Bernhard Heisig, Der sterbende Ikarus

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Bernhard Heisig, Der sterbende Ikarus
Bernhard Heisig,
Der sterbende Ikarus
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1978/79, Öl auf Leinwand, 84 x 125 cm.
Museum am Dom Würzburg
Ludwig Sauter
Auf den ersten Blick wirkt das Bild von Bernhard Heisig blass und wirr. Es ist kein Bild des schnellen Zugriffs, erschließt
sich nur mühsam, fordert das genaue Schauen heraus. Lässt sich der Betrachter jedoch ein, zieht es ihn mehr und mehr in
seinen Bann und lässt viele interessante Details und Verweise entdecken.
Augenfällig ist zunächst die große menschliche Gestalt. Auch ohne Bildtitel steht hier die Assoziation zu Ikarus im Raum.
Sie scheint rücklings mit ausbreiteten Armen, an denen Flügel befestigt sind, vom Himmel zu stürzen. Oder schwebt sie
nach oben? Der Mund ist weit aufgerissen und bildet die einzige Aktivität dieses Ikarus. Seine Flügel stoßen an die Grenzen
des Bildrandes. Gleichzeitig teilt die Flügelspannweite das Bild diagonal von links oben nach rechts unten in zwei Teile. Eine
zweite senkrechte Achse in der Bildmitte trennt in einen unruhigen, wirren, dunkleren und einen Ruhe ausstrahlenden
lichten rechten Bildbereich.
Auf der linken Seite dominiert ein ruinenhaftes Bauwerk, das an den Turm zu Babel erinnert. Links vom Turm liegt ein
Kind. In der einen Hand hält es einen Ball oder eine Kugel, der linke Arm zeigt energisch mit gestrecktem Finger nach oben
auf die Hand des Ikarus.
Mittig am unteren Bildrand sind bei näherem Betrachten die Gesichter mehrerer Menschen zu erkennen, darunter
auch das Portrait des Künstlers selber. Die größte Gestalt scheint die Hände vors Gesicht zu schlagen, die anderen blicken
eher aus dem Bild heraus, nehmen von dem Geschehen um und über ihnen offenbar nichts wahr. Sie stehen auch untereinander nicht in Blickkontakt. Dies gilt für alle Gestalten im Bild, extrem abgewandt ist Ikarus durch seine Rückenlage.
Auf der rechten Bildseite fällt am Horizont die Sonne in warmem Gelb vor dem in Rot gehaltenen Abendhimmel ins
Auge. Eine große ruhige Wasserfläche erstreckt sich von links nach rechts oben. Ein undefinierter, lang gezogener Block am
rechten Bildrand wirkt wie ein sinkendes Schiff. Seine farbliche Gestaltung weist einen Verlauf vom Dunkel ins Helle auf.
Genau auf der Bilddiagonalen fährt ein kleines Segelschiff in die unendliche Weite.
Nahezu unscheinbar entwickelt die ganze Linienführung des Bildes trotz gegenläufiger mächtiger Ikarusfigur und
energie­geladener Kinderhand eine Sogwirkung mit diesem kleinen Schiff auf die rechte Bildecke zu.
Die Bildkomposition vereinigt eine Vielzahl von Bezügen
– auch ikongraphischer Art – in sich. Schon zu Beginn der
siebziger Jahre hatte der Künstler erstmals, an Brueghel
anknüpfend, das „Ikarus“-Motiv aufgegriffen und ebenso
Brueghels Turmbau zu Babel als wiederkehrende Metapher auf seinen Bildern untergebracht.
Ikarus
Heisig akzentuiert seinen Ikarus ganz anders als Brueghel­.
Sein Ikarus ist nicht der hilflos Rudernde, kläglich
Gescheiterte. Der Künstler verleiht seinem Ikarus eine
faszinierende Spannung zwischen Absturz und Schweben, Machtlosigkeit und Energie, zwischen Zurückgeworfensein und Vorwärtsgehen. Im Aufschrei des Ikarus kann
man gleichzeitig den verzweifelten Todesschrei und den
wutgeladenen Protestschrei des Lebens wahrnehmen.
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Dieser Ikarus hat den Glanz eines Märtyrers. Nicht zufällig sind wohl die Assoziationen, die ein Drehen des Bildes um 90
Grad nach links weckt. Die ausgebreiteten Arme, die Wundmale an den Händen, der Schrei und der Blick nach oben lassen
den gekreuzigten Christus erkennen.
Der Turmbau zu Babel
Zunächst zitiert Bernhard Heisig hier eindeutig den Turm aus dem bekannten Werk von Brueghel mit den Anklängen an
das Kolosseum in Rom. Der Turm hat zwei Seiten, eine eindrucksvolle Außenfassade links, dahinter wirkt das Innere, der
Kern des Gebäudes aber marode und droht zu zerfallen. Eine Mauer durchzieht die Fassade.
Das Titanic-Motiv
Unweigerlich muss man, wenn man das Element am rechten Bildrand als Schiff sieht, an die Titanic denken. Oder klingt
hier auch das Motiv der Arche an, vollbeladen mit Flüchtlingen, auf dem Weg in eine unbekannte, hoffnungsgeladene
Zukunft?
Das Kind neben dem Turm signalisiert mit seiner rosigen Hautfarbe Lebendigkeit, Aktivität, Lebenslust. Fast wie ein Fremdkörper weist sein linker Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger energisch nach oben auf Ikarus.
Ist dieser Gestus als Mahnung zu verstehen? Einer, der Grenzen nicht beachtet? Möglich! Ikarus, der Turm zu Babel, die
Titanic können und werden ja häufig als menschliche Grenzüberschreitungen interpretiert – Sinnbilder unserer Selbstüberschätzung, Machtentfaltung, Machbarkeitsideologie. Eine berechtigte moralische Leseart, die uns die zerstörerischen und
lebensfeindlichen Folgen dieser Hybris vor Augen führt.
Oder verweist Heisig mit dem Finger vielmehr auf den Wagemut, die Begeisterungsfähigkeit, die Unvernunft, die als Antrieb menschlichen Handelns das Unmögliche versucht wie Ikarus? Auf dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung in der
ehemaligen DDR und der damit verbundenen Sehnsucht nach Freiheit, die sich auch in der Überwindung der Grenze zum
Westen zeigt, legt sich diese Stilisierung des Ikarus nahe, in der sich Heisig mit seinem unvernünftigen Helden identifiziert.
Nicht der Erfolg ist der Maßstab für ihn, sondern dem moralischen Imperativ des Humanismus gemäß das Bemühen an
sich. Ikarus ist nicht der an seiner Unvernunft Gescheiterte, auch nicht der, der nur seine Freiheit aus der Gefangenschaft
im Sinn hat, sondern einer, der wagemutig seiner Vision folgt – und Grenzen überwindet? Damit ist es nicht abwegig, in
dem Ikarus auch den Christus zu sehen, der für seine Vision vom Reich Gottes auch dem Tod nicht ausweicht und damit
der Hoffnung einen neuen Horizont eröffnet. Vielleicht eine Überinterpretation, wenn ich in dem Kind den Hoffnungs­
träger in der Krippe sehe, der auf seine Sendung hinweist.
Bernhard Heisig, Der Tod des Ikarus © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
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Das Bild im Unterricht
Umrisszeichnung
Umrisszeichnung
Perspektiven-Linienführung
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Anregungen für den Unterricht:
Die Sage von Ikarus
Betrachtung:
Daedalus und Ikarus wurden auf der Insel Kreta
vom König Minos festgehalten, weil Daedalus das
Geheimnis des Labyrinths kannte, in dem der
Minotaurus hauste.
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Nach einer ersten spontanen Bildwahrnehmung empfiehlt
es sich den Blick der Schüler/innen für einzelne Bildelemente und Details schärfen. Die Umrisszeichnung kann als
Vorlage dienen zum Anfertigen von Schablonen zum
Abdecken von Bildhälften und -diagonalen bzw. zum
schrittweisen Aufdecken von Bildteilen am Tageslichtprojektor oder Whiteboard. In der Umrisszeichnung können
die Schüler/innen auch ihre Entdeckungen festhalten oder
erste Gedanken dazunotieren.
Ein Drehen des Bildes kann auch einen interessanten
Perspektivenwechsel und neue Entdeckungen (z. B. Gekreuzigter) evozieren.
Daedalus konstruierte nach dem Vorbild der Vögel
Flügel aus Federn, die er mit Wachs und mit einer
Schnur verband.
Daedalus sagte zu seinem Sohn: „Die Häfen kann
Minos für uns sperren, sodass wir nicht zu Schiff
fliehen können. Aber den Luftraum kann er nicht
sperren. Also werden wir durch die Luft fliegen,
um zu fliehen! “
Dann klebte Daedalus sich selbst und seinem Sohn
mit Wachs die Flügel an die Arme.
ErschlieSSungsbausteine:
Arbeitsteilig z. B. in Gruppenarbeiten, setzten sich die Schüler/innen mit einzelnen Bildelementen auseinander: Dabei wird
jeweils beiden Deutehorizonten nachgegangen: Grenzen (nicht)
beachten und Grenzen überwinden.
Im Plenum stellen die Sch dann Ergebnisse ihrer Teilperspektiven vor. Abschließend wird noch einmal das Gesamtbild
betrachtet. Sch äußern sich zu einer Frage ihrer Wahl:
▪ Was hast du verstanden?
▪ Worüber denkst du noch nach?
▪ Was fasziniert dich?
▪ Was bleibt dir unverständlich?
▪ Was würdest du den Maler fragen oder ihm sagen?
▪ Wo sollte man das Bild aufhängen?
▪ Wo findest du dich im Bild?
Zuerst übten sie das Fliegen mit diesen ungewohnten Flügeln. Als Ikarus etwas zu übermütig wurde,
weil er schon gut flattern konnte, sagte ihm der Vater: „Wenn wir dann tatsächlich übers Meer fliegen,
darfst du nicht zu tief fliegen, damit deine Flügel
nicht vom Meerwasser nass und schwer werden.
Du darfst aber auch nicht zu hoch fliegen, weil
sonst die Sonne das Wachs zum Schmelzen bringt.
Folge meiner Flugbahn!“
Schließlich starteten sie, und als sie eine Weile
geflogen waren, gefiel Ikarus das Fliegen so sehr,
dass er zu hoch hinauf flog.
Als sich der Vater umdrehte, sah er seinen Sohn
nicht mehr. Das Wachs schmolz, die Flügel lösten
sich auf, er stürzte ab.
Ikarus-Motiv:
Sch setzen sich kreativ mit dem Ikarus-Mythos auseinander:
Entwickelt einen Dialog: Dädalus und Ikarus überlegen, ob es
besser ist auf der Insel zu bleiben oder etwas zu wagen, was
noch kein Mensch gewagt hat.
Ikarus schreit (zu Dädalus). Schreibe in eine Sprechblase, was
Ikarus bewegt, nicht auf seinen Vater zu hören.
Der Vater suchte ihn überall, fand aber nur mehr
Federn, die auf der Meeresoberfläche trieben.
Schließlich fand er den Leichnam am Ufer einer
Insel angespült.
Daedalus begrub seinen Sohn dort. Seitdem heißt
diese Insel Ikaria, das Meer aber, in das Ikarus
stürzte, trägt den Namen „Ikarisches Meer“.
Sch denken nach
wie Grenzen Menschen herausfordern zu neuen Entwicklungen und suchen Beispiele;
über das Verhalten von Ikarus: Welcher Faszination ist er
erlegen? Was wurde ihm zum Verhängnis? Was erscheint an
seinem Verhalten verständlich, was nicht?
was Dädalus und Ikarus unterscheidet. Mit wem kannst du
dich eher identifizieren, warum? Warum wird Ikarus und
nicht Dädalus zur Symbolfigur?
Lesen Sie bitte weiter auf Seite 6!
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Sch vergleichen den Mythos mit der bildlichen Umsetzung
von Bernhard Heisig. Welchen Moment der Geschichte stellt
er dar? Was überrascht dabei?
Kreatives Schreiben/Gestalten:
▪ ein Ikarus-Gedicht oder einen Brief an Ikarus schreiben
▪ auf Flügel schreiben: welcher Traum lässt mich abheben,
welche Vision trägt mich im Leben?
▪ eigenes Ikarus-Bild malen
Turmbau zu Babel:
Bildvergleich: Sch vergleichen das Bildmotiv mit dem Werk
„Turmbau zu Babel“ von Pieter Bruegel d. Ä.; evtl. können
auch Detailausschnitte daraus und ggf. zeitgeschichtliche
Informationen erkenntlich machen, unter welchen unmenschlichen und machtpolitischen Bedingungen solche
gigantischen Bauwerke gebaut werden.
Erfahrungsübung: Sch erhalten in Gruppen Bausteine
mit dem Auftrag, einen möglichst hohen Turm zu bauen.
Anschließend werden die Erfahrungen reflektiert, z. B. Konkurrenzdenken, Kommunikation, Grenzen des Machbaren,
Vision, Risikobereitschaft usw. Abschließend wird bedacht,
welche Haltungen, Einstellungen, Verhaltensweisen zum
Erfolg für das Team führen.
Textarbeit zu Gen 11,1-9 „Der Turm von Babel“
▪W
arum bauen die Menschen den Turm? (Achtung: Nicht
von vornherein negative Sicht einnehmen! Bedürfnis
nach Weiterentwicklung, Orientierung, Identität ...
Macht?)
▪ I n der Erzählung scheint Gott mit dem Turmbau nicht
einverstanden zu sein. Sch formulieren mögliche Gründe
und Bedenken Gottes in Sprechblasen an die Menschen.
Als Zusammenfassung können Satzanfänge ergänzt werden: Gott hat nichts gegen den Turm, aber ...
Gott hat nichts gegen Technik, aber ... usw.
▪N
achdenken, wie das Thema Grenzen beachten oder
überwinden im biblischen Text oder im Bildelement eine
Rolle spielen.
Kreatives Schreiben/Gestalten: Eigene Turmbau-Geschichten schreiben, in denen der Satz wichtig wird: „Wir wollen uns
einen Turm bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht.“
Literaturhinweise:
Stolzenberg, Theodor, Bernhard Heisig: Der Tod des Ikarus. Gedanken und
Anregungen zur kreativen Auseinandersetzung, in: RU-Kurier 25/04.
Rendle, Ludwig / Sauter, Ludwig: Spirit! Folien und Materialien­zur Firmvorbereitung, München 2011.
Sekretariat des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Bernhard
Heisig. Das große Welttheater (Info-Flyer).
http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/kunst/kuenstler/heisig/
index.html
Bernhard Heisig (1925-2011)
Bernhard Heisig, geboren 1925 in Breslau, war in
der ehemaligen DDR einer der bedeutendsten
Vertreter der sog. Leipziger Schule und nach der
Wende auch im Westen ein angesehener Künstler
der Gegenwart. Er starb am 10. Juni 2011 im Alter
von 86 Jahren in Strodehne, Brandenburg.
Den Zweiten Weltkrieg erlebte Heisig als Kriegsfreiwilliger in der SS-Panzerdivision. Er wurde
sowjetischer Kriegsgefangener und kehrte 1945 in
seine Heimat zurück. In seinen Bildern greift er
Erfahrungen des Krieges, das Abstumpfende, Gewalttätige und Zerstörerische des Krieges, immer
wieder auf. Nach der Kriegsgefangenschaft setzte
er 1947 sein Studium an der Leipziger Akademie
für grafische Künste und Buchgewerbe fort. Heisig
war Mitglied der SED, doch lehnte er den engen
Kunstbegriff des sog. Sozialistischen Realismus,
der sich ausschließlich an den realistischen Vorbildern des 19. Jhs. orientierte, ab und entwickelte
einen zeitgemäßen Realismus. Ab 1956 war er
Dozent an der Leipziger Hochschule,
Ab 1961 lehrte er dort als Professor und wurde
Rektor dieser Hochschule. Doch seine Kritik an der
offiziellen Kunstdoktrin der DDR führte zu seiner
Absetzung. 1976 malte er für den Palast der Republik das Gemälde „Ikarus“. Nach dem Fall der Mauer
stand er wegen seiner Mitgliedschaft in der SED
in der Kritik, trotzdem wurde er vom Kulturbeirat
des Bundestags zur Mitwirkung an der Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes in Berlin berufen.
Sein Gemälde „Zeit und Leben“ hängt dort in der
Cafeteria.
aus: Rendle/Sauter: Spirit! Folien und Materialien
zur Firmvorbereitung, München 2011, S.32 (leicht
verändert)
Ludwig Sauter, Schulrat i. K., ist Leiter des Fachbereichs Grund-, Mittel- und Förderschulen / Religionspädagogisches Seminar und stellvertretender Leiter der Abteilung Schule und Religionsunterricht;
zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Religonspädagogik.
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