Treichel Verlorener
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Treichel Verlorener
Kolloquium Literatur und Schule, 05.11.02 Hans -Ulrich Treichel: Der Verlorene . Frankfurt: Suhrkamp. € 7.50 Von der Möglichkeit, Textstellen vorzulesen, wurde geradezu exzessiv Gebrauch gemacht. Das sehr unterhaltsame, urkomische, erschreckend lustige Buch, das eine traurige und ausgesprochen bedrückende Kindheit schildere, hat den allermeisten gut gefallen, hat beeindruckt und beim Lesen gepackt, so die im Blitzlicht geäußerten Leseerfahrungen. Beeindruckt hat insbesondere die Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers, der uns seine Familiengeschichte erzählt. Situiert ist die Geschichte in den 50er Jahren in Westfalen, wohin es die Familie nach der Flucht aus den Ostgebieten verschlagen hat. Der Aufbau der neuen Existenz gelingt in den Wirtschaftswunderjahren, der Wohlstand der schließlich etablierten Großhändlerfamilie wird auch markiert durch die Anschaffung immer größerer Autos. Beherrscht wird die Familie jedoch vom Trauma des verlorenen Sohnes Arnold. Die Mutter hat den damals Einjährigen während der Flucht aus Angst, von den Russen misshandelt zu werden, einer fremden Frau in die Arme gelegt. Seinen Verlust kann sie nicht verwinden. Immer verzweifelter gestaltet sich die Suche nach ihm, die ihren skurrilen Höhepunkt schließlich in der Erstellung eines „Anthropologisch-erbbiologischen Abstammungsgutachten[s] betr. Findelkind 2307“ findet, das dem zweitgeborenen Sohn, dem Erzähler, verblüffend ähnlich sieht. Es ist tragisch wie dieses Kind gegenüber dem Erstgeborenen in keiner Weise zu seinem Recht kommt und für die Eltern keinerlei Bedeutung hat. Mit seinen Augen verfolgen wir die hoffnungslosen und immer bedrückenderen Unternehmungen zunächst der Eltern, später der Mutter, die keine Bewältigungsperspektive haben. Das schwierige Thema von Schuld und familiärer Katastrophe bewältigt die Erzählung durch die gewählte Erzählperspektive geradezu mit Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit speist sich einerseits aus der naiv deskriptiven Haltung des Kindes, aber auch daraus, dass diese wiederum ironisch gebrochen wird (das dicke, ungeschickte Kind). Allerdings haben wir es, so wird differenzierend angemerkt, nicht nur mit einer kindlichen Perspektive zu tun, sondern auch mit einer erwachsenen Erzählstimme, die die kindliche Perspektive aufnimmt. Wie im Spiegel wird uns die Emotionslosigkeit und Sprachlosigkeit der Familienmitglieder vorgeführt. Entlarvt werden der Mief der 50er Jahre, die Unfähigkeit mit dem Schrecklichen umzugehen, auch die ungebrochenen Traditionen des Nationalsozialismus. „Sozusagen unentschieden“ waren wir in der Frage, ob das zweitgeborene Kind aus der jeweils nur angedeuteten Vergewaltigung durch „den Russen“ hervorgegangen ist, wodurch sich die Gefühlskälte der Eltern ein Stück erkläre. Mit Blick auf den Schluss des Textes werden im weiteren Gesprächsverlauf die unterschiedlichen Lesarten der GesprächsteilnehmerInnen angeregt ausgetauscht. Die Mutter, im Wagen vor dem Laden sitzend, blickt das Findelkind nicht an. Das Findelkind und der Ich-Erzähler aber sehen sich an. Erkennen sie sich? In die sem Doppelgängermotiv, so eine Lesart, werde das Findelkind zur Möglichkeit, an der sich der Ich-Erzähler abarbeiten können. Letztlich sei es also unerheblich, ob das Findelkind tatsächlich der gesuchte Arnold sei, denn im Fokus stehe der Entwicklungsprozess. Die Eltern können die neurotische Situation nicht lösen. Eine Perspektive eröffne sich am Ende für den Sohn. Ein Text für die Schule? Ja, dieser hoch literarische Text gehöre unbedingt in die Oberstufe, so die Meinung der meisten. Nicht zuletzt deshalb, weil er wirklich gut zu lesen sei und auch sprachlich ausgesprochen interessant. Einige konnten sich den Text auch in einer pfiffigen 10. Klasse vorstellen, anderen schien dieser Einsatz zu früh. Reizvoll sei es für 15, 16, 17-Jährige zudem, auf die Lebensphase, die die Erzählung schildert, zurückzublicken, wurde vermutet. hw