Leseprobe - Geschichten von Peter H. Fehlmann

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Leseprobe - Geschichten von Peter H. Fehlmann
Nebenwirkungen und Spätfolgen
Kurzgeschichten
Peter H. Fehlmann
Edition Lagarto
Dieses Buch wurde auf chlor- und
säurefreies Papier gedruckt.
1. Auflage 2012
© 2012 Edition Lagarto
Lektorat und Korrektorat: Catrin Stankov, Bernau
Titelfoto: © Heinz Kasper
Titelgestaltung: Heinz Kasper, www.printundweb.com
Satz: Heinz Kasper, www.printundweb.com
Druck und Verarbeitung: E. Kurz + Co., Druck und
Medientechnik GmbH, Stuttgart www.e-kurz.de
Printed in Germany
ISBN: 978-3-9523931-3-0
www.edition-lagarto.ch
Inhalt
Hauptbahnhof, Bahnhofswache
Holzer ist zurück …
Du bist so anders …
Irrtum vorbehalten
Kräuterbeth
Familiensache
Der Stromer
Vier Stühle
LED
Discofieber
Die Assistentin
In Vino Veritas
Wozu’s Philosophen braucht
Fotofinish
Heimwärts
Zeit zu reifen
Dünnes Eis
Teddys Traum
Was lange gärt wird endlich Wut
Unverhofft kommt oft
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Kräuterbeth
Vorne, im offenen Land am See, sagt man kaum mehr über
die Bewohner hinten im Quelltal, als dass sie ein sehr eigener
Schlag seien. Oder höchstens einmal abschätzig: «Wo kommst
du denn her? Aus dem Quelltal?», wenn sich jemand besonders
blöd anstellt.
…
Auch klar ist, dass so ein eigenartiges Tal ab und zu sonderliche Einzelgänger anzieht. Dagegen hat niemand etwas, solange der für sich sorgen kann und sich nicht in die
Gemeindegeschäfte einmischt.
So war es mit der Beth gewesen. Sie kam ins Tal, kaufte dort
im Dorfladen allerhand Unverderbliches wie Mehl, Salz und
trockene Bohnen und marschierte hoch, bis zu den Felsen,
ganz hinten in der Stiefelspitze. Sie war eine grosse, knochige
Frau, mit sehnigen Gliedern und einem etwas groben, dunklen Gesicht von fremdartigem Reiz, umrahmt von einem Zopf
dicken, schwarzen Haares. Es könnte eine Fahrende sein, von
ihrer Sippe verstossen, munkelten die einen und andere wetteten, dass sie so schnell wieder verschwinden werde, wie sie
gekommen sei und man solle besser auf alles ein Auge haben,
was nicht niet- und nagelfest sei. Aber Beth blieb.
…
Eines Sonntagabends, es mochte ein Jahr später sein, stieg
wieder ein Fremder aus dem Zug. Auf dem Rücken trug er einen hölzernen Kasten, voll mit Spachteln, Meisseln, Sticheln,
Feilen und Messern aller Art, in der rechten Hand einen
schwarzen Geigenkasten. Er trat in die Gaststube und bestell-
te noch im Stehen ein Viertel Roten: «Oder besser grad die
Flasche, Frau Wirtin, ich bin sicher, die Herren», er deutete
zum Tisch hinüber, «tun mir die Ehre an.»
…
Eine halbe Stunde vor Mitternacht liessen die Musikanten
ihre Instrumente sinken. Alle füllten ihre Gläser und warteten,
wie’s der Brauch war, auf den Glockenschlag, um anzustossen
auf ein neues, gutes Erntejahr. Nur leises Murmeln und unterdrücktes Lachen waren zu hören, als unverhofft der Schnitzer
mit einem mächtigen Schritt ins leere Rund trat, mit festem
Blick auf Beth die Geige ans Kinn setzte und ihr einen hellen, fordernden Ton entlockte. Es wurde mucksmäuschenstill
im Saal. Aller Augen richteten sich auf Kräuterbeth, die wie
an Drähten gezogen zur Mitte schritt, vor dem Geiger stehenblieb, auch sie ohne die Augen zu wenden und vernehmlich
mit tiefer, weicher Stimme fragte: «Ja, mein stolzer Hahn?»
Der nickte nur kurz und begann mit einer fremdartigen,
langsamen, schwingenden Melodie. Gehorsam, als wäre sie die
Figur auf einer Musikdose, begann Beth sich um sich selbst
zu drehen, mit kleinen Schritten den Geiger umrundend, die
Arme locker in die Hüften gestützt. Die Geige wurde lauter, der Takt abgehackter, Beths Schritte härter, die Drehung
schneller, die Arme krochen eng am Körper aufwärts. Ihre
Finger zogen am Kamm. Mit einem kurzen Schlenker öffnete sie ihr Haar, liess es auf die Hüften fallen. Wieder nickte
Toni nur, machte nun auch kleine Tanzschritte rückwärts. Sie
folgte ihm im Wechselschritt, ohne die gestreckten, wiegenden
Arme zu senken, bis Toni abrupt stoppte, sich von ihr wegdrehte, dabei aber nicht aufhörte nach hinten zu schauen, ihre
Augen zu halten. Folgsam umkreiste sie ihn. Und wieder tänzelte er mit kleinen Schritten rückwärts, die Geige lockte mit
vibrierenden Klängen. Beth folgte, immer im Takt, mit weit
ausgebreiteten Armen jetzt, stoppte dann knapp vor ihm. Ihr
Becken kreiste. Ein paar Schritte zurück und wieder vor, noch
näher, immer wieder, bis man keine Hand mehr zwischen die
beiden hätte schieben können. Vor, zurück, immer wieder, die
Musik schwoll auf und ab, und nicht einmal berührten sich
ihre Körper. Dann wieder ein kurzes Nicken mit dem Kinn.
Sie machte drei Schritte zurück, stand mitten im Raum und
hielt gleichzeitig mit der Musik inne. Als die wieder einsetzte,
mit der langsamen, schwingenden Melodie vom Anfang, begann sie sich zu drehen auf dem linken Fuss und zu stampfen
mit dem rechten, schneller, immer schneller, hielt ihren Körper
gespannt wie eine Bogensehne, die Arme über dem Kopf, die
Hände ineinander geflochten. Noch schneller kreiste sie, die
Töne stiegen höher und höher, jubelten. In einem letzten,
unglaublich hohen, wimmernden Schrei der Geige sank Beth
zusammen, lag halb und mit angezogenen Beinen am Boden,
eine Hand dem Schnitzer zugestreckt. In die atemlose Stille hinein lachte Toni schallend, liess die Geige sinken, ergriff Beths
Hand, zog sie auf und eh sich’s die Leute versahen, schlüpften
die beiden durch die Reihen zur Tür hinaus. Die Uhr an der
Stirnwand zeigte Mitternacht.
…

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