5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)

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5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)
5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin
(16./17. Jh.)
250
5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)
um 1510
1517
Peter Henlein fertigt in Nürnberg erste Taschenuhren
Luthers Thesenanschlag, Beginn der Reformation in
Deutschland
1518 – 1550 Rechenbücher von Adam Ries
1519 – 1522 Erste Weltumsegelung
1543
De revolutionibus“ von Copernicus wird gedruckt
”
1543
Paracelsus
begründet die moderne Medizin
1547
Iwan IV. (der Schreckliche) nimmt den Titel Zar“ an
”
1548 – 1603 Elisabeth I. regiert England
1560
In Neapel wird die erste europäische Akademie gegründet
1564 – 1616 William Shakespeare
1582
Gregorianischer Kalender löst den Julianischen (zunächst in
katholischen Ländern) ab
1587
Erster Versuch einer britischen Koloniebildung in Amerika
(Virginia)
1588
Untergang der spanischen Armada
1609
Johannes Kepler veröffentlicht die beiden ersten Gesetze der
Planetenbewegung
1610
Galileo Galilei veröffentlicht sensationelle astronomische
Entdeckungen mit dem Fernrohr
1614
Erste Logarithmentafel (Lord Merchiston Neper)
1618 – 1648 Dreißigjähriger Krieg
1633
Galilei muß sein Bekenntnis zum copernicanischen Weltsystem widerrufen
1643 – 1715 Regierung Ludwig XIV. ( Sonnenkönig“) in Frankreich
” erhalten gebliebene mechanische
1644
Blaise Pascal baut die erste
Rechenmaschine (und erhält 1649 ein königliches Privileg für
die Herstellung)
1646
Athanasius Kircher beschreibt als erster die Laterna Magi”
ca“
1662
(offizielle) Gründung der Royal Society in London
1666
Gründung der Pariser Akademie
1666
Nach einer Pestepidemie und dem folgenden Großbrand von
London Beginn des Wiederaufbaus unter Leitung von Christopher Wren
1666 – 84 Bau des Canal du Midi in Frankreich
1672
Gottfried Wilhelm Leibniz erfindet die Staffelwalze als Element mechanischer Rechengeräte
1687
Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica“
” Walter v. Tschirnhaus und Johann Friedrich
1709
Ehrenfried
Böttger erfinden in Sachsen das europäische weiße Hartporzellan
1725
Eröffnung der Petersburger Akademie
1733 – 43 Große russische Nordexpedition unter Vitus Bering
1735 – 37 Gradmessungsexpeditionen der Pariser Akademie nach
Südamerika und Lappland beweisen Abplattung der Erde
1740 – 86 Regierung Friedrich II. (der Große“) in Preußen
”
1741
Neugründung der Berliner Akademie,
Berufung Leonhard
Eulers nach Berlin
1756 – 1763 Siebenjähriger Krieg
1762 – 96 Regierung Katharina II. in Rußland
1768 – 79 Entdeckungsreisen von James Cook
5.0 Vorbemerkungen
251
5.0 Vorbemerkungen
Lineare und quadratische Gleichungen waren in der hellenistischen Antike
und in der muslimischen Welt sicher beherrscht worden, freilich auf geometrischem Hintergrund. Beispielsweise klassifizierte und behandelte al-H wārizmı̄
˘
sechs Typen von Gleichungen, darunter auch echt quadratische Gleichungen.
2
An Beispielen zwar – etwa der Gleichung x +21 = 10x –, aber in allgemeiner
Sprachführung, wird der rechnerische Lösungsweg angegeben. Der Beweis für
das Lösungsverfahren erfolgt geometrisch (s.S. 166–169 und [Juschkewitsch
1964, S. 206f.]). Weitere herausragende Beiträge zur Algebra stammen u. a.
von Abū l-Wafā’, Abū Kāmil und al-Karağı̄ (s.S. 169–175).
Bei anderen Autoren werden Lösungen von Gleichungen mittels Kegelschnitten gesucht. Ein gewisser Abū l-Ğūd soll (um 1000) Allgemeines über kubische Gleichungen geschrieben haben [Hofmann 1963, Bd. I, S. 67]. Ein
Lösungsverfahren für kubische Gleichungen mittels Kegelschnitten stammt
von cUmar al-Hayyām (1050–1122), doch hielt er eine rechnerische Auflösung
für unmöglich˘(vgl. S. 175–184).
Der Inhalt von al-Hwārizmı̄s Abhandlung al-Kitāb al-muhtas.ar fı̄ h.isāb al”
˘ (Ein kurzgefaßtes Buch
˘
ğabr wa-l-muqābala“
über die Rechenverfahren
durch
Ergänzen und Ausgleichen) [Juschkewitsch 1964, S. 204] ist in mehreren
Versionen im Mittelalter nach Europa tradiert worden. Es handelt sich im
Hauptteil – worauf es uns hier ankommt – um eine Art Lehrbuch über das
Auflösen von linearen und quadratischen Gleichungen, nicht in allgemeiner
Form, sondern mit Zahlkoeffizienten. Durch al-ğabr“ (Auffüllen, Ergänzen,
”
lat. restauratio; zur Vermeidung von negativen Termen) und wa-l-muqābala“
”
(Gegenüberstellung, Ausgleichen, lat. oppositio) entstehen sechs Gleichungstypen; sie werden – ohne Symbole – verbal formuliert.
Dieses Werk und die Methoden von al-Hwārizmı̄ zur Lösung von linearen und
˘
quadratischen Gleichungen haben im europäischen
Mittelalter, während der
Renaissance und noch weit bis ins 17. Jahrhundert inhaltlich und methodologisch als Vorbild gedient.
Auf einen anderen Zusammenhang zwischen der Auflösung von quadratischen
Gleichungen und der Theorie der Irrationalitäten sei wenigstens hingewiesen
[Stillwell 1989, S. 59]. Die Wurzeln quadratischer
Gleichungen mit rationalen
√
Koeffizienten sind von der Form a + b, wo a und b rational sind. In Euklid,
Buch X, wird in geometrischer Form ausführlich die Theorie der Irrationa√
√
a ± b behandelt, wo a und b rational sind.
litäten vom Typ
Wie es scheint [Stillwell 1989, S. 53], ist bis zur Renaissance kein Fortschritt
in der Lehre von den Irrationalitäten erzielt worden, mit Ausnahme einer Bemerkung von Leonardo Fibonacci, wonach die Wurzeln der kubischen Gleichung x3 + 2x2 + 10x = 20 nicht vom Typ der Euklidischen Irrationalitäten
sein können (damit ist allerdings noch nicht entschieden, ob diese Gleichungswurzeln nicht doch mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind).
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5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)
Abb. 5.0.1. In der Bodleian Library der Universität Oxford kann man orientalische
und hebräische Manuskripte ab dem 7. Jh. bewundern
[Foto Alten]
5.1 Gleichungen dritten und vierten Grades
253
Sowohl in der griechisch hellenistischen Antike wie auch im Mittelalter in den
Ländern des Islam traten Gleichungen zumeist im Zusammenhang mit geometrischen Problemen auf, und ihre Lösungen wurden in der Regel auch mit
geometrischen Methoden gefunden bzw. bewiesen. Daneben wurden die Lehre
von den Proportionen und elementare arithmetische Operationen zur Lösung
herangezogen. Auch das europäische Mittelalter brachte auf diesem Gebiet
keine wesentlichen Fortschritte. So ist es kein Wunder, daß unter den Sieben
Freien Künsten des Mittelalters Geometrie und Arithmetik (neben Musik
und Astronomie) als mathematische Disziplinen des Quadriviums auftraten,
aber die Etablierung der Algebra (und anderer Teilgebiete) als selbständige
Disziplinen der Mathematik erst in der Neuzeit erfolgte.
Diese Entwicklung begann in der Spätzeit der Renaissance mit den Untersuchungen und Schriften über die Lösung der Gleichungen dritten und vierten
Grades durch Scipione del Ferro, Niccolò Tartaglia und Girolamo Cardano
und wird deshalb hier als eigenes Kapitel behandelt. Sie spiegelt sich auch
wieder in den Schriften und Buchtiteln dieser Wissenschaftler. Das im Titel
des berühmten Buches von al-Hwārizmı̄ enthaltene Wort al-ǧabr kennzeichnet
˘
fortan als Algebra eine eigenständige
mathematische Disziplin: die Theorie
der Gleichungen und Gleichungssysteme und ihrer Lösungen.
5.1 Gleichungen dritten und vierten Grades
5.1.1 Lösungen für Gleichungen dritten Grades
Die Entdeckung der Lösungsformeln für die kubischen und die biquadratischen Gleichungen stellt einen der ersten und bedeutendsten Schritte über die
Errungenschaften der antiken und muslimischen Mathematik hinaus dar. Zugleich spiegeln sich in der komplizierten Geschichte der handelnden Personen
und der Tradierung des Wissens die Wechselbeziehungen zwischen offizieller
Universitätswissenschaft und der artefici-Wissenschaft deutlich wieder.
Der Mathematikprofessor Scipione del Ferro (1465?-1525) in Bologna dürfte [Øystein Ore, Stillwell] um 1515 die algebraische Lösung der Gleichung
dritten Grades vom Typ x3 + ax = b gefunden haben. Er gab sie weiter
an seinen Schwiegersohn und Nachfolger Annibale della Nave. Del Ferros
anderer Schüler Antonio Maria Fiore ging als Lehrer der Mathematik nach
Venedig. Um sich bekannt zu machen forderte er 1535 den dort wirkenden
Rechenmeister Niccolò Tartaglia (1506?-1559) zu einem öffentlichen Wettbewerb heraus. Der Text, der dreißig Aufgaben enthält, ist bekannt. Am Beginn
der Herausforderung heißt es:
Dies sind die dreißig Probleme, die ich, Antonio Maria Fior, Dir, Meister
”
Niccolò Tartaglia gestellt habe.
1 Finde mir eine Zahl derart, daß, wenn ihr Kubus addiert wird, das Resultat
sechs ist, d. h. 6. (Führt auf die Gleichung x3 + x = 6.)
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Abb. 5.1.2. Die Bronzepferde auf der Basilika von San Marco in Venedig sind sehr
alt. Kaiser Theodosius hatte sie Ende des 4. Jhs. von Chios zum Schmuck des Hippodroms nach Konstantinopel bringen lassen. Bei der Plünderung Konstantinopels
durch die Kreuzritter im Jahre 1204 wurden sie von Venezianern geraubt.
[Foto Alten]
5.1 Gleichungen dritten und vierten Grades
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2 Finde mir zwei Zahlen in doppelter Proportion derart, wenn das Quadrat
der größeren Zahl multipliziert wird mit der kleineren, und wenn dieses Produkt zu den zwei ursprünglichen Zahlen addiert wird, das Ergebnis vierzig
sein wird, d. h. 40. (Führt auf die Gleichung 4x3 + 3x = 40.)
(...)
15 Ein Mann verkauft einen Saphir für 500 Dukaten und macht einen
Gewinn in der dritten Potenz seines Kapitals. Wie groß ist dieser Profit?
(Führt auf die Gleichung x3 + x = 500.)
(...) “ [Fauvel/Gray 1987, S. 254 (englisch), dt. Übersetzung Wg.]
Tartaglia hat uns berichtet, daß er erst in der allerletzten Minute, in der
Nacht vom 12. auf den 13. Februar, vor dem Wettbewerb die Lösung fand
und so den Wettbewerb gewann.
5.1.2 Niccolò Tartaglia
Einige Worte zu Tartaglia, der eigentlich Fontana geheißen haben dürfte.
(Von ihm stammt auch eine Autobiographie: N. Tartaglia: Quesiti et Inventione Diverse. Venedig 1546). Er wurde 1499 oder 1500 in Brescia geboren
und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er starb 1557 in Venedig. Der
Name Tartaglia“ bedeutet Stotterer“. Während der Plünderung 1512 von
”
”
Brescia durch die Franzosen wurde der Junge am Kopf schwer verletzt und
behielt die Behinderung des Stotterns. Mit 14 Jahren sollte er bei einem Lehrer mit dem Alphabet bekannt gemacht werden, doch reichte das Schulgeld
nur bis zum Buchstaben K. Mit einem gestohlenen Lehrbuch hat er sich dann
selbst Lesen und Schreiben beigebracht.
Immer noch mit geringem Einkommen ging er nach Venedig, hielt in einer
Kirche öffentliche Vorlesungen zur Mathematik und publizierte wissenschaftliche Werke, u. a. Euklid in italienischer Sprache (1543) und Über schwim”
mende Körper“ von Archimedes (1543). Durch Probeschießen fand Tartaglia,
daß bei einem Erhebungswinkel des Geschützrohres von 45˚ das Geschoß am
weitesten fliegt.
Die Nachricht vom Erfolg Tartaglias im Wettbewerb mit Fiore sprach sich
herum und erreichte auch den berühmten Arzt Professor Girolamo Cardano, der, obwohl seinerseits ein ausgezeichneter Mathematiker, die Auflösung
der kubischen Gleichung nicht hatte finden können. Man traf sich nach einigem Hin und Her 1539 in Mailand. Nach dringlichen Bitten erhielt Cardano
von Tartaglia Lösungsformeln für spezielle Fälle kubischer Gleichungen, nicht
aber den Beweis. Cardano versprach – höchstwahrscheinlich – mit heiligen
Eiden, das Verfahren niemals anderen zu überlassen.
Aber Cardano hielt sich nicht an die Absprache und veröffentlichte die
Lösungsmethode 1545 in seinem Buch Ars magna sive de regulis algebrai”
cis“ (Die große Kunst oder über die Regeln der Algebra), möglicherweise,
weil ihm bekannt wurde, daß auch del Ferro die Lösung besessen hatte und
Tartaglia als Plagiator empfunden wurde.
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5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)
Niccolò Tartaglia
Girolamo Cardano
In der Ars magna“, in Kapitel I, äußerst sich Cardano aus seiner Sicht über
”
die Urheberschaft der Lösungsformeln:
In unseren Tagen hat Scipione del Ferro aus Bologna den Fall gelöst, daß
”
der Kubus und die erste Potenz (der Unbekannten, A.) gleich einer Konstanten sind – eine sehr elegante und bewundernswerte Leistung.... Um nicht
übertroffen zu werden, löste mein Freund Niccolò Tartaglia im Wetteifer mit
ihm denselben Fall, als er sich im Wettkampf mit seinem [Scipionis] Schüler
Antonio Maria Fior befand, und gab es (die Lösung, A.) mir auf viele Bitten
hin. Denn ich war durch die Worte Luca Pacciolis getäuscht worden, der
bestritt, daß irgendeine allgemeinere Regel als seine eigene entdeckt werden
könne. Ungeachtet der vielen Dinge, die ich schon entdeckt hatte, wie wohl bekannt ist, hatte ich aufgegeben und mich nicht bemüht, noch weiter zu suchen.
Dann jedoch, als ich Tartaglias Lösung erhalten hatte und nach ihrem Beweis suchte, erkannte ich, daß es noch sehr viele andere Dinge gab, die man
finden könnte. Als ich diesen Gedanken mit wachsender Zuversicht verfolgte,
entdeckte ich diese anderen Dinge, zum Teil selbst, zum Teil durch Lodovico Ferrari, meinen früheren Schüler .... Die Beweise, außer den dreien von
Mohammed (Ben Musa = Al-Hwārizmı̄, A.) und den beiden von Lodovico,
˘ magna, fol. 3, dt. Übers. Alten].
sind alle von mir“ [Cardano, Ars
Tartaglia reagierte wütend auf den von Cardano begangenen Vertrauensbruch. Der Streit erfaßte ganz Italien, zumal er auch soziologische Hintergründe besaß – Universitätswissenschaft contra artefici-Wissenschaft.
Tartaglia hat 1539 über sein Treffen mit Cardano berichtet, in Form der
Wiedergabe des zwischen ihnen geführten Gespräches. Hier seien wiedergeben
jene Passagen, die auf das Versprechen von Cardano anspielen, die Lösung
nicht weiterzugeben.
5.1 Gleichungen dritten und vierten Grades
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Cardano: Ich schwöre Euch bei Gottes heiligem Evangelium und als wahrer
”
Ehrenmann, nicht nur Eure Entdeckungen niemals zu veröffentlichen, wenn
Ihr sie mir zur Kenntnis gebt, sondern ich verspreche Euch auch und verpfände meinen Glauben als ein echter Christ, sie verschlüsselt zu notieren,
so daß niemand nach meinem Tode in der Lage sein wird, sie zu verstehen.
Wenn Ihr mir nun glauben wollt, dann glaubt mir, sonst laßt es sein.“
Schließlich übergibt Tartaglia den rechnerischen Weg zur Auflösung der Gleichungstypen x3 + ax = b bzw. x3 = ax + b, übrigens in Gedichtform (hier
nur der erste Teil mit Erläuterungen nach [Gericke 1992, S. 227]; vgl. dazu
die Beschreibung von Cardano auf S. 258)
x3 + ax = b
u−v =b
uv =
x=
a 3
√
3
3
u−
√
3
v
Der springende Punkt ist der, daß zwei Hilfsgrößen u und v eingeführt werden
3
3
mit u − v = b und uv = a3 bzw. u + v = b und uv = a3 .
Bei der Verabschiedung erinnert Tartaglia Cardano nochmals an dessen Versprechen.
Tartaglia: Nun, erinnert Euch Exzellenz, und vergeßt nicht Euer glaubwürdi”
ges Versprechen, denn wenn es durch unglücklichen Zufall gebrochen wird,
d. h. wenn Ihr diese Lösungen publiziert, sei es in diesem Buch, das Ihr zur
Zeit drucken lassen wollt, oder auch wenn Ihr sie in einem anderen, von diesem verschiedenen Buch veröffentlicht, ohne daß Ihr meinen Namen angebt
und mich als den wirklichen Entdecker anerkennt, so verspreche ich Euch
und schwöre, daß ich unverzüglich ein anderes Buch veröffentlichen werde,
das nicht sehr angenehm für Euch sein wird“.
Cardano: Zweifelt nicht, daß ich mein Versprechen halten werde...“
”
Tartaglia: Nun bitte, vergeßt es nicht.“
”
[Tartaglia, Quesiti et Inventioni Diverse 1546, S. 120-122; dt. Übers. Alten]
5.1.3 Girolamo Cardano
Zunächst ein paar Informationen über Cardano [Stillwell 1989, S. 61/62].
Cardano wurde 1501 in Pavia geboren; er starb 1576 in Rom. Sein Vater
war Rechtsanwalt und Arzt. Cardano begann 1520 das Medizinstudium in
Pavia und promovierte 1526 in Padua. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten
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5 Algebra wird zur selbständigen Disziplin (16./17. Jh.)
wegen seiner unehelichen Geburt wurde er ein höchst erfolgreicher Arzt in
Mailand; sein Ruhm breitete sich über ganz Europa aus. Sein prominentester Patient war der Erzbischof von Schottland, der an Asthma litt. Cardano
fand durch Beobachtung heraus, daß die Bettfedern daran Schuld waren; die
Ersetzung durch anderes Bettzeug aus Seide und Leinen führte sofort zur
Besserung [Katz 1993]. Daneben befaßte er sich erfolgreich mit Mathematik,
mit Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit der Dechiffrierung von Geheimtexten.
Persönliche Schicksalsschläge trafen Cardano schwer und oft. Ein Onkel wurde vergiftet; Versuche, Cardano und seinen Vater zu vergiften, scheiterten.
1546 starb seine Frau. Sein ältester Sohn wurde enthauptet wegen Giftmordes an seiner Frau. Cardano ging nach Bologna, aber dort wurde 1565 sein
Schüler Ferrari von dessen Schwester vergiftet.
Cardano publizierte ein Jahr vor seinem Tode ein Art Autobiographie De
”
vita propria Liber“ (Das Buch meines Lebens). Dort geht er aber kaum auf
Tartaglia ein, lediglich mit dem Bemerken, er habe einige wenige Anregun”
gen von ihm erhalten“.
Im gewissen Sinne ist Cardano eine schillernde Figur, aber seine Ars magna“
”
war ein schrittmachendes Werk, das Standardwerk der Algebra bis zu den
Schriften von Vieta und Descartes. Die erste Auflage erschien 1545 bei Johann
Petreius in Nürnberg, übrigens mit einer Widmung von Andreas Osiander,
der zwei Jahre zuvor De revolutionibus“ von Nicolaus Copernicus (1473–
”
1543) ebenfalls in Nürnberg herausgegeben hatte. Weitere Auflagen der Ars
”
magna“ erschienen 1570 und 1663.
Cardano behandelt die Algebra vom Duktus her wie al-Hwārizmı̄: Die Re˘
chenwege werden demonstriert, die Beweise aber werden geometrisch
geführt,
unter starkem Rückgriff auf die Elemente des Euklid . Auf Einzelheiten der
von Cardano verwendeten Terminologie [Struik 1969] soll hier nicht eingegangen werden; nur so viel sei festgehalten: Für Unbekannte“ schreibt er res
”
(lateinisch) bzw. cosa (italienisch). Cubus“ bedeutet einen festen Körper,
”
aber auch die dritte Potenz. So steht Cubus et res aequales numero“ für
”
eine Gleichung vom Typ ax3 + bx = c.
Am Anfang der Ars magna“ (Kapitel 11-23) erörtert Cardano allgemeine
”
Fragen: Diskussion über die Anzahl der Wurzeln, ob diese positiv oder negativ
sind (er spricht von wahr“ und fiktiv“).
”
”
Wir wollen aus der Ars magna“ zwei Beispiele vorführen.
”
Fall1: In Kapitel 11 – Tartaglia hatte die Lösung in Gedichtform mitgeteilt
– behandelt Cardano die Gleichung vom Typ x3 + ax = b. Er beschreibt den
Rechengang mit folgenden Worten: Bilde die dritte Potenz von einem Drittel
”
des Koeffizienten der Unbekannten; addiere dazu das Quadrat der Hälfte des
konstanten Gliedes der Gleichung; und nimm die Wurzel aus dem Ganzen,
d. h. die Quadratwurzel. Bilde sie zweimal. Zur einen addiere die Hälfte der
Zahl, die du schon mit sich multipliziert hast; von der anderen subtrahiere
dieselbe Hälfte. Du hast dann ein Binom (Summe zweier Ausdrücke, A.) und
seine Apotome (deren Differenz, A.). Dann subtrahiere die Kubikwurzel aus

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