Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist
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Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist
Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist (vgl. auch Übersicht im Anhang) Kantonale Opferhilfestelle Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich Postfach, 8090 Zürich www.opferhilfe.zh.ch Mai 2010 1 Geltung der Verwirkungsfrist Die Verwirkungsfrist gilt für opferrechtliche Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche gemäss Art. 19 ff. OHG (Opferhilfegesetz vom 27. März 2007) bzw. Art. 11 ff. aOHG (Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991). Zu den Entschädigungspositionen gehören im Wesentlichen Erwerbsausfall, Bestattungskosten, Haushaltschaden und Versorgungsschaden. Nicht an eine bestimmte Frist gebunden ist die Geltendmachung von Kostenbeiträgen für längerfristige Hilfe von Dritten (vgl. Art. 16 OHG). Dabei geht es um Hilfeleistungen wie z.B. therapeutische oder anwaltliche Hilfe, die in der Regel von Opferberatungsstellen vermittelt werden. Die (kostenlose) Hilfe der Opferberatungsstellen kann jederzeit in Anspruch genommen werden. Auch hier gilt keine Frist. 2 Verwirkungsfrist für Straftaten ab 1. Januar 2007 Ordentliche Verwirkungsfrist von 5 Jahren Bei ab dem 1. Januar 2007 verübten Straftaten müssen Gesuche um Entschädigung und Genugtuung innert 5 Jahren seit der Straftat bzw. seit Kenntnis der Straftat bei der zuständigen Behörde eingereicht werden (Art. 25 Abs. 1 OHG i.V.m. Art. 48 lit. a OHG). Im Kanton Zürich ist dies die Kantonale Opferhilfestelle der Direktion der Justiz und des Innern. Massgeblich für den Beginn der Verwirkungsfrist ist der Zeitpunkt der Verübung der Straftat bzw. der Zeitpunkt der Kenntnis der Straftat. Der Zeitpunkt der Kenntnis der Straftat ist dann von Bedeutung, wenn für das Opfer im Zeitpunkt der Verübung der Straftat nicht erkennbar war, dass es Opfer einer Straftat wurde. Es geht in diesem Fall vorab um folgende Konstellation: Bei der opferrechtlich relevanten Straftat handelt es sich um ein so genanntes Erfolgsdelikt, bei dem das tatbestandsmässige Verhalten und der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs zeitlich auseinanderfallen. Für das Opfer ist erst mit dem Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs erkennbar, dass es Opfer einer Straftat wurde. Beispiele: Fahrlässige oder vorsätzliche Übertragung des HI-Virus, Ausbruch der Krankheit erst Jahre später (vgl. BGE 126 II 348 ff.); Asbestexposition in den 1960er Jahren, Ausbruch der Krankheit erst rund 45 Jahre später (vgl. BGer 1C_73/2008 vom 1. Oktober 2008). Vom Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs zu unterscheiden sind die Spätfolgen eines Delikts. Diese haben auf den Beginn der Verwirkungsfrist keinen Einfluss (vgl. dazu auch Botschaft 2005, S. 7229). Beispiel: Eine 27-jährige Frau, die als Teenager mehrfach Opfer sexueller Übergriffe durch einen Nachbarn wurde, leidet plötzlich wieder akut unter den Folgen der Übergriffe. Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist | Seite 1 Sonderregelungen Die Sonderregelungen gelten ausnahmslos zu Gunsten des Opfers. Sie sind deshalb nur in den Fällen von Bedeutung, in denen die ordentliche 5-jährige Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG abgelaufen ist. Sonderregelungen Bundesrecht Bei Kindern als Opfer von schweren Straftaten Das Opfer kann bei folgenden Straftatbeständen ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung bis zum vollendeten 25. Lebensjahr stellen, sofern es im Zeitpunkt der Straftat unter 16 Jahre alt war (Art. 25 Abs. 2 OHG i.V.m. Art 97 Abs. 2 StGB): – Sexuelle Handlung mit Kindern (Art. 187 StGB) – Schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB) – Menschenhandel (Art. 182 StGB) – Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) – Vergewaltigung (Art. 190 StGB) – Schändung (Art. 191 StGB) – Versuchte Tötung, versuchter Totschlag und versuchter Mord (Art. 111, 113, 112, je i.V.m. Art. 22 StGB) Das gleiche Recht haben unmündige Personen über 16 Jahre, wenn der Straftatbestand der sexuellen Handlungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB) vorliegt. Bei Geltendmachung der Zivilansprüche im Strafverfahren Machen das Opfer bzw. seine Angehörigen im Strafverfahren Zivilansprüche geltend, so können Gesuche um Entschädigung und Genugtuung auch noch innert einem Jahr ab endgültigem Entscheid über die Zivilansprüche oder über die Einstellung des Verfahrens eingereicht werden (Art. 25 Abs. 3 OHG). Vorausgesetzt wird, dass die Zivilansprüche im Strafverfahren vor Ablauf der opferrechtlichen Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 1 oder Abs. 2 OHG geltend gemacht wurden. Endgültig ist ein Entscheid, wenn dagegen keine ordentlichen oder ausserordentlichen Rechtsmittel mehr erhoben werden können. Sonderregelungen kantonales Recht Für Opfer, die sowohl im Zeitpunkt der Straftat als auch im Zeitpunkt der Gesuchstellung Wohnsitz im Kanton Zürich haben, gelten folgende Sonderregelungen (§ 13 EG OHG): Bei Opfern von häuslicher Gewalt Opfer, die zur Zeit der Straftat(-en) mit dem Täter oder der Täterin in Hausgemeinschaft leben, können Gesuche um Entschädigung und Genugtuung noch innert zwei Jahren seit Verlassen der Hausgemeinschaft einreichen. Bei minderjährigen Opfern Opfer, die zum Zeitpunkt der Straftat minderjährig waren, können bis zum vollendeten 20. Lebensjahr ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung einreichen. Die kantonale Regelung zu Gunsten von minderjährigen Opfern ist angesichts der ordentlichen 5-jährigen Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG und der Sonderregelung gemäss Art. 25 Abs. 2 OHG nur noch von beschränkter Bedeutung. Beispiel: 13-jähriger wird Opfer einer einfachen Körperverletzung: Die ordentliche Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG beträgt 5 Jahre. Bei Ablauf der ordentlichen Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG wird das Opfer also 18 Jahre alt sein. Die Sonderregelung von Art. 25 Abs. 2 OHG kommt nicht zur Anwendung, weil der Straftatbestand der einfachen Körperverletzung nicht unter diese Regelung fällt. Gemäss der kantonalen Sonderregelung von § 13 lit. a EG OHG kann das Opfer noch bis zum Eintritt des 20. Lebensjahrs Ansprüche geltend machen. Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist | Seite 2 3 Verwirkungsfrist für Straftaten bis 31. Dezember 2006 Wurde die Straftat vor dem 1. Januar 2007 verübt, so gilt eine Verwirkungsfrist von 2 Jahren (vgl. Art. 16 Abs. 3 aOHG i.V.m. Art. 48 lit. a OHG). Massgebend für den Beginn der Verwirkungsfrist ist der Zeitpunkt der Verübung der Straftat. Ist für das Opfer mangels Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs nicht erkennbar, dass es Opfer einer Straftat wurde, so beginnt die 2-jährige Verwirkungsfrist mit Kenntnis der Straftat zu laufen (vgl. vorn Ziff. 2). Zu Gunsten des Opfers gelten sodann die kantonalen Sonderregelungen gemäss § 13 EG OHG (vgl. vorn Ziff. 2). Sie sind in Fällen von Bedeutung, in denen die ordentliche Verwirkungsfrist von 2 Jahren abgelaufen ist. 4 Folgen bei Ablauf der Verwirkungsfrist Erfolgt die Gesuchseinreichung erst nach Ablauf der Verwirkungsfrist, so sind die opferrechtlichen Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche verwirkt. Entsprechend muss das Gesuch abgewiesen werden. Die Verwirkungsfrist kann grundsätzlich weder still stehen noch unterbrochen werden. Die Polizei ist verpflichtet, Opfer über die Verwirkungsfrist zu orientieren (zu den Folgen bei unterlassener Information vgl. BGE 129 II 409 ff.). Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist | Seite 3 Anhang zum Merkblatt: Übersicht Verwirkungsfrist ordentliche Verwirkungsfrist Straftaten ab 1.1.2007: Verwirkungsfrist 5 Jahre Ablauf der ordentlichen Verwirkungsfrist Straftaten bis 31.12.2006: Verwirkungsfrist 2 Jahre Sonderregelungen Ablauf der ordentlichen Verwirkungsfrist Merkblatt zur opferrechtlichen Verwirkungsfrist | Seite 4 Bundesrechtliche Sonderregelungen Kantonale Sonderregelungen Kinder unter 16 Jahre als Opfer von schweren Straftaten Geltendmachung der Zivilansprüche im Strafverfahren Minderjährige Opfer Opfer von häuslicher Gewalt Frist bis zum vollendeten 25. Lebensjahr Gesuchseinreichung noch möglich innert 1 Jahr ab Strafentscheid Frist bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Gesuchseinreichung noch möglich innert 2 Jahren seit Verlassen der Hausgemeinschaft