Attacke aus dem Netz - Gerhart-Hauptmann
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Attacke aus dem Netz - Gerhart-Hauptmann
Samstag, den 15. Februar 2014 GRIESHEIMER ANZEIGER Seite 7 THEMA Cyber-Mobbing und Sexting – Immer mehr Schüler im Internet bloßgestellt Attacke aus dem Netz H anna ist auf dem Weg in die Schule. Noch bis vor wenigen Tagen ist sie gerne hierher gekommen, freute sich auf den Unterricht und ihre Mitschüler. Heute ist das anders. Schon allein der Gedanke, in die Schule gehen zu müssen, bereitet ihr unerträgliche Bauchkrämpfe, schwere Migräne und Weinanfälle. Es kursieren Intimfotos von ihr an der ganzen Schule und alle machen sich über sie lustig. Tobias wird das Gefühl nicht los, dass alle seine Mitschüler über ihn tuscheln. Eine Erklärung dafür hat er nicht. Bis er dahinter kommt, dass böswillige Gerüchte über ihn per WhatsApp von Handy zu Handy geschickt werden. Janina wird damit konfrontiert, dass ihre Klassenkameraden eine „Alle-hassen-Janina“-Gruppe auf Facebook gegründet haben. Selbst ihre beste Freundin hat sich der Gruppe angeschlossen. Als Opfer von Cyber-Mobbing sind Schüler immer häufiger aggressiven Schmähungen im Internet ausgesetzt, die sich in der realen Welt, nämlich im Klassenzimmer und auf dem Schulhof, fortsetzen. Cyber-Mobbing bezeichnet das wiederholte, absichtliche Beleidigen und öffentliche Bloßstellen einzelner Personen mittels digitaler Medien. Erniedrigende Inhalte werden innerhalb kürzester Zeit rund um die Uhr über soziale Netzwerke im Internet geteilt. Beim so genannten „Sexting“, eine Zusammensetzung aus „sex“ und „texting“, werden Intimfotos ungewollt in den Weiten des World Wide Web verbreitet. In beiden Fällen kommt ein Prozess in Gang, in den ganze Klassenverbände oder Gruppen involviert sein können. Die Anonymität des Internets verleitet viele zum Mitmachen. Jeder, der die Inhalte teilt, macht sich automatisch zum „Mittäter“ der OnlineMobbing-Attacke. Was einmal im Internet kursiert, ist mitunter nie wieder löschbar. Inhalte können beliebig gespeichert und jederzeit erneut ins Netz geladen werden. Dementsprechend schwer ist es, Cyber-Mobbing-Situationen Herr zu werden. Cyber-Mobbing und Sexting sind neue, ernstzunehmende Phänomene, die erst langsam öffentliche Beachtung finden. Schauplatz sind vor allem weiterführende Schulen, teilweise sogar auch Grundschulen. Die virtuellen Mobbing-Attacken erfolgen oft innerhalb der Schülerschaft und wirken somit intensiv in den Schulbetrieb hinein, die Grenzen zwischen Privatund Schulangelegenheit verschwimmen. Im Gegensatz zu Mobbing in der realen Welt unterscheidet sich Cyber-Mobbing unter anderem dadurch, dass das Publikum unüberschaubar groß ist und Inhalte unkontrollierbar gestreut werden können. Die von Cyber-Mobbing betroffenen Kinder und Jugendlichen haben mit massiven psychischen und physischen Problemen zu kämpfen, die bereits sehr junge Kinder nachweislich in den Suizid getrieben hat. Laut einer repräsentativen Studie der Techniker Krankenkasse und der Universität Münster aus dem Jahr 2011 sind 32 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis Die beiden Schulsozialarbeiter Kerstin Vogt und Björn Schaub arbeiten mit den Schülern der Griesheimer Gerhart-HauptmannSchule Verhaltsregeln im Umgang mit sozialen Netzwerken aus und machen auf die Gefahren im Internet aufmerksam. Matti-Lerch-Foto 20 Jahren von Cyber-Mobbing heile Teenie-Welt von einem andere Schüler vor ähnli- wieder auf den richtigen Weg betroffen. Experten gehen zu- Tag auf den anderen in einen chen Mobbing-Attacken zu zu bringen. Es gilt nun herdem von einer hohen Dunkel- Scherbenhaufen verwandelt beschützen, wäre es deshalb auszufinden, ob im aktuellen ziffer aus. habe. sehr wichtig gewesen, un- Fall bösartige Absichten im Die Eltern des betroffenen verzüglich Präventionsmaß- Spiel waren und diesbezügEin aktueller Fall Mädchens erstatteten unver- nahmen einzuleiten und vor lich Ordnungsmaßnahmen in der Region züglich Strafanzeige und mel- allem auch die Elternschaft an für entsprechende Schüler ergriffen werden müssen. So Auch an vielen Schulen in der deten den Fall dem zuständi- der Bertha-von-Suttner-Schuweit sind wir zum jetzigen le auf Cyber-Mobbing und Co. Region sind Cyber-Mobbing gen Schulamt in Rüsselsheim. Zeitpunkt jedoch noch nicht“, aufmerksam zu machen“, sagt und Sexting angekommen. Wie der Vater im Gespräch sagt Reinhold. Nach Meinung der Vater. mit dieser Zeitung mitteilt, Ein aktueller Fall, der sich an des Vaters ticken die Uhren an habe er sich darüber hinaus Auf Nachfrage dieser Zeider Bertha-von-Suttner-Schuder Bertha-von-Suttner-Schule in Mörfelden-Walldorf er- umgehend an das Direktorat tung beim zuständigen Direkle in diesem Fall eindeutig zu eignet hat, führt die Brisanz der Schule gewandt, um das torat räumt man Fehlverhallangsam. „Die höchsten Steldes Themas vor Augen. Wie weitere Vorgehen mit dem ten ein. Joachim Reinhold teilt len möchten um jeden Preis stellvertretenden Schulleiter mit, dass sein abweisendes die Eltern einer 14-jährigen verhindern, dass ein negatives Schülerin berichten, sei ihre Joachim Reinhold zu bespre- Verhalten „nicht zu entschulLicht auf die Schule fällt. DaTochter von einem älteren chen. Denn laut Hessischem digen“ sei. Er verstehe die Sorbei geht es hier doch um etwas Schüler erpresst worden, por- Schulgesetz ist „Die Schule gen der Eltern und strebe nun ganz anderes, nämlich den (...) zur Wohlfahrt der Schüeine engere Zusammenarbeit nografische Fotografien von Schutz unserer aller Kinder!“ sich selbst anzufertigen und lerinnen und Schüler und an. „Der aktuelle Fall ist an ihm diese in digitaler Form zur zum Schutz ihrer seelischen unserer Schule der erste die- Präventionsarbeit Verfügung zu stellen. Das un- und körperlichen Unversehrt- ser Art. Da es sich um ein sehr an der GHS ter Druck gesetzte Mädchen heit, geistigen Freiheit und heikles Thema handelt, wollsei der Aufforderung nachge- Entfaltungsmöglichkeit ver- ten wir nichts überstürzen und Dass man mit Fällen dieser kommen. Wenig später sei sie pflichtet.“ (Erster Teil, Recht erst einmal Ruhe einkehren Art auch anders umgehen mit der Tatsache konfrontiert auf schulische Bildung und lassen“, erklärt Reinhold. Der- kann, zeigt ein Blick nach gewesen, ihre Intimfotos tau- Auftrag der Schule, § 3, Abs. zeit werde pädagogisches Ma- Griesheim. „Ja natürlich“, sendfach in sozialen Online- 9). Doch anstelle von Unter- terial zusammengestellt, um antwortet Brunhilde MuthNetzwerken wie Facebook stützung seitens der Schul- das Thema Sexting schnellst- mann, Direktorin der Gerhartund WhatsApp wiedergefun- leitung habe der Vater eine möglich in den Klassenstufen Hauptmann-Schule (GHS), den zu haben. Die Fotos seien Absage erhalten. Man wolle sieben bis zehn aufzugreifen. ganz offen auf die Frage, ob von Schüler-Handy zu Schü- das Thema nicht aufgreifen, Weiterhin habe das Direktorat Cyber-Mobbing und Sexting ler-Handy weitergeschickt da die Zeugnisausgabe warte, Kontakt mit dem Schuleltern- auch an der GHS Themen worden – ein digitales, kaum hieß es. Ein Ausweichtermin beirat aufgenommen. Man seien. Die Bandbreite reiche sei dem Vater nicht angeboten erwäge die Möglichkeit, die von Online-Beleidigung und zu stoppendes Lauffeuer. Digitale und reale Welt worden. Auch vonseiten des Elternschaft via E-Mail über Bedrohung über Hass-Grupgreifen eng ineinander. Die Schulamts sei keinerlei Hilfe- Cyber-Mobbing und Sexting pen auf WhatsApp und Faceaufzuklären und sie über die book bis hin zu Sexting-Fällen öffentliche Bloßstellung der stellung erfolgt. 14-jährigen Schülerin im „Das war wie ein Schlag ins aktuellen Vorfälle in Kenntnis mit strafrechtlicher Relevanz. „Es bringt überhaupt nichts, Internet sei von massiven Gesicht. Die digitale Welt birgt zu setzen. verbalen Beleidigungen und hohe Risiken für die Kinder. „Die Schüler sind mitten in das totzuschweigen. Bei rund sogar Körperverletzung auf Viele Eltern wissen gar nicht, der Pubertät. Das ist für alle 1200 Schülern bleibt es nicht dem Schulhof und im Klas- dass Sexting und Cyber-Mob- eine schwierige Zeit. Wir als aus, dass Cyber-Mobbing vorsenzimmer begleitet gewesen. bing überhaupt stattfinden. Schule versuchen, die Schüler kommt“, so die Schulleiterin. Ein realer Alptraum, der die Uns ging es ja genauso. Um an die Hand zu nehmen und Da das Wohlergehen der Cyber-Mobbing auch an der GHS ein Thema Bei der Umfrage, die 2012 in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Medienkompetenz an der GerhartHauptmann-Schule durchgeführt wurde, haben sich 1027 GHS-Schüler anonym zu ihrem Internetnutzungsverhalten geäußert. Daraus ging hervor, dass bereits 70 Prozent der Fünft- und Sechstklässler über einen eigenen Internetanschluss verfügen. In Klassenstufe acht nutzen schon 90 Prozent der Schüler einen eigenen Anschluss. Neben OnlineSpielen, Musik und Filmen liegt der Fokus der Jugendlichen im World Wide Web klar auf sozialen Netzwerken. Spätestens ab der siebten Klasse sind über 90 Prozent der Schüler bei mindestens einer Kommunikationsplattform angemeldet, vor allem beim Marktführer Facebook. Aus der Umfrage geht außer- dem hervor, dass die Schüler ihren Beliebtheitsgrad durch eine möglichst hohe Anzahl von Facebook-Freunden definieren. So haben 50 Prozent der Siebtklässler zwischen 200 und 400 Facebook-Freunden, bei vielen liegt die Zahl noch deutlich höher. Während der Großteil der befragten Schüler angibt, noch kein Opfer von Cyber-Mobbing gewesen zu sein, berichten rund 20 Prozent davon, bisher min- destens einmal im Internet beleidigt worden zu sein. Laut Umfrage wenden sich betroffene Schüler vorwiegend an Freunde, Lehrkräfte und Sozialarbeiter an der GHS, um die Probleme zu besprechen und eine Lösung zu finden. Schwieriger sei es für die Schüler, Cyber-Mobbing im Elternhaus offen zu kommunizieren, da viele ein dauerhaftes Internetverbot befürchten. han GHS-Schüler jedoch immer an erster Stelle stehe, setze man sich schon seit mehreren Jahren intensiv mit den Gefahren, die im Internet lauern, auseinander. „2012 wurde die AG Medienkompetenz ins Leben gerufen, in deren Rahmen wir eine große Umfrage durchgeführt haben, die sich mit dem Medienkonsum unserer Schüler beschäftigt hat. Auch zum Thema CyberMobbing wurden die Schüler befragt. Die Ergebnisse haben wir sorgfältig ausgewertet und unser medienpädagogisches Unterrichtsangebot dementsprechend angepasst und erweitert“, sagt Muthmann. So passe die AG Medienkompetenz, bestehend aus Lehrerin Gertrud Pfaff-Römbke und den beiden Sozialarbeitern Kerstin Vogt und Björn Schaub, ihr umfassendes Medienkonzept für die GHS kontinuierlich den aktuellen Entwicklungen an. „Vor allem die Tatsache, dass mittlerweile ein Großteil der Fünftklässler über internetfähige Smartphones verfügt, macht deutlich, dass es thematisch bereits bei den Kleinen einzusteigen gilt. Vor allem die Nutzung von Messenger-Programmen wie WhatsApp oder Viber stehen hier im Mittelpunkt“, sagt Schaub. In diesem Zusammenhang habe das Team Schulsozialarbeit bereits in einigen Klassen „Chat-Regeln“ erarbeitet. Zusätzlich sei geplant, den Medienparcours „Uron“, der von der Kinderund Jugendförderung Darmstadt-Dieburg, Fachstelle Suchtprävention, angeboten wird, an die Schule zu holen. „Im Jahrgang sechs fanden in diesem Jahr bereits zum dritten Mal Klassenworkshops zum Thema ‚Sicherheit im Netz’ statt. Den Schwerpunkt haben wir dabei sowohl auf die Nutzung neuer Medien in Verbindung mit Rechten und Pflichten für die User als auch auf Themenbereiche wie Cyber-Mobbing, Recht am eigenen Bild und Abo-Fallen gelegt“, berichtet der Schulsozialarbeiter. Für die Jahrgänge acht und neun seien in Kooperation mit der Fachschaft Deutsch verschiedene Lektüren zum Thema CyberMobbing angeschafft worden, um das Thema zukünftig noch intensiver im Unterricht aufzugreifen. „Grundsätzliches Ziel unseres Präventionskonzepts ist es, möglichst jeden Jahrgang zu erreichen. Deshalb arbeiten wir fachübergreifend und sorgen dafür, dass sich die Schüler aller Altersgruppen regelmäßig mit diesem Thema auseinandersetzen“, so Schaub. Er fasst zusammen: „Wir greifen immer ein, wenn es brennt und nehmen uns die Zeit, jeden Einzelfall ganz individuell zu bearbeiten. Unsere Schüler wissen, dass sie jederzeit zu uns kommen können, wenn Probleme auftauchen.“ In enger Zusammenarbeit mit der Jugendförderung der Stadt Griesheim und der Jugendsozialarbeit des Landkreises Darmstadt-Dieburg wird darüber hinaus auch wichtige Aufklärungsarbeit für die Eltern geleistet. So war Günter Steppich, Beauftragter für Neue Medien an der Gutenbergschule Wiesbaden und IT-Fachberater für Jugendmedienschutz am Staatlichen Schulamt für Wiesbaden und den Rheingau- Taunus-Kreis, Ende Januar zu Gast an der GHS, um die Eltern zu informieren, wie sie ihre Kinder vor Gefahren im Internet schützen können. Die vielfältigen Präventionsmaßnahmen an der GHS wurden Anfang des Jahres zum zweiten Mal von der Jubiläumsstiftung der Sparkasse Darmstadt ausgezeichnet. Das Preisgeld in Höhe von 2 000 Euro fließt zu hundert Prozent in die medienpädagogische Arbeit der Schule. „Wir merken ganz deutlich, dass unsere Arbeit Früchte trägt und die jüngeren Schüler von den älteren lernen. Deshalb möchten wir gerne versuchen, Schüler aus der neuen Oberstufe zu Mediencoaches auszubilden, die wiederum den jüngeren Kindern im Umgang mit Facebook und WhatsApp Tipps geben können“, sagt Schaub. Schwierige Rechtslage Rein rechtlich gesehen sind Cyber-Mobbing und Sexting in Grauzonen angesiedelt. Laut Polizei sei Cyber-Mobbing an sich kein eigenständiger Straftatbestand. Viel mehr vereinigten sich hier mehrere Straftaten, deren Tragweite den Tätern oftmals nicht bewusst sei. Hierzu zählen Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung, Nötigung, Bedrohung sowie Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Ein großes Problem sei, dass sich viele Fälle von Cyber-Mobbing auf Webseiten zutragen, die im Ausland angemeldet sind und sich der deutschen Rechtsprechung somit entziehen. Ebenfalls heikel: Auch vermeintliche Opfer von CyberMobbing und Sexting sowie Erziehungsberechtigte und Schulen können sich strafbar machen, vor allem dann, wenn intime Darstellungen von Minderjährigen im Spiel sind: „Wenn eindeutige Fotos von Minderjährigen als Kinderpornografie eingestuft werden, ist das für die beteiligten Eltern und Schulen höchst problematisch, da sie sich mit der Sicherung solcher Fotos als Beweismittel selbst in Gefahr bringen können, wegen des Besitzes von Kinderpornografie belangt zu werden“, weist Medienexperte Günter Steppich auf seiner Internetseite www.medien-sicher.de hin. Und weiter: „Nach meiner Erfahrung ist in vielen dieser Vorfälle die Wiedergutmachung durch die Täter gar nicht mehr möglich und der Imageschaden für die Betroffenen irreparabel.“ Der Griesheimer Polizei seien derlei Fälle bislang nicht gemeldet worden. Wie Polizeidienststellenleiter Rüdiger Funck erklärt, sei das Thema generell mit Vorsicht zu genießen: „Oftmals ist es so, dass Schüler Intimfotos mit Zustimmung machen. Es spielt viel Unerfahrenheit mit hinein. Die Bilder landen meistens aufgrund einer verflossenen Liebe im Internet und das Ganze nimmt dann seinen Lauf. Man sagt deshalb auch, ‚das Problem sitzt hinter dem Computer.’ Wichtig ist, jeden Fall sehr differenziert zu betrachten und genau zu schauen, ob wirklich Nötigung oder Erpressung im Spiel gewesen ist.“ Weiterführende Infos zum Thema Cyber-Mobbing gibt es unter www.medien-sicher. de und www.klicksafe.de. han