.
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Einfluss auf das westliche Theater aus. Bis 1914 wurden mehrere Aspekte des fernöstlichen
Theaters übernommen. Das theatralische Zeichen wanderte von der Sprache auf den
Körper, und wird somit polyvalent und polyfunktional. Die abbildende und dekorative
Funktion wurde durch die Expression abgelöst und die einzelnen Zeichen wurden »nach
rhythmischen Prinzipien zueinander in Beziehung gesetzt«.
21
Die Veränderung der
Raumvorstellungen und die Rhythmisierung des Bühnenraumes startete ohne Zweifel mit
Adolphe Appia (1862–1928) und Edward Gordon Craig (1872–1966). 1908 schrieb Craig den
Aufsatz »Motion«, wo er die Studie der Bewegung geschildert hat. 22 Zwei begleitende
Portfolios mit Radierungen beinhalteten Studien der Bewegung, wo der Entwurf Space Stage
vorgestellt wurde. Es handelte sich dabei um eine Bühne mit Aufzügen, Treppen, Plattformen
und Projektionsflächen, die die Möglichkeit bot, sich ständig zu verändern – A Thousand
Scenes in One verlangte die Koordination zwischen Schauspielern, Bühne, Licht, Farbe und
Bewegung. Diese Bühne nannte Craig ›architectonic‹, im Gegensatz zu ›pictorial‹.23 Die in
die Szenografie eingeführten Elemente wie Treppen, Podeste mit unterschiedlichen Höhen
oder monochromen Leinwänden, die in Appias und Craigs realisierten Projekten zu sehen
waren, förderten zwar rhythmische Bewegungen der Schauspieler auf der Bühne und
erzeugten eine dynamische Komposition, die Szenografie an sich blieb aber noch statisch.24
Erst die russischen Konstruktivisten führten transparente Holzkonstruktionen als Szenografie
ein, die frei im Raum standen und kinetische Elemente beinhalteten. Ljubov Popova
verwendete in Der großmütige Hahnrei (1922) zum ersten Mal mechanisch bewegte Teile
der Szenografie. Die Drehung von Rädern und Windmühlenflügeln wurde eng mit der
Dramaturgie verknüpft. Um die rasende Eifersucht des Hahnreis zu betonen, wurden die
Räder schneller gedreht. Die depressive Stimmung dagegen wurde mit verlangsamter
Drehung begleitet. Zu dem damals aktuellen Begriff ›Biomechanik‹, der sich auf die
Bewegung der Schauspieler auf der Bühne bezieht, führt Popova die ›Elektro–mechanik‹ als
Ausdruck in die Szenografie ein.25
21
Vgl.: Fischer-Lichte 1995 (wie Anm. 18), S. 226.
22
Vgl.: Donald Oenslager: Stage Design, London: Thames & Hudson 1975, S. 188.
23
Vgl.: Oenslager 1975 (wie Anm. 22), S. 188.
Vgl.: Hannelore Kersting:Raumkonzepte: konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst, 1910-1930:
24
eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Theatermuseum der Universität zu Köln, 2. März-25. Mai 1986,
Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: Die Galerie, Bernd
Vogelsang, Universität zu Köln. Theatermuseum. und Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt
am Main 1986, S. 23.
25
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 24.
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<5>
Der Kubismus verlangte von Szenografen wieder mal mehr Ingenieurkenntnisse, was sogar
dazu führte, dass die Szenografen, wie z. B. Warwara Stepanowa im Tod des Tarelkin,26
manchmal im Programmheft als Konstrukteure bezeichnet wurden. Als Inspirationsquelle für
die mechanisierte Szenografie diente die pulsierende Stadt am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Um die Dynamik der Stadt auf der Bühne wiederzugeben, benutzte Alexander Wesnin in der
Inszenierung Der Mann, der Donnerstag war (1923) drehbare Podien, schwenkbare
Laufbänder, Aufzüge, Dreh– und Geheimtüren, Rutschbahn, Gleitstange und Kran. In
Deutschland war Erwin Piscator für die ähnlichen Inszenierungen zu der Zeit bekannt. Der
Höhepunkt diese Phase bezeichnet die technisch aufwendigste Szenografie für seine
Inszenierung Der Kaufmann von Berlin (1929) 27von Laszlo Moholy–Nagy. Es handelte sich
um eine komplexe Drei–Etagen–Szenografie mit Rollbändern, die auf der Drehbühne
aufgebaut war.28 Piscator rechtfertigte die Mechanisierung der Bühne mit dem politischen
Programm des Marxismus. Die technische Revolution stand seiner Meinung nach im
Einklang mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Durch die Mechanisierung der
Szenografie wurde eine neue Ebene von Zeichen im Theater eingeführt, die die
Wahrnehmung von Zuschauern noch mal umstellte. Wie Piscator selbst erklärte, konnten
technische Neuerungen »durch perfekte Funktionalität und Exaktheit besser zu einer
Erkenntnis der Wirklichkeit verhelfen«.29 Die Maschinerie als Szenografie war einerseits ein
technischer Apparat, aber gleichzeitig auch ein Wahrnehmungsapparat, der spezielle
Wahrnehmungsformen ermöglichte. 30 Eine neue Facette von Gefühlseindrücken wurde
entdeckt, die der kinetische Bühnenraum vermitteln konnte.
26
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 68.
27
»Piscators Inszenierung des ›Kaufmann von Berlin‹ [...] war nicht nur ein Höhepunkt des aktuellen politischen
Theaters, sondern auch die aufwendigste Realisation einer kinetischen, mitspielenden Szenenkonstruktion.
Laszlo Moholy-Nagy hatte für Mehrings episches Schauspiel vom Aufstieg und Fall eines Ostjuden im Berlin der
Inflationszeit eine voll mechanisierte Drei-Etagen-Bühne mit zwei auf die Drehscheibe montierten Laufbänder
entworfen. Die fahrt eines Eisenbahnzuges wurde z. B. mit einem auf der ersten Brücke aufgebauten Coupé
vorgeführt, an dem, bei der Drehung der Bodenscheibe um 180°, unterstützt vom Film, Reklameflächen und
Lichter der Großstadt vorbeirasten. Die künstlerische Wirkung der dynamischen. Konstruktiven Szene war von
der Geschwindigkeit, der räumlichen Veränderung (der erste Teil umfaßte allein 12 Szenen in 19 Phasen) und der
Aktionskonzentration abhängig, die jedoch beeinträchtigt wurde von der unzulänglichen technischen Apparatur.«,
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 211, 281-284).
28
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 281-284.
29
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 210.
30
Vgl.: Fischer-Lichte 1995 (wie Anm. 18), S. 327.
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<6>
Abgesehen von Laszlo Moholy–Nagys persönlichem Interesse, der sich als praktizierender
Szenograf mit neuen Materialien, Mechaniken und kinetischen Apparaten auseinandersetzte,
war der menschliche Körper und seine Transformation der Bauhaus–Experimente im Theater
zentral. Inspiriert von Edward Gordon Craigs Überlegungen, die Schauspieler mit der
›Übermarionette‹ auszutauschen, 31 experimentierte Oskar Schlemmer mit der Abstraktion
von Kostüm und Maske. Die rhythmischen Bewegungen der Tänzer in solchen Kostümen
verwandelten ihren Körper in eine Art dynamische Architektur. Die Theaterexperimente am
Bauhaus führten schnell zur Erkenntnis, dass die Innovation am Theater eng mit neuen
Konzepten von Theatergebäuden verknüpft ist. Die utopischen Entwürfe von Farkas Molnár
(U–Theater, 1924), Joost Schmidt (Mechanische Mehrzweckbühne, 1925) oder Andreas
Weininger (Kugel–Theater, 1926) blieben auf dem Niveau der abstrakten Ideen und können
mehr als Anregung zum Umdenken von Theaterkonzepten und weniger als konkrete
Entwürfe gesehen werden. 32 Das bedeutendste Projekt blieb Total Theater (1927), dass
Walter Gropius für Erwin Piscator entworfen hat.33 Es handelt sich um die erste detaillierte
Entwicklung der Idee eines Mehrzwecktheaters, das seinen Innenraum verändern konnte,
um mehr als eine Theaterform zu bedienen. Durch die Drehung eines Auditorium–Segments
hätte sich das Proszenium–Theater in ein Amphitheater oder eine Arena verwandeln können.
Das Projekt wurde nie realisiert, diese Idee wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg von
Sean Kenny (1932–1973) und Josef Svoboda (1920–2002) wieder aufgenommen und weiter
ausgearbeitet.
<7>
Eine grundlegende soziale und ökonomische Veränderung der post–marxistischen
Gesellschaft seit den 1950er Jahren brachte einen neuen Aufschwung der Technik hervor,
der sich in den kommenden Jahrzehnten entfaltete. 34 Die rapiden technischen und
technologischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten progressiven
31
Vgl.: Oskar Schlemmer, László Moholy-Nagy und Farkas Molnár: The theater of the Bauhaus, Middletown,
Conn.: Wesleyan University Press 1961, S. 26f.
32
Vgl.: Kersting 1986 (wie Anm. 24), S. 189.
33
Vgl.: Stefan Woll:. Das Totaltheater: ein Projekt von Walter Gropius und Erwin Piscator. Berlin: Gesellschaft für
Theatergeschichte 1984, S. 152ff.
34
Vgl.: Madan Sarup: An Introductory Guide to Post-Structuralism and Postmodernism, Second Edition New York,
London: Harvester Wheatsheaf 1993, S. 143f.
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Szenografen eine bahnbrechende Entwicklung in ihren Bühnenkonzepten, 35 die innerhalb
von zwei Dekaden zwischen 1960 und 1979 zu besonderen Leistungen geführt hat. Die Idee
von kinetischen Räumen wurde vor allem von Kenny und Svoboda, die ihre Ausbildung als
Architekten in das Berufsbild eingebracht haben, wieder aufgegriffen und mit neu
entwickelten Mitteln auch praktisch umgesetzt.
36
Die gewagten Visionen, die die
künstlerische Avantgarde noch Anfang des 20. Jahrhunderts in bescheidenem Rahmen
etablierte, wurden in den 1960ern und 70ern von Kenny und Svoboda weiter entwickelt und
praktisch umgesetzt. Eine detaillierte Untersuchung ihrer Arbeiten,37 deren intensiver
Austausch mit der Hochtechnologie eine neue Phase in der Szenografie hervorbrachte,38
führte zur Entdeckung mehrerer Konzepte für Mehrzwecktheater, die diese progressive
Szenografen damals entworfen haben. Das kinetische Potenzial der Theaterarchitektur
35
»The decline of the unifying and legitimating power of the grand narratives of speculation and emancipation can
be seen as an effect of the blossoming of techniques and technologies since the Second World War, which has
shifted emphasis from the ends of action to its means.«, Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 137.
36
»Aus den Fortschritten der Elektronik – vor allem der Halbleitertechnik aus den 1950er Jahren – entsprangen
neben den Massenmedien und Massenkommunikationsmitteln (Fernsehen, Computer-Verbundnetze,
Datenbanken, Telekommunikation, ein weltweites Telefonnetz, Computersatz und Laserdruck usw.) moderne
Sicherheitstechnologien im Verkehr (Flugsicherheit, städtische Verkehrsleitsysteme, Pkw-Elektronik, Navigation
bei ungenügender Sicht usw.), leistungsgesteuerte Haushaltsgeräte (Waschautomaten, Multifunktionsküchenund Heimwerkergeräte, Mikrowellenherde usw.), die gesamte EDV (von der elektronischen Büroorganisation und
industriellen Fertigungssteuerung bis zum Personal Computer und Taschenrechner für jedermann), klinische
Diagnose- und Therapiezentren und vieles andere mehr (Bankautomaten, Supermarktkassen, Lichtorgeln,
Synthesizer, elektronische Dimmer usw.).«, Vgl.: Technikgeschichte: Auftragsforschung im Zeitalter der
Hochtechnologien – 1940 bis heute. Hochtechnologiegesellschaft. www.wissen.de/thema/technikgeschichteauftragsforschung-im-zeitalter-der-hochtechnologien-1940-bis-heute?chunk=Die-Hochtechnologiegesellschaft
(Zugegriffen: 12. Juni 2012).
37
Der beste Überblick von Sean Kennys Projekten bietet sowohl Blythe House Archive in London, wo unter der
Referenznummer THM/166 insgesamt 14 Kartons und 2 Schubladen mit Entwürfen vorzufinden sind. Die
Dissertation von Harold J. Hunter »An Architectural Approach to Scenic Design: The Work of Sean Kenny«, Vgl.:
Harold J. Hunter: An Architectural Approach to Scene Design: The Works of Sean Kenny, Ohio University 1978.
Die Dissertation gibt einen guten Überblick seinen szenografischen Projekten. Das Opus von Josef Svoboda ist
dank seinen Biografen Denis Bablet (1970), J.M. Burian (1993) und vor allem Helena Albertová (2008) der
Öffentlichkeit gut zugänglich.
38
Der Begriff Technologie wird im Duden als »Wissenschaft von der Umwandlung von Roh- und Werkstoffen in
fertige Produkte und Gebrauchsartikel, in dem naturwissenschaftliche und technische Erkenntnisse angewendet
werden«
(Vgl.: Duden, Bibliographisches Institut GmbH 2011) erklärt. Die Bedeutung des Begriffes
Hochtechnologie wird als »Technologie, die auf dem neuesten technischen Stand beruht und in besonderer
Weise für Innovationen und hohe Produktivität in verschiedenen Wirtschaftsbranchen sorgt« (Vgl.: Duden,
Bibliographisches Institut GmbH 2011). Im weiteren Verlauf des Textes wird die Hochtechnologie mit der
Abkürzung Hi-Tech verwendet. Im szenografischen Kontext werde ich den Hi-Tech Begriff benutzen, um darauf
hinzuweisen, dass es sich um eine Szenografie handelt, die mit Hilfe der neuesten Technologie hergestellt wurde,
die zu der Zeit auf dem Markt vorhanden war.
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wurde an diesen Projekten ausführlich erforscht. Mit wenigen Ausnahmen (Theater der
Sussex Universität) erlebten die meisten Entwürfe keine praktische Umsetzung und dadurch
auch keine öffentliche Wahrnehmung. Abgesehen von der Vorstellung der nicht realisierten
Mehrzwecktheater–Entwürfen von Svoboda in dem Buch Josef Svoboda – Scenographer,39
sind die Mehrzwecktheater–Entwürfe von Kenny nur im Blythe House Archiv in London zu
bewundern.
Konzepte der Theatergebäude
<8>
Kenny rebellierte gegen die altmodischen Bühnen und die Ausstattung an den
Theaterhäusern, die einen Designer permanent zu Kompromissen zwingen. Man
verschwendete viel Zeit, um die existierenden Einschränkungen der vorhandenen Bühnen zu
überwinden oder sich gegen das West–End–Theatermanagement durchzusetzen. Meistens
war das Resultat nur ein Bruchteil der ursprünglichen Idee. Kenny warf den Theaterhäusern
die Unfähigkeit vor, die Anforderungen der Zeit zu reflektieren und sich den zeitgenössischen
Strömungen anzupassen. In dem Aufsatz 27 Sean Kenny / Creative Artists in the Theatre
schrieb Elisabethe Corathiel folgendes über Kennys Überzeugungen:
»Kenny has an unshakable conviction that, just as the architecture of a period expresses
the mentality – the soul, if you like – of its time, the theatre, equally, should express the
spirit of contemporary life. It should be real, even to point of being noisily articulate.
40
Symbolism, evocative ideas, useful short cuts, must be based on concrete reality.«
<9>
In dem gleichen Aufsatz ist Kennys Ablehnung gegenüber der Guckkastenbühne, als auch
der freien Rundbühne als Theaterkonzept abzulesen. Stattdessen definierte er seine Vision
vom Space Theatre. Es handelte sich dabei um einen Entwurf, der zwar nicht gebaut
wurde, aber viel Aufmerksamkeit durch Kennys Interviews und die Veröffentlichung der
Skizzen Anfang der 1960er Jahre bekam. Der geplante Theaterraum hätte den Zuschauern
verschiedene Positionierungen anbieten können. Das Publikum hatte die Möglichkeit –
teilweise vor dem Bereich für das Spiel, aber auch hinter, seitlich, bzw. auf Galerien platziert
zu werden. Der Raum hätte dem Betrachter die freie Entscheidung überlassen, ob er eine
passive oder aktive Rolle in der Aufführung übernehmen will. Die Entfernung zwischen
Publikum und Zuschauer, verursacht durch das Proszenium der Guckkastenbühne, war eine
der wichtigsten Aufgaben des Space Theatre. Der Vorhang, die fixierten Sitzreihen und die
Abblendung der Beleuchtung wurden als Hindernis in diesem kinetischen Raum gesehen.
39
Vgl.: Helena Albertová: Josef Svoboda, Scenographer. 1st ed. Prague: Divadelní ústav 2008, S. 225f.
40
Vgl.: Elisabethe Corathiel: 27 Sean Kenny - Creative Artists in the Theatre, in: ohne Angabe, 1961, S. 31.
Archiv: Cameron Mackintosh Ltd & Delfont Mackintosh Theatres Ltd, London (im folgenden CamMacLtd).
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Um die Magie des Theaters zu entfesseln, betonte Kenny, müssten die Aufführungen
lebendig und dynamisch sein. Das könnte seiner Meinung nach erst vollkommen verwirklicht
werden, wenn neue Theaterhäuser gebaut würden, die den Anforderungen vom Space
Theatre überhaupt gerecht würden. Die Vision vom neuen Theater beinhaltete Bühnen–
Plattformen, die man heben oder versenken konnte, bewegliche Wände, Paneele und
Zuschauerplätze, die für unterschiedliche Aufführungen mechanisch verstellbar waren.
»What we want is a space, which can be adaptable to any form of production.
Somewhere which with a minimum of machinery and scenery, you could adapt to
different styles of plays by altering the interior relationship of the house to the relationship
41
required between actor and spectator.«
Die Form des Raumes wird hier als eine Art des Ausdrucks gesehen, die für die
Selbstentfaltung genauso wichtig ist, wie das Sprechen oder die Bewegung unseres Körpers.
Kenny plädierte für Räumlichkeiten, die dem Nutzer größere Möglichkeiten bieten, sich
selbst im eigenen Raum besser ausdrücken zu können. Er präzisierte die gewünschten
Änderungen sowohl im Theater als auch in der Architektur:
»[...] In my opinion the architecture of the future will encourage people to revive individual
manual skill, though they will express themselves in materials with new possibilities. I
would like to pull the old theatres down and rebuild places where people can enjoy
themselves most. In my places of entertainment there would be no canvas at all in the
theatres themselves. The old–fashion–type of scenery is quite unnecessary. I would
scrap the existing lighting arrangements and do away with wiring altogether, using
electronic methods instead, and much smaller, more easily portable lamps, which could
be placed just where they are needed, with results a hundred–fold more effective and
flexible.
Yes, I approach life from the architectural point of view– and vice versa. I´d have
everyone housed in modern homes, too, and reflect their real life in the modern
42
theatre…«
<10>
Die Interviews und Zeitungsartikel spiegeln Kennys Ambition wieder, seine Konzeptideen für
ein neues Theatergebäude praktisch zu verwirklichen. Die Auseinandersetzung mit den
räumlichen Möglichkeiten innerhalb des Theaters resultierte in konkreten Entwürfen, die auf
ihre Umsetzung warteten. Er sah die Chance für eine weitere Entwicklung der Szenografie
nur in neuen räumlichen Umrissen:
»What I´d like to do is divide my time between designing sets and building theatres,
making them fabulous places of entertainment, radically different from our present
concept. I feel the theatre must convey a sense of enormous spectacle – something
43
electrifying, yet with the content value.«
41
Vgl.: Cyril Aynsley: Inside Show Business, in: Daily Express, 11. Mai.1962, S. o.A.
42
Vgl.: Corathiel 1961 (wie Anm. 40), S. 31. Archiv: CamMacLtd.
43
Vgl.: Stanley Eichelbaum: Sean Kenny Sets the Stage, in: Theatre Arts, December 1962.
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1. Study ´63, Grundriss Diagramm, Sean Kenny
Blythe House Archive London, Reference TXM/166, Gift of Judy Geeson
2. Study ´63, Veränderung der Theaterform (Arena, Proszenium, Amphitheater),
Sean Kenny, Blythe House Archive London, Reference TXM/166, Gift of Judy Geeson
Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal www.kunstgeschichte-ejournal.net
<11>
Im Jahr 1963 entwickelte Sean Kenny ein konkretes Theater–Konzept und nannte es Study
´63 (Abb. 1,2). Es handelt sich dabei um einen Entwurf, der sowohl die Bühne als auch das
Auditorium mit einer freien Hülle umwickelte. Die Außenhülle verhinderte nicht die
unterschiedliche Positionierung der Bühne und der Zuschauerplätze, die abhängig von der
Art der Aufführung umsetzbar war. Diese Außenhülle war als gewölbte Schale gestaltet, die
sich den inneren Veränderungen anpassen konnte. Drei modulare Züge–Systeme waren
geplant: die erste Gruppe für die laufende Aufführung, die zweite Gruppe für die nächste
Produktion und die dritte Gruppe für die Vorbereitungen der darauffolgenden Projekte. Alle
drei Systeme waren mobil, gegenseitig austauschbar und kombinierbar durch die
Fernsteuerung. Hinter–, Haupt– und Vorbühne hatten Hebungs– bzw. Senkungsmöglichkeit.
Auf einer Seite der drei Bühnen waren hufeisenförmig Dekorlager, Werkstätte, Probe– und
Serviceräume positioniert. Auf der gegenüberliegenden Seite lagen das Auditorium und der
Eingangsbereich. Durch die freie Positionierung der Bühne und einen Teil der
Zuschauerplätze waren verschiedene Einordnungen möglich. In dem Elaborat wurde
dargestellt, wie sich der Raum in die klassische Proszenium–Bühne, das Amphitheater, die
Zirkus–Arena oder die Arena mit zwei Bühnen umwandeln lässt. Kenny zeigte in dieser
Studie, wie sich ein Mehrzweckraum in verschiedene Theatertypen verändern konnte, um
sich den unterschiedlichen Anforderungen des dramatischen Textes anpassen zu können.
Das Konzept zeigte eine ähnliche Gedankenfolge wie das unrealisierte Projekt von Walter
Gropius Total Theater (1927). In dem Fall von Study `63 ging Kenny noch weiter, weil die
Außenhülle der Veränderung des inneren Raums folgte, was bei Gropius nicht der Fall war.
<12>
Im Verlauf seiner langen Karriere arbeitete Josef Svoboda überwiegend im klassischen
Theater mit der Proszenium–Bühne. Wie Albertová darlegt,
44
respektierte er die
45
Guckkastenbühne (»because it is the most theatrical space available«), war sich aber auch
der
Einschränkungen dieser
Form
des Theaters
bewusst.
Unzufrieden mit
den
Entwicklungen in der Theaterarchitektur seiner Zeit, arbeitete er seine eigenen Konzepte
aus. Das Atelier–Theater stellte einen Versuch dar, die neuen Möglichkeiten
in der
Gestaltung des Theaterraums zu entdecken. Es handelte sich dabei um einen
architektonisch neutralen Raum, der verschiedene Relationen zwischen Publikum und
Bühne für jede neue Inszenierung anbietet. Atelier–Theater war ein rechteckiger Raum. Die
multifunktionellen Galerien befanden sich auf mehreren Ebenen und waren mit den
44
Vgl.: Albertová 2008 (wie Anm. 39), S. 225.
45
Vgl.: Josef Svoboda und J.M. Burian: The secret of theatrical space : the memoirs of Josef Svoboda, New
York: Applause Theatre Books 1993, S. 20.
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Kommunikationsvertikalen in den Ecken verbunden. Die Position der Galerien war
mechanisch verstellbar, unabhängig von ihren Rollen in der Inszenierung als Licht–Träger,
Projektionsfläche, Spielebene oder Zuschauerraum. Die Zuschauerplätze waren geteilt in
Gruppen von 100, auf Luftkissen gestellt und dadurch leicht veränderbar, sogar während der
Inszenierung. Falls nicht gebraucht, konnte man die einzelnen Segmente aus dem Raum
entfernen und mehr Platz für das Spiel bekommen. Die Versenkungen dienten auch als
Lastaufzüge
und
Kommunikationswege
zwischen
Bühne
und
Werkstätten.
Die
Beleuchtungsbrücken und der Schnürboden waren auch mobil und leicht verstellbar. Die
Atelier–Theater–Idee wurde zum Teil in dem konkreten Entwurf für das neue Theater Laterna
Magika (1980) ausgearbeitet, aber leider nie realisiert.
<13>
Svoboda beschrieb den idealen Theaterraum als »a working instrument, a production space
where one make real experiments«.46 Er schlug 1988 zwei weitere Varianten vor: methabolic
theatre and space for polyvalent productions. 47 Methabolic theatre hatte eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem Zelt–Theater von Sean Kenny. Es handelt sich um ein Theatergebäude,
das sich alle 25 Jahre mit wenig Aufwand und niedrigen finanziellen Kosten ändern ließ und
sich somit an die Anforderungen der Zeit anpasste. Die zweite Variante – Raum für
polyvalente
Produktionen,
war
ein
Mehrzweckraum,
der
sich
verschiedenen
Inszenierungswünschen leicht anpassen konnte. Svoboda bekräftigte hier die Wichtigkeit der
Proberäume. Seiner Meinung nach sollten diese Räume die gleiche Größe und Proportionen
wie der Bühnenraum besitzen, technisch gut ausgestattet und in der unmittelbaren Nähe zur
Kostümwerkstatt sein. Dies würde ermöglichen, dass man die Szenografie parallel zu den
Proben weiter entwickeln und den Schauspielern eine Chance geben kann, in den noch nicht
fertigen Kostümen zu arbeiten, um sich besser auf die Rollen vorzubereiten. »This is how a
character comes to life« begründete Svoboda seine Vorschläge – »A character takes time to
shape, it has to mature. Time is needed to search for the best solution«. 48 Die besten
Resultate in der Entwicklung der Szenografie konnten seiner Meinung nach nur erreicht
werden, wenn man den Raum noch während der Proben an die Bewegungen und die
Handlungen
der
Schauspieler
anpasst
und
verändert.
Dies
wären
die
besten
Voraussetzungen, um maximale Resultate einer jeden Inszenierung zu schaffen. Svoboda
befürwortete Theaterräume mit 600, max. 800 Zuschauerplätzen für das klassische Drama
und bis zu 1200 Plätze für die Oper.49
46
Vgl.: Albertová 2008 (wie Anm. 39), S. 232 zitiert aus Tajna tetralnogo prostranstva, Moskow 1990, S. 131.
47
Vgl.: Albertová 2008 (wie Anm. 39), S. 232.
48
Vgl.: Albertová 2008 (wie Anm. 39), S. 232.
49
Vgl.: Albertová 2008 (wie Anm. 39), S. 232.
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<14>
Diese neuen Konzepte von Kenny und Svoboda zeigen, wie sich die Suche nach anderen
Formen der Theatergebäude im Laufe der Zeit entfaltet hat. Zu Beginn der 1990er Jahre,
nach vier Jahrzehnten der Arbeit als Szenograf, die er mit einer konstanten Suche nach
neuen technischen und technologischen Erneuerungen für die Bühne verbrachte, gelangte
er zu einer widersprüchlichen Erkenntnis. Die aufwendige Bühnenmechanik ist nicht mehr
als fester Bestandteil der Theaterhäuser nötig, weil sie sehr schnell veraltet und in einem
Kanon der Wiederholung gefangen ist. In den meisten Fällen ist die vorhandene Technik
nicht kompatibel mit neuen technologischen Innovationen und dadurch unflexibel für die
variable Verwendung. Deswegen war der beste Weg für Svoboda die Entwicklung einer
eigenen modularen Bühnentechnik, die sich den Anforderungen der Zeit anpassen konnte.
Aktuelle Entwicklungen in der Hi–Tech–Szenografie
<15>
Zur Demonstration der aktuellen Ambitionen in der Hi–Tech–Szenografie stelle ich im
Folgenden zwei für diese Entwicklung stellvertretende Produktionen näher vor. Ein
zeitgenössischer Blick auf die innovativen szenografischen Konzepte der ersten Dekade des
21. Jahrhunderts illustriert die Entwicklungskurve der Hi–Tech–Szenografie am besten. Es
handelt sich um die Las–Vegas–Produktion von Cirque du Soleil: Ká 50 und Macaos
Wassershow–Extravaganza The House of Dancing Water.51
<16>
Der herrschende Trend in Las Vegas am Anfang des 21. Jahrhunderts heißt ›high quality‹.
Die Hotel– und Casino Manager wollen den Besuchern eine hohe Qualität von Angeboten
präsentieren, egal ob es sich um Casinos, Hotels, Restaurants oder um Unterhaltung
handelt. Diesem Trend folgend entstand die Produktion Ká von Cirque du Soleil. Sie wurde
speziell für MGM Grand als Dauershow entwickelt. Die investierte Summe von 165 Millionen
Dollar übertraf die Ausgaben für alle Broadway Produktionen aus dem Jahr 2004 und setzte
50
Cirque du Soleil, Ká (MGM Grand Hotel & Casino, Las Vegas) Premiere: 5. Februar 2005, Guide: Guy
Laliberte, Creator and Director: Robert Lapage, Director of Creation: Guy Caron, Theater and Set Designer: Mark
Fisher, Composer and Music Arranger: René Dupéré, Costume Designer: Marie-Chantale Vaillancourt, Puppet
Designer: Michael Curry, Make-Up Designer: Natalie Gagne, Prop Designer: Patricia Ruel, Sound Designer:
Johnathan Deans, Lighting Designer: Luc Lafortune, Interactiv Projections Designer: Holger Forterer.
51
Show The House of Dancing Water, City of Dreams Casino, Macau, Premiere: 17.09.2010, Regie: Franco
Dragone, Scenic Designer & Dancing Water Theatre Designer: Michel Crête, Technical Stage Manager: Matthew
Abercrombie, Costume Design: Suzy Benzinger.
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neue Maßstäbe in der Unterhaltungsindustrie.52 »When you make that kind of investment«
sagte Gemal Aziz,53 »– you want something spectacular to come out of it«.54 Diese Absicht
wurde definitiv erfüllt.
<17>
Der Umbau des existierenden Showrooms im MGM Grand dauerte 15 Monate. Abgesehen
von der komplexen Technologie, die eingebaut werden musste, wurde dem Theaterraum das
mystische Flair eines Tempels verliehen. Die Idee für die Show war es, eine epische
Geschichte zu erzählen, sich mit der Kampfkunst auseinanderzusetzen, die neue
Technologie zu erforschen und das Puppenspiel ins Konzept einzubringen. Mark Fisher
entwarf sowohl das Theater als auch die Szenografie für die Show. Als Vorlage hatte er kein
Skript, sondern verwendete das Diagramm einer Reise, die verschiedene Stationen
darstellte: Wasser, Strand, Berge, Wald, Wiese und Stadt. Die Aufgabe bestand darin, die
invertierten Welten darzustellen und die Gravitationswahrnehmung der Zuschauer zu
verändern. In seinem Versuch, den Theaterraum zu beschreiben, benutzte Fisher das Wort
void, also ›Hohlraum‹ oder ›Leerstelle‹. Dort nämlich, wo die Bühne im klassischen
Proszeniumtheater sein soll, befindet sich tatsächlich ein Loch. Das Auditorium und der
Bühnenraum sind nur durch einen Laufsteg getrennt oder – besser gesagt – zu einer Einheit
verbunden. Die Architektur des Theaters ist gleichzeitig die Szenografie für die Show. Die
klare Grenze zwischen Performern und Zuschauern ist endgültig aufgehoben. Fisher
beschreibt die narrative Wahrnehmungsreise der Zuschauer, die schon im Casino beginnt:
»The narrative starts at the transition between the casino and the theatre and then opens out
as the audience come into the theatre and then opens out more when they get the show.«55
Die Narration wird als Metapher für die dreifache Transformation der Wahrnehmung der
Besucher benutzt, die zwischen dem Betreten und dem Verlassen des Hotels nach der Show
stattfindet.56
<18>
Die Hauptelemente der Szenografie sind zwei bewegliche Plattformen: Sand Cliff Deck und
Tatami Deck. Sand Cliff Deck (7,62m x 15,24m x 1,8m) ist eine 45t schwere hydraulische
52
Der Anteil von MGM Grand war $135 Millionen, die restlichen $30 Millionen wurden zwischen Cirque du Soleil
und MGM Grand aufgeteilt. Vgl.: Gabriel Dubé-Dupuis: Ká Extreme, Cirque du Soleil DVD, The Story of the
Creation of Ká - an Epic Journey, 2004.
53
Gemal Aziz ist Präsident und Chief Operating Officer des MGM Grand Hotels and Casinos in Las Vegas.
54
Vgl.: Dubé-Dupuis 2004 (wie Anm. 52).
55
Ebd.
Raman Selden: The Cambridge history of literary criticism. Volume 8. From formalism to poststructuralism,
56
Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 117, 130.
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Plattform, die einen vertikalen Bewegungsweg von mehr als 20m hat. Durch den
Gelenkmechanismus kann ein breites Spektrum an Positionen, Neigungen und Drehungen
erreicht werden. Sie ist mit drei kreisförmigen Öffnungen für die Performer und 86 Stäben
ausgestattet. In einer Szene kommen diese Stäbe unter pneumatischem Druck senkrecht
heraus und verschwinden danach wieder unter der Oberfläche. Die zweite Plattform,
genannt Tatami Deck, ist 9m x 9m groß und kann wie eine Schublade 12m horizontal nach
vorne herausgefahren werden. Die restlichen drei kleineren Plattformen befinden sich seitlich
und vorne an der Hauptplattform. Sie können unabhängig voneinander hoch und herunter
gefahren werden, wie die klassischen Bühnenversenkungen. Eine weitere technologische
Innovation besteht in interaktiven Projektionen. Dafür haben fünf Programmierer innerhalb
mehrerer Monate ein Computerprogramm speziell für die Show entwickelt. Die Innovation
besteht darin, dass sich das Projektionsbild verändert, sobald der Performer die
Projektionsfläche berührt.
<19>
Da es sich hier nicht um klassisches Theater handelt, gibt es keine gängigen Auftritte oder
Abgänge. Die Performer sind für die meisten Szenen an speziellen Seilen befestigt, die
ihnen Bewegungsrouten fast über den gesamten Theaterraum ermöglichen. Um den
Performern bessere Kontrolle über ihre Bewegungen zu geben, werden spezielle Joysticks
verwendet. Sie können mit den Joysticks ihre Bewegung entlang des Sicherheitsseils mit
einer vorprogrammierten Geschwindigkeit selbst umsetzten und müssen sich so nicht nur auf
die Rigger vertrauen.57 Nicht selten verlassen die Performer den Bühnenraum und das Spiel
findet über den Zuschauern statt. Manche Szenen dagegen, wie Wheel of Death, werden
zwar mit Sicherheitsnetz, aber ohne Sicherheitsseile durchgeführt. Durch die konstante
Bewegung der szenografischen Elemente und der Performer gehört dieser Act damit zu den
gefährlichsten im zeitgenössischen Theater. Der praktizierte Freifall aus 18m Höhe könnte
leicht zu einem ungeplanten Fall aus 27m Höhe führen, wie Jaque Paquin (Acrobatic
Equipment & Rigging Designer) erklärte.58 Trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen und
der doppelten Absicherung bleibt bei manchen Szenen ein Restrisiko bestehen, das bei
solchen Spektakeln nie vollkommen ausgeschlossen werden kann. Allerdings ist dies wohl
auch Bestandteil der Show, welcher die Faszination der Zuschauer steigert, innerhalb der
ersten fünf Jahre hat die beträchtliche Anzahl von über einer Million Besucher die Show
gesehen.
57
Die Rigger (Höhenarbeiter) sind sowohl für den Auf- und Abbau der Traversen bei Veranstaltungen als auch für
die Betreuung der Performer, die auf die Sicherheitsseilen aufgehängt sind, zuständig.
58
Vgl.: Dubé-Dupuis 2004 (wie Anm. 52).
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<20>
Die Wassershow–Extravaganza The House of Dancing Water erforderte – genauso wie die
Produktion Ká – nicht nur eine spezielle Szenografie für die Show, sondern auch den Entwurf
und den Bau eines Theaters mit 2000 Zuschauerplätzen, das die speziellen Anforderungen
der Show erfüllen konnte. Mit einer Investition von 250 Millionen Dollar handelt es sich
hierbei wahrscheinlich um eines der teuersten Theaterereignisse, das speziell für das Casino
City of Dreams in Macao (Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China) entworfen
wurde. Fünf Jahre Vorbereitungs– und zwei Jahre Probenzeit waren nötig, um diese
internationale Show mit 77 Performern zu Stande zu bringen. Das Theater hat die Form einer
Arena mit einer kreisförmigen Bühne in der Mitte. Ein komplexer Bühnenunterbau, gefüllt mit
135
Millionen
Litern
Wasser
(benötigte
Wassermenge
für
ca.
fünf
olympische
Schwimmbäder), befindet sich unter der Bühne. Oberhalb der Bühne wurde als freistehende
Konstruktion eine Art Schnürboden gebaut. Dort ist die zusätzliche Ausrüstung (Seile für die
Performer, Beleuchtung) auf den ringförmigen Zwischenpodesten untergebracht. Diese
Podeste dienen außerdem als Rigger–Arbeitsplattform, aber auch als Landungs– bzw.
Startpositionsfläche für die Performer, die an den Sicherheitsseilen hängen. Die Bühne ist in
mehrere Segmente aufgeteilt. Das Hauptsegment kann bis zu 65 Tonnen tragen, die
anderen Segmente 25–30 Tonnen. Das Pumpensystem hat 63 Öffnungen im Bühnenboden,
die mit 400 Volt Stromanschlüssen ausgestattet sind, um Wasserstrahlen in verschiedenen
Kombinationen bis zu 70m hoch katapultieren zu können.59 Mit Hilfe der mechanischen und
hydraulischen Ausrüstung wird die komplette Szenografie aus dem Wasserbecken unterhalb
der Bühne nach oben gebracht und verschwindet nach der abgespielten Szene wieder im
Wasser. Um dies zu ermöglichen, wurde die Hochtechnologie eingesetzt, die üblicherweise
für das Starten von Kampfflugzeugen verwendet wird. Der Wechsel von szenografischen
Elementen fand in den Wasserkanälen unter der Bühne statt, wo ein Team von
professionellen Tauchern alle Veränderungen betreute. Die schwere Maschinerie unter der
Wasseroberfläche veränderte ihre Position während der Aufführung, was für die Performer
gefährlich werden konnte. Also mussten Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, um die
Sicherheit der Performer zu gewährleisten. Es wurden Taucher eingesetzt, die alles was
unter der Wasseroberfläche passierte, kontrollierten – inklusive der Landungen der
Performer im Wasser. Um reibungslose Aufführungen zu gewährleisten, waren bei jeder
Vorführung 130 Mitarbeiter des technischen Teams im Einsatz, dies erinnert an eine der wohl
aufwendigsten Inszenierungen des 19. Jahrhunderts erinnert. Henry Irving (1838–1905)
59
Es handelt sich um ein ähnliches System, das für die Wasser-Show vor dem Hotel Belagio in Las Vegas
benutzt wird. Die Show wird alle 15 Minuten ab 19.30h jeden Tag vorgeführt und ist eine von vielen Attraktionen
auf dem Strip.
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beschäftigte als Theatermanager für die Bedienung der Szenografie im Lyceum Theater in
London zwischen 1878 und 1898 bis zu 135 Arbeiter. 60
<21>
Diese aktuellen Projekte demonstrieren, wie die Grenzen zwischen Szenografie, Architektur,
Technologie und Ingenieurswissenschaften kontinuierlich weiter verwischen, damit die
innovativen Konzepte der Hi–Tech–Szenografie am Anfang des 21. Jahrhunderts umgesetzt
werden können. Der Ort des Geschehens bleibt das Musiktheater im weitesten Sinne, wobei
der Schwerpunkt auf die Extravaganzen verlagert wurde. Das Konzept als eine Mischform
zwischen Musical und Zirkus, das noch Gene Kelly Anfang der 1970er Jahre mit der
Produktion Clownaround zu etablieren versuchte, 61 setzte sich auch bis heute in einer
ähnlichen Form durch. Götz Friedrichs Bemerkung zur Visualisierung des Wassers im
Theater62 (»We shall not have some imitation of water. Covent Garden is not a circus.«63)
wurde in Macaos Extravaganza in das andere Extrem getrieben. Das Wasser wird zum
Hauptcharakter der Performance, um das alles andere herum aufgebaut ist, sogar das
Theater selbst. Die modernistische Ambition, ein flexibles Theater für jegliche Art der
Inszenierungen zu
verwirklichen,
ist
ausgeblieben.
Einige
Beispiele
der
flexiblen
Theaterräume wurden zwar verwirklicht, 64 dieses Konzept stieß aber nie auf breite
Akzeptanz. Die Entwicklung der Hi–Tech–Szenografie hat eine Gegenthese bewiesen, die
heute ihre Umsetzung zumindest finanziell rechtfertigt – ein Theater für eine Produktion. Die
Aufgaben der Szenografen und ihr Berufsbild haben solch innovative Produktionen nochmals
verändert. Der Szenograf Michel Crête, ein langjähriger Designer des Cirque du Soleil,
entwarf für The House of Dancing Water ebenfalls wie Fisher sowohl die Szenografie, als
auch das Theater für die Show.65 Damit setzten sie wenigstens einen Teil des Ideals durch,
wofür Kenny und Svoboda seit den 1960er Jahren plädiert hatten: Das Theater für die Show
wurde zwar von innen heraus organisch entwickelt, um den Anforderungen an eine
60
Es wurde bei Brockett nicht präzisiert, um welche Produktionen es sich handelte. Die wichtigsten Produktionen
des Szenografen Hawes Craven (Faust, Romeo and Juliet, Macbeth, Henry VIII) sind aufgelistet, mit dem Irving
zusammengearbeitet hat, ohne klaren Hinweis, ob sie im Lyceum Theatre aufgeführt wurden. Vgl.: Brockett 2010
(wie Anm. 5), S. 202-204.
61
Die Produktion Clownaround (1972) war der Vorreiter der heutigen Extravaganza. Sean Kenny entwarf die
Szenografie für die Show.
62
Es handelt sich um die Ring Oper an der Royal Opera House Covent Garden (1974-76). Regie: Götz Friedrich,
Szenografie: Josef Svoboda.
63
Vgl.: Lambert Cairns: The Forging of the Ring, in: The Sunday Times / The Arts, 22. September 1974, S. o.A.
64
Vgl.: Willard F. Bellman: Scenography and stage technology, New York: Crowell 1977, S. 90–93.
65
Dancing Water Theatre wurde zusammen mit Pei Partnership Architects entworfen (www.peipartnership.com).
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innovative Szenografie gerecht zu werden, kann aber lediglich einen Satz neuer Bewegungsmuster umsetzen.
<22>
Je origineller der neue kinetische Raum in der Hi–Tech–Szenografie wird, desto unflexibler
wird er – was letztendlich in der Natur des Originals liegt, nämlich einzigartig zu sein. 66
Dieses Phänomen ist in seinem modernistischen Ursprung so stark verwurzelt, dass man
sich fragt, ob dem schwer lastenden Erbe überhaupt zu entkommen ist. Handelt es sich hier
um eine tatsächliche Entwicklung der Hi–Tech–Szenografie oder um einen ›pastiche‹,67 wie
Frederic Jameson es formulierte?68 Warum beschäftigt man sich dann heute noch mit den
technologischen Innovationen der Szenografie, wenn sie anscheinend in eine Sackgasse
führen?
<23>
Wenn solche Produktionen erfolgreich sind, dienen sie meist als Lockvogel für die Casinos
oder
als
Geldmaschinen
für
ihre
Investoren.
Der
ursprüngliche
Grund
für
die
Auseinandersetzung mit der Technologie, der aus den Anforderungen der Dramaturgie oder
aus dem Wunsch, neue kinetische Theaterräume zu schaffen, abgeleitet wurde, scheint auf
der Strecke geblieben zu sein. Die Veränderung einer Kunstbewegung über die Jahrzehnte
ist unvermeidlich, aber ziemlich fragwürdig, wenn ein ursprünglich kreativer Input mit der
fundierten sozial–gesellschaftlichen Basis zunichte gemacht wird. Warum machen die
Szenografen noch mit? Bezugnehmend auf The House of Dancing Water gibt der Szenograf
Michel Crête eine einfache Antwort auf diese Frage – »If you can bring a little of happiness in
everyday life of people, it´s great«.69 Dies mag sich wie ein Echo der Aufklärungstheorie
anhören,70 die von Poststrukturalisten schon längst für gescheitert erklärt worden war, die
Hi–Tech–Szenografie brachte aber am Ende das Theater genau dorthin, wohin Kennys
66
»The modernist aesthetic was organically linked to the conception of an authentic self and a private identity
which can be expected to generate its own unique vision of the world and to forge its own unmistakable style«,
Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 146.
67
»The poststructuralists argue against this, in their view the concept oft he unique individual and the theoretical
basis of individualism are ideological. Not only is the bourgeois individual subject a thing of the past, it is also a
myth, it never really existed in the first place; it was just a mystification. And so, in a world in which stylistic
innovation is no longer possible all that is left, Jameson suggests, is pastiche. The practice of pastiche, the
imitation of dead styles, can be seen in the ´nostalgia film.«, Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 146.
68
Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 146.
69
Franco Dragone: Behind the scenes, The Journey into The House of Dancing Water 2012,
http://www.youtube.com/watch?v=IkX3b4RlOVo&feature=related, (Zugegriffen: 10. Dezember 2011).
70
Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 143.
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Visionen es ebenfalls führten – zurück zu den Menschen und zurück zu den Orten der
Unterhaltung für alle – oder für fast alle, jedenfalls diejenigen, die sich die teuren
Eintrittskarten leisten können.
<24>
Die heutige Phase der Hi–Tech–Szenografie demonstriert sicherlich eine von vielen
Stationen auf der Entdeckungsreise nach Möglichkeiten ihres Daseins in der globalisierten
Welt. Interessanterweise brachte der Einsatz der hochentwickelten Technologie tatsächlich
eine Instabilität in die aktuellen Konzepte, zumindest die der Performer, und unterminierte
manche Ideen von Kenny und Svoboda. 71 So gesehen kann man nicht sagen, dass die
Erwartungen von manchen Postmodernisten wie z.B. Lyotard bezüglich der Anwendung des
Wissens und der Wissenschaft nicht erfüllt worden sind.
72
Dies weist auf die
Entwicklungskurve der Hi–Tech–Szenografie hin, unabhängig davon, ob sie diese Phase
selbst gewählt hat oder in sie hineingeraten ist. Durch ihre enge Verknüpfung mit dem
Kapital konnte sich diese fragmentarische Spalte in der Szenografie nicht dem
multinationalen Kapitalismus entziehen. Der Produktionswahn und das Streben nach
Aktualität sind bei Konzernen wie Cirque du Soleil auch schwer zu verleugnen.73 Eine andere
Erkenntnis ist aber wichtig: Diese aktuelle Phase der Hi–Tech–Szenografie ist nicht als die
endgültige Verwirklichung einer Idee anzusehen, sondern lediglich als eine weitere Impuls
gebende Station auf einer aufregenden Entdeckungsreise.
Epilog
<26>
Die Hi–Tech–Szenografie stellt eine Ausnahmeerscheinung in der Szenografiegeschichte dar
und ist mit den gängigen Arbeitsweisen in der Szenografie nicht zu vergleichen. Ihre
Realisation benötigt ein interdisziplinäres Team von Mitarbeitern, finanzielle Unterstützung,
risikobereites Theatermanagement und natürlich einen visionären Szenografen. Ein
historischer Überblick mit dem Schwerpunkt auf die Experimente der Hochtechnologie der
1960er und 70er Jahre zusammen mit der Darstellung der verwandten Produktionen am
Anfang des 21. Jahrhunderts zeigt die Beschäftigung mit dem Phänomen Kinetik in einem
langen Lernprozess. Bei Walter Gropius bis Mark Fischer und Michael Crête zeigt sich
71
»Lyotard´s view of science and knowledge is that of a search not for consensus but for ›instabilities‹; the point
is not to reach agreement but to undermine from within the very framework in which the previous ›normal science‹
had been conducted.«, Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 153.
72
Vgl.: Sarup 1993 (wie Anm. 34), S. 153.
73
Cirque du Soleil hatte 21 laufenden Shows in 2012 in Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Australien.
(www.cirqueducoleil.com, Zugegriffen: 01.03.2012).
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deutlich, dass die Innovation in der Hi–Tech–Szenografie nicht von der Innovation der
Theatergebäude zu trennen ist. Die Produktionen Ká und The House of Dancing Water
zeigen neue Theaterräume, die zusammen mit der Szenografie für die Shows entwickelt
wurden. Die vorantreibende Rolle der Auseinandersetzung mit der Hochtechnologie in der
Szenografie blieb im 20. Jahrhundert von der Avantgarde der 1920er Jahre bis heute
unverändert, was auf ihr innovatives Potenzial hinweist.
<27>
Die wichtigste Leistung der Hi–Tech–Szenografie ist das Schaffen von neuen Formen des
kinetischen Bühnenraums, die Einfluss auf die Theaterarchitektur nahmen. Die Idee vom
kinetischen Raum, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Architektur ins Theater
wanderte, um ihr Potenzial zu erforschen, fand ihren Weg zurück in die Architektur. In einem
langen Lernprozess bestätigte die Szenografie ihren Ruf als Labor für die neuen Ideen,74
erweiterte die Wahrnehmungsfacetten des Raumes und rechtfertigte ihre Experimente
Anfang des 21. Jahrhunderts auch durch finanzielle Erfolge. Die Entwicklung ging zwar nicht
unbedingt in die Richtung, die sich Kenny und Svoboda vorgestellt haben, brachte aber
neue kinetische Muster in den Bühnenraum und agierte als vorantreibende Kraft in der
Forschung über neue Formen von Theaterbühnen. Unabhängig davon, ob man sich für die
Extravaganzas wie Ká oder House of Dancing Water begeistern kann, ist deren gewaltiger
Beitrag zur Entwicklung der Szenografie und des Theaters nicht zu leugnen.
<28>
Es bleibt spannend, zu beobachten, in welche Richtung sich die Hi–Tech–Szenografie weiter
entwickelt und ob sich ihr Einfluss auch außerhalb der Entertainment–Architektur verbreiten,
oder aus finanziellen Gründen dort gefangen bleiben wird. Bis dahin harrt das Theater als ein
Ort aus, der die unmittelbare Teilnahme an einem kinetischen Ereignis erlaubt, das nicht mal
annähernd mit Computerspiel–Simulationen und 3D Filmen zu vergleichen ist. Nach der
Aufführung von Ká hatte ich das Gefühl an einer Achterbahn–Reise teilgenommen zu haben.
Meine Wahrnehmung des Raumes hatte sich grundsätzlich verändert, ohne dass ich mich
durch ihn bewegen musste. An diesem Abend bewegte sich der Raum zu mir.
74
George Tsypin und Julie Taymor: George Tsypin Opera Factory: Building in the Black Void, Princeton
Architectural Press 2005, S. 72.
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Bildnachweis:
1. Study ´63, Grundriss Diagramm, Sean Kenny
Blythe House Archive London, Reference TXM/166, Gift of Judy Geeson
2. Study ´63, Veränderung der Theaterform (Arena, Proszenium, Amphitheater),
Sean Kenny, Blythe House Archive London, Reference TXM/166, Gift of Judy
Geeson
Autorenangabe:
Nach dem Architekturstudium an der Universität Belgrad und der Universität der Künste
Berlin absolvierte Nebojša Tabački das Aufbaustudium Film– und Fernsehszenenbild an der
Hochschule für Film und Fernsehen in München. Seitdem arbeitete er als Designer für
nationale und internationale Film– und TV Produktionen wie z. B. Das Parfum,
Der Baader Meinhof Komplex, Die Päpstin oder die TV Serie Borgia. Parallel zu seiner Arbeit
beim Film ist er auch als Bühnen– und Kostümbildner für Theaterproduktionen tätig. Nebojša
Tabački ist Doktorand an der Universität der Künste in Berlin, Fakultät Gestaltung. In seiner
Dissertation forscht er über die Einflüsse des modernistischen Architekturerbes auf die
progressiven szenografischen Konzepte der 1960er und 70er Jahre. Die Dissertation
»Kinetische Bühne. Wiedererfindung des Theaters in den Hi–Tech–Experimenten der
Szenografen Sean Kenny und Josef Svoboda« wird Anfang 2013 veröffentlicht.

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