in Dresden Neue Sachlichkeit in Dre sden

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in Dresden Neue Sachlichkeit in Dre sden
Neue
Sachlichkeit
in Dresden
Neue
Sachlichkeit
in Dresden
S ta at l i c h e K u n s t s a m m l u n g e n D r e s d e n | G a l e r i e N e u e M e i s t e r
H e r au s g e g e b e n vo n B i r g i t Da l b a j e wa
M it e i n e m Vorwort von U lr ic h B isc hoff u n d B e iträg e n von
St e p h a n Da h m e , B i r g i t Da l b a j e wa , A n d r e as D e h m e r , R u t h H e f t r i g ,
K at h a r i n a H o i n s , M a r i a K ö r b e r , J u d i t h K ü h n l e , M at h i a s W a g n e r
und anderen
San dste i n Ve r lag Dr esde n
Inhalt
6 Vorwort
Ulrich Bischoff
8
Künstler
9Leihgeber
10Dank
12Zur Einführung
Birgit Dalbajewa
Mit Unterstützung von
20 1918 bis 1933.
Deutsche und Dresdner
Zeitgeschichte in Wort und Bild
Mathias Wagner | Ruth Heftrig |
Andreas Dehmer
eue Sachlichkeit
N
in Dresden
58Überhöhte Wirklichkeit um 1900.
Voraussetzungen der Neuen
Sachlichkeit in Dresden
Andreas Dehmer | Birgit Dalbajewa
Medienpartner
114Neue Sachlichkeit und Alte Meister –
Rezeption und Transformation
Andreas Dehmer | Konstanze Krüger
66Tradition und Handwerk.
Die künstlerische Ausbildung
in Dresden nach 1900
Andreas Dehmer | Birgit Dalbajewa
76»Die Wendung der Kunst zur krassen
Gegenwärtigkeit«. Dresdner Malerei
zwischen Expressionismus und
Neuer Sachlichkeit, 1920 bis 1922
Mathias Wagner
88»Für die soziale Idee begeistert«.
Junge Dresdner Künstler in der zeit­
genössischen Rezeption um 1925
Birgit Dalbajewa
98Die Dresdner Neue Sachlichkeit im
Spiegel nationaler und internationaler
Entwicklungen: zwei wegweisende
Ausstellungen 1925/26
Stephan Dahme | Kati Renner
104Rückkehr zu Ordnung und
Beschau­lichkeit. Zur Vielfalt
der Positionen um 1928
Birgit Dalbajewa
22Die Schüler von Otto Dix, 1927 bis 1933
1
Judith Kühnle
130Kunst als Waffe. Die »Asso«
in Dresden, 1930 bis 1933
Mathias Wagner
136Neue Sachlichkeit nach 1933?
Dresdner Künstler im »Dritten Reich«
Birgit Dalbajewa | Ruth Heftrig
144Studien zur Maltechnik
der Neuen Sachlichkeit in Dresden
Maria Körber
Künstler
der Neuen Sachlichkeit
72Malerei und Zeichnung
1
Stephan Dahme | Birgit Dalbajewa |
Andreas Dehmer | Ruth Heftrig | Katharina
Hoins | Judith Kühnle | Mathias Wagner
Mit weiteren Beiträgen von Rolf Günther |
Michael Hering | Frizzi Krella | Claudia
Maria Müller | Matthias Müller | Karin
Müller-Kelwing | Holger Peter Saupe |
Johannes Schmidt | Daniel Spanke |
Stefan Voerkel | Rainer Wandel
320Exkurs: Skulptur der Neuen
Sachlichkeit in Dresden
Astrid Nielsen
326Exkurs: Fotografie der 1920er
und 1930er Jahre in Dresden
Agnes Matthias | Mit einem Beitrag
von Wolfgang Hesse
Anhang
35Autoren | Abkürzungen
3
337Literatur
343Personenregister
349Bildnachweis
351Impressum
1918
8. November
Die vom Kieler Matrosenaufstand ausgelösten Unruhen erfassen Sachsen. In den
drei größten sächsischen Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz kommt es zu
Demonstrationen. Bildung eines provisorischen »Soldaten- und Arbeiterrats« in
Dresden durch protestierende Soldaten
der Dresdner Garnison.
1918 bis 1933. Deutsche und Dresdner Zeitgeschichte in Wort und Bild
Mathias Wagner
Ruth Heftrig
Andreas Dehmer
Die vorliegende Chronik stützt sich auf
Publikationen und Datenbanken zur deutschen und sächsischen Geschichte sowie zur Dresdner Stadtgeschichte. Ausgewertet wurden auch Zeittafeln in
Veröffentlichungen zur deutschen und
Dresdner Kunst der 1920er Jahre. Wichtige Informationen lieferten außerdem die
Recherchen in zeitgenössischen Ausstellungskatalogen, Zeitschriften und Tageszeitungen sowie in den historischen und
statistischen Jahrbüchern der Stadt Dresden. Überregionale Daten und Ereignisse
sind schwarz, lokale und regionale Daten
und Ereignisse sind grau gedruckt.
9. November
In ganz Deutschland übernehmen revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte die
politische Führung. Kaiser Wilhelm II. verlässt Deutschland und begibt sich ins
niederländische Exil, wo er am 28. November offiziell seinen Thronverzicht erklärt. Friedrich Ebert wird Reichskanzler.
Philipp Scheidemann ruft in Berlin die
»Deutsche Republik« aus, wenig später
proklamiert Karl Liebknecht die »Sozialistische Räterepublik« in Deutschland.
In Dresden bilden führende Mitglieder der
MSPD (Mehrheitssozialdemokraten) einen provisorischen Arbeiterrat. Zusammen mit den revolutionären Soldaten
Proklamation eines gemeinsamen »Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Dresden« in
einer Kundgebung auf dem Theaterplatz.
Die USPD (Unabhängige Sozialdemokraten) lehnt ein erstes Angebot zur Zusammenarbeit ab und organisiert auf dem
Fischhofplatz eine Gegenkundgebung,
auf der Otto Rühle als Führer der Internationalen Kommunisten Deutschlands
(IKD) die bewaffnete Weiterführung der
Revolution und die Errichtung einer Räterepublik nach russischem Vorbild fordert. Konstituierung eines »Revolutionären Arbeiter- und Soldatenrates«.
Der von Jakob Heilmann
und Max Littmann entworfene
Zirkus Sarrasani in Dresden,
um 1915, Aufnahme von
R. Arno und Rudolf Adam.
Der sächsische König Friedrich August
III. verlässt das Residenzschloss und begibt sich auf das Jagdschloss Moritzburg.
Die Berliner »Novembergruppe« gibt
ab 1921 auch eine Zeitschrift heraus;
Titelblatt gestaltet von Hannah Höch.
Der sächsische König Friedrich
August III. dankt ab,
Aufnahme von E. C. G. Donadini.
Conrad Felixmüller: Der Agitator
Otto Rühle spricht,
Replik des 1920 entstandenen
Gemäldes, 1946 (Staatliche
Museen zu Berlin, Nationalgalerie).
10. November
Trotz unterschiedlicher politischer Zielsetzungen kommt es im Zirkus Sarrasani zu
Verhandlungen zwischen MSPD und
USPD und zur Bildung eines »Vereinigten
revolutionären Arbeiter- und Soldatenrates« unter der Führung von Otto Rühle
(IKD) und Albert Schwarz (MSPD). »Proklamation an das sächsische Volk«, die
als wichtigste politische Forderungen die
Abschaffung der Monarchie und die Auflösung des sächsischen Landtages enthält. Plan zur Einberufung einer sächsischen Nationalversammlung auf der
Grundlage des allgemeinen Wahlrechts
für Männer und Frauen. Auf dem Dresdner Schloss wird die rote Fahne gehisst.
Das 1911/12 errichtete Gebäude des Zirkus Sarrasani war mit 5000 Plätzen der
größte Versammlungsort in Dresden und
wurde bis 1933 auch als Bühne politischer Veranstaltungen genutzt.
11. November
Waffenstillstandsabkommen zwischen
Deutschland und den Alliierten in Compiègne.
13. November
Abdankung des sächsischen Königs
Friedrich August III. Gründung des »Rates der Volksbeauftragten« (Revolutionsregierung) für Sachsen, dem jeweils drei
Mitglieder der MSPD und USPD angehören und der seinen Sitz im Ständehaus
hat. Die radikale Linke verzichtet auf eine
Beteiligung an dieser Regierung und
Otto Rühle erklärt einen Tag später ihren
Austritt aus dem aus Sicht der Kommunisten bürgerlich ausgerichteten »Arbeiter- und Soldatenrat« Sachsens.
16. November
Gründung eines Künstlerrates in Dresden. An der Sitzung im Neuen Rathaus
nehmen Otto Gussmann, Richard Dreher,
Ludwig von Hofmann, Robert Sterl, Georg Wrba und Hans Poelzig teil.
24. November
Neuwahl zum »Arbeiter- und Soldatenrat«
in Sachsen, aus der die gemäßigten Sozialisten als klare Sieger hervorgehen.
Stärkung des bürgerlichen Lagers. Von
den im November landesweit gegründeten nationalliberalen Parteien Deutsche
Volkspartei (DVP), Deutsche Demokratische Partei (DDP) und der weit rechts
stehenden Deutschnationalen Volkspartei
(DNVP) etabliert sich die DVP im Laufe
der 1920er Jahre als stärkste bürgerliche
Kraft in Dresden.
November
Gründung des »Arbeitsrates für Kunst«
(bis 1921) und der »Novembergruppe«
(bis 1931), in denen sich bildende Künstler, Architekten, Komponisten, Filmemacher und Schriftsteller organisieren, die
am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitwirken wollen. Aus Dresden gehören der
»Novembergruppe« u. a. Otto Dix und
Otto Griebel an.
16. – 21. Dezember
Ein Reichsrätekongress stimmt in Berlin
für die Einberufung einer Nationalversammlung. Als Termin für die Wahlen auf
Reichsebene wird der 19. Januar 1919
festgelegt.
22. Dezember
Böhmen wird als Teil der neu gegründeten Tschechoslowakei anerkannt, aus
dem größten Teil Deutschböhmens wird
später das Sudetenland.
23./24. Dezember
Blutige Straßenkämpfe in Berlin (»Blutweihnacht«).
30. Dezember – 1. Januar 1919
Gründungsparteitag der KPD, die aus
der Vereinigung des »Spartakusbundes«
und anderer linksradikaler Kräfte hervorgeht und sich gegen eine Beteiligung an
den bevorstehenden Wahlen ausspricht.
1919
4. Januar
Bildung der ersten sächsischen KPDOrtsgruppe in Leipzig.
5. Januar
Nach der Entlassung des Polizeipräsidenten Emil Eichorn (USPD) kommt es in
Berlin unter Führung des »Spartakusbundes« zu Demonstrationen der Arbeiterschaft. Einen Tag später bilden Vertreter
der USPD, der KPD (Rosa Luxemburg,
Karl Liebknecht) und revolutionärer Gewerkschaften einen »Revolutionsausschuss« und erklären den »Rat der Volksbeauftragten« für abgesetzt. Zu den Zielen
der Aufständischen gehören die Kontrolle
der Schlüsselindustrien (Stahl, Kohle, Finanzen), die Verhinderung der Wahlen zur
Nationalversammlung und die Vollendung
der Novemberrevolution durch die Errichtung einer sozialistischen Räterepublik.
Besetzung von öffentlichen Gebäuden.
Die Übergangsregierung Ebert ruft zur
Gegendemonstration auf. Der neue Volksbeauftragte für Heer und Marine Gustav
Noske (SPD) ist für die Bekämpfung des
Aufstandes zuständig. Unterstützt wird
dieses Vorgehen durch die Wirtschaftsverbände der deutschen Industrie.
8. Januar
Nachdem Verhandlungen zwischen
Reichsregierung und USPD scheitern,
kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen linksradikalen
Kampfverbänden und Regierungstruppen, die von reaktionären Freikorps unterstützt werden. Am Tag darauf Ausrufung des Generalstreiks durch die Aufständischen. Deutschlandweit gibt es
Solidaritätsbekundungen. Die Kämpfe
zwischen der SPD-geführten Reichsregierung und den sozialdemokratischen
Landesregierungen auf der einen Seite
und den revolutionären Kräften unter Führung von USPD, KPD und kommunistischen Gewerkschaftsverbänden auf der
anderen Seite dauern bis in das Frühjahr
1919 an. In Dresden richten sich die von
Otto Rühle organisierten Proteste vor
allem gegen die »bürgerliche« Politik der
Mehrheitssozialisten. Beim Versuch, das
Redaktionsgebäude des SPD-Organs
»Sächsische Volkszeitung« zu stürmen,
kommt es zum Zusammenstoß von Sicherheitswehr und Demonstranten, bei
dem zwölf Menschen getötet und über
50 verwundet werden. Die USPD verlässt daraufhin die sächsische Revolutionsregierung.
19. Januar
Aus der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung gehen die Sozialdemokraten
als stärkste Partei hervor. Auch in Sachsen erhält die SPD die meisten Stimmen.
22. Januar
Georg Gradnauer (SPD) bildet in Dresden eine neue sozialdemokratische Revolutionsregierung ohne die USPD.
Januar
Auflösung der Generaldirektion der »Königlichen Sammlungen« in Dresden. Seit
Anfang 1919 unterstehen die »Staatlichen
Kunstsammlungen« dem Ministerium des
Kultus und öffentlichen Unterrichts, ab
1921 dem Ministerium für Volksbildung.
Blick in die Räume des Kraft-KunstInstituts mit dem »Siegerknaben«
von Sascha Schneider, um 1921 .
Otto Dix: Bildnis des Dresdner
Museumsdirektors Paul Ferdinand
Schmidt, 1921 (Staatsgalerie
Stuttgart).
Plakat von Otto Dix
zur 1. Ausstellung der
»Dresdner Sezession –
Gruppe 1919«.
2. Februar
Wahlen zur Sächsischen Volkskammer
(Landtag). Stärkste Fraktion wird die
SPD mit 42 von 97 Sitzen im Parlament
(DDP: 22; USPD: 15; DNVP: 13; DVP:
4 Sitze). Am 14. März wird Georg Gradnauer (SPD) zum ersten sächsischen
Ministerpräsidenten gewählt und bildet
eine SPD-Minderheitsregierung.
Mary Wigmans Auftritt in Dresden verhilft
ihr zum Durchbruch. Zu ihren Solotänzen
zählt auch »Spukhafte Gestalt (Vision III)«
aus dem Zyklus »Visionen«, 1925.
Aufnahme von Charlotte Rudolph.
6. Februar
Die verfassunggebende Nationalversammlung konstituiert sich in Weimar.
Friedrich Ebert (SPD) wird zum Reichspräsidenten gewählt, Philipp Scheidemann (SPD) als Ministerpräsident mit der
Kabinettsbildung beauftragt. Am 13. Februar übernimmt die »Weimarer Koalition«
aus SPD, Zentrum und DDP die Regierungsgeschäfte.
9. Februar
Wahl zur neuen Stadtverordnetenversammlung in Dresden. MSPD und USPD
erringen zusammen eine knappe Mehrheit. Erstmals werden auch zehn Frauen
ins Stadtparlament gewählt. Oberbürgermeister bleibt der seit 1915 amtierende
und seit Juni 1918 auf Lebenszeit im Amt
bestätigte Liberale Bernhard Blüher, der
diesen Posten bis 1931 innehat.
10. – 12. Januar
Blutige Niederschlagung des »Spartakusaufstandes« in Berlin. Über 150 Menschen sterben.
15. Januar
Politischer Mord an Rosa Luxemburg und
Karl Liebknecht durch Freikorps-Soldaten. Die Nachricht löst schwere Unruhen
und bürgerkriegsähnliche Zustände in
vielen deutschen Städten aus.
22
Ende Januar
In Dresden wird die Künstlergruppe
»Dresdner Sezession – Gruppe 1919«
von Otto Dix, Conrad Felixmüller, Wilhelm
Heckrott, Constantin von Mitschke-Collande, Otto Schubert, Lasar Segall und
dem Schriftsteller Hugo Zehder gegründet. Später schließen sich Peter August
Böckstiegel, Ludwig Godenschweg,
Gela Forster, Eugen Hoffmann, Walter
Jacob, Otto Lange und Christoph Voll an.
Oskar Kokoschka wird Ehrenmitglied.
In Dresden sind 21 838 Erwerbslose registriert.
27. Februar – 10. März
Generalstreik in Mitteldeutschland.
Der Dresdner Oberbürgermeister
Bernhard Blüher in einem Gemälde
von Hanns Hanner, 1932
(Städtische Galerie Dresden –
Kunstsammlung, Museen der Stadt
Dresden).
28. Februar
Verabschiedung des »Vorläufigen Grundgesetzes für den Freistaat Sachsen«.
Die Malklasse von Richard Müller
im Jahr 1921 . Seit 1919 sind Frauen zum Studium
an der Dresdner Kunstakademie zugelassen.
23
2. – 6. März
Gründungkongress der »Kommunistischen Internationale« (Komintern) in Moskau.
3. – 13. März
Ein Aufruf zum Generalstreik durch die
»Spartakus-Gruppe« und den »Arbeiterrat
von Groß-Berlin« eskaliert in den »März­
unruhen« in Berlin. Bei den Kämpfen zwischen den Spartakisten und den Regierungstruppen sterben 1200 Menschen.
23. März – 1. August
Räterepublik in Ungarn.
7. April – 2. Mai
Räterepublik in München.
12. April
Demonstration von Kriegsteilnehmern auf
dem Dresdner Theaterplatz, nachdem
bekannt geworden war, dass die Pensionen für Veteranen gekürzt werden sollen.
Im Anschluss formiert sich ein Protestzug
zum Kriegsministerium. Als der sächsische Kriegsminister Gustav Neuring ein
Gespräch ablehnt, dringt die aufgebrachte Menge in das Gebäude ein und überwältigt den Minister. Er wird in die Elbe
geworfen und beim Versuch, an Land zu
schwimmen, erschossen. Daraufhin wird
in Sachsen der Belagerungszustand ausgerufen.
April
Umwandlung der Großherzoglichen
Kunsthochschule zu Weimar in das Staatliche Bauhaus unter der Leitung von Walter Gropius.
April/ Mai
I. Ausstellung der »Dresdner Sezession
– Gruppe 1919« in der Kunsthandlung
Emil Richter.
7. Mai
Übergabe des Entwurfs des Friedensvertrags an das Deutsche Reich. Zu den
wichtigsten darin enthaltenen Bedingungen gehören die Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands, große
Gebietsabtrennungen, Verlust der Kolonien, Abschaffung der Wehrpflicht, Entmilitarisierung des Rheinlandes und enorme Reparationszahlungen.
12. Mai
Ministerpräsident Philipp Scheidemann
weist in der Weimarer Nationalversammlung die Bedingungen für den Friedensvertrag als unannehmbar zurück.
1. Juni
Gründung des »Kraft-Kunst-Institutes« in
Dresden unter künstlerischer Leitung von
Sascha Schneider.
16. Juni
Ultimatum der alliierten Siegermächte zur
Annahme des Friedensvertrages.
28. Juni
Unterzeichnung des Friedensvertrages
von Versailles, in dem Deutschland die
Alleinschuld am Krieg anerkennt. Im Versailler Vertrag wird zugleich die Satzung
des Völkerbundes angenommen und in
Kraft gesetzt.
8. August
Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen
zwischen Regierungstruppen und demonstrierenden Arbeitern werden in
Chemnitz 50 Menschen getötet und 80
verletzt (»Chemnitzer Blutbad«).
11. August
Reichspräsident Friedrich Ebert unterzeichnet die Weimarer Verfassung.
1920
20./21. Juni
Das Kabinett Scheidemann tritt zurück.
Bildung einer neuen Reichsregierung von
SPD und Zentrum unter Führung von
Gustav Bauer (SPD).
1. Januar
Edmund Kesting gründet in Dresden seine Kunstschule »Der Weg«.
10. Januar
Inkrafttreten der Bestimmungen des Versailler Vertrages.
19. Januar
»Dadaistische Soiree« im Haus der Dresdner Kaufmannschaft mit Richard Huelsenbeck, Johannes Baader und Raoul Hausmann. Laut Augenzeugen endet der
Abend mit einer wilden Prügelei. Die Presse reagiert empört, die jungen Künstler –
vor allem Otto Dix und Otto Griebel – sind
begeistert und versuchen, Dada in Dresden einzuführen.
1. Februar
In Dresden wird eine Flugverbindung
nach Berlin eingerichtet.
26. Februar
Uraufführung des Films »Das Cabinet des
Dr. Caligari« von Robert Wiene.
1. September
Paul Ferdinand Schmidt wird neuer Direktor der Städtischen Sammlungen
Dresden. Bis zu seiner Entlassung im
Januar 1924 kauft er wichtige Werke der
modernen und zeitgenössischen Kunst
für die Stadt an.
Februar
Gründung der Nationalsozialistischen
Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in
München.
13. – 16. März
Kapp-Lüttwitz-Putsch. Die Reichsregierung flieht über Dresden nach Stuttgart.
Der Aufruf zum Generalstreik durch Parteien und Gewerkschaften vereitelt den
Putschversuch. In Dresden besetzen die
protestierenden Arbeiter am 15. März das
Telegrafenamt auf dem Postplatz. Die
Reichswehr rückt vom Zwinger her gegen
die Demonstration vor. Bei den Kämpfen
werden 56 Menschen getötet und über
200 verletzt. Eine verirrte Kugel schlägt
in die Gemäldegalerie ein und trifft Rubens’ Gemälde »Bathseba im Bade«.
Daran entzündet sich die »Kunstlump«Debatte zwischen George Grosz/John
Heartfield und Oskar Kokoschka.
Herbst
Berufung des Bildhauers Karl Albiker, der
Maler Richard Dreher und Oskar Kokoschka sowie des Architekten Hans
Poelzig an die Dresdner Kunstakademie.
Die im Frühjahr eingeleiteten Reformen
werden fortgeführt. An die Stelle der Unter-, Mittel- und Meisterklassen treten die
von den Professoren geführten Einzelschulen, der einheitliche Lehrplan wird
zugunsten einer individuellen Anleitung
durch den jeweiligen Lehrer aufgegeben.
Nach der grundsätzlichen Zulassung von
»Damen« schreiben sich im Wintersemester 1919/20 erstmals drei Frauen an der
Akademie ein (Irena Rabinowicz, Erika
Scherffig und Ilse Wandolleck).
25. März
Rücktritt der Reichsregierung. Hermann
Müller (SPD) bildet ein neues Kabinett
aus SPD, DDP und Zentrumspartei.
6. Oktober
Erste sozialliberale Koalition (SPD, DDP)
in Sachsen unter Führung Georg Gradnauers (SPD).
März – April
Arbeiter-Kämpfe in Mitteldeutschland und
im Ruhrgebiet (»Rote Ruhrarmee«), die
von der Reichswehr niedergeschlagen
werden. Im Vogtland scheitert der Versuch
des kommunistischen Arbeiterführers Max
Hoelz, mit bewaffneten Truppen eine sozialistische Räterepublik zu errichten.
7. November
Gastspielauftritt der Tänzerin Mary Wigman im Haus der Kaufmannschaft in
Dresden.
18. November
Im Rahmen des Untersuchungsausschusses zum Kriegsverlauf propagiert
Hindenburg im Reichstag die »Dolchstoßlegende«.
Frühjahr
Mary Wigman eröffnet in Dresden ihre
Schule für modernen Bühnentanz, aus
der viele erfolgreiche Tänzer und Choreografen hervorgehen, darunter die ebenfalls in Dresden wirkende Gret Palucca.
24
22. April
Rücktritt des sächsischen Ministerpräsidenten Georg Gradnauer und seines Innenministers Karl Otto Uhlig.
4. Mai
Wilhelm Buck (SPD) wird neuer Ministerpräsident einer sozial-liberalen Koalition
in Sachsen.
6. Juni
Reichstagswahl. Verluste der »Weimarer
Koalition«. Bürgerliches Minderheitenkabinett aus Zentrum, DDP und DVP unter
Constantin Fehrenbach (Zentrum).
21. Juni
Die sächsische Regierung löst alle Arbeiterräte auf.
30. Juni – 25. August
Erste Internationale Dada-Messe in Berlin. Unter dem Titel »45 % Erwerbsfähig!«
zeigt Otto Dix das Bild »Die Kriegskrüppel«, das später von Paul Ferdinand
Schmidt für das Dresdner Stadtmuseum
angekauft wird. 1937 fällt es der Aktion
»Entartete Kunst« zum Opfer und gilt seither als verschollen.
Der spätere Maltechnik-Lehrer
der Dresdner Kunstakademie,
Kurt Wehlte, wirbt für die »Weg­
schule« von Edmund Kesting.
Dresdner Zeitungen machen
im Januar auf die »Dadaistische
Soiree« aufmerksam.
Filmplakat zu »Das Cabinet
des Dr. Caligari«, Entwurf von
Erich Ludwig Stahl und Otto Arpke,
1920.
In der Buchhandlung Dr. Otto
Burchard in Berlin findet im Sommer
1920 die »Erste Internationale
Dada-Messe« statt.
19. Juli – 7. August
II. Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Petrograd.
14. August – 12. September
VII. Olympische Spiele in Antwerpen.
Deutsche Sportler sind nicht eingeladen.
13. September
Ernst Jüngers überarbeitetes Kriegstagebuch »In Stahlgewittern« erscheint.
Das Mitglied der »Dresdner Sezession – Gruppe 1919« Lasar Segall
in seinem Atelier, 1919.
Herbst
Der Architekt Heinrich Tessenow wird
Nachfolger von Hans Poelzig an der
Dresdner Akademie.
1. Oktober
Der Maler Max Liebermann (Abb. S. 201)
wird zum Präsidenten der Preußischen
Akademie der Künste gewählt.
26. Oktober
Verabschiedung der neuen Sächsischen
Verfassung, die am 1. November in Kraft
tritt. Zwei Tage später Auflösung des
Landtages.
Zum 10-jährigen Berufsjubiläum
von Mary Wigman treffen sich
namhafte Tänzerinnen, 1930.
Oktober
Erste Russische Kunstausstellung in der
Galerie Van Diemen in Berlin. Beteiligt sind
unter anderen El Lissitzky und Naum Gabo.
Oktober/November
III. Ausstellung der »Dresdner Sezession
– Gruppe 1919« in der Galerie Arnold, in
der Otto Dix erstmals seine Kriegskrüppel-Bilder in Dresden zeigt.
14. November
Landtagswahlen. Die SPD bleibt stärkste
Kraft, aber das sozialdemokratische Lager hat keine Mehrheit. Bildung einer
Minderheitsregierung von SPD und
USPD unter Wilhelm Buck.
25
Andreas Dehmer | Birgit Dalbajewa
Überhöhte Wirklichkeit um 1900.
Voraussetzungen
der Neuen Sachlichkeit in Dresden
Fragt man nach den Charakteristika einer Schu­
le oder einer Richtung in einem lokalen Kunst­
zentrum, stellt sich naturgemäß die Frage nach
den Wurzeln, nach spezifischen Voraussetzun­
gen, die zu Sonderentwicklungen oder bestimm­
ten Merkmalen führen können. Das können weg­
bereitende Leistungen einer Vorgängergenera­
tion sein, in anderen Fällen auch Konstellationen,
die eher im Widerspruch oder in der Abgrenzung
gewisse Tendenzen begünstigen. Beziehungs­
gefüge, in denen bestimmte künstlerische Reak­
tionen entstehen, sind in ihrer Vielfalt als Ganzes
kaum zu erfassen, zumal gerade im 20. Jahr­hun­dert
eine Region nicht abgeschlossen betrachtet wer­
den kann, sondern im Kontext landes- und euro­
paweiter Entwicklungen gesehen werden muss.
Um die künstlerische Situation und den Stand
der Malerei- und Zeichenausbildung in Dresden
zu beschreiben, ist es jedoch möglich, beispiel­
haft einige Lehrer- und Künstlerpositionen her­
auslösen, die in Dresden sowohl stilistisch als
auch inhaltlich maßgebliche Anregungen für jene
beginnenden Künstler boten, die vor dem Ersten
Weltkrieg ihr Studium aufgenommen und ab
1920 ausgeprägt realistische Positionen bezo­
gen bzw. einen von der strengen Zeichnung
geprägten Verismus hervorgebracht hatten. So
existierten in der sächsischen Residenzstadt um
1900 bemerkenswert eigenständige, von Künst­
lern in München oder Darmstadt, Wien oder
anderen Städten deutlich zu unterscheidende
Positionen der Stilkunst und des Symbolismus. 1
»Fanatiker der Form und der Linie«
1 Vgl. dazu den Beitrag beider Autoren über »Alter und Ju­
gend« – Maler der Stilkunst in Dresden um 1900, in: Galerie
Neue Meister Dresden 2010, S. 277 f., sowie Andreas Dehmer,
Malerei des Fin de Siècle in der Dresdener Galerie, Dresden
2010. 2 Kuno von Hardenberg, Zeichnungen von Hans Un­
ger – Dresden, in: Deutsche Kunst und Dekoration 61: 1928,
S. 405 – 409, hier S. 405. 3 Posse 1928, S. 21 f. 4 Harden­
berg 1928 (wie Anm. 2). Zur vorletzten Jahrhundertwende waren Erotik
und Eleganz, Mythologie und Religion, Abgrün­
de und Apotheosen in bedeutungsvoller Stilisie­
rung gerade beim konservativen Großbürgertum
im Deutschen Reich en vogue. Ob als Symbo­
lismus, Neuidealismus oder Jugendstil bezeich­
net, hatten sich mit diesen Spielarten ein neues
Weltverständnis und eine neuartige Formen­
sprache Bahn gebrochen: Eine idealisierte, oft
vom Gegenstand unabhängige Farbe füllte eine
betont genaue und harte Umrisszeichnung aus,
atmosphärische Auflösung des Raumes wurde
bewusst und konsequent vermieden.
Insbesondere die Linienkunst von Max Klinger
wirkte unmittelbar – wie in Leipzig auf Otto Grei­
ner, Georg Kolbe und andere – auf Grafiker und
Maler in Dresden wie Richard Müller, Sascha
Schneider, Hans Unger und Oskar Zwintscher
sowie eine ganze Generation nachfolgender,
naturalistischer Heimatkunst verpflichteter Lo­
kalgrößen. Erstere vier – apologetisch auch als
eine »Phalanx der Starken« bezeichnet 2 – bilde­
ten seit den mittleren 1890er Jahren überaus
individuelle Handschriften heraus: »Es sind Fa­
58
natiker der Form und der Linie […]. Sie suchen
das Monumentale, die große Linie und ihren
Rhythmus, eine bedeutende über die Wirklich­
keit sich erhebende Idee. […] Unter den Künst­
lern, die sich vor dem Impressionismus in eine
eigene Ideenwelt flüchten, sind Eigenbrötler von
echt sächsischer Zähigkeit und Programmatik«,
resümierte der Direktor der Dresdner Gemälde­
galerie Hans Posse 1928.3
So wurde Sascha Schneiders Werk als »Mo­
numentalisierung dämonischen Weltgeschehens«
charakterisiert, Richard Müller »Größe in Hol­
bein’scher Vertiefung bis ins Kleinste« beschei­
nigt und Hans Unger »träumte von einer neuen
Renaissance, vom Kultus schöner Frauen […]
und kühler Marmorarchitektur«.4 In ihren Figu­
renkompositionen waren diese Künstler maß­
geblich geprägt von einem weltabgewandten
Traumgefilde der Sehnsüchte, Mythologien und
des Unterbewussten. Ein solcher Hang zum
Fantastischen, der einem kühlen Dokumentaris­
mus der Weimarer Republik zunächst grund­
legend zu widersprechen scheint, zieht sich –
durchaus in dieser Tradition wurzelnd – auch
durch zahlreiche realistische Dresdner Positio­
nen der 1920er Jahre. Beispielhaft hierfür ste­
hen Werke von Hilde Rakebrand, Carl Friedrich
Treber, Woldemar Winkler oder Willy Wolff (vgl.
Abb. S. 288 f., 307, 314 f., 317 – 319). Doch vor
allem in ihrer Bildniskunst und Figurencharakte­
ristik hatten diese Dresdner Jugendstil-Maler ei­
nen Grad an Realismus in der Darstellung er­
reicht, der auch jenseits von Idealisierung und
trockenem Naturalismus nachhaltig wirken sollte.
Gemeinsame Qualitäten dieser eigensinnigen
Bildschöpfer lagen darin, Geschmack, Mode
und Neuerungen jener zerrissenen Zeit sehr wohl
aufgenommen und verarbeitet zu haben, ohne
jedoch davon erfasst, deren Epigonen oder gar
eklektisch geworden zu sein. Ihnen gemein war
ein formaler und inhaltlicher Ehrgeiz, den An­
spruch einer Ideen- oder Gedankenmalerei nicht
in einer Orientierung am breiten Publikumsge­
schmack, sondern fernab einer süßlich-kitschi­
gen Salonkunst zu erfüllen. Diese Ernsthaftigkeit,
gerade auch in der grafischen Gegenstands­
präzision, ließ die »Fanatiker der Form und der
Linie« – auch durch ihr mehrheitliches Wirken
an der Dresdner Akademie – wiederum zu Vor­
bildern einer jungen Künstlergeneration werden,
zu den Wegbereitern der nach dem Ersten Welt­
krieg einsetzenden Neuen Sachlichkeit.
Abb. 1
Richard Müller
Stillleben mit Totenkopf | 1902 | Öl auf Leinwand |
60 × 43,5 cm | Museum Bautzen, Inv.-Nr. 4136
Im Zuge einer Rückkehr zur Wirklichkeit in ei­
nem spätimpressionistisch geprägten Realis­
mus und zu betont malerischen Positionen (nach
einer Phase expressionistischer und kubo-futu­
ristischer Experimente) verschwand dieser ver­
gleichsweise kurze Höhepunkt einer Dresdner
Stilkunst bald wieder von der Bildfläche. Der
Reformgeist der Jahrhundertwende bahnte sich
in künstlerischen Experimenten wie dem Expres­
sionismus der »Brücke«-Künstler auch andere
Wege. Die Neuerungen des Formenvokabulars
der Jugendstil-Malerei aber waren ganz offenbar
noch nicht ausgeschöpft.
»Proto-Neue Sachlichkeit«
5 Gustav Pauli, Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten, Tübin­
gen 1936, S. 132 f. Von Woldemar von Reichenbach besitzt
die Galerie Neue Meister ein delikat ausgeführtes Interieur
(Gal.-Nr. 2316 A). 6 Schmalenbach 1973, S. 81 – 85.
7 Von 1903 bis 1935 lehrte Müller an der Kunstakademie
vor allem Radierung und Zeichnung; vgl. dazu auch den fol­
genden Beitrag, bes. S. 71 – 75. 8 Löffler 1999, S. 101.
9 Ebd., S. 72. 10 Vgl. beispielsweise das »Selbstbildnis
mit Nelke« (1912) im Detroiter Institute of Art und das ver­
schollene »Selbstbildnis vor Landschaft mit Felsen, Bergwie­
se und Meer« (1913); s. dazu auch Schmidt 1978, S. 16 – 23.
11 Löffler 1999, S. 58. 12 Sigrid Walther, in: AK Dresden
2000, S. 9. Zu Grosz’ Er­innerungen an Müller s. den fol­
genden Beitrag, S. 72 f.
Der spätere Direktor der Bremer bzw. Hambur­
ger Kunsthalle, Gustav Pauli, schätzte im Rück­
blick auf seine Zeit als Bibliothekar an der Kunst­
akademie von 1894 bis 1899 die Situation im
Dresdner Kunstleben wie folgt ein: »Unter den
älteren Schülern der Akademie zeichneten sich
damals die dekorativ begabten Maler Oskar
Zwintscher und Hans Unger aus, der Maler und
Graphiker Richard Müller und Sascha Schnei­
der. Mit ihnen allen bin ich damals oft zusam­
mengekommen. Schneider erregte Aufsehen
durch seine großen tiefsinnig motivierten Kom­
positionen männlicher Akte. Er gehörte zu den
glühenden Bewunderern Max Klingers, deren
es in Dresden viele gab […]. Müller erregte die
Bewunderung seiner Lehrer durch scharf beob­
achtete und sehr säuberlich ausgeführte Natur­
studien. In der Spätzeit des Impressionismus
erschien er als ein Vorläufer jener Richtung, die
heute unter dem schulmeisterlich trockenen Na­
men der ›Neuen Sachlichkeit‹ aktuell geworden
ist. Eben diese Richtung scheint der Sonderbe­
gabung des sächsischen Stammes zu entspre­
chen. Sie hatte damals einen älteren Vertreter
in dem Grafen Reichenbach und gipfelte später
in dem sehr sächsischen Otto Dix.« 5 Als »ProtoNeue Sachlichkeit« deklarierte Fritz Schmalen­
bach diese Formensprache, zu deren Vertretern
er unter anderen Georg Lührig, Richard Müller,
Hans Unger und Oskar Zwintscher zählte. In
»ihrer übertriebenen zeichnerischen Gegen­
standspräzision« hätten ihre Werke »eine ver­
blüffende Ähnlichkeit mit den Bildern der zwan­
zig Jahre jüngeren Strömung«. 6
Richard Müller prägte seit seiner Berufung als
Professor 1903 über drei Jahrzehnte hinweg in
der Dresdner akademischen Aus­bildung – na­
mentlich im Zeichnen – zahlreiche Künstler. Von
Max Ackermann, Otto Dix und George Grosz
bis Rudolf Bergander, ob sie wollten oder nicht:
Keiner von ihnen konnte seiner handwerklichen
Virtuosität gleichgültig gegenüberstehen. 7 Auch
Fritz Löffler bezeichnete ihn als »Vorläufer der
Bewegung«. 8 Was sich mit Müllers erstem Öl­
60
gemälde »Barmherzige Schwester« von 1898/
1899 (Abb. S. 116) ankündigte, wurde in den
folgenden Jahren konsequent bestätigt – eine
auf die Spitze getriebene, auch durch den Ein­
satz altmeisterlicher Maltechnik erzielte Reali­
tätstreue, die von Kritikern nicht selten unter
dem Etikett eines exakten, trockenen oder gar
»unerbittlichen Naturalismus« abgehandelt wur­
de. 9 Nicht zufällig waren es weniger die Gen­
reszenen, als vielmehr Müllers Por­träts, die Aus­
zeichnungen erhielten und Aufträge nach sich
zogen; hier mündete die Genauigkeit der Zeich­
nung in einem scharf charakterisierenden Rea­
lismus – der auch die frühen Selbstporträts des
Otto Dix kennzeichnet, in denen er mit der For­
mensprache des Jugendstils experimentierte. 10
Eine solche suggestive Minutiösität bestimmt
nicht minder Müllers Darstellung eines Ateliers
in der Dresdner Akademie von 1907 (Abb. S. 73),
die durch seine harte Modellierung der Figuren
und Gegenstände sowie deren Maßstab im
Raum eine symbolische Aufladung erfährt. Die­
se Wirkung erreichen – stärker noch als die in
der Nachfolge Klingers geschaffenen Radierun­
gen mit Tier- und Figurenszenen voller »billige[r]
und spießerische[r] Erotik« 11 – vor allem auch
Müllers Stillleben, wie bereits das 1902 gemalte
»Stillleben mit Totenkopf« (Abb. 1). In einer spä­
teren Version zum Atelierbild von 1907, »Zei­
chenklasse in der Akademie« von 1920 (Galerie
Neue Meister, Gal.-Nr. 3141), ist eine solche
»Natura Morta« mit Gipstorso, Malutensilien und
Firnisflaschen eingefügt: bedeutungsschwer als
Memento mori angelegt und dabei doch ein
Stück Realität, scheinbar ohne Kommentar ob­
jektiv geschildert. Hier wird ersichtlich, dass
nicht allein Müllers genaue Zeichnungskunst,
wie auf der Grundlage der Erinnerungen von
George Grosz immer wieder beschrieben, für
die nachfolgenden Künstler von Bedeutung ge­
wesen ist, sondern ebenso ein »Dresdner DingSurrealismus«, wie ihn Sigrid Walther im Werk
seines Schülers Willy Wolff erkannte. 12
Das frühe Œuvre von Oskar Zwintscher zeigt
gleichermaßen offensichtlich, dass einhergehend
mit der scharf gezogenen Umrisslinie als dominie­
rendem Gestaltungselement ebenso die foto­
grafisch wirkende Tiefenschärfe bis zur feinsten
Falte getrieben werden konnte. Gerade Zwint­
scher vermittelte zudem entscheidende Impulse,
Raum und Tiefe im Bild – insbesondere in der
Porträtmalerei – so weit wie möglich zurückzu­
nehmen. Das Bildnis seiner Gattin von 1902
(Abb. 2) zeigt besonders deutlich, wie bewusst
und wohlkonstruiert der Maler die folienhafte
Flächigkeit des Bildes betont, indem er scharfe
Abgrenzungen und Kontraste bildet und die ein­
zelnen Bildgründe – hier nur Vorder- und Hin­
tergrund – nahezu ohne Zwischenraum knapp
hintereinander legt. Mit zeittypischem Raffinement,
das Ornament ebenso flächenbetonend einge­
Abb. 2
Oskar Zwintscher
Bildnis der Gattin des Künstlers | 1902 |
Öl auf Leinwand | 200 × 100 cm |
SKD, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2335
Abb. 3
Oskar Zwintscher
Bildnis einer Dame mit Zigarette | 1904 |
Öl auf Leinwand | 82 × 68 cm |
SKD, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2690
13 Erhard Frommhold, Hermann Lange – ein zu Unrecht
vergesse­ner Maler, in: Barbara Funk u. a., Nun tu’ ein Fens­
ter auf … Leben und Werk des Freitaler Malers Hermann
Lange. 1890 – 1939, Dresden 1995, S. 30. Ähnlich formuliert
bereits in seiner Rezension: Eine Ausstellung rings um Os­
kar Zwintscher im Albertinum, in: Bildende Kunst, 1982,
S. 440 – 443, hier S. 442. 14 Löffler 1999, S. 58, Richard
Müller betreffend. Markante Bildnisse von Zwintscher aus
der Zeit um 1900 befinden sich in der Galerie Neue Meister
(Gal.-Nr. 2335 E und 3740). 15 Zwintschers Bedeutung
für die Dresdner Malerei der 1920er Jahre wurde bereits
hervorgehoben von Joachim Uhlitzsch, Oskar Zwintscher,
Leipzig 1984, bes. S. 3 und 13 f. setzt, zeigt Zwintscher seine Frau in schlichter
Eleganz auf einer Art Proszenium, dessen Tiefe
auf ein Minimum begrenzt ist, und erreicht da­
durch Modernität und eine suggestive Intensität
in der bildfüllenden Darstellung. Diese Auffas­
sung des Bildraums, das Bekenntnis zu Linea­
rität und Flächigkeit, bildete sich in der Stilkunst
in verstärktem Maße heraus und ist als formales
Motiv in verschiedensten Ausprägungen etwa
bei Otto Dix, Franz Lenk, Wilhelm Heckrott oder
Ernst Holzhäuser (vgl. Abb. S. 189, 264, 238,
245) nachzuvollziehen – und zwar geradezu an­
tithetisch umgesetzt namentlich in Bildnissen und
Interieurdarstellungen aus dem Arbeitermilieu.
Zwintscher, der seit 1903 als Lehrer an der
Kunstakademie in Dresden tätig war, vermied
– wie die Alten Meister und Meister des 19. Jahr­
hunderts (etwa die Nazarener) – in seiner sorg­
fältig mit spitzem Pinsel ausgearbeiteten Malerei
atmosphärische Wirkungen. Die Strukturen des
Pinselstrichs wurden unterdrückt, die Malfläche
geschlossen. Das überdeutlich Dargestellte er­
langte so eine magisch-symbolische Überhö­
hung. Diese formalen und technischen Metho­
den konnten dann – noch gesteigert – zu einem
62
krassen Dokumentarismus oder einer magisch
verfremdeten Wirkung einer gegenstandsge­
treuen Wirklichkeitsschilderung führen.
Der Schritt ist formal oft nicht groß, erscheint
aber umso gewaltiger, da Zwintschers Kompo­
sitionen lebensabgewandte Themen aufnehmen,
die Neuerung der jungen Künstler nach dem
Ersten Weltkrieg aber im Blick auf die unge­
schönte Lebensrealität der Arbeiter liegt. Idea­
lisierte und »nackte« Realität, Idylle und Alltag
werden mit vergleichbaren Mitteln vorgeführt –
ein Topos, der sich mit dem Kategorisierungs­
versuch in einen rechten und einen linken Flügel
von Malern durch die gesamte Geschichte der
Neuen Sachlichkeit zieht: Zwintschers elegante
Dame steht vor einer Tür; Dix’ rührige Eltern sit­
zen – in der späteren Version seines Elternbild­
nisses von 1924 (Sprengel Museum Hannover)
noch deutlicher – unmittelbar vor der Rücken­
lehne des genau geschilderten Sofas und einer
gemusterten Wand. Auf den Begriff der Folie
als formales und psychologisches Mittel, wie ihn
Wilhelm Waetzoldt 1908 verwendet hatte, ver­
wies in diesem Zusammenhang Erhard Fromm­
hold, um das Werk des Freitaler Malers Her­
mann Lange zwischen Zwintscher und Dix zu
verorten. 13
Oskar Zwintschers Porträtkunst, wie sie im
»Bildnis einer Dame mit Zigarette« (Abb. 3) ein­
drucksvoll zutage tritt, verdient der besonderen
Erwähnung. Zu dem Grad an Realismus, den er
durch zeichnerische Genauigkeit erreicht, ohne
in »Trockenheit« oder »Kleinlichkeit« 14 zu verfal­
len, existiert wenig Vergleichbares. Dass Zwint­
scher damit insbesondere auch jüngere Künstler
beeindruckte, die naturalistischen Richtungen
folgten, lässt sich an einem Bild seines Schülers
Carl Walther ablesen. Gleichwohl der 1880 ge­
borene Leipziger zu Beginn seines Studiums an
der Kunstakademie 1902 zu Richard Müller kam,
und nur von 1904 bis 1905 bei Zwintscher in
die Lehre ging, spürt man die unmittelbaren
Auswirkungen jenes Kontakts in einem Gemälde
(Abb. 4), das etwa 20 Jahre später entstand und
eine bemerkenswerte Kreuzung aus Jugendstil
und Neuer Sachlichkeit darstellt.
Ähnlich nachhaltigen Eindruck übte eine akri­
bisch und streng linear ausgeführte Landschaft
Oskar Zwintschers, einer Aussage des Dix-Schü­
lers Rudolf Bergander zufolge, auf junge Künst­
ler in den 1920er Jahren aus. Das bereits 1904
– als Zwintscher zum Professor an der Dresdner
Akademie ernannt wurde – auf der Großen Kunst­
ausstellung Dresden präsentierte und hochge­
priesene Bild »O wandern, o wandern!« (Abb. 5)
war nach seinem frühen Tod aus der Gedächt­
nisausstellung 1916 in die Gemäldegalerie ge­
langt. 15
Andere Künstler der älteren Jahrgänge blie­
ben in den 1920er Jahren von den jüngsten
Entwicklungen nicht unbeeinflusst, adaptierten
Abb. 4
Carl Walther
Frau mit Zigarette | 1926 | Öl auf Leinwand | 77 × 70 cm |
Historisches Museum Bamberg, Inv.-Nr. 586
g lö c k n e r
g lö c k n e r
Hermann Glöckner
*21. Januar 1889 in Cotta bei Dresden
†10. Mai 1987 in Berlin/West
1904 – 07 Lehre als Musterzeichner | 1904 – 11
Abendkurse an der Kunstgewerbeschule Dresden |
1923 – 24 Studium an der Dresdner Kunstakademie
bei Otto Gussmann
Hermann Glöckners gegenständliche Gemälde
der 1920er Jahre markieren in Dresden einen
Randbereich der Neuen Sachlichkeit hin zum
Konstruktivismus. Was Franz Roh 1926 für die
niederrheinischen Maler Seiwert, Hoerle und
Arntz konstatierte, könnte auch für Glöckner
gelten, dass er nämlich eine »Mittelstufe zwischen
abstrakter Aufteilung und Gegenständlichkeit
anstrebt, in gewisser Kreuzung sozusagen von
Konstruktivismus und neuer Dinglichkeit« (F. Roh,
in: Das Kunstblatt 10:1926, S. 365). Glöckners
reduzierte Figurenbilder und Architekturmotive
rücken die Komposition und Tektonik von Fläche
und Raum in den Fokus und vermögen den
Blick auf diesen Aspekt auch für Werke anderer
Dresdner Künstler, etwa Kretzschmar oder Heckrott, zu schärfen.
Bereits Hartlaub beobachtete in seiner Einleitung zum Katalog der Mannheimer Ausstellung
1925: »beachtet man den konstruktiven Zug,
den die heutige Wirklichkeitskunst nicht weniger
betont, als die Kubisten oder Futuristen von
gestern, so ergibt sich viel Gemeinsames« (AK
Mannheim 1925, o. S.). Jene Luftleere, die oft
als charakteristisch für die Arbeiten der Neuen
Kirche in Dittersbach mit Mast (I)
28.9.1934 | Rötel | 63,6 × 47,5 cm |
SKD, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 1989 – 446
Kopf einer jungen Frau
1927 | Mischtechnik auf Pappe | 22 × 17,5 cm
SKD, Galerie Neue Meister, Inv.-Nr. 90/13
Sachlichkeit beschrieben worden ist, erscheint
bei Glöckner zu einer neuen Qualität gesteigert,
indem er etwa in seinen Dachlandschaften geometrische Flächen aneinandersetzte, »als wären
die leeren Räume zwischen den Dächern weggelassen und die einzelnen Giebel eng zusammengerückt« (Johannsen 2010, S. 183).
Technisch-geometrische Motive wie Stadtansichten, Strommasten oder Schornsteine faszinierten nicht nur Glöckner, sondern gehörten
auch zum Bildrepertoire vieler Künstler der Zeit.
Glöckner fügte den bildwürdigen Gegenständen den – in seinen Arbeiten meist leer bleibenden – Weiser hinzu, der durch die Funktionsstörung den Verweischarakter der gegenständli210
chen Malerei reflektiert. Das Gemälde »Weiser«
von 1927, dem Jahr der ersten Einzelausstellung
des 38-jährigen Glöckner in der Galerie Hartberg in Berlin, reduziert die Szenerie eines
Strandbads mit Fliesenweg und Bogenbrücke
gegenüber vorbereitenden Zeichnungen weiter
zu Farbflächen. Die Senkrechten und Waagerechten im Bild folgen einer strengen Geome­
trie, die schon den Schüler und den Musterzeichner Glöckner faszinierte. KH
Literatur: Hermann Glöckner zum 100. Geburtstag. Gemälde,
Zeichnungen, Tafeln, Collagen, Abdrucke, Faltungen und plastische Arbeiten, AK Albertinum Dresden, Staatliche Galerie Moritzburg Halle 1989, hg. v. W. Schmidt u. a., Dresden 1989 |
Hermann Glöckner, Raum, Zeit, Figur. Ein Dresdner Beitrag zur
Moderne, AK Ulmer Museum 1991, hg. v. B. Reinhardt u.a., Ulm
1991 | Hermann Glöckner für Dresden, AK Leonhardi-Museum
2003, Dresden 2003 | C. Dittrich, Glöckner: Gemälde und Zeichnungen, 1904 – 1945, Dresden 2010 | A. Johannsen, Gestaltete
Umwelt: Naturbegriff und Landschaftsdarstellung bei Hermann
Glöckner, in: Dresdener Kunstblätter 3: 2010, S. 180 – 190
Weiser
1927 | Öl auf Leinwand | 60 × 49 cm |
SKD, Galerie Neue Meister, Inv.-Nr. 76/07
*31. Mai 1895 in Meerane/Sachsen
†7. Juli 1972 in Dresden
1909 Lehre als Dekorationsmaler | 1909 – 11/12
Besuch der Königlichen Zeichenschule
in Dresden | 1911/12 – 15 und Frühjahr 1919
Studium an der Kunstgewerbeschule
bei Josef Goller | Herbst 1919 – Frühjahr 1922
Studium an der Dresdner Kunstakademie
bei Robert Sterl
Zurückgekehrt aus dem Ersten Weltkrieg, nahm
Griebel sein Studium an der Kunstgewerbeschule wieder auf und studierte im Frühjahr 1919
noch ein Semester in der Klasse für Glasmalerei
bei Josef Goller, bevor er im Herbst desselben
Jahres an die Akademie wechselte. Die verschiedenen Stationen seiner Ausbildung ließen
vor allem Griebels zeichnerische Begabung klar
hervortreten, die das bildnerische Fundament
seines gesamten Werkes ist. Kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg von Fritz Löffler zu seiner
künstlerischen Arbeit befragt, bezeichnete sich
Griebel daher in erster Linie auch als Zeichner
und Aquarellist – und soweit sich sein Werk trotz
der empfindlichen, kriegsbedingten Verluste heute noch überblicken lässt, hat er diese beiden
Techniken in der Tat bevorzugt.
Der kraftvolle malerische Realismus seines
Lehrers Robert Sterl hat bei ihm keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Auch der formale
und ideelle Expressionismus der »Dresdner Sezession – Gruppe 1919« hat Griebel kaum beeinflusst. Stattdessen setzte er sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den Möglichkeiten
der Abstraktion auseinander und beschäftigte
sich mit den Ideen der synästhetischen Wahrnehmung. Zur selben Zeit versuchte er gemeinsam mit Dix, Kurt Günther und dem Komponisten Erwin Schulhoff, Dada in Dresden einzu­
führen. Diesen Bemühungen war jedoch kein
großer Erfolg beschieden. Die im Januar 1920
von Johannes Baader, Richard Huelsenbeck
und Raoul Hausmann in Dresden veranstaltete
»Dadaistische Soiree« – im Wesentlichen eine
Kunst- und Publikumsbeschimpfung – ließ erwartungsgemäß die meisten Anwesenden verstört zurück und wurde von der lokalen Presse
geschmäht. Aber das von den Dadaisten betriebene, aggressive Infragestellen der Normen der
bürgerlichen Gesellschaft, die Lust an der schonungslosen Obduktion der Zeitverhältnisse im
Bild bereitete auch in Dresden den Boden für
Verismus und Neue Sachlichkeit, der hier zuerst
von Dix, Griebel und Felixmüller beschritten wurde. Darüber hinaus vermittelten die Techniken
Der Arbeitslose
1921 | Aquarell über Feder, Tusche | 23,5 × 18 cm |
Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung,
Museen der Stadt Dresden, Inv.-Nr. 1958 – 59/189
Der Sonntagnachmittag
1920 | Grafit | 43 × 31,5 cm | Städtische Galerie Dresden –
Kunstsammlung, Museen der Stadt Dresden,
Inv.-Nr. 1958 – 59/188
der Collage und Fotomontage neue formale Impulse, die in den Bildern der jungen Dresdner
ihren Niederschlag fanden.
»Der Schiffsheizer« ist das einzige erhaltene
Gemälde Griebels vom Beginn der 1920er Jahre.
Das Motiv entstammt dem Kreis der Matrosenund Hafenszenen, die auch bei Dix in dieser Zeit
häufig und auffallend ähnlich vorkommen. Es
verkörpert männlich griffige Vorstellungen von
Abenteuer, Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Konventionen. Vor allem
212
aber ist die Figur des Seemanns eine gängige
Personifikation männlicher Libido. Während das
offenkundige sexuelle Begehren in vergleichbaren Bildern meist in der triebhaften Begegnung
von Matrose und Dirne dargestellt wird, finden
das maskulin-kantige, holzschnittartig-emotionslose Gesicht und der muskulöse Körper des
Seemanns ihr weibliches Gegenstück in einer
anthropomorphen Felsformation des Hintergrundes, indes das exotische Freudenmädchen
noch auf einer Terrasse wartet. Klar und überzeugend hat Griebel die kernige Figur des Heizers modelliert und formatfüllend ins Bild gesetzt, sodass sich die physische Vitalität des
Mannes geradezu aufdrängt. Ausführlich widmete er sich der Wiedergabe der vom Ruß geschwärzten Haut und den zahlreichen Tattoos
(darunter auch die Signatur des Künstlers), die
das Seefahrer- und Abenteurermilieu illustrieren.
Einige Jahre später hielt sich Griebel für ein paar
Wochen in Hamburg auf, wo er in St. Pauli tatsächlich Vorlagen für Tätowierer zeichnete.
»Der Sonntagnachmittag« und »Der Arbeitslose« gehören in die Reihe der sozialkritischen
Milieuschilderungen und markieren Griebels
Hinwendung zu einem betont anklägerischen
Verismus. In überwiegend als Aquarell und Zeichnung ausgeführten Bildern, von denen die meisten nur aus alten Reproduktionen bekannt sind,
werden die prekären Lebensverhältnisse der
Arbeiterschaft geschildert, die Schrecken des
Krieges verdeutlicht und die Entlarvung des biederen Bürgers vorgeführt. Das Antlitz der Zeit
in der körperlichen und seelischen Verfassung
des Menschen dingfest zu machen – diesem
Anliegen folgt auch die Darstellung der Artisten
und der beiden nackten Dirnen (S. 214 f.), die das
Themenspektrum um die populären Motive Zirkus und Halbwelt erweitern. Im Unterschied zur
ätzenden Schärfe eines Grosz oder Dix neigte
Griebel in der illustrativen Ausschmückung und
der ausgewogen kultivierten Farbgebung seiner
Bilder mitunter zur dekorativ gestalteten Anekdote: »Ist die Linie von Dix mit bewußter Härte
geladen, seine Farbe voll jäher Grausamkeit, so
fehlt es Griebel nicht an turnerischer Sicherheit,
die seinen bitter humoristischen Absichten trefflich zustatten kommt« (Schmidt 1924, S. 372).
In der Figur des selbstbewussten Arbeitslosen kündigte sich auch schon ein Bildtyp an, der
später in der proletarisch-revolutionären Kunst
eine wichtige Rolle spielen sollte: der »Proletarier« als optimistisch stimmender Hoffnungsträger
Der Schiffsheizer
1920 | Öl auf Spanplatte | 58 × 40,5 cm |
Privatsammlung
griebel
griebel
Otto Griebel
griebel
griebel
der künftigen Gesellschaft. An seiner persönlichen politischen Haltung ließ Griebel niemals
Zweifel aufkommen. 1919 trat er in die KPD ein,
1922 schloss er sich der »Novembergruppe«
und 1924 der »Roten Gruppe« an und unterstützte linksgerichtete Kulturverbände wie die
»Internationale Arbeiterhilfe« (IAH). 1930 zählte
er zu den Gründungsmitgliedern der Dresdner
»Asso«. Seine künstlerischen Fähigkeiten stellte
er konsequent in den Dienst der Partei. Er zeichnete Illustrationen für kommunistische Zeitschriften (»Die Rote Fahne«, »Die Rentenquetsche«,
»stoss von links« und andere) und trat als Schnell­
zeichner auf politischen Veranstaltungen auf.
Außerdem entwarf er Bühnenbilder und Requisiten für die Dresdner Agit-Prop-Gruppen »Rote
Truppe Strzelewicz« und »Rote Raketen«. Ende
der 1920er Jahre unternahm Griebel den Versuch, parteipolitische Agitation und Kunst in
einem großen »Historienbild« miteinander zu
verbinden, und malte »Die Internationale« (Abb.
S. 131) – ein künstlerisch wenig überzeugendes
Bild, das thematisch der Parteilinie folgte, dessen formaler Schematismus der statisch aneinander gereihten Arbeiterfiguren aber schon von
den Zeitgenossen bemängelt wurde.
Das im Februar 1945 verbrannte »Selbstbildnis in der Kneipe« von 1926 erinnert in vielerlei
Hinsicht an Dix’ »An die Schönheit« (1922/Abb.
S. 191). Hier wie dort inszenierte sich der Künstler inmitten des bürgerlichen Amüsierbetriebs
als distanziert kritischer Beobachter der Gesellschaft. Mit festem Blick nimmt der Maler das
Publikum als Adressaten seines »Unbehagens
an der bürgerlichen Welt« (Griebel 1986, S. 137)
ins Visier. Motivisch, stilistisch und atmosphärisch erfüllte dieses Bild in Griebels Schaffen
der 1920er Jahre am ehesten die Kriterien einer
um suggestive Objektivität bemühten Malerei
der Neuen Sachlichkeit. MW
Literatur: Schmidt 1924 | AK Dresden 1965 | Otto Griebel. Male­
rei. Zeichnung, Graphik, AK Museum der bildenden Künste Leipzig 1972, Leipzig 1972 | Schmidt 1973 | Griebel 1986 | Œuvreverzeichnis Otto Griebel (1895 – 1972), unveröff. Ms., erarbeitet
von Matthias Griebel, 1994.
Selbstbildnis in der Kneipe
1926 | Technik und Maße unbekannt |
verbrannt am 13. 2. 1945 |
Repro aus: AK Deutsche Kunst,
Kunstpalast Düsseldorf, 1928, Nr. 258
Zwei Frauen
1924 | Aquarell auf Karton | 63,8 × 45 cm | The George
Economou Collection, Canal Station Inc., Athen
Zirkusbild
1925 | Öl auf Leinwand | 87,5 × 91 cm |
Städtische Museen Zwickau,
Kunstsammlungen, Inv.-Nr. 1929/914
215
George Grosz
grosz
g r o SS p i e t s c h
Curt Großpietsch
(eigentlich Georg Ehrenfried Groß)
*21. Juni 1893 in Leipzig
†26. September 1980 in Dresden
*26. Juli 1893 in Berlin
†5. Juli 1959 in Berlin
1905 – 09 Lehre als Dekorationsmaler
im väter­lichen Betrieb und Kurse an der Kunst­
gewerbeschule in Leipzig | 1909 Bewerbung
an der Kunstakademie Dresden, 1911 Immatri­
kulation, Studium bis 1922, unter anderem
bei Raphael Wehle, Richard Müller, Robert Sterl
und Oskar Zwintscher (Militärdienst 1914 – 19),
1919 – 22 Meisterschüler von Otto Gussmann
1909 – 12 Studium an der Kunstakademie
in Dresden bei Robert Sterl und Raphael
Wehle, Richard Müller und Osmar Schindler
(Sommer 1912 beurlaubt)
Die Großmutter
1922 | Radierung | 14,7 × 20 cm | SKD, KupferstichKabinett, Inv.-Nr. A 1963 – 93
Selbstbildnis
um 1934 | Öl auf Leinwand | 54 × 40 cm |
Privatbesitz Hermsdorf
Die grotesken Zeichnungen von Curt Großpietsch
ziehen sich durch alle Werkphasen hindurch. Der
Erste Weltkrieg, den er schwer verwundet überlebt hat, findet nur indirekten Eingang in seine
Bildwelten. Zurück an seinem Studienort Dresden sind es aber auch alltägliche Beobachtungen, die ihn fesseln. »Diese frühe Graphik, wie
›Fabrikmädchen‹, ›Annäherung‹, ›Ein Opfer‹, ›Die
Großmutter‹, zeigt deutlich den Anteil des Künstlers am Dresdner Veris­mus, sein sensibles Reagieren auf die katastrophale Zeitstimmung der
Inflation« (L. Fischer, in: AK Regensburg 1983,
S. 11). Die verknöcherte, Kekse essende alte
Frau im Rollstuhl begleitet der gierige Blick eines
auf der Brücke herumlungernden Mannes. Die
Freude an der Überzeichnung von Figuren, die
am stärksten bei dem aus dem Bild herausblickenden Gnom zu beobachten ist, scheint gegenüber sozialkritischer Anklage zu überwiegen.
Anders verhält es sich in einer Gruppe von
Gemälden, die ab der Spätphase der Weimarer
Republik entstand: Hier verliert sich das groteske Element. Ein oder zwei Selbstbildnisse hat
Großpietsch 1935 und 1936 in Dresdner Ausstellungen gezeigt, die sich aufgrund fehlender
Katalogabbildungen allerdings nicht eindeutig
identifizieren lassen. Bei dem um 1934 entstan-
216
denen Ölgemälde zeigt sich der Künstler in satt
aufgetragener Farbe vor einem dunklen Vorhang.
Seine rechte Gesichtshälfte wird von natürlichem Licht erhellt. Die Physiognomie ist neutral
gehalten, auch der Blick wirkt unbestimmt.
Dass Großpietsch bis in die 1960er Jahre
hinein ein »verkannter Künstler« war, verwundert
angesichts seiner Umtriebigkeit in der Dresdner
Kunstszene. Er versteckte sich nicht im Atelier,
sondern war aktives Mitglied der Künstlergruppe »Die Schaffenden«, engagierte sich im Vorstand der Dresdner Kunstgenossenschaft und
war das einzige SPD-Mitglied der Dresdner
»Asso«. Nachträgliche Ausblendungen lassen
seine Position im »Dritten Reich« heute nur erahnen. RH
Literatur: AK Dresden 1965 | Curt Großpietsch, AK Ostdeutsche
Galerie Regensburg 1983/1984, Regensburg 1983 | Curt Großpietsch, 1893 – 1980. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen, AK Kunstsammlung Gera, Otto-Dix-Haus 2000, Gera 2000
Vielleicht ist George Grosz einer der bekanntesten, in jedem Fall einer der provokativsten
Künstler der letzten Jahre des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Sein
Werk, häufig auf Themen der Großstadt bezogen, ist eng mit der Metropole Berlin verbunden.
Weniger bekannt ist jedoch, wie wichtig und
prägend auch seine Ausbildungszeit an der
Kunstakademie in Dresden von 1909 bis einschließlich 1912 war. Mit dem Ziel, die Techniken
der Bildkomposition zu lernen und einer jener
großen Historienmaler zu werden (Grosz 1955,
S. 61), studierte er in der sächsischen Residenz
die berühmten Historien- und Porträtmaler des
19. Jahrhunderts und wurde von Richard Müller,
Osmar Schindler und Robert Sterl ausgebildet.
Besonders das exakt-mühsame Abzeichnen der
Gipsabgüsse in der Zeichenklasse von Müller,
in der »mit militärischer Strenge, Malstock und
einem Dutzend tödlich spitzer Kreidestifte« regiert wurde (Grosz 1955, S. 56), waren ihm zwar
zuwider, schulten jedoch seine zeichnerischen
Fähigkeiten. Sein anschließendes Studium an
der Kunstgewerbeschule in Berlin absolvierte
er von 1912 bis 1917 bei Emil Orlik mit kriegsbedingten Unterbrechun­gen. In der Folge entstanden zahlreiche Kriegskrüppel-, Soldaten- und
Infanteristenbilder. Bereits während dieser Zeit
trat der Maler, Zeichner, Illustrator, Satiriker und
Karikaturist George Grosz, wie er sich seit 1916
selbst nannte, mehrfach in der Kunstszene in Erscheinung. Die Verhaftung während des Spartakusaufstandes 1919 und sein Eintritt in die KPD,
anschließende Anklagen und Verurteilungen wegen Gotteslästerung, Beleidigung der Reichswehr und anderer unsittlicher künstlerischer und
verbaler Äußerungen sind nur einige Beispiele,
die Leben und Werk des bedeutenden Kritikers
der Weimarer Zeit und Chronisten der zuweilen
abgründigen Großstadtrealität prägten.
Grosz gilt als einer der Hauptvertreter des
Dada sowie der Neuen Sachlichkeit. Seinen
späteren Kollegen Otto Dix und Otto Griebel mag
er künstlerisch, in seiner veristischen Schärfe,
Ecce Homo
1919/20 | Tuschfeder | 52,5 × 38,5 cm |
Sammlung Karsch /Nierendorf
seinen rigorosen und provokativen Sujets, seinen
gesellschaftskritischen, oftmals kompromissloskarikierenden Darstellungen ein Vorbild gewesen sein. Im Vergleich zu beiden gilt er jedoch
als der Politischere, als »der Satiriker unter den
Veristen« (AK Berlin 1974, S. 30). So erscheint
1921 im Bild »Grauer Tag« das gut situierte
deutschnationale Beamtentum in Gestalt eines
wohlgekleideten Winkeladvokaten mit Gesichtsschmiss und strengem Zwicker vor einer Mauer.
Eine Persiflage der herrschenden Klasse, die
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das emsig arbeitende Proletariat dazu verdonnert, die »Klassenschranke« selbst zu errichten
(AK Berlin 1977, S. 4/114 – 115, Kat.-Nr. 4/6).
Ein Armutszeugnis einer Gesellschaft, die selbst
den Kriegsinvaliden, der sein Leben für das Land
riskiert hatte, auf die andere Seite der Mauer, auf
die untere Ebene der Gesellschaft abschiebt.
Bezeichnenderweise wurde eben dieses Bild
1925 auf der Dresdner Ausstellung »Die neue
Sachlichkeit« unter dem Titel »Magistratsbeamter für Kriegsbeschädigtenfürsorge« gezeigt.
Bis Mitte der 1920er Jahre wurde Grosz’ Schaffen von zahlreichen schonungslosen und demaskierenden Zeichnungen und Illustrationen
dominiert. Erst 1925 tritt er mit einem eindrucksvollen Ölgemälde, dem »Porträt des Schriftstel-
lers Max Herrmann-Neiße« in der von Hartlaub
organisierten Mannheimer Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit als Maler wieder in Erscheinung.
Der kleine verwachsene Körper, im Kontrast zu
dem höchst wachen und zynisch-klugen Geist
des Berliner Satirikers, wird von Grosz in scharfer Realistik und nahezu schamlos in Nahsicht
als Charakterstudie dokumentiert. Neiße saß
dem Künstler unzählige Male Modell in seinem
Atelier. Das belegt eine beachtliche Anzahl von
Skizzen, in denen der Maler nüchtern und sachlich im Halbprofil die in sich zusammengesunkene, knöchrige Erscheinung mit markanter Nickelbrille, modischen Gamaschen und Scharf218
grosz
grosz
Grauer Tag (Magistratsbeamter
für Kriegsbeschädigtenfürsorge)
1921 | Öl auf Leinwand | 115 × 80 cm |
Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie,
Inv.-Nr. B 97
blick darstellt. Jener große Schriftsteller und
Satiriker, der für Grosz eben ganz besonders
auch Gleichgesinnter und Freund war: Im Porträt Max Herrmann-Neißes wird deutlich, worum
es in den Bildnissen von Grosz ging. Es ist das
Erfassen des Typischen, des Charakteristischen
und Individuellen, was mitunter – noch mehr in
seinen Zeichnungen und Illustrationen – in zügelloser Zuspitzung, Übertreibung und Karikierung endete und das Unverkennbare in seinem
Œuvre ausmacht. Mit den Bildnissen ab 1925
entsteht eine Reihe neusachlicher Porträts wie
jene von Max Schmeling, des Schriftstellers
Walter Mehring und auch 1927 eine zweite Fassung des Porträts seines Freundes Max Herrmann-Neiße, die sich heute im Museum of Modern Art in New York befindet. Seine meist grotesk-sarkastischen und gesellschaftskritischen
Motive wie in »Die Stützen der Gesellschaft«
oder »Sonnenfinsternis«, beide aus dem Jahr
1926, weichen in den Bildnissen nur kurzzeitig
einer gemäßigteren, scheinbar weniger sozialkritischen Ausdrucksform.
Grosz selbst begriff sich offenbar als »journalistischer Tageszeichner« (Ein neuer Naturalismus?? Eine Rundfrage des Kunstblatts, in: Das
Kunstblatt 6:1922, S. 382 f.) und wurde bereits
von seinen Zeitgenossen zum »sozialen Reformator« stilisiert. Er verzichtete größtenteils bewusst auf eine plastisch-modellierende Schraffur mit Tiefenwirkung zugunsten einer messerscharfen Kontur. Seine Dresdner Zeichenlehre,
die ihm zu jener vortrefflichen zeichnerischen
Präzision verhalf, sowie das Studium seiner großen Vorbilder Hogarth und Brueghel (vgl. Der
Cicerone 19:1927, S. 123 – 125) erlaubten ihm,
ganze Bildgeschichten mit nur wenigen Strichen
und einer bis auf die wesentlichen Umrisslinien
vereinfachenden Bildanlage zu erzählen. Dadurch konnte Grosz in kürzester Zeit politische
oder gesellschaftliche Ereignisse rezipieren und
mit seinem bizarr-skurrilen Zeichenstil gegen die
»Schönmalerei« rebellieren. Ob Paris, wo er
mehrmals verweilte, oder Berlin: Koketterie und
Eleganz des Großstadtlebens waren dem virtuosen Dandy Grosz, der sich selbst gern den
zeitgenössischen Modekonventionen hingab,
willkommenes Motiv, seinem dialektischen Verhältnis zwischen der Bewunderung einer amerikanisiert-modernen, mitunter durchaus imposanten Dekadenz der Avantgarde einerseits und
der verhassten großbürgerlichen Daseinsform
mit ihren Klassengegensätzen und perversen
Abseitigkeiten andererseits, Ausdruck zu verleihen. In satirischer Zuspitzung erscheinen seine
durch die Großstadt flanierenden oder in Bars
und Bordells verweilenden Bohemiens, Kokotten, Dandys. Auch die Figur des Matrosen
(S. 220), Symbol progressiven Gedankenguts,
der Freiheit und der Unabhängigkeit, der ähn-
Porträt des Schriftstellers
Max Herrmann-Neiße
1925 | Öl auf textilem Bildträger | 100 × 101 cm |
Kunsthalle Mannheim, Inv.-Nr. M 1070
lich wie die Soldaten lange Zeit in völliger Isolation lebt, amüsiert sich daher umso mehr mit
seinem geringen Auskommen in den Freudenhäusern und Spelunken. Getrieben von revolutionären wie auch humanistischen Visionen einer besseren und sozial gerechteren Welt, kritisierte Grosz in seinem umfangreichen Œuvre
mit emphatischer Kompromisslosigkeit und veristischer Hitzigkeit jene eklatante Diskrepanz
zwischen der zunehmend kapitalistischen Lohnsklaverei der herrschenden Klasse und dem
immer weiter verelendenden Proletariat. 1933,
kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, musste Grosz ins Exil nach New York
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emigrieren, wo er 1938 die amerikanische
Staatsbürgerschaft erlangte. Kurz nach seiner
Übersiedlung nach Berlin 1959 starb er an
den Folgen einer durchzechten Nacht. JK
Literatur: Grosz 1955 | Tendenzen der Zwanziger Jahre: 15. Euro­
päische Kunstausstellung, AK Nationalgalerie Berlin u. a. 1977,
Berlin 1977 | George Grosz. Berlin – New York, AK Nationalgalerie Berlin, Kunstsammlung NRW Düsseldorf, Staatsgalerie
Stuttgart 1994/95, hg. v. P.-K. Schuster, Berlin 1994 | George
Grosz. Neue Sachlichkeit und Realismus 1921 – 1945, AK Galerie Fred Jahn München 2007, München 2007 | George Grosz.
Kunst als Sozialkritik. Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken,
AK Saarlandmuseum Saarbrücken 2007/08, Saarbrücken 2007
Dresden war in den 1920er Jahren eines der wichtigsten Zentren der
Neuen Sachlichkeit und des Verismus in Deutschland. Die Dresdner
Kunstakademie prägte eine ganze Generation von Künstlern – von
Otto Dix, George Grosz, Otto Griebel, Bernhard Kretzschmar, Hans
Grundig, Wilhelm Lachnit bis Rudolf Bergander, Curt Querner und
Willy Wolff. In kühler Distanz und messerscharfer Präzision beschrieben die Maler ihre Wirklichkeit. Bissige Ironie stand altmeisterlicher
Eleganz gegenüber. Werke von über 70 Künstlern, zum Teil bislang
nahezu unbekannte Positionen von überraschender Qualität, sind in
diesem Kompendium zusammengeführt. Das großzügig bebilderte
Buch bietet erstmals einen Überblick über die facettenreiche Kunstströmung in den Jahren der Weimarer Republik bis 1933.
San dstei n