Weder Autismus noch Symbiose – Neuere Erkenntnisse der
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Weder Autismus noch Symbiose – Neuere Erkenntnisse der
Weder Autismus noch Symbiose – Neuere Erkenntnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie aus der Sicht der Kleinkindforschung (erschienen in: Konzentrative Bewegungstherapie – Zeitschrift des DAKBT, Nr. 20, Juni 1991) I. KBT und Entwicklungspsychologie II. „Der kompetente Säugling“ III. „Themen“ der Entwicklung nach Louis SANDER Die KBT ist eine Methode (oder besser: Vorgehensweise?), die aus der Praxis erwachsen ist und erst nach der praktischen Anwendung eine theoretische Fundierung erfahren hat. Je nach Therapeuten trifft man auf verschiedene theoretische Wurzeln: WEIZSÄCKERs Gestaltkreistheorie, allgemeine Systemtheorie, analytische Psychologie nach JUNG, FREUDsche Psychoanalyse incl. Nachfolger (v.a. Objektbeziehungs- und Selbstpsychologie: KERNBERG/KOHUT), neoanalytische Konzepte, psychoanalytische Ich-Psychologie („Prinzip Antwort“ nach HEIGL-EVERS), Gestaltpsychologie nach PERLS, TZI nach R. COHN usw. Gemeinsam ist (fast) allen Konzepten ein tiefenpsychologischer bzw. entwicklungsorientierter Ansatz, d.h. ein Mensch wird v.a. in seinen Krankheitssymptomen als „zurückgeblieben“ als „kindlich“ verstanden. Es geht immer wieder um „das Kind in ihr/ihm oder auch „das Kind in uns“. Hierbei stellt sich jedoch immer die Frage nach dem Bild vom Kind, das wir haben, gewissermaßen der „Modellszene“ (LICHTENBERG, 1989), die wir als Leitschiene unseres Verstehens benutzen: z.B. das vier- bis fünfjährige Kind, das eifersüchtig auf Zärtlichkeiten der Eltern reagiert oder das dreißig Monate alte Kind, das gerade dazu überredet wird, das Töpfchen auszuprobieren, oder das ca. 20 Monate alte Kind, das sich aufgeregt von der Mutter entfernt und aus der Distanz einen rückversichernden Blick zur Mutter wirft. D.h., wir beziehen uns in unserer Arbeit auf entwicklungspsychologische Modelle; das letztgenannte Beispiel ist sozusagen die „Modellszene“ der Entwicklungspsychologie nach Margret MAHLER (MAHLER, 1980), die ja in weiten Kreisen der KBT-Leute ausgiebig rezipiert wurde. Dieses Modell hat uns sehr geholfen, gerade die präverbalen Spuren menschlichen Erlebens, mit denen wir in der KBT konfrontiert sind, besser zu verstehen. Die Arbeit von M. MAHLER ist aus dem Forschungsansatz hervorgegangen, Kinder in ihrer Interaktion mit den primären Bezugspersonen (meist Müttern) direkt zu beobachten statt nur retrospektiv aus der Erwachsenenperspektive auf das Kind zu schließen. Dieser Ansatz ist hauptsächlich in den USA, aber auch in der BRD (v.a. das Ehepaar PAPOUSEK) von einigen Forschern weiterentwickelt und ausgebaut worden; von einigen Psychoanalytikern wird versucht, diese Ergebnisse für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse fruchtbar zu machen (KÖHLER, STORK, s.a. BERTL-SCHÜßLER, 1989). Ich möchte in dieser Arbeit diese Erkenntnisse zumindest ansatzweise der KBT-Öffentlichkeit darstellen, da ich sie für unsere Arbeit als sehr fruchtbringend ansehe. II. „Der kompetente Säugling“ Unter diesem Begriff wird verstanden, dass das menschliche Neugeborene nicht mehr als isoliertes passives Reflexbündel angesehen werden kann, sondern von Anfang an zu einem aktiven Dialog mit seiner Umwelt imstande ist; ebenso ermöglicht ihm eine angeborene „Grundausstattung“ auch einen gewissen Grad von Unabhängigkeit. Eine Übersicht und weiterführende Literatur findet sich bei PAPOUSEK u. PAPOUSEK, 1989 sowie BERTLSCHÜßLER, 1989. Ich möchte hier die Grundzüge referieren: Zur „Grundausstattung“ gehören z.B. alle Sinnesmodalitäten (sehen, hören, riechen, schmecken, Tast- und Bewegungssinn); sie sind von Geburt an, ja teilweise schon während des intrauterinen Lebens vorhanden. Tast- und Bewegungssinn sind (wen wundert’s unter KBT’lerInnen?) schon voll ausgereift, aber auch in anderen Sinnesmodalitäten sind differenzierte Wahrnehmungen möglich: So hat das Neugeborene eine angeborene Vorliebe für das menschliche Gesicht und Stimme; schon im ersten Monat vermag es, das Gesicht, die Leute, den Geruch, wahrscheinlich auch die Berührung der Mutter, bald auch des Vaters von denen anderer Personen zu unterscheiden. Sehr interessant ist hier die Fähigkeit zur „transmodalen“ Integration von Wahrnehmungen; das ist die Fähigkeit, aus einer Sinnesmodalität in die andere zu „übersetzen“ und als Gemeinsames wahrzunehmen. Z.B. erkennt schon das Neugeborene das Gemeinsame eines gleichmäßigen Lichtes und eines gleichmäßigen ruhigen Tones etc. So entstehen integrative Repräsentanzen früher Erfahrungen. Ebenso beachtlich ist, dass die mimische Muskulatur voll entwickelt ist und ein Säugling über ein angeborenes Repertoire von acht verschiedenen Affekten verfügt (TOMKINS, 1962): Interesse, Freude, ‚Erstaunen, Kummer, Zorn, Traurigkeit, Scham, Ekel). Ebenso ist er in der Lage, nach zehn Tagen schon Affektäußerungen zu imitieren (MELTZHOFF u. MOORE, 1977); die Bandbreite an affektiver Kommunikation ist also von Beginn an erstaunlich groß. Immer wieder hervorgehoben wird auch das Interesse, die Neugier, das Bedürfnis, sich die unbekannte Umwelt vertraut zu machen, als grundlegendes Motiv eines Neugeborenen: Während Säuglinge bei passivem Beobachten schnell ermüden, hält ihr Interesse bei aktivem Spiel (mit der Möglichkeit, selbst etwas zu verändern) erheblich länger an. Hierbei ist der Säugling zum weiteren Ausbau dieser Fähigkeiten darauf angewiesen, dass der erwachsene Partner dieses Interesse versteht, darauf eingeht und die (knappen) Zeiten optimaler Aufnahmefähigkeit erkennt und unterstützt. Insbesondere PAPOUSEK u. PAPOUSEK (1984, 1987, 1989) weisen darauf hin, dass die menschlichen Eltern diesen Voraussetzungen durch intuitive Verhaltensweisen genügen können: Sie sind in der Lage, z.B. über den Muskeltonus die Befindlichkeit des Kindes zu erkennen, sie gleichen Sprachmelodie und –rhythmus der Aufnahmefähigkeit des Neugeborenen an („Ammensprache“), finden intuitiv den optimalen Blickabstand (ca. 20 cm) usw. In seinen Untersuchungen hat das Ehepaar PAPOUSEK festgestellt, dass sich Mütter und Väter in diesen intuitiven Verhaltensweisen (so sie diese nicht abwehren und unterdrücken) nicht unterscheiden, ebenso, dass diese Formen elterlicher Fürsorge durch Kultur und Sprache kaum beeinflusst werden. Soweit ein zusammenfassender Ausblick auf diese interessanten Forschungen. IV. „Themen“ der Entwicklung nach L. SANDER Im weiteren möchte ich ein entwicklungspsychologisches Modell des amerikanischen Kinderpsychiaters Louis SANDER (1962, 1975, 1983, referiert bei L. KÖHLER, 1982, 1984) vorstellen, das die MAHLERsche Theorie erweitert und ergänzt, v.a. in den Bereichen, in denen sie nicht mehr haltbar ist: Erkennbar sind die Konzepte einer „autistischen“ und „symbiotischen“ Phase nach dem oben Beschriebenen (zumindest in ihrer ursprünglichen Bedeutung) nicht mehr zu halten. Auch L. SANDER stützt seine Thesen auf die langjährige Beobachtung von Mutter- bzw. Eltern-Kind-Paaaren und deren Interaktion. SANDER spricht von sieben „Themen“ („issues“), die während der ersten drei Lebensjahre zwischen Mutter bzw. Vater und Kind ausgehandelt werden müssen, damit ein „gezielt handelndes, sich selbst erlebendes und erkennendes Selbst“ (zit. Nach KÖHLER, 1984) entstehen kann. (Im folgenden wird zur Vereinfachung immer von „Mutter“ gesprochen, weil sie wohl in unserem Kulturkreis am häufigsten die primäre Bezugsperson ist. Dass der Vater dieselben Funktionen erfüllen kann, habe ich oben beschrieben.) 1. Thema: „Grundregulation“ (0 – 3 Monate) (Die Zeitangaben sind als „Brennpunkte“ zu verstehen, die Themen spielen vorher und nachher auch eine Rolle, begleiten uns wohl ein Leben lang.) Nach dem Zerbrechen des uterinen Mutter-Kind-Systems geht es darum, eine neue Grundregulation und einen neuen Grundrhythmus der lebenswichtigen Funktionen herzustellen: Etwa die Verknüpfung der verschiedenen Schlaf-Wach-Phasen (wir unterscheiden fünf verschiedene „Zustände“ („states“) mit dem Still- oder Fütterungsrhythmus, Baden, Trockenlegen etc. Ein gutes Bild über die dabei ablaufenden wechselseitigen Aktivitäten und Beziehungen gibt die Abb. 1 (aus L. KÖHLER, 1984, s. Seite 32). „Die Kurve zeigt den Verlauf der states des Kindes. Wir sehen Schlafphasen und die verschiedenen Abschnitte einer Wachperiode. Die Pfeile unterhalb der Kurve weisen auf die Einflüsse des Kindes hin, die oberhalb der Kurve auf die der Mutter. Nach oben gerichtete Pfeile bedeuten Verhalten in Richtung auf Aufwachen, nach unten gerichtete solche in Richtung auf Einschlafen. Die Mutter muss nun laufend Entscheidungen treffen, wie sie das Verhalten des Säuglings beurteilen soll, z.B. wenn er schreit (S). Sie muss lesen können, was der Schrei an jeder bestimmten Stelle des Ablaufes bedeutet. Ist das Baby am Aufwachen, ist es satt, babbelt es, will es wieder einschlafen? Sie kann sich nun dem Verhalten des Kindes entsprechend verhalten. Dann zeigen beide Pfeile in gleicher Richtung. Mutter und Kind verhalten sich konkordant. Sie kann aber auch dem Kind ihre Ansichten aufzwingen, ohne auf die vom Kind ausgehenden Zeichen Rücksicht zu nehmen. Dann weisen die Pfeile in entgegengesetzte Richtung. Es liegt entweder ein Diskordanz vor, oder einer der beiden Partner versucht, auf den anderen einzuwirken, ihm quasi seinen Willen aufzuzwingen“ (L. KÖHLER, 1984, S. 122). Dass beide, Kind und Mutter, zu dieser ersten Konversation Voraussetzungen mitbringen, habe ich oben beschrieben, Im geglückten Fall haben wir nach drei bis vier Wochen eine beiden Partnern bekannte Abfolge, in der die Erfahrung wechselseitiger Abhängigkeit gemacht werden kann, die Basis von Vertrauen. Entsteht dies nicht, entsteht statt Vertrauen Kontrolle, und auch die Eigeninitiative des Säuglings steht auf dem Spiel. Eine besondere Bedeutung in diesem System hat das Segment „Spielraum“ (s. Abb. 1): Das Kind ist gestillt, gewickelt, evtl. gebadet, man hat etwas zusammen gespielt; das Kind ist noch wach und liegt auf einer Decke o.ä., die Mutter wendet sich nun etwas anderem zu, ist aber in der Nähe: Das Kind ist im Gleichgewichtszustand, weder von inneren noch äußeren Bedürfnissen bedrängt. In diesen Minuten, diesem „privaten Raum in der Zeit“ (SANDER, 1983) sieht SANDER die Grundlage der Entwicklung eines eigenen Selbst: Die Möglichkeit, eigene Interessen (die neue Rassel z.B.) nachzugehen, eigene Handlungen in Gang zu setzen. SANDER zitiert in diesem Zusammenhang WINNICOTT: „Nur wenn er allein ist (d.h. in Gegenwart eines anderen Menschen), kann der Säugling sein eigenes personales Leben entdecken. Die pathologische Alternative ist ein falsches, auf Reaktionen auf äußere Reize aufgebautes Leben.“ „Die Grundlage der Fähigkeit, allein zu sein, ist ein Paradoxon. Es ist die Erfahrung, allein zu sein, während jemand anderes da ist“ (WINNICOTT, 1958, dt. 1965). Ich denke, dass schon während dieser Beschreibung jedem KBT-Therapeut Bilder und Assoziationen kommen, wie sie diesen „Spielraum“ erlebt hat. Ich denke, dieses Thema ist ein ganz wesentliches: Den Raum zu geben, den eigenen Interessen, der Aufmerksamkeit gerade gegenüber eigenen körperlich empfundenen Impulsen nachzugehen, diese Entdeckungszeit zu lassen. Dazu gehört aber erst einmal der „Grundrhythmus“, und gerade bei psychosomatischen Patienten, wo die Grundregulation von Kontrolle, nicht von Vertrauen geprägt ist, dauert es lange, bis sich ein solcher „Spielraum“ einstellen kann. 2. Thema: „Gegenseitige Aktivierung“ (3. – 6. Monat) Nach SANDER und STERN (1977) stehen in dieser Phase der Blickkontakt und die freudige Begegnung, ausgedrückt im „Lächelspiel“ im Vordergrund. Im „Lächelspiel“ drückt sich die Freude des Erkennens eines vertrauten Gesichtes (wohl auch verbunden mit Hör-, Geruchsund Tastsinn) aus, wobei Kind und Mutter wechselseitige Initiativen ergreifen können. Will man den Begriff „Symbiose“ weiterhin benutzen und auf diesen Entwicklungsabschnitt beziehen, so ist eine Neudefinition notwendig: Ein „symbiotisches“ oder „paradiesisches“ Glück besteht nicht in der wunschlosen Geborgenheit, sondern im aktiven Austausch mit einem Partner, im Verschmelzen zweier Blicke. SANDER betont, dass diese Zustände für Säuglinge eine hohe Erregung beinhalten, die nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne zulässt. Der Dialog kann entgleisen, wenn das „Abschaltbedürfnis“ nicht erkannt und beachtet wird (z.B. aus dem eigenen Bedürfnis, erkannt und „aktiviert“ zu werden). 3. Thema: „Initiative“ (7. - 9. Monat) Dieses Thema trifft ungefähr das, was M. MAHLER mit „Differenzierungsphase“ beschreibt: Die motorischen Aktivitäten nehmen zu, die Mutter erlebt beim Kind verschiedene Regungen – hin zu ihr und weg von ihr, was ambivalente Gefühle weckt. Bei ausgeprägte4r Ambivalenz kann diese Phase in einer „Schlacht um die Initiative“ enden; oder sie kann dem Kind die Wahrnehmung seiner Eigeninitiative ermöglichen. 4. Thema „Fokalisierung“ (10. - 15. Monat) Die beiden folgenden Themen sind in etwa mit der „Übungsphase“ nach MAHLER zu vergleichen. Unter Fokalisierung versteht SANDER, dass das Kind einerseits in seinen motorischen Fähigkeiten (z.B. Laufen lernen) zunimmt, andererseits das kindliche Interesse sich mehr auf die Mutter konzentriert; es ist die Zeit der Fremdenangst, die Mutter ist nicht so leicht durch jemand anderen zu ersetzen, Die zunehmende Lösung und der fordernde Druck des Kindes (wieweit kann ich gehen?) stellen oft eine tiefe Bedrohung für das Selbstgefühl der Mutter dar. Einem hilflosen Baby beizustehen, ist etwas anderes, als den gezielten Manipulationen eines einjährigen Kindes etwas entgegenzusetzen. Die Wahrung der Identität der Mutter hängt von ihrer Freiheit ab. Dem Kind nicht nur Wünsche zu erfüllen, sondern auch Grenzen setzen zu können. Die Grenzen der mütterlichen Verfügbarkeit müssen ausgetestet werden, bevor sich das Kind in der nächsten Phase der erweiterten Umwelt zuwenden kann. 5. Thema „Selbstbestätigung“ (14. - 18. Monat) Es geht jetzt um die Eroberung der Autonomie, „Nein“ und „Ich“ tauchen auf. In dieser Phase scheint die Sensibilität der Fernsinn /Hören, Sehen) als auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers sprunghaft zuzunehmen. Das Kind führt Trennungen, die es vorher eher passiv erlebte, nun aktiv herbei; all dies führt zu einer gesteigerten Selbstwahrnehmung aufgrund der Wahrnehmung der eigenen Aktivität, wozu es auch immer wieder der Bewältigung in der Interaktion mit der Mutter bedarf („Spiegelung“). 6. Thema: „Erkennen“ und 7. Thema: „Kontinuität und Selbstkonstanz“ (18. - 36. Monat) SANDER beschreibt hier ähnliche Prozesse wie M. MAHLER, wenn sie von „Wiederannäherungskrise“ und „Auf dem Weg zur Objektkonstanz“ spricht. Es geht darum, dass angenommen wird, dass das Kind sich in dieser Zeit zunehmend als von der Mutter getrennt, alleine, selbständig erlebt, dadurch verunsichert wird und die schützende Nähe der Mutter sucht. Das Kind muss in diesem intensiven Hin und Her verstehen bzw. lernen, die Pole „schützende Geborgenheit“ und „grenzensprengende Aktivität“ zu integrieren bzw. zwischen beiden Polen hin und her pendeln zu können, je nach Umständen seine Wahl treffen zu können. SANDER und v.a. auch STERN (1985) schildern die Dynamik dieser Prozesse nun noch differenzierter als MAHLER. MAHLER beschrieb das „Auftanken“ (das Kind sucht die intensive Nähe, um dann wieder sich abzuwenden, wobei die Anwesenheit der Mutter und ständige Verfügbarkeit immer wieder überprüft wird) quasi als rein körperlichinteraktionellen Prozess. SANDER und STERN rücken hier die Sprache als wesentliches Kommunikationsmittel und strukturbildende Neuerung in den Vordergrund; STERN (1985) meint sogar, dass der Spracherwerb den oben dargestellten Prozess im wesentlichen initiiert. „Das Kind spürt, dass seine vorsprachliche Erfahrung nicht durchgängig in Sprache übersetzbar ist.“ „Sprache treibt einen Keil zwischen zwei simultane Formen interpersonaler Erfahrung, nämlich zwischen die gelebte und verbal repräsentierte. Frühere vorsprachliche Erfahrungen können nur teilweise in das Gebiet der verbalen Beziehung eingegliedert werden. Indem Erleben an Worte gebunden wird, isolieren sie dieses von dem amodalen Fluß der Erfahrung, in dem es vorher erlebt worden ist“ (zit. BOHLEBER, 1989, S. 569). In diesem Zusammenhang führt SANDER den Begriff „shared awareness“ ein,den ich für die KBT-Arbeit als sehr fruchtbringend ansehe. „Shared awareness“ („geteiltes Gewahrsein“) meint, dass das Kind ja in dieser Phase nicht nur zum körperlichen „Auftanken“ zur Mutter kommt, sondern auch beginnt, seine inneren Wahrnehmungen mitzuteilen. Es erwartet, dass diese von der Mutter geteilt und bestätigt werden. Diese Erfahrung eines „geteilten Gewahrseins“, dass nämlich Ausdruck oder Mitteilung des eigenen inneren Erlebens von einer anderen wahrgenommen, geteilt und verstanden werden, verleiht diesem Erleben Realität. Durch die von der Mutter geteilte Wahrnehmung der inneren Gefühle wird erstmals eine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung eines selbstorganisierten Kerns im eigenen Inneren möglich. Damit wird die Grundlage für ein Gefühl von Kontinuität gelegt, d.h., das Kind kann sich mit diesem geteilten „Ur-Wissen“ wieder der weiteren Umwelt zuwenden. Ein Vorläufer von „shared awareness“ besteht in dem, was STERN (1983) als „affect attunement“ („Affekt-Einstimmung“) beschreibt: In den ersten Lebensmonaten imitieren Mütter häufig ihre Kinder, wobei sie nicht genau das, was das Kind ausdrückt, wiederholen, sondern aufnehmen und auf veränderte Weise wiedergeben. Ein Beispiel: Ein Kind spielt mit einer Rassel, die Mutter bewegt ihren Kopf so, wie es seinen Arm bewegt – oder: Das Kind reckt sich nach einem Spielzeug und die Mutter begleitet es mit einem gedehnten und angespannten „aah“. „Shared awareness“ und „affect attunement“ halte ich deshalb für die KBT so wichtig, weil es Begriffe sind, die den Übergang, die Nahtstelle zwischen körperlichem Verhalten, Ausdruck und Erleben und reflektierendem Bewusstsein bezeichnen. Sie bedeuten auch: „Nur das an inneren Befindlichkeiten und Zuständen der Frühgeschichte gewinnt Wirklichkeit, was gezeigt und gespiegelt, mitgeteilt und geteilt, wahrgenommen und für wahr genommen wurde. Affektive Reaktionen und Reaktionen des autonomen Nervensystems werden dadurch, dass die Mutter sie erfasst und versteht, benannt und auf sie eingeht, allmählich zu Gefühlen... Das Gefühl, nicht wirklich, nicht lebendig zu sein, das wir bei manchen Patienten finden, hat seine Ursache in fehlender „shared awareness“. Etwas hat keine Resonanz gefunden“ (L. KÖHLER, 1984, S. 130). Ich denke, alle, die mit der KBT gearbeitet haben, kennen das, was L.KÖHLER hier beschreibt. Von diesem entwicklungspsychologischen Ansatz her bietet sich ein erweiterter Zugang zu allen psychosomatischen Störungen an, und er wird auch in vielen psychoanalytischen Seminaren heiß diskutiert (s.a. BERTL-SCHÜßLER, 1989). Ich denke, dass dieses theoretische Konzept vieles, das wir in der KBT tun, gedanklich fundiert, denn diese Nahtstelle, das Wahrnehmen und Erspüren, Benennen, erneut Hinspüren ist ja ein wesentlicher Teil unserer Arbeit. Andererseits hoffe ich, dass diese theoretischen Gedanken und Konzepte auch die praktische Arbeit mit der KBT befruchten können im Sinne der eingangs erwähnten „Modellszenen“. Vielleicht sehen wir jetzt häufiger das Kind vor uns, das verzweifelt bemüht ist, dabei unsicher, fragend tastend, seine Wahrnehmungen zu schildern und auf Teilen dieser Wahrnehmungen, Einstimmen, vorsichtiges Benennen hofft, damit es etwas wirklich Eigenes in Besitz nehmen kann. Die enttäuschte Variante in Gestalt körperlicher Symptome, die keine Verbindung zu einem affektiven Erleben haben, sehen wir ja täglich vor uns. Literatur BERTL-SCHÜßLER, A. und Schüßler, G.: Psychoanalytische Theorien der frühen Kindheit und Ergebnisse der Verhaltensforschung: Ist eine Revision notwendig? Prax. Psychoth. Psychosom. (1989) 34:270-281 BOLEBER, Werner: Neuere Ergebnisse der Säuglingsforschung und ihre Bedeutung für die Psychoanalyse. Buchbesprechung zu: STERN. Daniel: The Interpersonal World of the Infant. NY,Basic Books 1985, Psyche, 43, Jg, (H. 6), S. 564-571 KÖHLER, Lotte: Neuere Forschungsergebnisse psychoanalytischer Mutter-Kind-Beobachtungen und ihre Bedeutung für das Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung. Psychoanalyse, Bd. 2 + 3 (1982), S. 238 – 265, Bonz-Verlag KÖHLER, Lotte: Beiträge der Kleinkindforschung in den USA zum Thema Narzissmus und Aggression in: H. LUFT und G. MAASS (Hrsg.): Narzissmus und Aggression, DPV-Arbeitstagung in Wiesbaden vom 21. - 24.11.1984, S. 119 – 139 LICHTENBERG, Joseph. D.: Modellszenen, Affekte und das Unbewusste. In: Selbstpsychologie, S. 73 – 106, 1989, Verlag Internationale Psychoanalyse MAHLER, M.S., PINE, F., BERGMAN, A.: Die psychische Geburt des Menschen, Symbiose und Individuation. Frankfurt, Fischer Tb.Verl., 1980 MELTZHOFF, A.M., MOORE, M.K.: Initation of facial and manual gestures by human neonates. Science 75 – 97, 1977 PAPUSEK, M.: Frühe Phasen der Eltern-Kind-Beziehungen. Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Forschung. Prax. Psychoth.Psychosom. (1989) 34:109-122 (dort auch ausführliches Literaturverzeichnis der Autorin und ihres Ehemannes) SANDER, L.W.: Issues of Early Mother-Child-Interaction. In: J. Of the Am.Academy of Child Psychiatry, Vol. 1, 1, S. 231 – 264, 1962 SANDER, L.W.: Infant and Caretaking environment: Investigation and Conceptualization of Adaptive Behaviour in a System of Increasing Complexity. In: E.J. ANTHONY (ed.): Explorations in Child Psychiatry, N.Y., Plenum Press, 1975 SANDER, L.W.: Polarity, Paradox and the Organizing Process in Development. In: Frontiers in Infant Psychiatry, CALL, J.D., GALENSON, E. TYSONR. (ed.), N.Y. Basic Books, 1983 STORK, Jochen (Hrsg.): Zur Psychologie und Psychopathologie des Säuglings. Problemata frommannholzboog, 112, 1986 STERN, Daniel Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Klett-Cotta, 1979 STERN, Daniel Affect Attunement: Mechanism and Clinical Implications, Vortrag und Diskussionsbemerkungen beim 2. Intern. Kongress für Säuglingspsychiatrie in Cannes, 1983 STERN, Daniel The Interpersonal World of the Infant. Basic Books, N.Y., 1985 TOMKINS, S.: Affect, Imagery, Consciousness. Vol. 1: The Positive Affects. N.Y., Springer, 1962 TOMKINS, S.: Affect, Imagery, Consciousness. Vol. 2: The Negative Affects. N.Y., Springer, 1963 WINNICOTT, D.W.: The Caoacity to be alone. In: The Maturational Process and the Facilitating Environment. N.Y., Int. Univ. Press, 1958; dt.: Reifeprozesse und fördernde Umwelt, München, Kindler, 1965. Klaus-Dieter Grothe, 1991