Genealogie bei Nietzsche

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Genealogie bei Nietzsche
Genealogie bei Nietzsche
Zur Logik des Genetischen bei Nietzsche
Wissenschaftliche Hausarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Magister Artium
dem Philosophischen Seminar
des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften
an der Universität Hamburg
vorgelegt von
Heiko Wichmann
Erstgutachter: Dr. Bernhard H. F. Taureck
Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Bartuschat
Hamburg, 1995
1. Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie ....... 3
a) die Problemstellung der Arbeit ................. 3
b) Diskussion und Forschungssituation ............ 10
c) vom Réealismus zur Genealogie ................. 27
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als
Typologie der Kräfte ................................. 37
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer
Perspektive .......................................... 55
4. Exkurs: Genealogie und die klassische
Geschichtswissenschaft ............................... 69
5. Zusammenfassung ...................................... 77
Literatur ............................................... 80
Erklärung ............................................... 86
Lebenslauf .............................................. 87
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
Genus "Art, Gattung; grammatisches Geschlecht". Das Fremdwort ist eine nhd.
Entlehnung aus lat. genus "Geschlecht; Gesamtheit der Nachkommenschaft; Art,
Gattung", das identisch ist mit griech. génos. Beide sind Nominalbildungen zu dem idg.
Verbalstamm *^gen- "gebären, erzeugen", der in lat. gi-gne-re "erzeugen,
hervorbringen" (vgl. auch Genius, Genitale, Genitiv, Ingenieur, Natur, Nation) und griech.
gí-gne-sthai "geboren werden, werden, entstehen" vorliegt (vgl. Kind). Zu griech.
gígnesthai gehört die Bildung griech. génesis "Geburt, Ursprung", auf die – über lat.
genesis – unser Fremdwort Genesis, eingedeutscht Genese "Entstehung, Entwicklung"
zurückgeht, beachte auch die gelehrte Neubildung Genetik "Vererbungslehre", dazu
Genetiker und genetisch. Unmittelbar zu lat. genus (Ablativ: genere), auf das auch frz.
genre zurückgeht (beachte das Fremdwort Genre "Gattung, Art [besonders in der
Kunst]"), gehören etliche Ableitungen und Komposita, die als Fremdwörter im
Deutschen eine Rolle spielen: lat. generalis "zum Geschlecht, zur Gattung gehörig;
allgemein"
(aGeneral,
ageneralisieren,
agenerell),
lat.
generatio
"Erzeugung" (aGeneration), generator "Erzeuger" (aGenerator), generosus "von edler
Abstammung" (agenerös), lat. degenerare "aus der Art schlagen" (adegenerieren) und
re-generare "von neuem hervorbringen" (aregenerieren). Eine wissenschaftliche Bildung
zu griech. génos "Geschlecht, Abstammung, Gattung, Art" ist aGen. 1
1. Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
a) die Problemstellung der Arbeit
In dieser Arbeit soll untersucht werden, ob und in welcher Form sich die
„Genealogie“ bei Nietzsche als kritische Methode, als philologisches oder
hermeneutisches Verfahren oder als pessimistische Kulturkritik begreifen läßt.
Der Begriff der „Genealogie“ taucht in Nietzsches Werk zuerst und an
markanter Stelle 1887 im Titel der „Streitschrift“ „Zur Genealogie der Moral“ auf.
‚Logik des Genetischen‘ im Titel der vorliegenden Arbeit soll vorerst nichts weiter
bedeuten als die Aufspaltung des Nominativs ‚Genealogie‘ zum genitiven Doppel.
Das genitive Doppel zeichnet in der Philosophie einige bedeutsame Werke aus (die
drei Kritiken Kants; Hegels „Wissenschaft der Logik“), und hat Anlaß zur
Infragestellung von Subjekt- und Objektposition in der besitzanzeigenden
Konstruktion gegeben. Legt die vorliegende Arbeit ihr Schwergewicht auf das
1
!
Der Duden in 12 Bänden. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Band 7. Stichwort:
"Etymologie". 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage von Günther Drosdowski.
Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag, 1989.
3
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
vorgebliche Objekt des Titels oder auf das vermeintliche Subjekt? Geht es um die
Logik oder um das Genetische?
So wie in der Philosophie Nietzsches das traditionelle, dogmatisch
verhärtete Subjekt-Objekt-Verständnis und scheinhafte Ursache-WirkungKausalitäten in Frage gestellt wurden, läßt sich die Logik ebensowenig wie das
Genetische aus dem Verhältnis lösen. Das Genetische spricht in der Philosophie
Nietzsches den Komplex von Werden, Willen zur Macht, Kreativität, Leben und
Überschreitung an, während die Logik das Systematische, auch das Aphoristische,
das Assoziative, das Methodische und die Ironie, die integrative und experimentelle
Funktion des Stils bei Nietzsche ansprechen soll. Nietzsches Genealogie, als Logik
des Genetischen aufgefaßt, ist verknüpft mit der evolutionären Gesellschaftstheorie,
den kulturkritischen Einschließungen (Dekadenz und Degeneration), mit der
Philosophie des Werdens, des Sinns und der Rhetorik sowie der
symptomatologischen Kritik von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Genealogie
ist somit als Methode anzusehen, genetische Prozesse, Entstehungsbedingungen
und Konstellationen aufzuschlüsseln, um Herrschaftsverhältnisse, Machtgefüge
und Herkünfte ablesbar zu machen. Nicht allein die „Genealogie der Moral“,
sondern das ganze Werk von Nietzsche ist in unterschiedlicher Weise von dieser
aufdeckenden, decodierenden Bewegung durchzogen. Als ein exemplarisches Werk
in diesem Sinne ist die „Genealogie der Moral“ hervorzuheben.
Die geläufige Bedeutung des Begriffs Genealogie erfuhr durch Nietzsche eine
Umwertung. Im lexikalischen Sinne ist unter Genealogie die Lehre von den
Abstammungsverhältnissen zu verstehen. Die Genealogie stellt Ahnentafeln auf
(indem sie ihnen den Anschein einer linearen, über Kreuzungspunkte verlaufenden
R e k o n s t r u k t i o n v e r l e i h t ) , d i e g e m ä ß Ve r w a n d t s c h a f t s - u n d
Verpflichtungsverhältnissen Beziehungen zwischen Personen, Familien und
Volksgruppen definieren. Die Kriterien, nach denen Nähe und Ferne der Gruppen
und Personen beurteilt werden, bemessen sich nach der Reinheit bzw. Unreinheit
der Abstammungsverhältnisse. Das Genetische wird substantialistisch als Erbgut
aufgefaßt, das durch die aufeinander folgenden Generationen weitergereicht wird.
4
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
Das Modell der klassischen Genealogie ist der Stammbaum. Positionen und
Beziehungen werden nach diesem Modell verortet.
Bei Nietzsche wandelt sich die Bedeutung des Genealogischen. Nicht mehr
geht es darum, Abstammungsverhältnisse nach Verwandschaftsregeln zu
rekonstruieren, stattdessen werden soziale, kulturelle und politische Verhältnisse
nach Maßgabe der Logik ihrer Entwicklung zum Gegenstand der Kritik. Die
Genealogie unterhält somit Beziehungen zu anderen hermeneutischen Verfahren
wie der Philologie, der Phänomenologie oder der Archäologie, wenn sie sich auch
von ihnen in wesentlichen Punkten unterscheidet. Um ein vorläufiges Verständnis
von der Arbeit des Genealogen zu umreißen, soll es mit derjenigen der verwandten
Disziplinen verglichen werden.
Die Philologie untersucht Texte, Urkunden und Dokumente, beurteilt den
Grad ihrer Wahrhaftigkeit und stellt das Überlieferungsgeschehen (Übersetzungen,
Transpositionen etc.) in Form der Auslegung dar. Die Phänomenologie stellt die
Frage nach dem Grund der Dinge zurück, um das Wesen der Erscheinung zum
Tragen zu bringen und an ihm intentionale und sensuelle Erkenntnisprozesse
darzustellen. Obwohl sie nicht als unmittelbar philosophische Disziplin gilt, kann
als drittes die Archäologie angeführt werden2 , die historische Prozesse über
systematische Ausgrabungsarbeiten, zufällige Funde und Interpretationen
rekonstruiert. Von diesen Logiken, Methoden und Verfahren der Interpretation
unterscheidet sich die Genealogie.3
Die Genealogie ist eine philologische und typologische Methode der
Entschlüsselung. Sie ist an kein bestimmtes Objekt, keine gegebene Materie und an
kein im vorhinein umrissenes Terrain gebunden. Der Gegenstand ihrer
Untersuchung ist ihr nicht im vorhinein gegeben, sondern stellt sich im Zuge der
2
Ähnlich wie Nietzsche mit dem Begriff der Genealogie, hat Michel Foucault – dessen Werk mit
dem Nietzsches vielfältige Beziehungen unterhält – eine Umwertung des Begriffs der
Archäologie vorgenommen.
3
Zum Begriff der 'Genealogie' in philosophischer Hinsicht vgl. auch: Odo Marquard: Stichwort
"Genealogie" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter.
Bd. 3: G-H. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974.
Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die fundierte sozialphilosophische Arbeit von Dieter
Wyss: Strukturen der Moral. Untersuchungen zur Anthropologie und Genealogie moralischer
Verhaltensweisen. Göttingen 1968.
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1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
Analyse und Kritik her. Gerade dieser Aspekt hat in der Nietzsche-Interpretation zu
Verwirrung und Verunsicherung geführt. Die „Genealogie der Moral“ – genommen
als Nietzsches stringenteste Darlegung seiner Genealogie – zeichnet sich durch eine
Vielfalt von Themen, Bezügen und Argumentationsrichtungen aus. Der Umstand,
daß sich Nietzsche in dieser Arbeit nicht in aphoristischer Form, sondern in
argumentativ vorgehenden Abschnitten mitteilt, macht die „Genealogie der Moral“
nicht leichter zugänglich.4 Die Genealogie ist – ebenso wie die Lehre von der
ewigen Wiederkehr oder die Theorie des Willens zur Macht – kein geschlossenes
System, das in einem isolierten Werk präsentiert wäre. Bereits die Tatsache, daß
Nietzsche die „Genealogie der Moral“ als Erläuterung zur Aphorismensammlung
„Jenseits von Gut und Böse“ deklarierte, macht deutlich, daß sich die Genealogie
als Aufgabe und Programm in Nietzsches Werk auf vielfältige Weise verzweigt.5
Der Titel des ersten Aphorismus der Sammlung „Menschliches,
Allzumenschliches“ von 1878 lautet: „Chemie der Begriffe und Empfindungen“;
bereits hier kündigt Nietzsche sein genealogisches Vorgehen an.6 Das ganze Zweite
Hauptstück der Aphorismensammlung ist der „Geschichte der moralischen
Empfindungen“ gewidmet und kann in diesem Sinne als genealogische
4
Karl Jaspers schreibt zu "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral": "diese
Schriften, die sein Philosophieren – soweit er selbst es der Öffentlichkeit darbot – am
vollendetsten, aber ohne System mitteilten." (Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das
Verständnis seines Philosophierens. Berlin: Walter de Gruyter, 1950 (3) [1935]. S. 51.)
5
Werner Stegmaier zählt Nietzsches intensive und verstreute Schreibarbeit in dieser Zeit auf:
"Zwischen Jenseits von Gut und Böse und der Genealogie der Moral verfaßt Nietzsche neue
Vorreden zu Neuausgaben der Geburt der Tragödie, von Menschliches, Allzumenschliches, der
Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft und fügt der Fröhlichen Wissenschaft ein
fünftes Buch hinzu." Werner Stegmaier: Nietzsches "Genealogie der Moral". Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994. S. 44. In dieser Zeit schreibt Nietzsche ebenfalls
das "Lenzer-Heide-Fragment" ("Der europäische Nihilismus") nieder, auf das sich Heidegger in
seinen Vorlesungen bezieht.
Auch Bernard Lauret schreibt: "Die Genealogie weist immer wieder auf die Affektivität des
Willens zur Macht hin." (Bernard Lauret: Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und
Freud. München: Chr. Kaiser, 1977. S. 138.)
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6
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Im zweiten Abschnitt der Vorrede zur "Genealogie der Moral" weist Nietzsche selbst auf die
Sammlung "Menschliches, Allzumenschliches" zurück. In der "Genealogie der Moral" gibt
Nietzsche Verweise auf folgende Abschnitte von "Menschliches, Allzumenschliches" (Erster
Band): § 45: "Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse", § 92: "Ursprung der Gerechtigkeit",
§ 96: "Sitte und sittlich", § 136: "Von der christlichen Askese und Heiligkeit"; "Menschliches,
Allzumenschliches" (Zweiter Band): § 89: "Die Sitte und ihr Opfer", "Menschliches,
Allzumenschliches" (Zweiter Band, "Der Wanderer und sein Schatten"): § 16: "Worin
Gleichgültigkeit not tut", § 22: "Prinzip des Gleichgewichts", § 28: "Das Willkürliche im
Zumessen der Strafen"; sowie "Morgenröte": § 112: "Zur Naturgeschichte von Pflicht und
Recht". - Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Vorrede, § 4. In:
ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S.
766.
6
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
Untersuchung verstanden werden. In dem ersten Aphorismus der Sammlung
„Menschliches, Allzumenschliches“ wird die Richtung vorgezeichnet, die Nietzsche
nach seinen intensiven philologischen Forschungen der Philosophie geben wird.
Ausgehend von der Frage nach der Entstehung moralischer oder reiner
Werte weist Nietzsche darauf hin, daß die historische Philosophie und die
Naturwissenschaften gemeinsam zur Beantwortung der grundsätzlichen Fragen
herangezogen werden müßten. Während die Metaphysik die Entstehung von
Gegensätzen (Vernunft/Vernunftlosigkeit; empfindende/tote Materie; Logik/
Unlogik; interesseloses Anschauen/begehrliches Wollen; Altruismus/Egoismus;
Wahrheit/Irrtum) in die Transzendenz oder in die Sphäre des Geistes verlegt, würde
für die avancierten Wissenschaften die Forschung an dieser Stelle erst beginnen.
Nietzsche leitet daraus die Forderung ab nach einer „Chemie der moralischen,
religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener
Regungen, welche wir im Groß- und Kleinverkehr der Kultur und Gesellschaft, ja
in der Einsamkeit erleben“7 . Im Begriff der Chemie denkt Nietzsche die geistes- und
naturwissenschaftliche Forschung unter dem Gesichtspunkt der verbindenden
Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Geistes und der Sozietät
zusammen. Nietzsche bemerkt, daß er mit dieser Forschungsrichtung
demokratische Vorurteile verletzen würde. Rhetorisch fragt er weiter in dem
Aphorismus: „Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich
aus dem Sinne zu schlagen: muß man nicht fast entmenscht sein, um den
entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?“8 Mit den neuen, transhumanen Fragen
nach Herkunft und Anfängen schließt sich Nietzsche nicht an wertkonservative
7
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erstes
Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen. § 1: "Chemie der Begriffe und
Empfindungen". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser,
1969 (6). Bd. I. S. 447.
8
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erstes
Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen. § 1: "Chemie der Begriffe und
Empfindungen". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser,
1969 (6). Bd. I. S. 448. - Vgl. dazu auch Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine
Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und böse", "gut und schlecht", § 5. In: ders.: Werke in
drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 775 ff.
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1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
oder gar restaurative Bewegungen an, stattdessen geht es ihm darum, die
Genealogie als kritische Methode einer Fröhlichen Wissenschaft auszumachen.9
Durch die dekonstruktivistische Kritik an den Konzeptionen des Einen, des
Anfangs und des Ursprungs als verkappten theologischen oder metaphysischen
Auffassungen steht eine genealogische Philosophie heute nicht allein unter dem
Verdacht, demokratische Vorurteile zu verletzen – vielmehr scheint der Vorwurf
angebracht, daß der Logozentrismus dem genealogischen Begehren seine Form
verleihe. Aufzuweisen wäre, in welcher Form sich die genealogische Perspektive
nicht als Suche nach dem Ursprung des Werdens und der Entwicklung motiviert,
sondern die Entwicklungstendenzen und Entstehungsbedingungen als Parameter
eines nicht mehr im klassischen Sinne historiographischen Urteils über den Stand
kultureller und politischer Systeme genommen werden.
Nietzsches Logik des Genetischen wäre nach ihrer strukturalen Verfaßtheit
zu betrachten. Das genealogische Konzept löst die konventionelle (teleologische,
bildungsbürgerliche, totalisierende etc.) Geschichtsschreibung auf. Keine
historische Linearität oder verborgene Wahrheit kann die Logik des Werdens im
Ganzen verbürgen. Im Gegenteil ist es das Unhistorische, das Vergessen, das
Zwischen, das als Grund der Geschichtsschreibung herausgestellt wird. Nietzsches
Umwertung und Einsatz, der mit dem Begriff der Genealogie markiert sein soll, ist
in der vorliegenden Arbeit herauszustellen.
Die Anfänge von Nietzsches genealogischer Konzeption lassen sich noch
weiter zurück verfolgen. In den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ finden sich in der
Auseinandersetzung mit der klassischen Geschichtsschreibung Aspekte einer
genealogischen Kritik. Im „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“
überschriebenen Teil spricht Nietzsche – gegen Eduard von Hartmanns Konzeption
eines „Weltprozesses“ gerichtet – von der „ersten Generation“, die das Un- und
Überhistorische gegen die geschlossene Geschichtsschreibung entdeckt. Das ist
nicht die einzige Stelle in Nietzsches Werk, die das Genetische mit dem Generativen
9
!
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft ("la gaya
scienza"). § 7: "Etwas für Arbeitsame". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II, S. 41, wo Nietzsche eine Geschichte der
moralischen Werte zu schreiben vorschlägt, die keine Ideengeschichte wäre, sondern eine
Vorgeschichte.
8
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! a) die Problemstellung der Arbeit
verknüpft. Die Generation von Sinn stellt für Nietzsche einen genealogischen
Prozeß dar, der die Vernichtung und die Stiftung von Sinn verbindet.
9
10
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
b) Diskussion und Forschungssituation
Die Interpretation und Auslegung der Schriften Nietzsches bildet mittlerweile eine
eigene, bald hundertjährige Geschichte. Die Tradition kann (ohne eigene
Interpretation) nicht nachgezeichnet oder gar eingeholt werden. Daß diese
Geschichte der Deutungen, Auslegungen und Interpretationen existiert, kann nicht
einfach übergangen oder übersprungen werden. Jede neue Interpretation Nietzsches
schreibt sich in diesen Horizont ein und unterhält explizite oder implizite, offene
oder verdeckte Beziehungen zu den historisch vergangenen, aber nicht
abgeschlossenen Auslegungen.
Im Fall von Nietzsche muß dieser Umstand betont werden, denn die
hermeneutische Masse und das spezifische Gewicht der vorangegangenen
Auslegungen hat die primären Texte Nietzsches zu einem großen Teil bereits
verdeckt oder mit den erfolgten Auslegungen verwoben. In seinem in die
Philosophie Nietzsches einführenden Buch setzt Karl Jaspers Verstehen und
Interpretation als wirkliche Hinwendung zum Text an: „Statt mit einem von
Nietzsche gedanklich, schriftstellerisch, biographisch Hervorgebrachten bloß zu
hantieren, statt nur von ihm als einem Andern zu wissen, würde man selbst
eintreten in die Bewegung des eigentlichen Nietzsche.“10
Der ¸Eintritt in die
Bewegung des eigentlichen Nietzsche‘ ist in dieser Form einer falschen
Identifikation allerdings zu ähnlich, als daß sich die Bemerkung von Jaspers zur
methodischen Übernahme eignen würde.
Zu der ¸ursprünglichen‘ Schicht eines ¸eigentlichen Nietzsche‘ kann die
Interpretation nicht mehr vordringen, ohne die im Kern fragmentarische
Philosophie Nietzsches zu verraten. Der Versuch einer unvoreingenommenen
Rekonstruktion von Nietzsches Denken anhand seiner ursprünglichen Texte wäre
illusionären Vorgaben unterworfen. Das hat seinen Grund nicht allein in der
Tatsache der massiven bereits erfolgten Auslegung, sondern ebenso in der
10
! Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin: Walter de
Gruyter, 1950 (3) [1935]. S. 14.
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
aphoristischen Form, dem Entzug, der „ursprünglichen Zerstreuung“, die in den
Texten Nietzsches selbst angelegt ist.11
Der Text Nietzsches zerfällt in der Analyse, er zerspringt in Partikel und läßt
sich weder in bewahrender, noch in rekonstruktiver Absicht zum Ganzen bilden.
Spezifische stilistische Praktiken geben Argumentationsrichtungen vor, die
abgebrochen oder von einer anderen Seite aus fortgesetzt werden. Auslassungen,
Anführungsstriche, Gedankenstriche und andere materielle, aber nicht unmittelbar
zu übersetzende typographische Markierungen setzen den Sinn und die Kontinuität
aus. Sprünge im Text könnten als philologische Ungenauigkeit kritisiert werden,
wenn damit nicht der in der Zerrissenheit des Textes liegende Aufruf zerstört
werden würde.
In seiner Monographie zu Nietzsche schreibt Giorgio Colli, daß Nietzsche
nicht einmal zitierbar wäre. Unter dem Titel „Zitieren verboten“ schreibt er: „Ein
Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt; denn er
kann ihn all das sagen lassen, worauf er selber aus ist, indem er authentische Worte
und Sätze nach freiem Belieben geschickt arrangiert. Im Bergwerk dieses Denkens
ist jedes Metall zu finden: Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem.
Und überhaupt ist es unredlich, sich der Zitate aus Nietzsche zu bedienen, wenn
man über ihn spricht; man verleiht so den eigenen Worten Gewicht durch die
Wirkung, die davon ausgeht, daß die seinen in ihnen erscheinen.”12
Trotz der Schwierigkeiten, den Text Nietzsches aufzufinden, sollen die
Bedingungen reflektiert werden, unter denen eine Interpretation geleistet werden
kann. Dazu soll der Stand der Diskussion um die genealogische Fragestellung bei
11
! Wie nur wenige andere Autoren hat Maurice Blanchot Nietzsches wesentliche Fragmentarität
herausstellen können. Vgl. dazu Maurice Blanchot: "Nietzsche und die fragmentariche Schrift".
In: Werner Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt/M.; Berlin; Wien: Ullstein,
1986. S. 47-73.
12
! Giorgio Colli: Nach Nietzsche. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1993 [zuerst: Frankfurt/
M.: Europäische Verlagsanstalt, 1980] {Dopo Nietzsche. Milano: Adelphi Edizioni, 1974} S.
209. - Auch der Legitimität und der Referenz des Colli-Zitats an dieser Stelle wäre
nachzufragen.
11
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Nietzsche sowie die Forschungsarbeit, die zu diesem Thema bereits vorliegt,
vorgestellt werden.13
Die genealogische Dimension in Nietzsches Philosophie ist durch die
Tradition mit seinen Überlegungen zur Rassentheorie, zu evolutions- und
zivilisationstheoretischen Fragestellungen verknüpft. Auf dieser Linie der
Auslegung von Nietzsches Philosophie bewegen sich die nationalistischen,
völkischen und mystizistischen Arbeiten von Alfred Bäumler oder Ernst Bertram.
Auch Oswald Spengler, der Verbindungen zur „Gesellschaft der Freunde des
Nietzsche-Archivs“14
unterhielt, ist in diesem Zusammenhang zu nennen.
Nietzsches Genealogie stellt sich hier in unterschiedlicher Schattierung als System
dar, nach dem die archaische Überlegenheit und ihr Verfall in der Moderne in
kulturpessimistischer Weise als Verlust des Ursprungs und des Wesens
herausgestellt wird. Die ursprüngliche Antike ist in der kulturpessimistischen
Nietzsche-Interpretation leuchtendes Vorbild einer kräftigen, sinnerfüllten und
gebildeten Gesellschaft, deren wesentlicher Charakter im Zuge der entfremdenden
Technisierung in der Moderne verloren ging. Die genealogischen
Entwicklungslinien und Beziehungen werden im mythisch-politischen Sinne
zwischen der griechischen, römischen und germanischen Welt gezogen (Spengler
benutzt den Begriff „Cesarismus“). Alfred Bäumler, als einflußreicher Interpret und
Herausgeber von Nietzsches Schriften, sieht den Verfall in der römischen
Sozialisation: „Man betrachte das Leben eines römischen Jünglings, der ganz vom
Vater in der Familie erzogen wird, und vergleiche es mit der Art und Weise, wie der
griechische Jüngling frei unter seinen Altersgenossen aufwächst, und halte daneben
das germanische Gefolgschaftssystem. Man wird erkennen, daß die griechische und
die germanische Weise untereinander verwandter sind als beide mit der
13
! Zur Rezeptionsgeschichte von Nietzsche aus neuerer Sicht vgl. Gianni Vattimo: Nietzsche. Eine
Einführung. Stuttgart: Metzler, 1992. S. 110-135.
14
! Zum Nietzsche-Archiv vgl. die umfangreiche Arbeit von David M. Hoffmann: Zur Geschichte des
Nietzsche-Archivs. Chronik, Studien und Dokumente. Berlin: de Gruyter, 1991.
12
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
römischen.“15 Das „germanische Gefolgschaftssystem“ wird als Ideal eines freien
gesellschaftlichen Umgangs miteinander dargestellt, um im gleichen Zug einen
elitär-rassistischen und hierarchischen Begriff von Überlegenheit zu legitimieren,
der wenig mit dem freigeistigen Begriff von Vornehmheit bei Nietzsche zu tun hat.
In Bezug auf die früh vorherrschende Auslegung Nietzsches in den ersten
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts läßt sich sagen, daß sie überwiegend
lebensphilosophisch, mystisch und verklärend war. Nietzsche wurde zur Legende
stilisiert, sein Leben heroisiert und seine Philosophie als Anlaß zu freien Ausflügen
der Phantasie genommen. Die genealogische Dimension diente zur rückbezüglichen
Legitimation eines archaistischen Herrschaftsdenkens und einer
kulturpessimistischen Verherrlichung des Lebens.
Die systematische Interpretation von Nietzsches Philosophie wurde durch
die hermeneutische, daseinsphilosophische Richtung (Eugen Fink, Karl Löwith,
Karl Jaspers, Martin Heidegger) eingeleitet. Die Philosophie Nietzsches diente nicht
mehr als Projektionsfläche oder Propagandainstrument nationalistischer
Klassifikationen und ethnischer Vorurteile, stattdessen wurde das hauptsächliche
Interesse auf die Texte und ihre gewissenhafte Auslegung gelegt. Nietzsches Texte
wiesen in dieser Lesart zurück auf die Existenz. Karl Jaspers verknüpft Nietzsches
Frage nach den moralischen Entscheidungen grundsätzlich mit der Frage nach der
„Wahrheit des Ursprungs selbst“: „Es ist daher in Nietzsches Denken immer zu
unterscheiden die psychologische Wahrheit für einzelne Phänomene menschlichen
Daseins von den philosophischen Aussagen auf die Frage nach der Wahrheit des
Ursprungs selbst, wohin eigentlich allein die Frage zielt, wenn die Moral in der
Wurzel angegriffen wird.“16 In der Interpretationsgeschichte Nietzsches haben die
Vorlesungen Martin Heideggers, die dieser in der Zeit von 1936-1941 hielt (1961
15
! Alfred Baeumler: "Die Dialektik Europas. Antwort an Jules Romains." In: ders.: Politik und
Erziehung. Reden und Aufsätze. Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1939. S. 50-56. (S. 52) {In frz.
Übersetzung: Sohlberg-Kreis. Deutsch-französische Monatshefte. Jg. 1934/35, S. 64 ff. In
deutscher Sprache: Internationale Zeitschrift für Erziehung (hrsg. v. A. Baeumler und P.
Monroe), Jg. 1935, S. 26 ff.} - Der Stuttgarter Kröner-Verlag verlegte noch in den 70erJahren den Nachlaß Nietzsches in der Edition Baeumlers (Friedrich Nietzsche: Die Unschuld des
Werdens. Der Nachlaß. 2 Bände. Ausgewählt und geordnet von Alfred Bäumler. Stuttgart:
Kröner, 1978.).
16
! Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin: Walter de
Gruyter, 1950 (3) [1935]. S. 142 f.
13
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
publiziert), besonderes Gewicht.17 Hier wird Nietzsche Philosophie des Willens zur
Macht und die Ewige Wiederkehr, der Nihilismus und das Ressentiment
seinsphilosophisch ausgedeutet und in eine Geschichte der Metaphysik des Seins
gestellt. Wenn er auch der Genealogie keinen eigenständigen methodischen oder
gedanklichen Stellenwert verleiht, wird doch die kritische Methode Nietzsches im
Hinblick auf die Entstehungsbedingungen der Werte ausgelegt: „Die Kritik der
bisherigen höchsten Werte ist nicht einfach eine Widerlegung derselben als
unwahrer, sondern ist die Aufweisung ihres Ursprungs aus Setzungen, die gerade
das bejahen müssen, was durch die angesetzten Werte verneint werden soll.“18
Diese hermeneutische Bestimmung des Wesens nietzscheanisch-genealogischer
Kritik wirkte lange Zeit und kann sicherlich auch noch in den verschiedenen
Ausprägungen dekonstruktivistischer Lektüreformen gefunden werden.
Nach der hermeneutischen und existential-ontologischen Interpretation
Nietzsches setzte – aus Frankreich kommend – in Nachfolge zu Georges Bataille19
in den 60er-Jahren eine neue Hinwendung zu Nietzsches Gedanken ein. Jean
Granier verfaßte profunde Abhandlungen zum Problem des Wahrheitsbegriffs in
Abhängigkeit zu Nietzsches Werttheorie. In der Zeitschrift „Perspektiven der
Philosophie“ erschien 1977 ein Aufsatz von ihm, der die genealogische
Abhängigkeit der herrschenden Werte des Glaubens von der Wahrheit des Seins
untersucht.20 Die genealogische Kritik der herrschenden, kursierenden Werte und
Phänomene bemißt sich nach der philologisch zu ergründenden Wahrheit des Seins.
In dem Aufsatz schreibt Granier:
17
!
! Martin Heidegger: Nietzsche. Pfullingen: Neske, 1961.
Die publizierten Abschnitte im einzelnen: I. Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37); II. Die
ewige Wiederkehr des Gleichen (1937); III. Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939); Zweiter
Band: IV. Die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Wille zur Macht (1939); V. Der
europäische Nihilismus (1940); VI. Nietzsches Metaphysik (1940); VII. Die seinsgeschichtliche
Bestimmung des Nihilismus (1944/46); VIII. Die Metaphysik als Geschichte des Seins (1941);
IX. Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik (1941); X. Die Erinnerung in die
Metaphysik (1941)
18
! Martin Heidegger: Nietzsche. Pfullingen: Neske, 1961. S. 34 f.
19
! Georges Bataille: Sur Nietzsche. Vol. 1: volonté de chance. Vol. 2: volonté de puissance. Paris
1945. Englischsprachige Ausgabe: Georges Bataille: On Nietzsche (translated by Bruce Boone;
introduction by Sylvère Lotringer). 1st American ed. New York: Paragon House, 1992.
20
! Jean Granier: Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche. In:
Perspektiven der Philosophie. Bd. 3. (1977), S. 149-156.
14
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
„Il faut que l’interprétation atteigne l’Etre comme verité de la volonté de
puissance et judge du degré de puissance qui fixe la hiérarchie des valeurs
d’après la plus ou moins grande conformité de chaque structure réelle avec
cette vérité essentielle, pour que Nietzsche soit en mesure de faire la critique
des valeurs traditionelles et d’en préparer la « transmutation » (Umwertung).
Preuve que la méthode généalogique, pour tenir ses promesses, doit
construire le concept de l’origine de telle sorte qu’il fonde la valeur des
valeurs sur l’essence de la verité.“21
Nach Jean Graniers profunden Abhandlungen über die Problematik des
Wahrheitsbegriffs bei Nietzsche ist es vor allem die Arbeit von Gilles Deleuze,
Pierre Klossowski, Michel Foucault, Jacques Derrida und anderen Autoren mit
psychoanalytischer/poststrukturalistischer Orientierung, durch die Nietzsches
Philosophie eine neue Ausrichtung erfuhr.22 Die genealogische Fragestellung bei
Nietzsche wurde von diesen Autoren systematisch und radikal im Hinblick auf die
Möglichkeit eines „anderen Denkens“ gelesen. Das Buch „Nietzsche und die
Philosophie“ von Gilles Deleuze und der Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die
Historie“ von Michel Foucault sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben.23
Gilles Deleuze setzt in seinem vehement gegen die Dialektik und die
Hermeneutik streitenden Buch bei Nietzsches Wertphilosophie an, um die
Genealogie als einen wesentlichen Zug nietzscheanischer Kritik auszumachen. Der
Wert bestimmt sich relational/differential nach der Existenzweise, die zu seiner
Entstehung beigetragen hat, sowie nach der den Kräften, die fähig sind, sich der
geschaffenen Werte zu bemächtigen. Die nietzscheanische Kritik zeichnet sich
21
! Jean Granier: Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche. In:
Perspektiven der Philosophie. Bd. 3. (1977), S. 155 f.
22
! Vgl. dazu auch Heinz Kimmerle: "Die Nietzsche-Interpretation der französischen
Differenzphilosophie." In: Karel Mácha (Hrsg.): Zur Genealogie einer Moral. Beiträge zur
Nietzsche-Forschung. München: Minerva, 1985. S. 47-80. - Kimmerle benutzt den Begriff
"Differenzphilosophie", um die Richtung und den Anspruch von Autoren wie Deleuze, Derrida,
Foucault zu bezeichnen.
23
! Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. [zuerst: Hamburg:
Rogner & Bernhard, 1976] {Nietzsche et la philosophie. Paris: Presses Universitaires de France,
1962}; Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Von der Subversion
des Wissens. Frankfurt/M.: Fischer, 1987. S. 69-90. [zuerst: München: Hanser, 1974]
{Nietzsche, la généalogie, l’histoire. In: Hommage à Jean Hyppolite. Paris: Presses
Universitaires de France, 1971}
15
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
durch eine Typologie aus, die sich gemäß der Entstehungsweise der Werte
bestimmt. So differenzieren sich die vornehme und die niedrige Moral, die Sklavenund die Herrenmoral. Während sich die vornehmen Werte aus dem Pathos der
Distanz, der Aktivität und der Unverantwortlichkeit begründen, basieren die
niedrigen Werte auf dem reaktiven Denken. Der Geist der Rache als eine Form des
Ressentiments beherrscht die Negativität (auch in der Dialektik), während die
Aktivität eine kritische und neue Werte erschaffende Lebensweise darstellt. Aus der
kritischen Fragestellung der Genealogie ergibt sich für Deleuze die dreifache
Funktion des Philosophen: „der Philosoph als Arzt (der Arzt, der die Symptome
interpretiert), der Philosoph als Künstler (der Künstler, der die Typen formt), der
Philosoph als Gesetzgeber (der Gesetzgeber, der den Rang, die Genealogie
bestimmt).“24
Michel Foucault zeichnet in seinem Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die
Historie“ in systematischer und strategischer Hinsicht die Arbeit des Genealogen
nach. Die Problematik der genealogischen Arbeit enthüllt sich dort, wo die
Fragerichtung auf den Anfang, den Beginn oder den Ursprung geht. Die Aufgabe
des Genealogen besteht genau darin, den behaupteten, hypothetischen oder
konstruierten Charakter des Anfangs aufzuweisen. Das Begehren des Genealogen
ist auf den Ursprung gerichtet; nicht aber dieser selbst, sondern seine scheinhafte
Funktion, seine ursprüngliche Verfehlung, der Charakter seiner Konstruktion ist
das Ziel seiner Erkenntnis. Insofern läßt sich der Erkenntnis des Genealogen keine
positive Form verleihen. Der Ursprung als Ort der Wahrheit und Reinheit wird im
Zuge der genealogischen Interpretation aufgelöst und als metaphysische Illusion
herausgestellt. Dem Genealogen enthüllt sich der Ort des Ursprungs als
24
! Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. [Hamburg: Rogner
& Bernhard, 1976] S. 83.
!
Auch in der post-lacanistischen Darstellung von Jean-Michel Rey ergibt sich aus dem
genealogischen Verlust des Ursprungs eine Typologie: "In dieser Undurchsichtigkeit, dieser
Konsistenz des metaphysischen Textes, die ein Zeichen seines lückenhaften Zustands ist, und
durch dieses Dickicht der Codes, durch dies Spiel der Instanzen, welche diesen Text
konstituieren, muß sich die Genealogie einen Weg bahnen. Einen punktuellen Ursprung, der die
Funktion des Anfangs hätte, darf sie nicht zu ihrem Begriff erheben (das ist der eigentliche
Mangel, die Perversion der Religionen wie der metaphysischen Systeme), sondern vielmehr das
erheben, was Nietzsche Entstehungsherd nennt, der sich in einer Typologie repräsentiert (der
"Priester", der "Weise", der "Philosoph", etc.), den Vertretern der verschiedenen
Herrschaftsgebilde." - Jean-Michel Rey: Die Genealogie Nietzsches. In: Geschichte der
Philosophie (hrsg. v. François Châtelet. Bd. VI: Die Philosophie im Zeitalter von Industrie und
Wissenschaft (1860-1940). Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein, 1975. S. 154.
16
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Verschiebung, als Stelle des Anderen, als eine unruhige, den unterschiedlichsten
Strömungen ausgesetzte Region. Nicht die reine Wahrheit des Anfangs oder die
Wesenhaftigkeit des Ursprungs ist der geheime Kern eines Entwicklungsgeschehens,
sondern die Auflösung seines Wahrheitsanspruchs in das irreguläre geschichtliche
Werden. Für das Funktionieren und Bestehen einer Gesellschaftsordnung, einer
bestimmten politischen oder kulturellen Formation, ist entscheidender, was sich im
Entwicklungsprozeß an Abweichungen, Zufälligkeiten und Unvorhersehbarkeiten
eröffnet als die Stringenz einer gradlinigen, im Anfang bereits das Ziel
ankündigenden Form. Die sich im Anfang gründende Geschichte stellt sich dem
Genealogen als ideologische oder strategische Konstruktion dar, deren
Geschlossenheit aufzubrechen seine Aufgabe ist. Foucault erklärt die Genealogie
Nietzsches mit Begriffen aus seiner Theorie der Macht. Nicht subjektive, visionäre
oder unabhängige Kräfte sind es, über die sich neue gesellschaftliche Formationen
(gegen die Macht der Repression) ihr Recht erkämpfen, sondern immer
Verhältnisse zwischen Kräften erwirken das Entstehen neuer Bedingungen. Die
Entstehung selbst, die Inszenierung, das erkennbare Heraustreten wird von
Foucault als „Nicht-Ort“, als „leeres Zwischen“ bezeichnet.25
In dieser Charakterisierung zeigt sich das inzwischen selbst in vielfacher
Weise historisierte argumentative Vorgehen des post-hegelianischen, Psychoanalyse
und Semiotik verbindenden „Poststrukturalismus“: In den Zwischenräumen, den
unberücksichtigten und nicht einholbaren Bruchstellen, den Zufällen und
Ereignissen des Seins offenbart sich die dialektisch nicht vermittelbare Wahrheit des
Geschehens – als situativ zu entziffernde Spur. Der zugrunde liegende Text kann
nur interpretiert, nicht aber in der Reinheit seiner selbst erfaßt werden. Foucault
lokalisiert die antiplatonische Genealogie an der Schnittstelle zwischen dem Leib –
als niemals einzuholender Äußerlichkeit – und der Geschichte – als Arena
25
! Die genealogische Problematik durchzieht das Werk Foucaults. So läßt sich das Buch
"Überwachen und Strafen" als die Ausführung eines in Nietzsches "Genealogie der Moral"
angelegten Gedankens begreifen (§ 13 des Zweiten Abschnitts, über die Semiotik und
Arbitrarität der Strafe). Und in der Einleitung zum zweiten Band von "Sexualität und
Wahrheit" ("Der Gebrauch der Lüste") spricht Foucault davon, eine "Genealogie" der
Selbstpraktiken zu schreiben.
17
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
gesellschaftlicher Sinnzuschreibungen: „Als Analyse der Herkunft steht die
Genealogie also dort, wo sich Leib und Geschichte verschränken.“26
Nietzsches Werk muß im Zuge seines Wirkens im Spiegel seiner
provozierten Interpretationen gelesen werden. Ebenso muß es als Werk von
Übersetzungen und Transformationen gelesen werden, die sich im Zuge der
Internationalisierung des philosophischen Diskurses herausgebildet haben. Insofern
muß die wirkungsreiche, von Werner Hamacher 1986 herausgegebene
Textsammlung „Nietzsche aus Frankreich“ in die Diskussion der genealogischen
Forschungsarbeit einbezogen werden.27 Nicht hermeneutisch, aber textorientiert,
nicht essayistisch, aber experimentell wird die Philosophie Nietzsches von ihren
Rändern her interpretiert und vorgestellt. Der Band versammelt nachträglich Texte
von Pierre Klossowski, Maurice Blanchot, Philippe Lacoue-Labarthe, Bernard
Pautrat, Jaques Derrida und Jean-Luc Nancy und stellt somit einen sinn- oder
gruppenhaften Zusammenhang her, der die Singularität der einzelnen Lektüren
unterstreicht. Nietzsches Texte werden versuchsweise jenseits einer angenommenen
Totalität gelesen. Nietzsches Negativität wird von den Autoren ohne dialektische
Widerspruchstheorie genommen und als Ungrund einer antimetaphysischen
Sprache und eines nichthierarchischen Textes gelesen. In seiner Wirkung ist die
Textsammlung mit den beiden Bänden zu vergleichen, die zu dem 1972 in Cerisyla-Salle stattgefundenen Nietzsche-Symposium erschienen.28
Auf dem Symposium in Cerisy-la-Salle trug Eric Blondel einen Text vor mit
der Überschrift „Les Guillemets de Nietzsche: Philologie et Généalogie“. In seinem
Vortrag stellt Blondel die Philologie Nietzsches über den Gebrauch
unterschiedlicher Schreibweisen heraus. In dem Text werden die Modalitäten einer
Kulturkritik erörtert, die sich auf keine verborgene, verdeckte oder verdrängte
26
! Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Von der Subversion des
Wissens. Frankfurt/M.: Fischer, 1987. S. 75.
27
! Werner Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein, 1986.
28
! Centre culturel international de Cerisy-la-Salle (éd.): Nietzsche aujourd’hui? 1. Intensités. 2.
Passion. Paris: Union générale d’éditions, 1973. (Beiträge von: P. Boudot, G. Deleuze, J.
Derrida, L. Flam, D. Grlic´, P. Klossowski, J.-F. Lyotard, J.-L. Nancy, B. Pautrat, J.-M. Rey, J.-N.
Vuarnet; E. Biser, E. Blondel, E. Clemens. J. Delhomme, E. Fink, E. Gaède, S. Kofman, P.
Lacoue-Labarthe, K. Löwith, J. Maurel, N. Palma, R. Roos, P. Valadier, H. Wismann) - Werner
Hamachers Zusammenstellung enthält den Text von Bernard Pautrat.
18
19
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Wahrheit berufen kann, sondern lediglich über Einklammerung, Verschiebung und
Umschreibung die Unwahrheit des Herrschenden markieren kann. In den
„Perspektiven der Philosophie“ veröffentlichte Eric Blondel 1981 einen Aufsatz, in
dem er das Vorgehen des Genealogen Nietzsche beschreibt und die
interpretatorischen Prinzipien seiner Philologie herausstellt.29
Die Genealogie
Nietzsches muß als Philologie angesehen werden, der es um die Entzifferung und
Auslegung des Textes geht. Da die Realität nur über perspektivistische
Interpretationen zugänglich ist, sich niemals als Realität, Faktizität oder Ding an
sich selbst gibt, bleibt die genealogische Lektüre immer auf den Text verwiesen. Im
Unterschied zur moralischen oder dogmatischen Lektüre enthüllt sich dem
Genealogen über den Text keine unabhängige Wahrheit oder Wirklichkeit hinter
dem Text, stattdessen gibt sich der Text als physiologische Verlautbarung. Der Text
ist die physiologische Realität. Blondel nennt Nietzsches Genealogie deshalb auch
„Philologie-Physiologie“, die das transzendentale Prinzip der klassischen Philologie
darstellt. Die genealogische Kritik schlägt mit dem Hammer gegen die falschen
Ideale und hohlen Götzen, um über den Ton und Klang ihre textuelle
Beschaffenheit zu ermitteln. „Was ich hier betonen möchte, ist folgendes: bei
Nietzsche wird das Objekt der Genealogie (das heißt der Leib, das Physiologische)
gemäß dem Apriori, dem sozusagen Transzendentalen der Philologie formuliert.
Durch den Laut, den Ton der Götzen wird Nietzsche diesen Leib, diesen Körper,
der das Ideal bestimmt, erfinden und entdecken: der Körper der Götzen redet. Aber
man wird nachher sehen, daß der Körper, der Leib selbst niemals als solcher zu
erfinden und zu sehen ist, sondern sich selbst nur als ein Text ergibt, der nur zu
interpretieren ist: so wird die Genealogie-Physiologie als ein spezielles Fach der
Philologie definiert, wobei diese Philologie selbst noch als eine exegetische
Rückkehr zum Texte, im Sinne eines Kampfes gegen die Götzen begriffen wird.“30
Auch wenn es an dieser Stelle nicht viel mehr als ein Lektürehinweis sein kann, soll
29
! Eric Blondel: "»Götzen aushorchen«: Versuch einer Genealogie der Genealogie. Nietzsches
philologisches Apriori und die christliche Kritik des Christentums." In: Perspektiven der
Philosophie. Bd. 7 (1981), S. 51-72.
30
! Eric Blondel: "Götzen aushorchen": Versuch einer Genealogie der Genealogie. Nietzsches
philologisches Apriori und die christliche Kritik des Christentums. In: Perspektiven der
Philosophie. Bd. 7 (1981). S. 54.
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
doch nicht unerwähnt bleiben, daß Eric Blondel 1986 bei den Presses Universitaires
de France in Paris ein Buch unter dem Titel „Nietzsche, le corps et la culture“
herausbrachte, dessen amerikanische Übersetzung den Titel „Nietzsche, the Body
and Culture: Philosophy as a Philological Genealogy“ trägt (Stanford: Stanford
University Press, 1991).
An die französische experimentelle Textkritik anknüpfend, entwickelte sich
in Amerika eine „poststrukturalistische“ Lektüre Nietzsches, die vor allem mit dem
Namen von Paul de Man verknüpft ist.31 Diente die Figur Nietzsches im Kreis der
französischen Denker – in Absetzung vom durch Heidegger vorgebrachten
Metaphysikverdacht – dazu, eine radikale antihegelianische Erneuerung des
philosophischen und theoretischen Denkens im Namen (oder Pseudonyms)
Nietzsches zu formulieren, so trägt Paul de Man wieder einen Verdacht auf
metaphysische Restbestände an Nietzsches Schriften heran. Er stellt heraus, daß
Nietzsche die metaphysische Tradition nicht restlos durchbrechen konnte, sondern
ein „Rest an Bedeutung“ in Form einer rhetorischen Figur (der Trope) Wahrheit
einfordert. Die ironische Wahrheit kann bei Nietzsche neuen verbindlichen
Charakter nur erhalten, indem die Bewegung der Dekadenz und Regression einer
einfachen Umkehrung unterworfen wird. Aus den kritischen Gedankengängen
Nietzsches arbeitet De Man stilistische Figuren heraus, mit deren Hilfe sich die
Rhetorik Nietzsches stabilisiert. Die „Genese und Genealogie“ bei Nietzsche
verfolgend, stellt de Man heraus, daß sich die Autorität der Erzählstimme
Nietzsches gegen die behauptete dekonstruktive Wahrheit kehrt.
In der amerikanischen Diskussion hat es in den letzten Jahren einige
Beiträge zur genealogischen Fragestellung bei Nietzsche gegeben. Alan Schrift
bemüht sich in seinen Veröffentlichungen um eine Neubestimmung der Genealogie,
indem er sie zwischen der Philologie, als Disziplin der Zusammenfassung und
Vereinheitlichung, und dem Perspektivismus, als Logik pluralistischer
Weltanschauung, verortet:
31
! Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. {Yale University Press,
1979} - insb.: "Genese und Genealogie (Nietzsche)", S. 118-145; "Rhetorik der Tropen
(Nietzsche)", S. 146-163; "Rhetorik der Persuasion (Nietzsche)", S. 164-178.
20
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
„Nietzschean genealogy isolates what is determined to be good or true and
asks, for example, who gains by this determination, whose strength is
increased, whose power expanded? In so doing, genealogy can be viewed as
a methodological interstice between perspectivism and philology insofar as it
demands both playful appropriation of and meticulous attention to the
developmental history of contemporary values. Operating under the demands
of both perspectivism and philology, Nietzsche’s genealogical method plays
between these competing demands in a way that modifies each within their
mutual affirmation while refusing to posit any synthetic unity at the level of a
universal method.“32
In der analytischen Beschreibung von Alan Schrift wird Nietzsches Genealogie ein
ideologiekritischer Charakter zugewiesen, der eine Schließung des Systems zur
Totalität verhindert und die semiotischen Bewegungen unterhalb der fixierten
Sinnzuschreibungen in Fluß hält.
1994 veröffentlichte Richard Schacht in Kalifornien eine Textsammlung, die
sich aus unterschiedlichen Perspektiven ausschließlich mit Nietzsches Genealogie
auseinandersetzt.33
Eine unabhängige und originelle Position im Streit der Richtungen und
Schulen nimmt der Aufsatz „Nietzsche als Etymologe. Zur Genealogie seiner
32
! Alan Schrift: Nietzsche and the Question of Interpretation. Between hermeneutics and
deconstruction. New York: Routledge, 1990. p. 171
33
! Richard Schacht (ed.): Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche’s Genealogy of
Morals. Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1994. {Part I: Morality and Moral
Psychology: 1. Philippa Foot: Nietzsche’s Immoralism; 2. Maudemarie Clark: Nietzsche’s
Immoralism and the Concept of Morality; 3. Arthur C. Danto: Some Remarks on the Genealogy
of Morals; 4. Kathleen Marie Higgins: On the Genealogy of Morals – Nietzsche’s Gift; 5. Richard
White: The Return of the Master: An interpretation of Nietzsche’s Genealogy of Morals; 6.
Frithjof Bergmann: Nietzsche and Analytical Ethics; 7. Robert C. Solomon: One Hundred Years
of Ressentiment: Nietzsche’s Genealogy of Morals; 8. Rüdiger Bittner: Ressentiment; 9. Martha
C. Nussbaum: Pity and Mercy: Nietzsche’s Stoicism; 10. Ivan Soll: Nietzsche on Cruelty,
Asceticism, and the Failure of Hedonism; 11. Sarah Kofman: Wagner’s Ascetic Ideal According
to Nietzsche; 12. Yirmiyahu Yovel: Neitzsche, the Jews, and Ressentiment; 13. Bernard
Williams: Nietzsche’s Minimalist Moral Psychology. Part II: Genealogy and Philosophy: 14. David
Couzens Hoy: Nietzsche, Hume, and the Genalogical Method; 15. Alexander Nehamas: The
Genealogy of Genealogy: Interpretation in Nietzsche’s Second Untimely Meditation and in On
the Genealogy of Morals; 16. Alasdair MacIntyre: Genealogies and Subversions; 17. Eric
Blondel: The Question of Genealogy; 18.Daniel W. Conway: Genealogy and Critical Method; 19.
Brian Leiter: Perspectivism in Nietzsche’s Genealogy of Morals; 20. Gary Shapiro: Debts Due
and Overdue: Beginnings of Philosophy in Nietzsche, Heidegger, and Anaximander; 21. Bernd
Magnus, Jean-Pierre Mileur, Stanley Stewart: Reading Ascetic Reading: Toward the Genealogy
of Morals and the Path Back to the World; 22. Richard Schacht: Of Morals and Menschen; 23.
Claus-Artur Scheier: The Rationale of Nietzsche’s Genealogy of Morals; 24. David B. Allison:
"Have I Been Understood?"}
21
22
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Wertphilosophie“ von Hannes Böhringer ein.34
Sich der Methoden und
Erkenntnisse der vergleichenden Sprachwissenschaft bedienend, untersucht
Böhringer Nietzsches genealogisches Vorgehen weniger anhand der
soziographischen Entwicklungslinien, wie sie in der „Genealogie der Moral“
aufgewiesen werden, als anhand der etymologisch zu entschlüsselnden
Wertbestimmungen. Schätzen und Schaffen, die Betrachtung und die
Wertbestimmung fallen nicht allein in Nietzsches Philosophie zusammen. Wenn die
Vokabeln auf ihre etymologische Entstehung zurückgeführt werden, zeigt sich, daß
beiden der altpersische Wortstamm ma/man zugrunde liegt. Böhringers verzweigter
Ansatz besteht darin, zu zeigen, „wie Nietzsches gesamte Wertphilosophie als eine
philosophisch-spekulative Etymologie dieser Sanskrit-Wurzel ma/man verstanden
werden kann.“35
Werner Stegmaier veröffentlichte 1994 eine akurate, die „Genealogie der
Moral“ Abschnitt für Abschnitt durchgehende Werkinterpretation.36 Das Buch
zeichnet sich als Forschungsbeitrag insofern aus, als es eine klar gegliederte
Kommentierung und Analyse zu Nietzsches Streitschrift liefert. Einschränkend
wirkt allerdings die Tatsache, daß die Werkinterpretation einen Anspruch von
Objektivität vertritt, der ein denkendes und freies Durchdringen von Nietzsches
Schrift verhindert. Werner Stegmaier schreibt in seiner Einleitung: „Im Fall von
Nietzsches Genealogie der Moral sind sie [eigene Interpretationen des Autoren]
unvermeidlich. Dennoch dienen Werkinterpretationen dem Leser, sollen ihm zu
einem eigenen Zugang verhelfen, und der Autor [Werner Stegmaier selbst] hat sich,
so gut es geht, zurückgehalten. Mein Ziel in dieser Werkinterpretation war darum
vor allem, den aggressiven Text gelassener lesbar zu machen.“37 Der Anspruch,
dem Leser von Nietzsches Streitschrift eine begleitende Hilfe zu liefern, wird durch
34
! Hannes Böhringer: Nietzsche als Etymologe. Zur Genealogie seiner Wertphilosophie. In:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1/1982, S. 41-59.
35
! Hannes Böhringer: Nietzsche als Etymologe. Zur Genealogie seiner Wertphilosophie. In:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1/1982, S. 44.
36
! Werner Stegmaier: Nietzsches "Genealogie der Moral". Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1994.
37
! Werner Stegmaier: Nietzsches "Genealogie der Moral". Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1994. S. 7.
23
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
das Buch eingelöst. Gelassene, distanzierte Kommentierung, die sich am linearen
Verlauf von Nietzsches Text orientierende Strukturierung und Gliederung und die
fehlende Diskussion von anderen, mit der Wirkung von Nietzsches Schriften eine
enge bis ununterscheidbare Verbindung eingehenden Interpretationen werden
Stegmaiers Werkinterpretation jedoch eine bloß pädagogische Funktion verleihen
können. Daß es in Nietzsches „Genealogie der Moral“ grundsätzlich um eine
Kritik des Denkens, nicht allein der Moral, gehe und daß das Denken immer schon,
ohne isolierbaren Ursprung, moralisch codiert sei, bleiben in Stegmaiers
Werkinterpretation lediglich Hinweise, die in der Kommentierung nicht zu
wirklichen komplexen und kritischen Gedanken ausgebildet werden.
In seinem Buch „Nietzsches Alternativen zum Nihilismus“38
zeichnet
Bernhard Taureck Nietzsches Philosophie des Werdens nach, indem er sie gegen die
Metaphysik des Seins stellt. Einen antimetaphysischen ontologischen Entwurf von
einem lebensweltlich orientierten Perspektivismus bei Nietzsche unterscheidend,
arbeitet Taureck eine ontologische „Geneseologie“ heraus, die in der komplexen
Auseinandersetzung mit Nietzsches Nihilismus einmal folgendermaßen
zusammenfassend dargestellt wird:
„Wir fassen Gang und Resultate von Nietzsches ontologischer Geneseologie
zusammen. Nietzsches Ontologie ist der Versuch einer 1. von der
philosophischen Theologie gereinigten und 2. axiologisch das Werden vor das
Sein stellenden Geneseologie, die verschiedene Voraussetzungen macht,
nämlich (a) eine Skepsis, (b) eine psychologistische Fassung des Absoluten
sowie dessen antimetaphysische Anwendung auf das Werden, (c) eine intuitiv
verlaufende und breit belegbare Typologie des Werdens, (d) eines Denkens,
das Werden und Leben anstelle von Sinnlichkeit und Intellekt als
Dimensionierung des Werdens zugrundelegt."39
Im Unterschied zu einer systematischen Verortung von Nietzsches Genealogie im
Rahmen seines ontologischen Entwurf der Unschuld des Werdens stellt der Aufsatz
38
! Bernhard H.F. Taureck: Nietzsches Alternativen zum Nihilismus. Hamburg: Junius, 1991.
39
! Bernhard H.F. Taureck: Nietzsches Alternativen zum Nihilismus. Hamburg: Junius, 1991. S.
235
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
„Der blinde Fleck der Moral. Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Genealogie
der Moral“ von Bernhard Waldenfels40 einen nicht nur immanent an Nietzsche
orientierten, sondern einen allgemeiner am Problem als Frage-Antwort-Verhältnis
ansetzenden Diskussionsbeitrag dar. In dem Aufsatz wird festgestellt, daß der
Entstehungsort einer Moral, der gleichzeitig auch ihr Legitimationspunkt sein soll,
nicht in die Moral selbst integriert werden kann. „Dieser blinde Fleck ist nicht
irgend etwas, sondern genau jener Gesichtspunkt, jener Nullpunkt der Moral, an
dem die jeweiligen Leitdifferenzen entspringen. Es gibt eine ethische oder
moralische Ordnung, in dem Sinne, wie es für Merleau-Ponty Rationalität oder
Sinn gibt oder wie es für Foucault Ordnung gibt. Dieses es gibt bedeutet ein
Urfaktum, das eine Geschichte der Moral inauguriert und in ihr vorausgesetzt ist,
ohne selbst einer moralischen Begründung zugänglich zu sein. Eine Begründung der
Moral, die diesen blinden Fleck tilgen wollte, wäre lediglich Ausdruck einer
bestehenden Moral.“41 Diese Kluft zeichnet die menschliche Existenz aus, insofern
sie außerhalb der instinktiven Ordnung des Tieres und der göttlichen Ordnung des
Gesetzes, auf der Schwelle zwischen Natur und Kultur situiert ist. Aus dieser
Zwischenposition des Menschen entspringen die moralischen Fragen, deren
Beantwortung weniger eine notwendige Reaktion auf vorgeschriebene Regeln oder
bestehende Handlungsmuster darstellt, sondern vielmehr als dialogische
Interaktion im Kräftespiel von Anspruch, Herausforderung, Aufforderung und
Austausch gesehen werden muß. Wird die Regularität der Moral von der externen
Position eines ordnenden Dritten befreit, so eröffnet sich die Möglichkeit einer
Moral des Versprechens, der Verantwortung und des Überschusses, die weder
unverbindlich wäre, noch auf Herrschaft beruht.
In der letzten Zeit hat Nietzsches unzeitgemäßes Denken Aktualität vor
allem wegen seiner Nihilismus- und Ressentiment-Analysen erhalten. Durch die
neue sorgsame Edition von Nietzsches Schriften und die ausführlich begleitende
40
! Der Aufsatz findet sich in: Zeitschrift für philosophische Forschung. Bd. 47/4. Frankfurt/M.:
Klostermann, 1993. S. 507-520.
41
! Bernhard Waldenfels: "Der blinde Fleck der Moral. Überlegungen im Anschluß an Nietzsches
Genealogie der Moral." In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Bd. 47/4. Frankfurt/M.:
Klostermann, 1993. S. 513.
24
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Kommentierung durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari hat eine Revision
und Erörterung der Texte eingesetzt, die sich nicht so sehr an den bekannten
philosophie-strategischen und -historischen Streitpunkten festmachen läßt, sondern
die Texte als historische, vergangene Dokumente nimmt, um sie an der fragenden
Gegenwart zu messen. Nietzsches Beobachtungen und Prognosen zur geistigen
Entwicklung Europas, die scharfsinnigen massenpsychologischen Einschätzungen
und der Entwurf einer zivilisationskritischen „Philosophie der Zukunft“ sind
Aspekte seiner Philosophie, die zum Verständnis der aktuellen Gegenwart dienen
können.
Die vorliegende Arbeit sieht sich in der Fortsetzung einer
„unwahrscheinlichen Debatte“.42 Der Streit zwischen der hermeneutischen und der
dekonstruktivistischen Auslegung von Nietzsches Schriften ist noch immer nicht
beendet.43 Dennoch hat in der letzten Zeit das sachbezogene Interesse an der
Philosophie Nietzsches stärkeres Gewicht gewonnen. Die spekulative oder
strategische Operation im Namen Nietzsches ist einer weniger abenteuerlustigen,
aber nicht weniger ausführlichen Interpretation gewichen. Die Figur Nietzsches
wird sich nicht ohne weiteres in den Bestand positiven und systematischen
abendländischen Denkens integrieren lassen; die Vieldeutigkeit der
Argumentationslinien, der aphoristischen Wendungen und der (pseudo-)
biographischen Anspielungen schützen das Werk vor der schulphilosophischen
Kanonisierung und vor der Integration in den Diskurs der Meisterdenker.
Die Forschungs- und Diskussionssituation zusammenfassend läßt sich sagen,
daß die genealogische Fragestellung bei Nietzsche auf seine Wertphilosophie
bezogen werden muß. Die Genealogie ist keine herrschaftslegitimierende
Ahnenkunde, sondern eine kritische Methode zur Infragestellung von
gesellschaftlichen und kulturellen Wertbestimmungen. Die Bestimmung, Erklärung
und Behauptung von Werten wird zurückgeführt auf ihre Entstehungs- und
42
! Vgl. Josef Simon: Der gute Wille zum Verstehen und der Wille zur Macht. Bemerkungen zu
einer 'unwahrscheinlichen Debatte'. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 12.3. (1987). S.
79-90.
43
! Vgl. dazu auch die aktuelle vermittelnde Position von Johann N. Hofmann: Wahrheit,
Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik. Berlin: de Gruyter,
1994.
25
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! b) Diskussion und Forschungssituation
Entwicklungsgeschichte. Die Genealogie kann als die Wissenschaft des Sinns
aufgefaßt werden, insofern sie Sinn und Wert als Objekt der Erkenntnis nimmt, um
sie einer kritischen (auch polemischen, provokativen oder parodistischen)
Umwertung zu unterziehen. Sinn wird als substantialisierte Wertrelation kritisiert.
Um den fixierten Sinn und den damit behaupteten Machtanspruch aufzubrechen,
muß der Genealoge zur Wertstruktur vordringen, deren differentieller Charakter
mit der vielfältigen Entwicklungsgeschichte, dem molekularen Werden und der
Existenzform in Zusammenhang steht.
Zu klären und am Text Nietzsches aufzuweisen bleibt indessen, ob die
Genealogie die Wertsetzungen lediglich verkehrt oder sie einer wirklichen Kritik
unterziehen kann. Die Kritik Paul de Mans äußerte sich dahingehend, daß im Text
Nietzsches dem Erzähler ein Ort reserviert bleibt, der von der dekonstruktiven
Kritik ausgenommen ist und über rhetorische Effekte Wahrheit einfordern kann.
Nietzsche habe zwar die Metaphysik umgekehrt, ihre Struktur aber erhalten, ohne
die seine Texte nicht funktionieren würden. In diesem Zusammenhang muß auch
auf Heideggers Bestimmung von Nietzsches Kritik eingegangen werden. Seiner
Bestimmung nach zeichnet sich Nietzsches Kritik dadurch aus, daß sie nicht allein
die Unwahrheit des Ursprungs enthüllt, sondern vielmehr die Notwendigkeit von
Setzungen aufzeigt, „die gerade das bejahen müssen, was durch die angesetzten
Werte verneint werden soll.“ Es ergibt sich die Frage, inwiefern sich diese Fassung
von Kritik selbst auf die Legitimität der gesetzten Werte beziehen muß, um ihre
Gültigkeit zu kritisieren. Liegt nicht auch hier eine einfache Verkehrung der
Prädikatsbestimmungen vor, ohne die Struktur selbst anzugreifen?
26
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
c) vom Réealismus zur Genealogie
In der Forschung wird die Genealogie Nietzsches als Kritik der utilitaristischen
Moralauffassung beschrieben. Mit der „Genealogie der Moral“ habe sich
Nietzsche von der Moralphilosophie Paul Rées gelöst, die er in älteren Aphorismen
und Gedankensammlungen noch vertreten habe.44 Während er seinem Freund Paul
Rée das Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ noch mit der Widmung „Es lebe
der Réealismus“45 übergab, ist die Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ eine
Kriegserklärung gegen die „englischen Psychologen“. Welchen Hintergrund bildet
diese Wendung in Nietzsches Philosophie? Wie ist diese Entwicklung zu verstehen
und zu bewerten?
Zunächst soll die moralische Konzeption der hier abgekürzt „Réealismus“
genannten Perspektive skizziert und entwickelt werden. Im Gegensatz zur
idealistischen oder auch klassizistischen Moralauffassung werden die moralischen
Werte nicht als ewige Werte angesehen, sondern als gewordene. Während der
Idealismus den Wert der Moral gemäß seiner transzendenten Form den egoistischen
Motiven oder momentanen Eingebungen überordnet, stellt sich in der
„réealistischen“ Perspektive die Moral als ein gewordenes und nachträglich
legitimiertes Unterscheidungssystem dar. Die moralischen Werte ‚gut‘ und ‚böse‘
legitimieren sich nicht aus einer transzendenten, ewigen oder idealen Form,
sondern stellen in ihrer Entstehungsgeschichte Kategorien dar, die zunächst nach
44
! Werner Stegmaier ist anderer Ansicht und weist auf die Übereinstimmungen hin, die auch die
"Genealogie der Moral" noch mit Rées "Ursprung der moralischen Sensationen" (Chemnitz:
Ernst Schmeitzner, 1877) teilt: "Die Genealogie der Moral geht mit Rées Ursprung in dessen
erster Hälfte parallel. Rées § 1, überschrieben 'Der Ursprung der Begriffe gut und böse',
entspricht thematisch Nietzsches I. Abhandlung. Rées § 2, überschrieben 'Der Ursprung des
Gewissens', Nietzsches II. Abhandlung. Das Thema von Rées § 3, 'Die Verantwortlichkeit und
die Willensfreiheit', integriert Nietzsche dann in seine I., das Thema des § 4, 'Der Ursprung der
Strafe und des Gerechtigkeitsgefühls', in seine II. Abhandlung. Erst zur später hinzugefügten
III. Abhandlung Nietzsches gibt es bei Rée kein thematisches Pendant." (Werner Stegmaier:
Nietzsches "Genealogie der Moral". Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994. S.
69.)
!
Zum geistesgeschichtlichen Kontext, in dem die Ideen von Paul Rée stehen, vgl. den an
Referenzen und Parallelen überreichen Aufsatz von Hubert Treiber: "Zur Genealogie einer
'science positive de la morale en Allemagne'. Die Geburt der 'r(é)ealistischen
Moralwissenschaft' aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption". In: Nietzsche-Studien,
22 (Berlin: Walter de Gruyter, 1993), S. 165-221.
45
! Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt/M.: Insel, 1983. {Wien:
Carl Conegen, 1894} S. 150.
!
Zu Nietzsches Entwicklung vom Réealismus zur Genealogie vgl. dort auch insgesamt S.
132-153.
27
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
dem Nützlichkeitsprinzip angewandt werden. Was gut und was böse ist,
entscheidet sich nicht nach einem göttlichen Prinzip, sondern nach den konkreten
Lebens- und Überlebensbedingungen der Menschen als Gattungswesen. Nicht das
Heilige ist das der moralischen Unterscheidung zugrundeliegende Prinzip, sondern
das Profane. Die Religion, der Glauben und die Moralität werden in der
„réealistischen“ Perspektive als sekundäre Erklärungssysteme herausgestellt, die
lediglich das ursprüngliche Nützlichkeitsprinzip verklären, schmücken oder
verleugnen. Die ursprüngliche Unterscheidung der Dinge, Verhältnisse und
Handlungen erfolgt nach utilitaristischen Kriterien, die sich zu Mustern der
Gewohnheit ausbilden.
Damit formuliert sich im „Réealismus“ eine Kritik, wie man sie bereits bei
den französischen Moralisten (u.a. La Rochefoucauld, La Bruyère) findet. Die
gesellschaftlich sanktionierte Moral basiert nicht auf den Prinzipien, die sie zu ihrer
Legitimation selbst anführt (das Heilige, das Reine, das Göttliche, das
Transzendente), sondern kann ethnologisch, anthropologisch oder soziologisch auf
ihre realen geschichtlichen Ursprünge zurückgeführt werden, die gänzlich profan,
psychologisch und spontan sind.
Die Umkehrung der Moral zieht eine neue ethnographisch orientierte
Psychologie nach sich, die eine dem tatsächlichen Verhalten des Menschen
angemessene Beschreibung zu liefern im Stande sein soll. Ist in der theologischen
Perspektive die moralische Verfehlung als menschliche Schwäche oder gar als
göttliche Versuchung zu erklären, so stellt sich in der „réealistischen“ Perspektive
die Verfehlung des moralischen Gesetzes als Durchbruch einer anderen, früheren
Ordnung dar. Die heilige Ordnung hat ihr Vorrecht gegenüber der tatsächlichen,
vielfältigen Verhaltensweise des Menschen verloren. Um die Rechtmäßigkeit der
moralischen Unterscheidungen zu beurteilen, wird die Entwicklungsgeschichte des
Menschen in Betracht gezogen. Dabei zeigt sich, daß der Ursprung der
Moralbegriffe nicht in der Erfahrung des Heiligen, sondern im evolutionären
Kampf der menschlichen Gattung zu suchen ist. Die Moralbegriffe sanktionieren
nachträglich das nach dem evolutionären Prinzip praktische Verhalten. Die
28
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Herkunft wird vergessen und in der Moral als religiösem oder idealistischem
System zum transzendenten Gebot (Nächstenliebe etc.) umgedeutet.
Diese Auffassung vom Entwicklungsprozeß des moralischen
Unterscheidungssystems steht insofern Schopenhauers Metaphysik noch nahe, wie
ein ursprüngliches unhistorisches moralisches Empfinden zugrunde gelegt wird.
Wenn auch die „réealistische“ Kritik an der idealistischen Moral die Evidenz
vorgegebener Maßstäbe anthropologisch relativiert, geht sie doch von einem
ursprünglichen Mitempfinden der Menschen untereinander aus, das sich zum
moralischen Gebot des Altruismus ausformuliert und darin umdeutet. Das
Vorgehen der Moralkritik nach diesem Modell läßt sich dahingehend verstehen,
daß aus den kursierenden moralischen Geboten die ursprüngliche Funktion
herausgelesen wird, um sie gegen die Folgerungen und statischen Setzungen der
aktuellen Gut-Böse-Unterscheidung zu wenden.
Im § 39 seiner Aphorismensammlung „Menschliches, Allzumenschliches“
gibt Nietzsche die Entwicklungsstufen der moralischen Empfindungen wieder:
„Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir jemanden
verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen,
verläuft in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen
gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der
nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergißt man die
Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, daß den Handlungen an sich,
ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft »gut« oder »böse«
innewohne: mit demselben Irrtume, nach welchem die Sprache den Stein
selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet – also dadurch, daß
man, was Wirkung ist, als Ursache faßt.“46
Der Aphorismus macht die frühe Moralkritik in Nietzsches „Menschliches,
Allzumenschliches“ deutlich. Die moralische Empfindung wird in eine historische
Perspektive gestellt, wobei verschiedene Phasen der Interpretation unterschieden
werden: zunächst wird die Handlung allein nach ihrer Nützlichkeit, nach ihrem
46
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. §
39: "Die Fabel von der intelligiblen Freiheit". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 479.
29
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
sozialen Wert bemessen. Diese ursprüngliche Schicht der Bewertung von
Handlungen wird vergessen, und die moralischen Werte werden schematisiert,
standardisiert und universalisiert. Die kulturelle Bewertung nach dem Vergessen
der einfachen Nützlichkeit autorisiert sich, richtet sich zum allgemeinen
Sittengesetz auf und verhindert die Korrektur und den Vergleich der Werte. Die
moralischen Gesetze schreiben sich dann nicht mehr über ihre Funktion oder
Nützlichkeit fort, sondern nach Maßgabe der Verehrung, Furcht oder Eitelkeit
gegenüber den autoritären Instanzen, die sie verkörpern.
Das historische Vergessen wird im § 92 weiter erläutert:
„Dadurch daß die Menschen, ihrer intellektuellen Gewohnheit gemäß, den
ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen
haben und namentlich, weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder
angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen,
ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine
unegoistische; auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung
derselben, welche überdies, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im
Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt,
nachgeahmt, ver vielfältigt, und wächst dadurch, daß der Wer t der
aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem einzelnen noch zum Werte
des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. – Wie wenig moralisch sähe
die Welt ohne die Vergeßlichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, daß Gott die
Vergeßlichkeit als Türhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde
hingelagert habe.“47
Eine Frage drängt sich auf: In welcher Hinsicht versteht sich die utilitaristische
Auffassung der bestehenden moralischen Werte als Kritik? Die kursierenden und
geltenden moralischen Werte müßten doch der menschlichen Wirklichkeit
angemessen sein, wenn ihre Entstehungsbedingungen in der sozialen Nützlichkeit,
die sich evolutionär bewährt hat, liegen? Um die kritische Perspektive des
47
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. §
92: "Ursprung der Gerechtigkeit". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 501 f. Vgl. im ähnlichen Sinn: Friedrich Nietzsche:
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band (Der Wanderer und
sein Schatten). § 40: "Die Bedeutung des Vergessens in der moralischen Empfindung". In:
ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser 1969 (6). Bd. I. S. 897
f.
30
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Utilitarismus zu verstehen, muß die moralische Kritik des Egoismus in Betracht
gezogen werden; erst dann wird die „réealistische“ Kritik an der kursierenden
Moral verständlich. Die geltenden moralischen Prinzipien wurden zwar aus der
sozioevolutionären Nützlichkeit bezogen, aber ihr Inhalt wird gleichzeitig auf die
individuelle Motivation, die persönliche Anlage oder auf andere Psychologismen
appliziert. Nietzsche stellt in seinen frühen Betrachtungen zur Geschichte der
moralischen Empfindungen heraus, daß dem moralischen Empfinden weniger ein
individueller Bewußtseinsprozeß als eine historische, kollektive Geschichte
voranging. Insofern läßt sich der „Egoismus“ moralisch nicht wirklich verurteilen,
da erst über das Vergessen des historischen Ursprungs der Sittlichkeit, der
Verantwortung und der Gerechtigkeit der Anschein erweckt werden konnte, daß
Altruismus und Egoismus Gegensatzpaare wären. In der historischen Perspektive
des Réealismus enthüllt sich der den moralischen Gegensätzen gemeinsame
historische Grund. Diese Geschichte des Werdens von Moral wird zum neuen
Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung.48
In ihrem Buch über das Denken Nietzsches49 beschreibt Lou AndreasSalomé mit dem Wissen der persönlich Eingeweihten die Wandlung vom
Réealismus zur Genealogie anhand der niedergeschriebenen und veröffentlichten
Gedanken Nietzsches. Sie stellt die „réealistischen“ Aphorismen Nietzsches, wie sie
in der Hauptsache in „Menschliches, Allzumenschliches“ zu finden sind, in einen
Zusammenhang mit der Lösung Nietzsches von der schopenhauerschen und
wagnerianischen Metaphysik. Die „réealistische“ Perspektive habe Nietzsche
erlaubt, den Ursprung der menschlichen Moral nicht im metaphysischen
Ewigkeitsverlangen oder im Mitleid für den Anderen zu sehen, sondern in der
48
! In "Menschliches, Allzumenschliches" schreibt Nietzsche, das Herkommen noch nicht
genealogisch, sondern evolutionär verstehend: "Nicht das »Egoistische« und das
»Unegoistische« ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von
Sittlich und Unsittlich, Gut und Böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen,
Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig,
jedenfalls ohne Rücksicht auf Gut und Böse oder irgendeinen immmanenten kategorischen
Imperativ" - Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
Erster Band. § 96: "Sitte und sittlich". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 504.
49
! Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt/M.: Insel, 1983. {Wien:
Carl Conegen, 1894}
31
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
sozioevolutionären Nützlichkeit. Die Entwicklung moralischer Werte wird von
Nietzsche (in der Wiedergabe von Andreas-Salomé) als Kampf von Instinkt und
Gefühl gegen Intellekt und Weisheit geschildert. In der durch Rée beeinflußten
Phase seiner philosophischen Reflexion habe sich Nietzsches Perspektive von der
dionysischen zur apollinischen Seite verlagert. Wissenschaftliche Erkenntnis und
sokratische Weisheit fielen zusammen, da sich nunmehr über die wissenschaftliche
Betrachtung der Entwicklung der Moralgesetze die Eitelkeit als Verblendung und
Selbsttäuschung des Menschen erkennen ließ. Andreas-Salomé beschreibt – nicht
ganz ohne die philosophische Frage individualistisch zu psychologisieren – die
„réealistische“ Phase in Nietzsches Philosophie als einen Prozeß der radikalen
Vergeistigung. „So erscheint in dieser Periode, paradox genug, sein [Nietzsches]
Kampf wider den Rausch, seine ganze Verherrlichung der Affectlosigkeit lediglich
als ein Versuch, sich durch diese Selbstvergewaltigung zu berauschen.“50
Lou Andreas-Salomé unterscheidet die réealistische Phase Nietzsches von
der vorangegangenen dionysischen und der nachfolgenden genealogischen. Von der
ersten unterscheide sie sich, da die Weisheit und die apollinische Betrachtung die
individualistische Selbstüberschätzung des Menschen durchbrechen kann; und von
der genealogischen Betrachtung unterscheide sich Nietzsches mittlere Phase, da
Nietzsches Moralkritik noch auf den Wert des Guten, nicht auf das Böse gerichtet
sei und ohne die spätere Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral
operiere. „Wir werden später sehen, wie stark sich Nietzsches letzte Philosophie
gegen diese Auffassung der Mitleids-Moral und der Abschwächung des
Instinctlebens richtet, und wie ihm nur derjenige der höchststehende Mensch
heißen wird, der die ganze Fülle der leidenschaftlichen Triebe und Instincte in sich
birgt, – also der »böse« Mensch. Noch ist ihm aber außerhalb der Güte und
Selbstlosigkeit kein Menschenwerth denkbar, weil nur diese die Ueberwindung der
thierischen Vergangenheit darstellen.“51 Diese Erklärungen können genommen
werden, um die Psychologisierung des Problems in der Darstellung Andreas50
! Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt/M.: Insel, 1983. {Wien:
Carl Conegen, 1894} S. 148.
51
! Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt/M.: Insel, 1983. {Wien:
Carl Conegen, 1894} S. 144.
32
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Salomés deutlich zu machen. Denn nicht die psychologischen Faktoren der „Güte
und Selbstlosigkeit“ bestimmen die réealistische Erklärung des Herkommens
moralischer Werte, sondern die objektive wissenschaftliche Erkenntnis der
menschlichen Vorgeschichte. In „Menschliches, Allzumenschliches“ wird die neue
Forschungsrichtung angegeben: “Nun ist alles Wesentliche der menschlichen
Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen 4000 Jahren, die wir
ungefähr kennen”.52
Die Entwicklung Nietzsches von der dionysischen Weltanschauung, über die
réealistische Moralkritik bis zur genealogischen Philologie stellt sich nicht als ein
Nacheinander dreier unterschiedlicher, voneinander scharf zu unterscheidener
Phasen dar, sondern vielmehr als ein gleitender Übergang innerhalb eines aus
verschiedenen Aspekten zusammengesetzten Fragekomplexes. Die durch Nietzsche
in dieser Zwischenzeit entwickelte und beschriebene „Sittlichkeit der Sitte“ kann
seinen Entwurf einer unbewußten Vorgeschichte und die daraus folgende
genealogische Kritik erhellen.53
Im § 9 der „Morgenröte“ entwickelt Nietzsche den „Begriff der Sittlichkeit
der Sitte“. Die hier angeführten Überlegungen bilden gewissermaßen den Übergang
zur genealogischen Dekonstruktion. Nietzsche markiert die Sittlichkeit der Sitte vor
allem in folgendem: nicht die Nützlichkeit, sondern die rein formale Unterwerfung
unter die Sittengesetze wird als gut bewertet; die Moral autorisiert sich durch
Personalisierung und Hierarchisierung; Kriterien einer guten Tat sind die geleistete
Entbehrung (auch Opfer) und Häufigkeit der Ausführung; die Sittlichkeit ist ein
Herrschaftssystem der Gemeinde. Als „Hauptsatz“ führt Nietzsche an: „Sittlichkeit
ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten,
welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu
handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, gibt es keine
52
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. §
2: "Erbfehler der Philosophen". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 448.
53
! In der "Genealogie der Moral" bezieht sich Nietzsche auf seine Konzeption der Sittlichkeit der
Sitte (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung:
"Schuld", "schlechtes Gewissen" und Verwandtes. § 2. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v.
Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 800 ff.)
33
34
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so
kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in
allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will“.54
Das
Herkommen und das Herkömmliche, die Entwicklungsgeschichte und das
Bestehende werden zusammen genommen als Momente eines sich selbst
stabilisierenden autoritären Systems. Der nach Nietzsches Begriffen freie Mensch
muß sich nicht nur vom Bestehenden, als dem Herkömmlichen, Gewöhnlichen und
Mittelmäßigen, sondern ebenso von dem Herkommen im Sinne einer Legende,
einer legitimierenden Entwicklungsgeschichte lossagen. Mit dem Begriff der
Sittlichkeit der Sitte beginnt Nietzsche die dem geltenden Moralsystem
vorangegangene Entwicklungsgeschichte neu zu bewerten. Nicht mehr allein die
wissenschaftliche Einsicht in die ursprüngliche und verdeckte anthropologische
oder sozioevolutionäre Nützlichkeit der moralischen Wertschätzung ermöglicht das
Verständnis der normierenden und regulierenden Funktion der geltenden Werte der
Moral. Mit dem System der Sittlichkeit der Sitte stellt sich die Moral selber in eine
Entwicklungsgeschichte, die ihr Bestehen und ihre Geltung als herkömmliches
Handeln und gutes Verhalten ausweist. Daß die Wissenschaft nicht mehr Mittel
sein kann, die Vorgeschichte der Moral aufzuklären, ergibt sich für Nietzsche aus
der Erkenntnis, daß die Wissenschaft als Bestandteil und im Namen der
herrschenden moralischen Werte operiert. Die Wahrheit der Geschichte ist das
imaginäre Ziel einer den anonymen Willen zur Macht entstellenden
Geschichtswissenschaft; die Gleichheit dient als moralischer Wert der typologisch
strukturierten Herrschaft zur Universalisierung von Partikularität; die Objektivität
der Erkenntnis ist homogenisierendes Postulat einer die Heterogenität der Kämpfe
leugnenden Weltanschauung. Nietzsche zieht Konsequenzen aus der Heterogenität
und herrschaftsgebundenen Vorgeschichte der moralischen Werte und verläßt die
réealistische Fragerichtung, die sich noch auf die Wahrheit, die Gleichheit und die
Objektivität der Erkenntnis berufen mußte. Während die utilitaristische Perspektive
den moralischen Wert des Altruismus kritisieren konnte, indem sie ihn parallel zum
54
! Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. § 9: "Begriff der
Sittlichkeit der Sitte". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 1019.
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Herkommen von Individualität setzte, ist es in der genealogischen Perspektive
möglich, die Fabrikation asketischer Werte und Ideale unabhängig von
Nützlichkeit in Bezug auf Herrschaft und Gewaltsamkeit zu beschreiben.
In der „Morgenröte“ verabschiedet sich Nietzsche von der utilitaristischen
Erklärung des Herkommens von Moral, indem er das Fest der Grausamkeit in die
Vorgeschichte der Moral versetzt. Der § 18 entwickelt im Ansatz bereits einen
Entwurf für die in der „Genealogie der Moral“ ausgeführten Erklärungen zur
Entstehung asketischer Ideale aus der lustvollen Grausamkeit und der Marter der
Erinnerungsspur.55 Der Ursprung der Moral wird nicht in der Nützlichkeit, sondern
in der Verausgabung gesehen. Der Ursprung der Moral kann nicht mehr
wissenschaftlich er- und damit begründet werden. Indem Nietzsche die Wahrheit
als fiktiven, bereits aus der Herrschaft asketischer Ideale kommenden moralischen
Wert zu begreifen beginnt, kann auch die utilitaristische Erklärung eines
anthropologischen Ursprungs der Moral keinen unabhängigen, d.h. reinen
historischen oder objektiven psychologischen Wahrheitswert mehr tragen. Die
Entstehung asketischer wissenschaftlicher Urteile wird von Nietzsche als „Moral
des freiwilligen Leidens“ beschrieben. Es geht ihm um die Bedeutung der
moralischen Vorgeschichte, die er als „Sittlichkeit der Sitte“ bezeichnet: „Nichts ist
teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der
Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz ist es, dessentwegen es
uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit
der Sitte« zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als die
wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der
Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend,
die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als
Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegier als Gefahr, der Friede
als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit
als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und
55
! In der "Genealogie der Moral" verweist Nietzsche auf diesen Aphorismus ("Moral des
freiwilligen Leidens") zurück (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.
Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, § 9. In: ders.: Werke in drei Bänden
(hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 855 f.)
35
1.! Zur Problemstellung: der Begriff der Genealogie
! c) vom Réealismus zur Genealogie
Verderbenschwangere in Geltung war!“56 Die gewaltsame, chaotische und auf dem
Prinzip der Verausgabung beruhende Vorgeschichte der moralischen Werte wird
von Nietzsche mit dem Fest der Grausamkeit erklärt: „An dem Tun des Grausamen
erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst
und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der
Menschheit.“57
Die genealogische Perspektive zeigt das Fortdauern und die
Transformationen der gewaltsamen Vorgeschichte der Menschheit auf.
Mit der Genealogie gewinnt Nietzsche die Möglichkeit, Wahrheit als
moralischen Wert zu identifizieren (Philologie), Objektivität als Homogenisierung
der gewaltsamen und wesentlich heterogenen Vorgeschichte zu deuten
(Perspektivismus) und Gleichheit als Behauptung einer partikularen Herrschaft zu
erkennen (Typologie). Nietzsches Entwicklung der genealogischen Wertekritik
schließt also als kritisches Verfahren Philologie, Perspektivismus und Typologie ein.
56
! Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. § 18: "Die Moral
des freiwilligen Leidens". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 1027.
57
! Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. § 18: "Die Moral
des freiwilligen Leidens". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 1026.
36
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Die von Nietzsche entwickelte genealogische Kritik muß in zweierlei Hinsicht
betrachtet werden: zum einen philologisch und interpretatorisch, zum anderen
typologisch und perspektivistisch. Auf der einen Seite geht bei Nietzsche aus der
Verwerfung der vernunftsgemäßen Erklärung der Vorgeschichte ein historisches
Szenario der Priesterherrschaft, der Gewaltsamkeit, des Opfers und der Marter
hervor, auf der anderen Seite hängt die genealogische Perspektive mit Einsichten
zusammen, die Nietzsche durch seine philologische Forschung gewinnen konnte.
Im § 2 der Ersten Abhandlung der „Genealogie der Moral“ referiert
Nietzsche noch einmal die utilitaristische Erklärung zur Entstehung der Moral, um
dagegen die genealogische Perspektive herausstellen zu können. In diesem
Abschnitt wird Nietzsches Verwerfung der utilitaristischen Moralkonzeption und
sein Entwurf einer anderen Wert-Genealogie besonders klar, scharf und deutlich.
Weder ist es die Nützlichkeit, noch die Gewohnheit oder das anschließende
Vergessen der ursprünglichen Nützlichkeit, woher die moralischen Werte ihre
Bestimmung haben. Vielmehr ist es das von Nietzsche hier eingeführte „Pathos der
Distanz“, die Differenz von Vornehmheit und Niedrigkeit, woraus die wertmäßige
Unterscheidung zwischen gut und böse ihren Anspruch bezieht: „Aus diesem
Pathos der Distanz heraus haben sie [die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten
und Hochgesinnten] sich das Recht, Werte zu schaffen, Namen der Werte
auszuprägen, erst genommen: was ging sie die Nützlichkeit an!“ Einige Sätze später
fügt Nietzsche in Klammern noch die Bemerkung hinzu: „(Das Herrenrecht,
Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der
Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen »das ist
das und das«, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und
nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.)“58
Diese Ausführungen aus der „Genealogie der Moral“ sind für das
Verständnis der genealogischen Perspektivierung moralischer, aber auch sozialer,
kultureller und politischer Wertbestimmungen wesentlich. Es geht daraus hervor,
58
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und
böse", "gut und schlecht", § 2. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 773.
37
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
daß sich die Bestimmung und Kritik kursierender Werte nicht an der den Werten
immanenten Funktion orientieren kann, sondern die Spannung, die Differenz oder
Distanz ermessen muß, die der diskursiven Behauptung stabiler Werte vorausgeht.
Die herrschenden Werte stehen im Zeichen des Besitzes und des Eigentums. Die
Kritik moralischer Werte öffnet sich dabei einer allgemeinen Untersuchung der
Funktion menschlicher Sprache. Erst die Zurückführung der Werte auf ihren
sprachlichen Ursprung und Zusammenhang kann die kursierenden Wertungen und
historischen Umwertungen verstehbar machen.
Alan D. Schrift ordnet die Genealogie als hermeneutisches Verfahren
zwischen Philologie und Perspektivismus ein. Nach der Auflösung idealistischer
metaphysischer Wert- und Sinngebungen muß sich die Interpretation zwischen den
Extremen Relativismus und Dogmatismus einen Weg bahnen. Nicht die Wahrheit
oder der Glaube ist dabei gültiges Kriterium, sondern das „life-enhancement“:
„genealogy operates within the undecidability of perspectivism and philology,
drawing insights from each without exclusively affirming either. Recall here
Nietzsche’s remark on the importance of the color »gray« for the genealogist
(cf. GM pr. 7). The »gray« is what is »documented,« and when Nietzsche
genealogically deciphers the »entire long hierogylphic record [...] of the moral
past of mankind,« he does attend to these »documents.« [...] While
acknowledging that meaning is »relative,« genealogy is not completely
relativistic in the sense of accepting all interpretations as being of equal
worth. [...] by adopting such a criterion [life-enhancement], Nietzsche can
avoid the dilemma of choosing between dogmatism and relativism in his
approach to interpretation. Insofar as life-enhancement is a situation-specific
and variable standard, there can be no single correct interpretation which will
enhance life for all interpreters and for all times, and Nietzsche can affirm
the enhancement of life as a standard without thereby specifying a universally
applicable criterion for what is to count as life-enhancing.“59
In der methodologisch orientierten Analyse von Alan D. Schrift stellt sich die
Genealogie als ein Verfahren dar, den Dogmatismus einer wahrheitsgläubigen
Philologie und den Relativismus oder Skeptizismus eines umfassenden
59
! Alan D. Schrift: Between Perspectivism and Philology: Genealogy and Hermeneutics. In:
Nietzsche-Studien, 16 (Berlin: Walter de Gruyter, 1987), S. 109 f.
38
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Perspektivismus zu überwinden. Die Genealogie stellt sich als ein hermeneutisches
Verfahren zwischen Philologie und Perspektivismus dar. Die Objekte der
Erkenntnis werden dem Genealogen zu Dokumenten, deren Sinn sich
perspektivisch ausrichten und philologisch auslegen läßt, ohne einen Sinn
außerhalb des Textes selbst supponieren zu müssen. Vorausgesetzter Sinn und
identische Autorität können vielmehr in der genealogischen Interpretation als
Effekte einer bestimmten, in der Lektüre dechiffrierbaren Machtkonstellation
gelesen werden.
Die Diskussion um die genealogische Überwindung metaphysischer
Sinngebungsprozesse durch den philologischen Rückgang auf die ursprünglichen
metaphorischen Effekte der Sprache selbst ist in den Aufsätzen von Paul de Man
intensiv durchgeführt worden. An dieser Stelle soll kurz diese Diskussion und
daran anknüpfende Fragestellungen vorgestellt werden, da sie dem Verständnis von
Nietzsches Entwurf einer Genealogie im Spannungsfeld von Philologie und
Perspektivismus, Etymologie und Typologie, Rhetorik und Symptomatologie dient.
In den „Allegorien des Lesens“ von Paul de Man finden sich drei Aufsätze,
die sich mit Nietzsche befassen: „Genese und Genealogie“, „Rhetorik der Tropen“
und „Rhetorik der Persuasion“. Untersucht werden die idealistischen
Implikationen und das metaphysische Erbe Nietzsche. Im Unterschied zu Heidegger
nimmt de Man nicht die Wertphilosophie im Bezug zur Geschichte des Seins zum
Anlaß, um Nietzsches metaphysische Position zu untersuchen. De Man untersucht
die immanente Konstitution des Textes bei Nietzsche, um an den vorgebrachten
Inhalten, den tragenden Bezügen und den Erkenntniseffekten rhetorische oder
idealistische Muster zu identifizieren. Nietzsches Destruktion metaphysischer
Wahrheiten in der Sprache selbst wird als Anspruch genommen und mit der
textuellen und argumentativen Durchführung verglichen. Die rhetorischen und
metaphorischen Effekte im Text Nietzsches führen de Man zu der Schlußfolgerung,
daß der “Schlüssel zu Nietzsches Kritik der Metaphysik [...] im rhetorischen
Modell der Trope” liege.60
60
! Paul de Man: "Rhetorik der Tropen (Nietzsche)". In: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1988. S. 152.
39
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Paul de Man stellt in seinen sprachphilosophischen und
literaturtheoretischen Untersuchungen zu Nietzsche das romantische Erbe heraus,
an das Nietzsche mit seiner Sprachphilosophie anknüpft. Nachdem er Nietzsches
antimetaphysische Konzeption einer rhetorischen Sprache ohne ursprüngliche
Bedeutung, ohne externe, sprachunabhängige Referenz zitiert hat, schreibt de Man:
“Eine solche Passage könnte noch als ein verspätetes Echo früherer
Spekulationen verstanden werden, die seither längst von den postkantianischen und post-hegelianischen Synthesen überholt worden sind,
welche die Rhetorik an ihren gehörigen Platz verwiesen oder sie als eine
Form ästhetischer Dekadenz verabschiedet haben, die auch Nietzsche in
seinen späteren Schriften gegen Wagner und Schopenhauer als einer der
ersten denunzieren wird. Die Frage bleibt indessen, ob Implikationen dieser
frühen Spekulationen über Rhetorik in späteren Schriften ausgeführt und
entwickelt werden. Auf den ersten Blick scheint das kaum der Fall zu sein.
Das rhetorische Vokabular, noch im Philosophenbuch reich vorhanden (das
vom Herbst 1872 datiert und also der Vorlesung über Rhetorik unmittelbar
vorangeht), verschwindet fast völlig seit Menschliches, Allzumenschliches. Es
scheint, als hätte sich Nietzsche von den Problemen der Sprache zu denen
des Selbst und zu einer Philosophie gewandt, die in unvermitteltem
existentiellen Pathos wurzelt, einem Pathos, das für die Interpretation seines
Werkes so maßgeblich wurde.”61
61
! Paul de Man: "Rhetorik der Tropen (Nietzsche)". In: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1988. S. 149.
40
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
De Man stützt sich in seinen kritischen Analysen in der Hauptsache auf die
„Geburt der Tragödie“ und die darin enthaltene Willensmetaphysik.62 Die Aufsätze
de Mans haben jedoch in der letzten Zeit weitergehende und spezifische
Diskussionen ermöglicht, in die Hinweise von de Man integriert wurden und der
Bruch Nietzsches mit der Philologie mit seinen lange Zeit nicht beachteten
Vorlesungen zur Rhetorik in Verbindung gebracht wird.63
Nur in Kürze kann hier auf die umfangreiche Forschungsarbeit eingegangen
werden, die in Bezug auf Nietzsches Sprachtheorie in der letzten Zeit veröffentlicht
wurde. Nietzsches Sprachphilosophie liegt nur in Bruchstücken vor, in
fragmentarischen Aufsätzen, nachträglich verfaßten Vorreden oder verstreut in
überlieferten Fragmenten und Notizen. Insbesondere der Aufsatz „Über Wahrheit
62
! Die Problematik der Willensmetaphysik im Zusammenhang mit Nietzsches Musik- und
Dramentheorie kann in dieser Arbeit nicht erörtert werden. In der "Geburt der Tragödie"
schreibt Nietzsche tatsächlich: "Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine" (Friedrich
Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: ders.: Werke in drei
Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 41) Ein Zitat aus
"Menschliches, Allzumenschliches" kann jedoch hier ansatzweise die Komplexität
veranschaulichen, die das Problem schon wenig später bei Nietzsche erhielt: "Die Musik ist
nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, daß sie als
unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie
hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt,
daß wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Inneren und käme aus dem Inneren. Die
dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich
symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei.
Die »absolute Musik« ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen
in Zeitmaß und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon
zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwicklung beide Künste
verbunden waren und endlich die musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden
durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwicklung der Musik zurückgeblieben sind,
können dasselbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen alles
symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom
»Willen«, vom »Ding an sich«; das konnte der Intellekt erst in einem Zeitalter wähnen, welches
den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musikalische Symbolik erobert hatte. Der
Intellekt selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt: wie er in die
Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat,
welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist." (Friedrich Nietzsche:
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. § 215: "Musik". In:
ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S.
573.)
63
! In diesem Zusammenhang ist folgende Literatur forschungsrelevant: Philippe Lacoue-Labarthe:
"Der Umweg". In: Werner Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt/M.; Berlin;
Wien: Ullstein, 1986. S. 75-110; Sander L. Gilman / Carole Blair / David J. Parent (ed.):
Friedrich Nietzsche on Rhetoric and Language. Edited and Translated with a Critical
Introduction by Sander L. Gilman, Carole Blair, David J. Parent. New York: Oxford University
Press, 1989. {Erstveröffentlichung von §§ 8-16 (sowie Anhang) der Baseler Vorlesungen
"Darstellung der antiken Rhetorik" [1872-73 oder 1874]}; Angèle Kremer-Marietti: Nietzsche
et la rhétorique. Paris: Presses Universitaires de France, 1992.; Angèle Kremer-Marietti: De la
philologie à la généalogie. In: Friedrich Nietzsche: Contribution à la généalogie de la morale.
Paris: Union générale d’Editions, 1974, 1982, 1988; Anthonie Meijers: Gustav Gerber und
Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien, 17 (Berlin: Walter de Gruyter, 1988), S. 369-390;
Claudia Crawford: The beginnings of Nietzsche’s Theory of Language. Berlin: de Gruyter,
1988.
41
42
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
und Lüge im außermoralischen Sinn“64
erweckte das Interesse an der
sprachtheoretischen Philosophie Nietzsches. In diesem Aufsatz problematisiert
Nietzsche die unüberbrückbare Distanz der Sprache, die den Menschen von den
Dingen trennt. Die Scheinhaftigkeit der sprachlichen Identifikation ist nach dieser
Darstellung kein korrigierbarer Irrtum oder eine partielle Verkennung, sondern
absolute Wahrheit. Die Sprache bezeichnet niemals die Wahrheit von Welt, sondern
nur die perspektivische Interpretation der Sachen.
Während Nietzsche in seinem sprachtheoretischen Entwurf „Über Wahrheit
und Lüge im außermoralischen Sinn“ auf bestechende Weise die
Unhintergehbarkeit der Metaphorizität von Sprache darstellt, entwickelt er in
seiner genealogischen Phase eine etymologische Begriffskritik. Der vierte und fünfte
Abschnitt der Ersten Abhandlung der „Genealogie der Moral“65
zeigt die
etymologische Perspektivierung des sprachtheoretischen Problems. Die
etymologischen Herleitungen, die Nietzsche vorbringt, sind Teil der genealogischen
Perspektivierung und Kritik der herrschenden Werte und führen zu einer
anarchischen Typologie der sozialen Kräfte des Herkommens.
Der moralischen Wertung liegt eine „Begriffs-Verwandlung“ zugrunde. Die
Wertbegriffe „gut“ und „schlecht“ leiten sich etymologisch aus der Überführung
sozialer Kategorien in die Sphäre moralischer Urteile ab. Zunächst liegt eine
grundsätzliche Einteilung in Herrschende und Ohnmächtige, Vornehme und
Gemeine im Sinne einer gesellschaftlichen Standesordnung vor. Die soziale
Differenz zwischen den Menschen ist primär. Aus dieser ständischen Differenz leitet
sich das moralische Urteil ab. Es findet eine Übertragung statt aus der sozialen
Ordnung in die moralische Ordnung. Nietzsche stellt die Regel auf, „daß der
politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff
auslöst“66 .
64
! Friedrich Nietzsche: "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn". In: ders.: Werke in
drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. III. S. 309-322.
65
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ders.: Werke in drei Bänden
(hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 774-777.
66
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und
böse", "gut und schlecht", § 6. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 777.
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
In den Abschnitten der „Genealogie der Moral“ führt Nietzsche die
etymologische Kritik als Umwertung der moralischen Kategorien ‚gut‘ und
‚schlecht‘ durch. Hier wird der moralische Wertbegriff „gut“ nicht vom sozialen
Stand des Besitzenden und Herrschenden abgeleitet, sondern vom Krieger, indem er
auf das lateinische bonus bezogen wird: „Das lateinische bonus glaube ich als »den
Krieger« auslegen zu dürfen: vorausgesetzt, daß ich mit Recht bonus auf ein älteres
duonus zurückführe (vergleiche bellum = duellum = duen-lum, worin mir jenes
duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entscheidung
(duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine »Güte«
ausmachte.“67
Die Etymologien, auf die sich Nietzsche bezieht, sind keine philologischen
Wahrheiten, sondern Bestimmungen der Differenz am herrschenden Sinn, die eine
Umwertung ermöglichen. Die etymologische Frage ist für Nietzsche die Frage nach
der Rangordnung der Werte, die eher noch nach physiologischen als nach
sprachhistorischen Kriterien bewertet wird.68 Die kursierende Wertbestimmungen
werden als Zeichenketten aufgefaßt, denen eine Folge von Interpretationen,
Umwertungen und Auslegungen vorangegangen ist. Die ursprüngliche Bedeutung
der Worte wird nicht als interpretationsfreier Sinn imaginiert, sondern in der
Transformation gesucht. Die Bedeutung der Wertbegriffe ist nicht ihr aktuell
gültiger Sinn, denn dieser dient der Herrschaft, die mit einer perspektivischen
Krümmung verbunden ist. Die kritische Bedeutung der Wertbegriffe erschließt sich
erst in der Konfrontation mit der Vorgeschichte, die Nietzsche etymologisch aus
den Begriffen, in der Differenz zum herrschenden Sinn, herausliest.
An der Funktion der Strafe führt Nietzsche sehr genau aus, wie eine
genealogische Kritik der moralischen Werte die Sinngebungen aufbrechen kann.
Bisherige Untersuchungen haben den Sinn und die Entstehung der Strafe zusammen
67
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und
böse", "gut und schlecht", § 5. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 777.
68
! S. dazu auch Nietzsches Vorschlag eines akademischen Preisausschreibens in der Anmerkung
am Ende der Ersten Abhandlung der "Genealogie der Moral" (Friedrich Nietzsche: Zur
Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und böse", "gut und
schlecht", Anmerkung. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 797 f.)
43
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
gedacht, das eine aus dem anderen abgeleitet, und so die soziale Funktion
aufgewiesen. Der Sinn der Strafe liege in der Rache oder der Abschreckung; darin
sei der Sinn und gleichzeitig die Entstehung der Strafe zu sehen. Damit wird eine
soziale Wertgebung mit ihrer internen Zweckmäßigkeit erklärt und die
vorgetragene Zweckmäßigkeit in die Entwicklungsgeschichte zurückprojiziert, um
die Wertgebung zu legitimieren. Für Nietzsche ist der Rechtszustand als Muster der
Geschichtsschreibung und Interpretation allerdings ungeeignet, da er nur als
Ausnahme existiert.
„Der »Zweck im Rechte« ist aber zuallerletzt für die Entstehungsgeschichte
des Rechts zu verwenden: vielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen
wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch
wirklich errungen sein sollte – daß nämlich die Ursache der Entstehung eines
Dings und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche Verwendung
und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen;
daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-Gekommenes immer wieder von
einer ihm überlegnen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag
genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; daß
alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-werden und
daß wiederum alles Überwältigen und Herr-werden ein Neu-Interpretieren, ein
Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige »Sinn« und »Zweck« notwendig
verdunkelt oder gar ausgelöscht werden muß.“69
Die Nützlichkeit und der Zweck einer institutionellen Wertgebung oder eines
physiologischen Organs sagen nichts über die entsprechende Entstehungsgeschichte
aus, die sich – in der Darstellung Nietzsches – nicht an der nützlichen Funktion als
vorgegebenem Ziel orientiert haben kann. Die Nützlichkeit, der Sinn und die
Funktion einer Sache wird der Sache nachträglich zugeschrieben – auch um die
gewaltsame und chaotische Entstehungsgeschichte zu tilgen. Die Nützlichkeit wird
69
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung: "Schuld",
"schlechtes Gewissen" und Verwandtes, § 12. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 817 f.
44
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
so in der herrschenden Geschichtsschreibung zu einem Faktor, der die
Umschreibung der Vorgeschichte ermöglichen soll.70
Um die Entstehungsgeschichte einer Sache wirklich zu verstehen, kann sich
der Genealoge nicht an die mit ihr verbundenen Zwecke halten.
„Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, daß ein Wille
zur Macht über etwas Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den
Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines »Dings«,
eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette
von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren
Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange sein brauchen, vielmehr
unter Umständen sich bloß zufällig hintereinander folgen und ablösen.“71
In diesem Abschnitt der „Genealogie der Moral“ nennt Nietzsche im weiteren die
in der modernen Demokratie vorherrschende Erklärung der
Entwicklungsgeschichte mithilfe der Zwecke und Funktionen „Misarchismus“. In
der misarchistischen Auffassung wird die Entwicklungsgeschichte nach Maßgabe
ihrer Nützlichkeit zur evolutionären Geschichte der Anpassung zurückgesetzt und
die grundsätzliche Aktivität ausgeschlossen.
Im Zusammenhang mit der misarchistischen Genealogie stellt sich die Frage
nach dem Zusammenhang von Ursprung und Behältnis (archè) sowie Herrschaft
und Macht (krátos). Die Gewaltsamkeit, die der Etablierung eines
Herrschaftssystems vorausliegt, stellt keinen natürlichen, vor der Kulturalisierung
liegenden Zustand archaischer Wildheit oder herrschaftsfreier Ungebundenheit dar.
Mit der Verwerfung der utilitaristischen Nützlichkeit und der philologischen
Wahrheit verfällt auch die Zurückführung von Zivilisation auf archaische
Entstehungsgründe Nietzsches Kritik. Nietzsche schreibt zwar, daß die
Leidensfähigkeit des modernen Menschen nicht mehr den Schmerz verarbeiten
70
! Die genealogische Perspektivierung der Vorgeschichte der Moral ist weit entfernt von
generalisierenden und in der daran anknüpfenden Interpretation weiter pauschalisierten
Urteilen, wie sie etwa von Karl Jaspers vorgetragen wurden: "Die Moralität entspringt der
Unmoralität", und: "Die Moralkritik entspringt der höchsten Moralität" (Karl Jaspers: Nietzsche.
Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin: Walter de Gruyter, 1950 (3)
[1935]. S. 144, 145).
71
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung: "Schuld",
"schlechtes Gewissen" und Verwandtes, § 12. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 818.
45
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
könne, den noch der vorgeschichtliche Mensch ertrug.72 Diese Ausführungen zur
Fähigkeit, Gewalt und Schmerz zu erleiden, sind allerdings nicht als Atavismus zu
verstehen, der ein archaisches Ideal der Stärke in die Gegenwart übersetzen wollte.
Es gibt keinen Weg (sei er erkenntnistheoretisch oder politisch) zurück zu einem
herrschaftsfreien Archaismus im Sinne eines natürlichen Urzustandes. Die Kritik
der modernen Gesellschaft in der Perspektive eines Archaismus operiert mit einer
Natur/Kultur-Unterscheidung, die nicht aufgelöst wird, sondern kultureller
Herkunft ist und im Inneren des Dualismus fortdauert. Nietzsches Genealogie ist
kein Archaismus, da der Ursprung (archè) niemals außerhalb der Macht oder
Herrschaft (krátos) steht. Der von Nietzsche kritisierte Misarchismus leugnet den
Macht-Willen und verwandelt damit Herrschaft in Innerlichkeit und Ressentiment.
Ungeachtet der Polemik, mit der Nietzsche den anarchistischen Utopismus
als idealistische und spekulative Verkennung kritisiert, muß seine genealogische
Kritik der herrschenden Werte als an-archische Kritik bezeichnet werden, insofern
der Ursprung ausgesetzt ist. Nietzsches Kritik kann sich weder auf den Ursprung
der geschichtlichen Wahrheit, noch auf die Wahrheit der herrschenden oder
unterlegenen Perspektive stützen. Die herrschenden Werte sind ebenso falsch wie
die geschichtlich unterlegenen. Nietzsches Genealogie ist an-archisch in einem Sinn
zu nennen, wie ihn Emmanuel Lévinas in existenzphilosophischer Hinsicht
entworfen hat. Anarchismus wird nicht als Herrschaftslosigkeit verstanden,
sondern als Abwesenheit des Ursprungs, Unmöglichkeit der externen Perspektive
und Unhintergehbarkeit der Differenz der Kräfte.73
Die etymologischen Erklärungen stellen für Nietzsche die Möglichkeit dar,
aus den Spannungsverhältnissen der Sprache selbst die Entstehung der Werte
72
! Vgl. dazu Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung:
"Schuld", "schlechtes Gewissen" und Verwandtes, § 7. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v.
Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 808-811. Hier verleiht Nietzsche dem
vorgeschichtlichen Menschen eine Hautfarbe, wenn nicht sogar eine Gestalt – die des
"Negers".
73
! Lévinas schreibt: "Der Begriff der Anarchie, wie wir ihn hier einführen, geht dem politischen
(oder anti-politischen) Sinn voraus, der ihm im allgemeinen Sprachgebrauch zukommt. Er kann
nicht, ohne sich selbst zu widerlegen, als Prinzip genommen werden (in dem Sinne, wie ihn die
Anarchisten verstehen). Die Anarchie kann nicht souverän sein wie die archè. Sie kann den
Staat nur stören – allerdings auf radikale Weise und so, daß dadurch Momente der Negation
ohne irgendeine Bejahung möglich werden. Der Staat kann sich so nicht zum Ganzen
erheben." (Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg;
München: Karl Alber, 1992. S. 224 (Anm. 3).)
46
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
abzuleiten. Die Typologisierung oder Dramatisierung der Kräfte stellt für Nietzsche
die Möglichkeit dar, die „Begriffs-Verwandlung“ inszenatorisch anschaulich zu
machen.
Nietzsches Etymologisierung der moralischen Werte zeigt keinen
herrschaftsfreien gesellschaftlichen Umgang auf, der sich erst anschließend durch
die Moralisierung typologisch in Herrschende und Beherrschte differenziert hätte.
Die moralischen Werte werden zwar sozialtypologisch instrumentalisiert und zur
Stabilisierung bestimmter Herrschaftsverhältnisse genutzt, ihnen geht jedoch kein
Zustand gesellschaftlicher Gleichheit voraus. Es läßt sich kein unschuldiger
Zustand denken, der vor der Spaltung der Kräfte in herrschende und beherrschte,
aktive und reaktive, Wirklichkeit gewesen wäre. Etymologisch läßt sich lediglich
die „Begriffs-Verwandlung“ nachzeichnen, aus der die paradoxale Herrschaft der
niederen Werte hervorgeht. In Klammern schreibt Nietzsche:
„(Das gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im wesentlichen hat die
unterworfene Rasse schließlich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in
Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen
Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch
modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur »commune«, zur
primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Sozialisten Europas jetzt
gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu
bedeuten hat – und daß die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch
physiologisch im Unterliegen ist?...)” 74
Die Genealogie legt keinen Grund der Entstehung frei, der unabhängig von
Modellen der Herrschaft wäre. In der „Genealogie der Moral“ schreibt Nietzsche
sogar (abermals in Klammern), daß selbst die organische Materie nach kulturellen
74
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Erste Abhandlung: "Gut und
böse", "gut und schlecht", § 5. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 776 f..
47
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Hierarchien strukturiert sei: „(denn unser Organismus ist oligarchisch
eingerichtet)”75 .
Die etymologische Umwertung der kursierenden Wertbegriffe und
Dualismen kann keine Typologie außerhalb der typologischen Machtverhältnisse
entwerfen. Alan Schrift versucht das relativistische Dilemma, das aus der
Erkenntnis der absoluten Wahrheit der perspektivischen Verkennung folgt, zu
umgehen, indem die genealogische Interpretation zwischen dem absoluten
Perspektivismus und der dogmatischen philologischen Wahrheit des Textes verortet
wird. Die kritische Methode der Genealogie gibt Nietzsche ein Instrumentarium
der Interpretation, mit dessen Hilfe er ohne idealistischen Wahrheitsbezug
perspektivistische Philologie als gültiges Verfahren der Auslegung betreiben kann.
Nach den bisherigen Ausführungen stellt sich die Genealogie jedoch weniger
als modifizierte Philologie dar, sondern vielmehr als ein interpretatorisches
Verfahren, das Nietzsche nach seiner Lösung von der Philologie und dem ihr
immanenten Wahrheitsanspruch entwickelt. So wie die utilitaristische Erklärung
der Entstehung von Moral im Zeichen ihrer Nützlichkeit der polemischen
Ablehnung verfällt, kann die Philologie kein fragloses Mittel der Erkenntnis mehr
sein. Nach seiner philologischen Auseinandersetzung mit der Rhetorizität der
Sprache (Anfang bis Mitte der 70er Jahre) stellt sich Nietzsches genealogische
75
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung: "Schuld",
"schlechtes Gewissen" und Verwandtes, § 1. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 799.
!
In "Menschliches, Allzumenschliches" wird die oligarchische Organisation als politische Freiheit
dargestellt: "Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren
Kultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen – aber diese Herrschaft liegt von
jetzt ab in den Händen der Oligarchen des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und
politischen Trennung eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und
anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die Urteile der auf die Masse wirkenden
Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst und Abgunst in Umlauf bringen
mögen. Die geistige Überlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu
binden: wie könnten die einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen
Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihresgleichen hier und
dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe ebensosehr
gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die
gelegentlichen Versuche mit Hilfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die
Oligarchen sind einander nötig, sie haben aneinander ihre beste Freude, sie verstehen ihre
Abzeichen – aber trotzdem ist ein jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an seiner Stelle
und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen." (Friedrich Nietzsche: Menschliches,
Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. § 261: "Die Tyrannen des Geistes".
In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S.
608 f.)
48
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Perspektivierung der Entstehung moralischer und gesellschaftlicher Werte als
grundsätzliche Kritik an den asketischen Idealen der Wissenschaft dar.
Die Philologie wird als wissenschaftliche Disziplin der genealogischen Kritik
unterworfen, die den Philologen typologisch als Gelehrten identifiziert. Die
Wissenschaft und das Gelehrtentum stehen nicht im Dienste der objektiven
Erkenntnis oder der Ordnung des Wissens, sondern sind selbst nur Mittel eines
zumeist verborgenen Zwecks:
„Die eigentlichen »Interessen« des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz
woanders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist
beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der
Wissenschaft gestellt wird, und ob der »hoffnungsvolle« junge Arbeiter aus
sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht – es
bezeichnet ihn nicht, daß er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an den
Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere gibt
seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugnis dafür ab, wer er
ist – das heißt, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur
zueinander gestellt sind.“76
Um den Bruch Nietzsches mit der philologischen Wahrheit und seine typologische
Konzeption näher kennzeichnen zu können, sollten vielleicht einmal – anstelle
seiner in der jüngeren Forschung vielfach diskutierten Rhetorik-Vorlesungen –
Nietzsches Vorlesungen zum Gottesdienst der Griechen herangezogen werden, die
im gleichen Zeitraum entstanden wie die Vorlesungen zur griechischen
Beredsamkeit.77
In diesen Vorlesungen befaßt sich Nietzsche thematisch mit
ähnlichen Problemen, wie er sie später in der „Genealogie der Moral“ entwickelt
und darstellt. Die Perspektive, aus der das Geschehen im antiken Kultus, die
76
! Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Erstes
Hauptstück: Von den Vorurteilen der Philosophen, § 6. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v.
Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 571 f.
!
In "Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht" bemerkt Emmanuel Lévinas: "Vielleicht
bedeutet der Tod Gottes nichts weiter als die Möglichkeit, jeden Wert, der einen Trieb
entstehen läßt, zurückzuführen auf einen Trieb, der den Wert entstehen läßt." Emmanuel
Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg; München: Karl Alber,
1992. S. 274.
77
! Vgl. Friedrich Nietzsche: "Der Gottesdienst der Griechen" (1875-1876). In: Gesammelte
Werke (Musarionausgabe; hrsg. v. Richard Oehler, Max Oehler, Friedrich Chr. Würzbach).
Fünfter Band: Vorlesungen 1872-1876. München: Musarion, 1922. S. 321-476.
49
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Funktion der Priesterkaste und die religiöse Praxis beschrieben wird, ist jedoch
verschieden. Nietzsche hatte noch keine typologische Kritik entwickelt, seine
Etymologie orientierte sich noch an der philologischen Wahrheit der Auslegung
und am asketischen Ideal der religionshistorischen Überlieferung und Bewahrung.
Die typologische Charakterisierung und Perspektivierung der Frage geht aus
dem Zusammenbruch und Verlust der metaphysischen Werte hervor. Die Aufgabe
des Philosophen, der die moralischen und gesellschaftlich kursierenden Werte
untersucht, kann nicht darin bestehen, nach einer Begründung zu suchen, sondern
muß darin bestehen, eine „Typenlehre der Moral“78 zu entwickeln. Während die
Suche nach einer Begründung der Moral den Wert der Werte nicht wirklich einer
Kritik unterzieht, sondern vielmehr an den grundsätzlichen Wert der Moral glaubt
und ihn aus einer bestimmten Perspektive zu fundieren oder zu vermitteln sucht,
stellt sich in der genealogischen Perspektive das moralische Unterscheidungssystem
prinzipiell als Glaube dar, dessen Wahrheitswert aus perspektivischen
Verzeichnungen und Verfälschungen herrührt.
In seinem antidialektischem, von einer psychoanalytischen Hermeneutik
geprägten Buch „Nietzsche und die Philosophie“ stellt Gilles Deleuze die dreifache
Rolle des Genealogen heraus: zum einen Arzt (Symptomatologie), zum anderen
Künstler (Typologie), zum dritten Gesetzgeber (genealogische Bestimmung des
Ranges, von Generation und Degeneration, Vornehmheit und Niedrigkeit). In
dieser dreifachen Funktion liegt die Zukunft der Philosophie bzw. die „Philosophie
der Zukunft“:
„Nur eine aktive Wissenschaft ist imstande, die wirklichen Aktivitäten zu
interpretieren – aber auch die realen Verhältnisse zwischen den Kräften. Sie
präsentiert sich unter drei Formen: als Symptomatologie, da sie die
Phänomene interpretiert und sie wie Symptome behandelt, deren Sinn in den
Kräften zu suchen ist, die sie hervorbringen. Als Typologie, da sie die Kräfte
selbst von deren Qualitäten aus, ob aktiv oder reaktiv, interpretiert. Als
Genealogie, da sie die Herkunft der Kräfte, entsprechend ihrem vornehmen
78
! Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.
Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, § 186. In: ders.: Werke in drei Bänden
(hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 643 f.
50
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
oder niedrigen Charakter, abschätzt, da sie ihren Vorfahren im Willen zur
Macht und in dessen Qualität aufspürt.“79
In der antidialektischen, postexistentialistischen und -humanistischen Lektüre
Nietzsches, wie sie sich im Frankreich der 60er Jahre entwickelte, bot die
genealogische Fragerichtung die Möglichkeit, die kulturpessimistische Kritik
sozialer, kultureller und metaphysischer Werte, wie sie im Hinblick auf eine
Geschichte der Seins vorgetragen wurde, subversiv und dekonstruktiv zu
radikalisieren und zu abstrahieren. Die Produktion gesellschaftlicher, moralischer
und ästhetischer Werte wurde nicht substantialistisch als „Seinsvergessenheit“ oder
als „Werteverlust“ beklagt, sondern in Bezug auf den Charakter ihrer Produktion
und der sie ermöglichenden Verhältnisse dargestellt. Die Konstruiertheit
herrschender Werte verweist nicht auf den Mangel an Sein im Inneren partikular
bestimmter Werte, sondern verweist auf das Werden, d.h. auf die noch vor der
Setzung, Bestimmung oder Nennung des Seins waltende Unentscheidbarkeit. Die
Einheit des Sinns wurde genealogisch aufgebrochen, um eine typologische
Wertekritik zu ermöglichen.
Die kursierenden Werte werden in der genealogischen Perspektive auf ihre
Herkunft, ihre Funktion und ihre Inszenierung untersucht. Jean Granier schreibt in
seinem 1977 in den „Perspektiven der Philosophie“ veröffentlichten Aufsatz:
„Les structures existentielles sont représentées empiriquement par des
»types« humains. C’est pourquoi la critique généalogique s’ouvre sur la
question d’imputation : quel est l’auteur de telle ou telle »morale« ? Ce qui
revient à demander : qui produit le code valoriel dont nous constatons qu’il
gouverne le comportement d’un groupe social, voire l’ensemble d’une
culture ? Cette interrogation sert de fil directeur, par exemple, à la critique de
la philosophie et permet de dresser la fiche »typologique» du
métaphysicien.“80
79
! Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. [Hamburg: Rogner
& Bernhard, 1976] S. 83.
80
! Jean Granier: Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche. In:
Perspektiven der Philosophie. Bd. 3. (1977), S. 150.
51
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Die genealogische Frage nach dem Wer? darf nicht als identisch mit der Frage nach
der Verantwortlichkeit im Sinne der metaphysischen Suche nach dem Täter hinter
der Tat aufgefaßt werden. Während die Suche nach der Verantwortlichkeit der
idealistischen Kausalitätsvorstellung entspringt, geht die Frage nach dem Wer? auf
die diskurs-immanente Position der Subjektivierung und Personalisierung. Es wird
danach gefragt, welche idealisierende und ideologisierende Funktion einem
bestimmten Ort des Sprechens im Diskurs zugewiesen ist. Im Gegensatz zur
Personalisierung und damit verbundenen Stabilisierung herrschender moralischer
Werte stellt die „Dramatisierungsmethode“ (Deleuze) bei Nietzsche eine wirkliche
Kritik dar:
„Wenn wir also fragen: »Was will derjenige, der das denkt?« entfernen wir uns
keineswegs von der fundamentaleren Frage »Wer?«, wir geben ihr nur eine
Regel und einen methodischen Entwicklungsverlauf vor. Tatsächlich fordern
wir, daß auf die Frage nicht durch das Nennen von Beispielen geantwortet
wird, sondern durch die Benennung eines Typus. [...] Ein Typus wird nur
definiert, indem das definiert wird, was der Wille in den Exemplaren dieses
Typus will. Was will, wer nach der Wahrheit sucht? Dies ist die einzige Art und
We i s e h e r a u s z u b e k o m m e n , w e r d i e Wa h r h e i t s u c h t . D i e
Dramatisierungsmethode präsentiert sich derart als die einzige dem Projekt
Nietzsches und der Form der von ihm gestellten Fragen angemessene
Methode: als differentielle, typologische und genealogische Methode.“ 81
Die Philosophie Nietzsches ist durch eine Vielzahl sozialer Typen und Figuren
gekennzeichnet. Das ganze Werk hindurch finden sich Betrachtungen zur
typologischen Funktion des Künstlers, des Gelehrten, des Priesters, des Heiligen,
des Freigeistes, des Historikers, des Wissenschaftlers, des Philosophen, des
Philologen, des Verbrechers, des Richters etc. Die sich aus der Vielzahl der
Perspektiven ergebende Typologie ist keine Personalisierung seinsphilosophischer
Bewegungen, sondern Nietzsches perspektivistische Inszenierung einer
genealogischen Wertekritik.
81
! Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. [Hamburg: Rogner
& Bernhard, 1976] S. 87
52
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
Durch die Etymologisierung der Begriffe und die Typologisierung der Werte
kennzeichnet Nietzsche den Verfall der abendländischen Kultur. Durch die
historische Begriffs-Verwandlung etablierte sich eine (paradoxale) partikulare
Herrschaft des Mittelmaßes, die Sklavenmoral. Die starken, singulären und
vornehmen Kräfte gingen unter, worauf das Mittelmaß den allgemeinen Wert
bestimmen konnte. Die kulturpessimistische Verfallsgeschichte findet ihren
Ausdruck in der Typologie der modernen Massengesellschaft. Zum anderen dient
die an-archische Typologisierung der Werte Nietzsche aber auch dazu, Perspektiven
eines anderen Geschichtsverlaufs aufzuzeigen. Die Scheinhaftigkeit der
kursierenden Werte nimmt Nietzsche zum Anlaß einer Kritik, die gleichzeitig in
Hinsicht auf die Götzen und priesterlichen Manipulateure destruktiv und eine
„Philosophie der Zukunft“ für die freien Kräfte darstellen kann. In „Menschliches,
Allzumenschliches“ schreibt er über den von ihm geschaffenen Typus des
Freigeistes:
“– So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die »freien
Geister« erfunden, denen dieses schwermütig-mutige Buch mit dem Titel
»Menschliches, Allzumenschliches« gewidmet ist: dergleichen »freie Geister«
gibt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur
Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge
(Krankheit, Vereinsamung, Fremde, acedia, Untätigkeit): als tapfere Gesellen
und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu
schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie
langweilig werden, – als ein Schadensersatz für mangelnde Freunde. Daß es
dergleichen Geister einmal geben könnte, daß unser Europa unter seinen
Söhnen von morgen und übermorgen solche muntere und verwegene
Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem
Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am
wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und
vielleicht tue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum
53
2. Genealogie als Etymologie der Wertbegriffe und als Typologie der Kräfte
voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen
Wegen ich sie kommen sehe? --”82
Die genealogische Interpretation ist gleichzeitig Analyse und Kritik des
Gesellschaftsverfalls wie prophetischer Diskurs eines anderen Geschichtsverlaufs.
Nach der Verwerfung der philologischen Wahrheit – insofern sie die
ursprüngliche Metaphorizität der Sprache verkennt und zum lebensfeindlichen
Gelehrtentum führt – nutzt Nietzsche die etymologische Lektüre, um
wertbegriffliche Oppositionen aufzubrechen und ihre stabilisierende Funktion im
sozialen Diskurs aufzuweisen. Den kursierenden Wertbegriffen liegt eine „BegriffsVerwandlung“ zugrunde. Der politische Vorrangsbegriff löst sich in der seelischen
Sphäre auf, um sich zur Herrschaft der Innerlichkeit und des Ressentiments zu
transformieren. Macht wird auf diese Weise zu Wissen. Indem die Genealogie die
gewaltsame und chaotische, aber nicht herrschaftsfreie Vorgeschichte gegen die
verfeinerten Wert- und Erkenntnisbegriffe des christlichen Abendlandes stellt, wird
das geläufige und kursierende Wertverständnis kritisiert. Nietzsche entwickelt eine
anarchische Typologie, die sich gegen die misarchistische Leugnung des MachtWillens im Nützlichkeitsdenken wendet. Die Genealogie ist kein Archaismus,
sondern zeigt die in der Struktur der modernen Herrschaftsformen verborgenen
kultischen Prinzipien auf. Die etymologische Begriffsanalyse und die typologische
Frage nach dem Wer zielen nicht auf außertextuelle Wahrheit oder
Personalisierung, sondern auf die diskursimmanente Position der Subjektivierung
und die genealogische Dimension des Herkommens gesellschaftlicher
Wertvorstellungen.
82
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band.
Vorrede, § 2. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969
(6). Bd. I. S. 438 f.
54
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Nietzsches Etymologie setzt nicht die Wahrheit der Werte gegen ihren kursierenden
Sinn, sondern zeigt die Transformationen und Spannungsverhältnisse auf, die in
den Begriffen eingeschlossen sind. Die Typologie setzt den Wert der Werte in Bezug
auf soziale Figuren und Kräfteverhältnisse. In der „Genealogie der Moral“
entwickelt Nietzsche aus der etymologischen Kritik des moralischen
Begriffsgegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘ in der Hauptsache die Kritik der Begriffe
des asketischen Ideals und des mit der Idealbildung zusammenhängenden
Ressentiments.
Die typologische Kritik fragt danach, was die Wertsetzung für bestimmte
Sozialcharaktere bedeutet. Gleich zu Beginn der Dritten Abhandlung („Was
bedeuten asketische Ideale?“) fragt Nietzsche danach, was die asketischen Ideale
jeweils für die Künstler, die Philosophen und Gelehrten, die Frauen, die
physiologisch Verunglückten und Verstimmten, die Priester und Heiligen bedeuten.
Die Frage wird perspektivistisch aufgeschlüsselt als Frage nach der typologischen
Dimension der Wertbegriffe. In erweiterter, die typologische Charakterisierung
hinter sich lassender Perspektive ergibt sich, daß in der Frage nach der
Wertschätzung die nihilistische Grundtendenz des Willens ausgedrückt ist: „Daß
aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin
drückt sich die Grundtatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er
braucht ein Ziel – und eher will er noch das Nichts wollen als nicht wollen.“83
Asketische Ideale sind insofern nihilistische Begriffe, wie sie mit
Entsinnlichung und Entwertung korrespondieren. Sie resubstantialisieren die
nihilistische Entwertung, insofern sie sich auf ein transzendentes Versprechen
berufen. Das asketische Ideal verspricht einen Zustand des Ausgleichs, der Ruhe
oder der Reinheit jenseits der realen Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnisse
des menschlichen Lebens und Willens. Den tatsächlich wirksamen
Herrschaftsformen wird ein imaginärer Zustand gegenübergestellt, der diese
Herrschaftsformen transzendieren, sie aber auch verdecken und legitimieren soll.
83
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Dritte Abhandlung: Was
bedeuten asketische Ideale?, § 1. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 839.
55
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Das ursprüngliche „Pathos der Distanz“, das sich in der Unterscheidung zwischen
vornehmer und niederer Herkunft und Haltung zeigt, wird eingeebnet und
institutionalisiert sich als herrschende Sklaven-Moral. Aus einer Gesellschaft, in der
die Menschen ihren unterschiedlichen Kräften gemäß leben, formiert sich eine
Gesellschaft der allgemeinen Unterwerfung. Die asketische Idealbildung führt zur
Richtungsänderung des Willens. Der Wille will nicht mehr seinem Wesen
entsprechend über sich hinaus, sondern kehrt sich als Widerwille gegen sich selbst.
Es soll zunächst das asketische Ideal als Wertbestimmung in Bezug auf den
Priester und den Philosophen vorgestellt werden, um über die ökonomische
Bedeutung des asketischen Ideals die psychologische Form und soziale Funktion
des Ressentiments zu entwickeln und um schließlich auf die nihilistische
Grundtendenz des Willens einzugehen.
Das asketische Ideal steht im Dienste der demagogischen Herrschaft des
Priestertums. Mit dem asketischen Ideal verspricht die Priesterkaste dem Volk einen
Anteil am geistigen Leben – jedoch nur um den Fortbestand der partikularen
Herrschaft zu sichern.
„Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die Wertung unsres Lebens
seitens der asketischen Priester: dasselbe wird (samt dem, wozu es gehört,
»Natur«, »Welt«, die gesamte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit)
von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, zu dem
es sich gegensätzlich und ausschließend verhält, es sei denn, daß es sich
etwa gegen sich selber wende, sich selbst verneine: in diesem Falle, dem
Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als Brücke für jenes andre
Dasein. Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich
rückwärts gehn müsse, bis dorthin, wo er anfängt“84
Interessanterweise vergleicht Nietzsche die Bildung des asketischen Ideals durch
den Priester mit der Funktion des Philosophen. In § 10 des Dritten Abschnitts der
84
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Dritte Abhandlung: Was
bedeuten asketische Ideale?, § 11. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 858.
56
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
„Genealogie der Moral“85 wird die Genealogie des Philosophen aufgewiesen. Um
eine Umwertung der gängigen Werte erreichen zu können, muß sich der Philosoph
maskieren. Er muß Ehrfurcht erwecken, um seine nach den kursierenden Begriffen
neuartige Existenz gegen die herrschenden Werte durchsetzen zu können. Dazu
bedient sich der Philosoph wie auch der Weise der Mittel einer noch grausamen
Religion, indem er seinen Lebensstil einem übermäßigen asketischen Ideal
unterwirft. Der Philosoph verkörpert die neuen Werte. Diese Verkleidung des
Philosophen ist in Nietzsches Darstellung auch noch in der aktuellen Zeit
vorherrschend. Die Mittel der asketischen Überzeugung liegen allerdings nicht
mehr in der religiösen Praxis eines Kultes der Grausamkeit. Der moderne Philosoph
verkörpert die asketischen Ideale nur noch als Verneinung des unbeherrschbaren
Lebenswillen, als Verkehrung der ursprünglich wertesetzenden Perspektive, als
Degeneration.
Den modernen philosophischen Asketismus sieht Nietzsche in der Gestalt
Schopenhauers verkörpert. Seine Kritik an der verunglückten Musik Wagners
verbindet Nietzsche mit der Kritik an Schopenhauers Metaphysik. Die Musik wird
in der asketischen Philosophie Wagners und Schopenhauers zu einem Mittel, die
asketischen Ideale zu vertreten und zu verbreiten.86
Priester und Philosoph sind privilegierte typologische Formen, an denen
Nietzsche die Produktion und Durchsetzung asketischer Ideale demonstriert. Die
Willensäußerungen werden im Asketismus umgekehrt und zu einem Ideal stilisiert,
das im Rückzug des Willens erreichbar sei.
Die Verkehrung des ursprünglichen aktiven und bildenden Willens im
Asketismus hat sich im Zuge der abendländischen protestantischen Ethik
durchsetzen können. Philosoph und Priester sind als Vertreter des asketischen
Ideals nur Repräsentanten einer allgemeinen Tendenz der Ökonomisierung. Max
85
! Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Dritte Abhandlung: Was
bedeuten asketische Ideale?, § 10. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 856 f.
86
! Nietzsche schreibt: "Mit dieser Wertsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauerschen
Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit einem Male auch der Musiker selbst unerhört im
Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück
des »An-sich« der Dinge, ein Telephon des Jenseits" (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der
Moral. Eine Streitschrift. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, § 5. In: ders.:
Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 845.)
57
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Weber hat in seinem Aufsatz „Die protestantische Ethik und der »Geist« des
Kapitalismus“87 die Genese des kapitalistischen Geistes diskutiert. Zu Beginn der
Analyse stellt er die hypothetische Frage: „ob nicht der ganze Gegensatz zwischen
»Weltfremdheit«, »Askese« und kirchlicher Frömmigkeit auf der einen Seite,
Beteiligung am kapitalistischen Erwerbsleben auf der anderen Seite [im Gegensatz
zu geläufigen Meinung] geradezu in eine innere Verwandtschaft umzukehren sei.“88
Im Zuge seiner Abhandlung zeigt Max Weber auf vielfältige Weise auf, wie sich mit
der kapitalistischen Ökonomie Ideale entwickeln, die den ökonomischen Verlauf
begleiten und verstärken (Gewinnstreben, Berufsidee, Planmäßigkeit der
Lebensführung, Genußfeindlichkeit etc.). Der Asketismus des Christentums und die
Glaubensinhalte des Calvinismus im besonderen stellen keinen Gegensatz zum
Erwerbsstreben im Kapitalismus dar. Die im Glauben geforderte Enthaltsamkeit
und die Verneinung des Willens stellen sich nicht gegen das kapitalistische Gewinnund Erwerbsstreben, sondern fördern die ökonomische Überwindung des
traditionalistischen Lebensstils. „Ein waches bewußtes helles Leben führen zu
können, war, im Gegensatz zu manchen populären Vorstellungen, das Ziel, – die
Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses die dringendste
Aufgabe, – Ordnung in die Lebensführung derer, die ihr anhängen, zu bringen, das
wichtigste Mittel der Askese.“89 Der Verlust des Glaubens und des Traditionalismus
87
! Max Weber: Die protestantische Ethik und der “Geist” des Kapitalismus. Textausgabe auf der
Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze
und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von
Klaus Lichtblau und Johannes Weiß. Bodenheim: Athenäum Hain Hanstein, 1993. [zuerst in:
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (J.C.B. Mohr, Tübingen) Bd. XX (1904), S. 1-54
und Bd. XXI (1905), S. 1-110. Später in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1920. S. 17-206.]
88
! Max Weber: Die protestantische Ethik und der “Geist” des Kapitalismus. Textausgabe auf der
Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze
und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von
Klaus Lichtblau und Johannes Weiß. Bodenheim: Athenäum Hain Hanstein, 1993. [zuerst in:
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (J.C.B. Mohr, Tübingen) Bd. XX (1904), S. 1-54
und Bd. XXI (1905), S. 1-110. Später in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1920. S. 17-206.] S. 7.
89
! Max Weber: Die protestantische Ethik und der “Geist” des Kapitalismus. Textausgabe auf der
Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze
und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von
Klaus Lichtblau und Johannes Weiß. Bodenheim: Athenäum Hain Hanstein, 1993. [zuerst in:
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (J.C.B. Mohr, Tübingen) Bd. XX (1904), S. 1-54
und Bd. XXI (1905), S. 1-110. Später in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1920. S. 17-206.] S. 79.
58
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
und die Verurteilung weltlichen Genusses vollziehen sich im Kapitalismus mit der
Ökonomisierung der Arbeitsleistung im Zeichen asketischer Ideale.90
Daß die Werte der Arbeit, der Vergleichbarkeit und des Tausches den
Traditionalismus überwunden haben, ist eine Erkenntnis, die von Nietzsche
mehrfach erörtert wird. An dieser Stelle sei auf einen Abschnitt aus dem frühen
„Wanderer und sein Schatten“ verwiesen (§ 170: „Die Kunst in der Zeit der
Arbeit“).91 In dem Aphorismus beschreibt Nietzsche in einem großen Bogen den
Verlust des Kunstempfindens, der durch die gesellschaftliche Dominanz der Werte
der Arbeit eingetreten ist. Nicht nur in seinem Vortrag zur „Zukunft unserer
Bildungs-Anstalten“92 , sondern im ganzen Werk verstreut finden sich dia- und
prognostische Ausführungen Nietzsches zur soziotypologischen Entwicklung der
modernen, vornehmlich europäischen, Gesellschaft. Der Müßiggang, die
Langeweile und die Selbstentfaltung verkommen in einer auf die Werte der Arbeit
ausgerichteten Massengesellschaft.93 In „Menschliches, Allzumenschliches“ schreibt
Nietzsche, daß die moderne Gesellschaft ihre eigene Form der Sklavenherrschaft
geschaffen hat: „Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in
Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein
Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.“94
Sicherlich ist in Nietzsches sozialtypologischer Charakterisierung des
Werteverfalls auch Kulturpessimismus enthalten, der sich der regressiven und
90
! Zum gedanklichen Zusammenhang zwischen der Analyse Webers und den Beobachtungen
Nietzsches aus jüngerer Sicht vgl. auch David Owen: Maturity and modernity. Nietzsche,
Weber, Foucault, and the ambivalence of reason. London; New York: Routledge, 1994.
91
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band
(Der Wanderer und sein Schatten). § 170: "Die Kunst in der Zeit der Arbeit". In: ders.: Werke
in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 941 f.
92
! Vgl. Friedrich Nietzsche: "Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten. Sechs, im Auftrag der
»Academischen Gesellschaft« in Basel gehaltene, öffentliche Reden". In: ders.: Werke in drei
Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. III, S. 175-263.
93
! Vgl. dazu etwa: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft ("la gaya scienza"). Erstes
Buch, § 42: "Arbeit und Langeweile". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 66 f.; Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse.
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Drittes Hauptstück: Das religiöse Wesen, § 58. In:
ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S.
618 ff.
94
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. §
283: "Hauptmangel der tätigen Menschen". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 620.
59
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
persuativen Mittel der Priestermacht bedient. Die Anzeichen des kulturellen
Verfalls werden jedoch nicht gegen einen archaischen Substantialismus der Werte
gewendet. Die Typologisierung ist eine Symptomalogie, der es um den Aufweis der
grundsätzlichen Tendenz des Willens geht. Bevor auf die Hinweise eingegangen
wird, die Nietzsche zur nihilistischen Tendenz des modernen Gesellschafslebens
gibt, soll das sich aus der Herrschaft des Asketismus entwickelnde Ressentiment
anhand einer Analyse Max Schelers verdeutlicht werden.
In seinem Aufsatz „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ untersucht
Max Scheler die Form, Entstehung, Funktion und Wirkung des Ressentiments als
sozialem Wert.95 Es ist interessant, die von Nietzsche entworfene genealogische
Typologie und sozialpsychologische Kritik der modernen Massengesellschaft mit
dem Entwurf von Scheler zu vergleichen, da sich bei Scheler eine distanziertere,
nüchternere Art der Typologisierung des Ressentiments findet, die ähnliche
Probleme und Fragestellungen angeht wie Nietzsches „Streitschrift“.
Scheler geht in seiner phänomenologischen Wertphilosophie von der
Objektivität des Wertgefühls aus. Diese positivistisch nicht zu erfassende
Objektivität wird in der modernen Gesellschaft verleugnet, getilgt und kehrt in
abgewandelter Form als Ressentiment zurück. Das Ressentiment ist keine
positivistisch zu erfassende Gegenständlichkeit, sondern stellt sich innerhalb der
Ordnung der Werte als „Erlebnis- und Wirkungseinheit“ dar. Im modernen
Wi r t s c h a f t s l e b e n w i r d d i e R e a l i t ä t d e r We r t g e s e t z e n e g i e r t . „ I m
›Konkurrenzsystem‹ entfalten sich die Ideen der sachlichen Aufgaben und ihrer
Werte prinzipiell erst auf G r u n d
der Haltung des Mehrseins- und
Mehrgeltenwollens aller mit allen. Jede »Stelle« wird nun zu einem bloß
transitorischen Punkt in dieser allgemeinen Jagd. Die innere
G r e n z e n l o s i g k e i t des Strebens ist hierbei eine Folge des Wegfalls aller
ursprünglichen Sach- und qualitativen Wertgebundenheit des Strebens.“96
95
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915}
96
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 68.
60
61
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Max Scheler stimmt mit Nietzsche darin überein, daß sich das Ressentiment
nur aus der Perspektive der Ohnmacht entfalten kann. Im Unterschied zu Nietzsche
sieht er den Ursprung der Sklavenmoral jedoch nicht in den Werten des
Christentums: „Wir glauben, daß zwar die christlichen Werte einer Umdeutung in
Ressentimentwerte ungemein leicht zugänglich sind und auch ungemein häufig so
gefaßt wurden, daß aber der K e r n d e r c h r i s t l i c h e n E t h i k n i c h t
auf
dem
Boden
des
Ressentiments
erwachsen
i s t . Wir
glauben aber andererseits, daß der Kern der bürgerlichen Moral, welche die
christliche seit dem 13. Jahrhundert immer mehr abzulösen begann, bis sie in der
französischen Revolution ihre höchste Leistung vollzog, ihre W u r z e l
im
R e s s e n t i m e n t h a t .“97 Gegen die ressentiment-geprägte Interpretation der
christlichen Werte betont Scheler, daß es sich beim Christentum um keinen
Humanismus handelt. Die humanistische, mit dem Willen zur Totalität auftretende
Auslegung des Christentums gerade ist es, die Scheler als Ursprung des bürgerlichen
Ressentiments ausmacht.98 Das wahrhafte christliche Gebot der Nächstenliebe
bezieht sich auf die Erfahrung des Nächsten, nicht auf die Treue zum Postulat. In
der phänomenologischen Perspektive Schelers kann es keine Liebe zur Menschheit
im Ganzen geben, die nicht vom Ressentiment verunstaltet wäre.
Die Entstehung des Ressentiments hängt mit der Erfahrung eines Wert- oder
Sach-Verlustes zusammen. Der Mensch des Ressentiments wendet die
Verlusterfahrung in die Erwartung einer Substantialität um, die nur enttäuscht
werden kann. Anstatt die Objektivität der Erfahrung und die Gegebenheit der
Wertgesetzmäßigkeiten (Empfinden, Sympathie, Wollen etc.) anzuerkennen,
beschwört das Ressentiment einen Willen zur Totalität, der die Erfahrung des
Einzelnen verdeckt: „Der Mensch des Ressentiment ist ein Schwächling: er kann
mit seinem Urteil nicht a l l e i n stehen. Er ist das absolute Gegenteil zu dem
97
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 106.
98
! Vgl. dazu den Abschnitt IV. (Ressentiment und moderne Menschenliebe), in dem Scheler u.a.
die Ideen Benthams als vom humanistischen Ressentiment geprägt darstellt (Max Scheler: Das
Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen
und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue Geist, 1919. S.
43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} S. 150-182.)
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Menschentypus, der das objektive Gute, auch wenn er allein es sieht und fühlt,
gegen eine Welt des Widerstandes verwirklicht. So wird die »Allgemeinheit« oder
» A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t « d e s We r t h a l t e n s s e i n E r s a t z f ü r d i e e c h t e
Wertgegenständlichkeit. Von der eigenen Untersuchung, was gut sei, wendet er sich
ab und sucht eine Stütze in der Frage: Was denkst du? Was denken alle? Was ist
schließlich die »allgemeine« Tendenz der Menschheit als Gattung?“99 Um den
Verlust von vergangenen Werten zu verarbeiten und eine Selbsttäuschung zu
vermeiden, ist die Lösung von den verlorenen Wertinhalten notwendig, durch die
erst neue Werte und Bestimmungen gefunden werden können. Scheler nennt diese
Erfahrung des Verlustes und die damit zusammengehende Bildung neuer
Wertbestimmungen „Resignation“.100 Findet diese Resignation nicht statt, werden
die neuen Werte nur im Zeichen des Ressentiments in negativer oder feindlicher
Bestimmung zu den vorangegangenen gesetzt.101
In der Verlusterfahrung zeigt sich der Zusammenhang zwischen der
Entwicklung des Ressentiments und der Bildung des asketischen Ideals. Der
Asketismus entwickelt sich aus der Erfahrung des Verlustes von allgemein
verpflichtenden geistigen Werten. Die Werte des Glaubens können ihre
Legitimation weiterhin nur behaupten, indem sie sich den Verpflichtungen und
Verbindlichkeiten des modernen kapitalistischen Erwerbs- und Gewinnstrebens
anpassen. In der modernen Ausprägung des asketischen Ideals liegt eine
Transformation der Glaubensinhalte auf weltliche Güter.
Max Scheler bezieht die Ausbildung des Ressentiments in der Moral auf die
ökonomische Transformation des Gesellschaftslebens. Diese sozioökonomische
Transformation kann mit Bezug auf die Ausführungen von Max Weber als
Parallelentwicklung von kapitalistischem Wirtschaftsleben und protestantischem
99
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 196 f.
100
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 71-73.
101
! Max Scheler zählt auch die Negativität in der dialektischen Bewegung des Denkens zum
Ressentiment (vgl. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom
Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster
Band. Leipzig: Der Neue Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} S. 85.).
62
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Ideal verstanden werden. Im Wesentlichen zeigt sich die Herausbildung des
modernen Asketismus als Folge der „Subjektivierung der Werte“102 . Nicht mehr die
Gnadenwahl oder das erblich Erworbene, sondern allein das individuell Erworbene
und der Besitz als Eigentum von warenförmiger Gegenständlichkeit bestimmen die
moralische Qualität des Handelns. Die Herrschaft des Ressentiments verwandelt
die Wertgemeinschaft der Menschen untereinander in Beziehungen zwischen
Betrogenen, Ohnmächtigen und Zukurzgekommenen um. „Die Haltung des
Händlers, der vom Konkurrenten betrogen zu werden fürchtet, ist zur
Grundhaltung schon der modernen Fremdwahrnehmung überhaupt geworden. Erst
dieses mit dem Ressentiment so nahe verwandte »Mißtrauen« hat den modernen
moralischen Individualismus und die Leugnung des Solidaritätsprinzips gezeitigt,
die uns heute »selbstverständlich« sind.“103
Das Dogma der Gleichheit aller Menschen und die neue Schätzung des
Selbsterworbenen bewirken, daß sich die Nützlichkeitswerte verselbständigen. Die
Nützlichkeit dient nicht mehr der Ermöglichung des Angenehmen, stattdessen
kehrt sich das Verhältnis um. Das Angenehme ist nicht mehr Zweck, sondern
Mittel des Nützlichen oder Notwendigen, ebenso wie mit der Warenwirtschaft das
Geld seine zweckmäßige Funktion im Tausch verliert und als eigenständiger Besitz
erstrebt wird. Die Genußfähigkeit des modernen asketischen Menschen
verkümmert, je mehr sie sich den Werten des Arbeitslebens unterwirft: „Der
moderne Asketismus bekundet sich darin, daß der Genuß des Angenehmen, auf das
alles Nützliche bezogen ist, eine fortwährende Verschiebung erfährt – s o w e i t ,
daß schließlich das Angenehme dem Nützlichen untergeordnet wird. Auch hier ist
das Ressentiment gegen die höhere Genußf ä h i g k e i t und Genußkunst, der Haß
102
! Max Scheler stellt die Subjektivierung der Werte im 2. Abschnitt des Kapitels V. (Ressentiment
und andere Wertverschiebungen in der modernen Moral) dar (Max Scheler: Das Ressentiment
im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze
zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue Geist, 1919. S. 43-236.
{Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 194-200.)
103
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 192.
63
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
und Neid gegen das reichere Leben, das immer auch eine reichere Genußfähigkeit
ist, das treibende Motiv des modernen Arbeits- und Nützlichkeitsmenschen.“104
Das Ressentiment kann die Verlusterfahrung der Moderne nicht über eine
Resignation verarbeiten, sondern entwickelt aus der Subjektivierung der Werte eine
asketische Moral des Selbsterwerbs. Nietzsches Erklärung zur Entstehung des
Ressentiments ist ähnlich, wenn er schreibt, daß die letzten Menschen, die
Ohnmächtigen und Sklaven unfähig zum Genuß und zur Schaffung neuer Werte
sind. Das Ressentiment etabliert sich als herrschende Sklavenmoral, die keine
Umwertung der Werte darstellt, sondern, der nihilistischen Grundtendenz des
Willens ausweichend, Schuldigkeiten und Verantwortlichkeiten sucht und
repräsentative Priesterwahrheiten befolgt. Die kulturelle Degeneration und
Entsinnlichung der modernen Massengesellschaft bildet sich als allgemeines
Ressentiment aus. Der Mensch des Ressentiments sucht den Schuldigen für die
Situation, in der er selbst sich befindet.105 Während die Phänomenologie der
Entwertung der Werte resignativ begegnet, schlüsselt die Genealogie die
Typologisierung auf, um dahinter die nihilistische Bewegung aufzuzeigen. Während
die hegemonialen Kämpfe um die soziale und kulturelle Wertsetzung in der
phänomenologischen Beschreibung neutralisiert werden, werden sie in der
genealogischen Typologie dramatisiert.
104
!
! Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der
Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue
Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig: Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 206.
Genuß ist nur noch in Form der Dekadenz erlebbar. Dies zeigt sich im Leben der Großstädte:
"Die moderne Askese aber bildet ein Ideal aus, das in seinem ethischen Sinn das gerade
Gegenteil des alten ist: das » I d e a l « d e s M i n i m u m s v o n G e n u ß b e i e i n e m
M a x i m a l m a ß a n g e n e h m e r u n d n ü t z l i c h e r D i n g e ! Darum sehen wir denn auch, daß da,
wo die Arbeit die größten Dimensionen angenommen hat (wie z.B. in Berlin und den
norddeutschen Großstädten überhaupt) die Fähigkeit und Kunst des Genießens den denkbar
n i e d r i g s t e n Grad erreicht hat. Die Fülle der angenehmen Reize ertötet hier geradezu die
Funktion des Genießens und ihre Kultur, und je bunter, lustiger, geräuschvoller, reizvoller die
Umwelt wird, desto freudloser sieht es gemeinhin in den Menschen aus. Sehr lustige Dinge,
angeschaut von sehr traurigen Menschen, die nichts damit anzufangen wissen, das ist »Sinn«
unserer großstädtischen Vergnügens-»Kultur«." - Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau
der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze zweite
durchgesehene Auflage. Erster Band. Leipzig: Der Neue Geist, 1919. S. 43-236. {Leipzig:
Verlag der weißen Bücher, 1915} - S. 209.
105
! Gilles Deleuze schreibt: "Der Mensch des Ressentiments wertet jedes Sein und Objekt in dem
Maße als Kränkung, wie er proportional dazu dessen Wirkung erleidet." (Gilles Deleuze:
Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. [Hamburg: Rogner & Bernhard,
1976] S. 127.)
64
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
In der bereits angeführten Einführung in den Dritten Abschnitt seiner
„Genealogie der Moral“ geht Nietzsche hinter die typologische Perspektivierung
der Frage zurück, wenn er aussagt, daß der Mensch lieber noch das Nichts als nicht
wolle. Die Nützlichkeit, das Ziel und die Zweckmäßigkeit sind dem Menschen
primäre Ausflüchte vor der nihilistischen Erfahrung der Entwertung der Werte.
Die Interpretation des die gesamte genealogische „Streitschrift“ auch abund damit in gewisser Weise umschließenden Gedankens ist schwierig und soll in
diesem Zusammenhang nur so weit durchgeführt werden, wie es der
Zusammenhang mit der Herausbildung des Ressentiments erfordert. Karl Löwith
sieht diese Erklärungen Nietzsches noch als Ausdruck Schopenhauerscher
Metaphysik:
„Weil aber der zukunftswillige Wille unfähig ist, sich an dem was schon ist,
gewollt und getan ist, zu rächen, wird sich das wollende Dasein – und der
Mensch ist Wille, seitdem ihm kein Gott mehr sagt was er »soll« – selber zur
»Schuld« und zur »Strafe«. Das Dasein wird sich »ewig wieder Tat und Schuld«,
gerade weil es nicht selber schuld ist am Zufall des Da-seins, das immer
schon zufiel und da ist bevor es sich wollte, aber als seiender Wille schuld
daran sein will und es doch nicht sein kann. Und darum wälzt der Wille als
Widerwille gegen die Last des ihm zugefallenen Daseins »Stein auf Stein«, bis
endlich der Wahnsinn predigt: Alles vergeht, darum ist alles wert zu vergehen.
Der Unwille über die schon vergangene Zeit der schon geschehenen Tat
entwertet sie zur Vergänglichkeit – es sei denn, »daß der Wille sich endlich
selber erlöste«, wie in Schopenhauers Metaphysik, und »Wollen zu
Nichtwollen würde«.“106
Die Überwindung des Widerwillens im Ressentiment erfordert die Bildung neuer
Werte, die sich weder feindlich, noch adaptiv an die herrschenden Werte binden.
Die nihilistische Grundtendenz, die sich auf verschiedene Weise typologisch
verkleidet, wird in der Aussetzung des Willens verkannt. Während sich in
Schopenhauers Metaphysik durch die Aussetzung des Willens das wahre Wesen der
Dinge eröffnet, findet für Nietzsche dabei nur die Durchbrechung der
106
! Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten
Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer, 1964 (5) [Zürich: Europa Verlag, 1941]. S. 213.
65
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Typologisierung statt. In der Aussetzung des Willens bewahrheitet sich die
nihilistische Tendenz des europäischen Geisteslebens, ohne als solche erkannt zu
werden.
Um das Ressentiment und die Bildung asketischer Ideale wirklich zu
durchbrechen, muß sich der Wille neue Werte geben können.107 Die Schaffung
neuer Werte kann nicht atavistisch verwirklicht werden, sondern geschieht im
Prozeß der Modernisierung, der nach Nietzsches Darstellung zu einer neuen
Herren- und Sklavenmoral führt. Das Herkommen bestimmt immer weniger die
Form und die Inhalte des Willens. In einem weitsichtigen und scharfsinnigen
Aphorismus in „Jenseits von Gut und Böse“, seinem „Vorspiel einer Philosophie
der Zukunft“, beschreibt Nietzsche den physiologischen Prozeß, der aus der
Neubestimmung des Willens folgt. Dieser Aphorismus – dessen Richtung vieldeutig
ist – soll in voller Länge wiedergegeben werden:
“Nenne man es nun »Zivilisation« oder »Vermenschlichung« oder »Fortschritt«,
worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es
einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die
demokratische Bewegung Europas: hinter all den moralischen und politischen
Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht
sich ein ungeheurer physiologischer Prozeß, der immer mehr in Fluß gerät –
der Prozeß einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von
den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen
entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten Milieu,
das jahrhundertelang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib
einschreiben möchte – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich
übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet,
ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung
besitzt. Dieser Prozeß des werdenden Europäers, welcher durch große
107
! Ein Gedanke, der von Karl Jaspers betont wird: "Ein Jenseits von Gut und Böse, als solches
festgehalten, wäre in der Tat ein so leeres Jenseits wie irgendein metaphysisches Jenseits. Es
kommt dem Menschen darauf an, etwas zu wollen, eine Richtung der Verwirklichung zu gehen,
die er unter eine Führung stellt. Diese Richtung kann nicht schon das Werden als Werden sein,
sondern ist immer darin als die Weise eines wirklichen Tuns, durch die jeweils ein Mensch sich
ausweist als das, was er ist und was er will, und durch die er sogleich auch wieder in den
Gegensätzen unter Forderungen steht und das Gesetz zu hören oder es sich zu verdecken
vermag." - Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens.
Berlin: Walter de Gruyter, 1950 (3) [1935]. S. 150.
66
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an
Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst – der jetzt noch wütende Sturm und
Drang des »National-Gefühls« gehör t hierher, insgleichen der eben
heraufkommende Anarchismus –: dieser Prozeß läuft wahrscheinlich auf
Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die
Apostel der »modernen Ideen«, am wenigsten rechnen möchten. Dieselben
neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und
Vermittelmäßigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches,
arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Herdentier Mensch –, sind
im höchsten Grade dazu angetan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten
und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene
Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobiert und
mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehnt, eine neue Arbeit beginnt, die
Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während der GesamtEindruck solcher zukünftigen Europäer wahrscheinlich der von vielfachen
geschwätzigen willensarmen und äußerst anstellbaren Arbeitern sein wird, die
des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brotes; während also
die Demokratisierung Europas auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im
feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und
Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher geraten müssen, als er
vielleicht jemals bisher geraten ist – dank der Vorurteilslosigkeit seiner
Schulung, dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske.
Ich wollte sagen: die Demokratisierung Europas ist zugleich eine unfreiwillige
Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen – das Wort in jedem Sinne
verstanden, auch im geistigsten.”108
In der genealogischen Perspektivierung des problematischen Zusammenhangs von
asketischem Ideal und Ressentiment zeigt sich, daß die Wertbegriffe auf die
nihilistische Grundtendenz des modernen Willens verweisen. Das asketische Ideal
bildet sich nach dem Zusammenbruch der metaphysischen Wahrheiten mit
säkularisierten Zielen aus. Asketismus und materielles Erwerbsstreben
widersprechen sich nicht, sondern bilden einen Motivationskomplex der
kapitalistischen Ökonomie. Das asketische Ideal führt über das Versprechen eines
108
! Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Achtes
Hauptstück: Völker und Vaterländer, § 242. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl
Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 707 f.
67
3. Asketisches Ideal und Ressentiment in genealogischer Perspektive
retroversalen Ausgleichs zur Vorherrschaft des Ressentiments in der modernen
Massengesellschaft. Die Menschen weichen der Übernahme ihrer eigenen Existenz
aus, indem sie nach externen Verantwortlichkeiten suchen. Die Werte der Arbeit
reduzieren die Genußfähigkeit, die lediglich einer privilegierten Gruppe vorbehalten
bleibt. Mit der Etablierung der Sklavenmoral wendet sich die Moral der
Massengesellschaft nicht allein gegen die Privilegierung weniger, sondern gegen die
Selbstbestimmung aller. Die Verlusterfahrung der Moderne ist für Asketismus und
Ressentiment bestimmend. Sie wird in der zugleich herrschenden wie ohnmächtigen
Wertsetzung nicht verarbeitet, sondern verkleidet sich typologisch. Der Verlust
universaler Werte stellt eine Bindungslosigkeit dar und bringt eine Freiheit des
Herkommens mit sich, deren Lösung von den Werten der Arbeit und des Eigenen
zu einer neuen Form der Sklaven- und Herrenmoral führen kann.
68
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
So wie der Philologe in Nietzsches typologischer Kritik dem Gelehrtentum
zugerechnet wird, gilt ihm auch der Typus des Historikers als Repräsentant einer
lebensfeindlichen Wissenschaft. Die Genealogie kann somit nicht als
Geschichtswissenschaft gelten, auch wenn sie in der Kritik der Herkunft
kursierender Wertbegriffe historische Perspektiven entwirft. In diesem Abschnitt
soll Nietzsches Beurteilung der historischen Wissenschaft im Vergleich zu seinem
Entwurf einer genealogisch perspektivierten Geschichtsphilosophie diskutiert
werden.
Nietzsches frühe Kritik der klassischen Geschichtsschreibung findet sich in
den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, die er nach der „Geburt der Tragödie“
schrieb. In seiner Lektüre der Schriften des zu seiner Zeit populären
Kulturhistorikers David Strauß trägt Nietzsche seine Kritik des
„Bildungsphilisters“ vor.109 Der Bildungsphilister wird typologisch auf paradoxale
Weise charakterisiert als kulturloser Kulturmensch. Insofern der Bildungsphilister
in der kulturellen Gegenwart lebt, sich innerhalb der aktuellen Zusammenhänge
orientiert und identifiziert, kann er lediglich einen historischen Sinn entwickeln, der
sich an den herrschenden Maßstäben ausrichtet. Soll die historische Perspektive die
herrschende Kulturlosigkeit unterwandern, kann dies aber nur über die Erfahrung
des „Unzeitgemäßen“ geschehen. Im Begriff des Unzeitgemäßen denkt Nietzsche
eine Asynchronizität als Distanz oder Abweichung zur Gegenwart. Aus der Distanz
und Differenz heraus können erst historische Erkenntnisse gewonnen werden. Im
Zweiten Stück seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ („Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben“) bemerkt er: “daß ich nur, sofern ich Zögling älterer
Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als Kind dieser jetzigen Zeit zu so
unzeitgemäßen Erfahrungen komme.”110 Eine Geschichtswissenschaft, die sich an
den aktuell kursierenden Werten orientiert, rechnet Nietzsche zu den bewahrenden
109
! Vgl. dazu Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauß, der
Bekenner und der Schiftsteller. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 142 ff.
110
! Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 210.
69
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
und restaurativen Varianten des historischen Sinns. Im Unterschied zur
antiquarischen oder monumentalischen Geschichtsschreibung zeichnet sich die
kritische Geschichtsschreibung durch ihre Distanz zur Gegenwart und das
Ve r g e s s e n d e s G e w e s e n e n a u s .111
D a s Ve r g e s s e n t r e n n t d e n
Geschichtswissenschaftler von der Vergangenheit, so daß er neue Erfahrungen aus
freier Perspektive darstellen und erleben kann. In der „Vernichtung des Vergessens“
verwirklicht sich die kritische Wissenschaft, indem sie die Vernichtung, die Lösung
und die Schaffung von historischen Werten zu ihrer Aufgabe macht.
In der typologischen Gestalt des Bildungsphilisters hat Nietzsche seine Kritik
am übermäßigen historischen Sinn verkleidet. Der antiquarische und der
monumentalische historische Sinn entwickelt seine Werte im Zeichen des
asketischen Ideals. Die Vergeistigung und letztliche Verneinung des Lebens, die sich
in der Schaffung asketischer historischer Ideale ausdrückt, dient der
protestantischen Autorität der Götzen, der Priester und der Gelehrten. Die
klassische Geschichtswissenschaft gehört ganz in das von Nietzsche entworfene
Szenario der Sklaven- und Herrenmoral. Das Ressentiment und die Verneinung des
Lebens bestimmen die Erkennntnisweise des Historikers, der sich nach dem Typus
des Gelehrten gestaltet.
Dem klassischen Historiker dient die Geschichtswissenschaft der Erinnerung
großer Ereignisse, der Aktualisierung von Vorbildern und der Vermittlung von
Vergangenheit und Gegenwart. Die klassische Geschichtswissenschaft entwickelt
ihr dialektisches Denken aus dem Geiste des Protestantismus. Die Entstehung und
Funktion moralischer Werte und geistiger Ideale kann in der historischen
Wissenschaft nicht erklärt werden, sondern wird lediglich verklärt. Die Perspektive
des Historikers ist die des ohnmächtigen Zuschauers, der die positivistisch
aufgefaßten Ereignisse erinnert, zusammenträgt und anschaulich macht.
Im neunten Abschnitt seiner Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben“ ist mit der Kritik der Metaphysik Eduard von Hartmanns das
Ungenügen der klassischen Geschichtswissenschaft am deutlichsten formuliert.
111
! Zur kritischen Geschichtsbetrachtung vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen.
Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: ders.: Werke in drei
Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 229 f.
70
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
Hartmann wird als Prediger dargestellt, der Opfer, Anbetung seiner Lehre und die
Verneinung des Willens verlangt. Nach der Philosophie Hartmanns ist es die
Aufgabe des Individuums, sich dem „Weltprozeß“ zu ergeben. Das Unbewußte
kann sich verwirklichen, wenn der Mensch sich in den Verlauf der Geschichte
begibt. Nietzsche sieht in Hartmanns Geschichtsmetaphysik die Dialektik der
klassischen Historie auf die Spitze getrieben.
Gegen das totalisierende Vorgehen des historischen Wissenschaftlers
entwickelt Nietzsche mit der genealogischen Philologie einen Stil der
fragmentarischen Schrift. Sinn ist ihm nicht im voraus gegeben, sondern stellt sich
ihm im Zuge des Schreibens und in der Produktion von Referenzen und
Interpretationen her. Der vielfältig gebrochene und wendige Stil Nietzsches arbeitet
sprunghaft, rhythmisch, mit Zäsuren. Die Sprünge und Brüche in Nietzsches
Philosophie stellen keine bloßen Unzulänglichkeiten dar, sondern sind ihm Mittel,
den protestantischen Stil des Denkens, der sich tief in die deutsche Sprache
eingeprägt hat, zu durchbrechen. Mit den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ hat
Nietzsche seine Kritik der Geschichtswissenschaft formuliert, die noch weniger
fragmentarisch als philologisch, polemisch und stilkritisch vorgeht. Das
„Unhistorische“ oder „Überhistorische“, das er in der frühen unzeitgemäßen
Schrift als Mittel gegen die „historische Krankheit“ vorstellt112 , führt später zur
Entwicklung der genealogischen Perspektive.
Die Genealogie fragt nicht nach dem Wesen der Geschichte, der
Wahrhaftigkeit von Fakten oder der Wirklichkeit historischer Abläufe, sondern
stellt über die Eröffnung der Vorgeschichte die Möglichkeit einer anderen
Geschichte in Aussicht. Auch die Genealogie setzt – wie die Metaphysik
Hartmanns – die Ereignishaftigkeit des Geschichtsverlauf in Beziehung zum
Unbewußten; das Unbewußte ist in der genealogischen Perspektive aber wesentlich
verstellt und kann nicht über die Auflösung der Willenskräfte und -beziehungen
erreicht werden. Die Genealogie befragt geschichtliche Motive nach ihrem Rang,
indem sie den Grad ihrer Niedrigkeit oder Vornehmheit herausstellt. Geschichtliche
112
! Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 281 ff.
71
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
Ereignisse haben in der genealogischen Fragerichtung nur Wert, insofern sich an
ihnen gesellschaftliche und kulturelle Dekadenz- oder Aufwärtsbewegungen
ablesen lassen. Die Genealogie nutzt die historische Perspektive nicht zur
Musealisierung oder Minderung des Willens, sondern für den Entwurf einer
Philosophie der Zukunft.
In seinem Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ entwickelt
Michel Foucault aus Nietzsches Entwurf einer genealogischen
Geschichtsschreibung einen neuen Gebrauch der Geschichte. Da sich das Wesen der
Geschichte in einer notwendigen Verstellung entzieht, kann nur ein erfinderischer
Umgang die Fesselung der Kräfte im historischen Sinn durchbrechen „Das große
Spiel der Geschichte gehört dem, der sich der Regeln bemächtigt, der seinen Nutzen
aus ihnen zieht, der sich verkleidet, um sie in ihren Widersinn zu verkehren und sie
gegen ihre Schöpfer zu wenden; es gehört dem, der in den komplexen
Mechanismus eindringt und ihn so umfunktioniert, daß die Herrscher von ihren
eigenen Regeln beherrscht werden.“113
Die Betrachtung der Geschichte kann ihren Sinn nur aus der Zukunft und
einem freien Gebrauch der Kräfte beziehen. Die adäquate Erkenntnis der
Vergangenheit muß illusionär bleiben, solange die geschichtlich entscheidende
Phase im Dunkel der Vorgeschichte entschwindet. Das Vergessen der
genealogischen Geschichtsschreibung bezieht sich nicht auf die Herkunft der Werte
aus der Nützlichkeit, sondern auf die wesentliche Unerkennbarkeit der
Vorgeschichte.
Aus der Notwendigkeit des Vergessens, der Vernichtung des Vergessens in
der historischen Kritik leitet sich die Offenheit und der inszenatorische Charakter
der Vergangenheit ab. Die Vergangenheit ist keine Gegebenheit, sondern untersteht
dem Interpretationsprozeß.
„Jeder Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um
seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der
113
! Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Von der Subversion des
Wissens. Frankfurt/M.: Fischer, 1987. S. 69-90. [zuerst: München: Hanser, 1974] {Nietzsche,
la généalogie, l’histoire. In: Hommage à Jean Hyppolite. Paris: Presses Universitaires de France,
1971} S. 78.
72
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es
ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch Geschichte sein wird. Die
Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf
noch so vieler rückwirkender Kräfte!“114
In der „Geburt der Tragödie“ entwirft Nietzsche noch den Beginn eines tragischen
Zeitalters, das aus dem Verlust der objektiven Erkenntnis hervorgeht. Da sich in
der Philosophie die Unmöglichkeit der Erkenntnis objektiver Realität herausgestellt
hat, ist eine neue Generation notwendig. Der Glaube an objektive Erkenntnis führt
zur Degeneration der Kräfte, während die Hingabe an die tragische und paradoxale
Erkenntnis der Unerkennbarkeit im doppelten Sinne Generation ermöglicht:
Generation als Erschaffung neuer Werte und Generation als Stiftung einer
zukünftigen Gemeinschaft.
„Mit dieser Erkenntnis [Kant, Schopenhauer] ist eine Kultur eingeleitet,
welche ich als tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist,
daß an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt ist,
die sich, ungetäuscht durch die ver führerischen Ablenkungen der
Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesamtbilde der Welt zuwendet
und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als
das eigene Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende
Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen
Zug ins Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentöter,
die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen
jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen »resolut zu
leben«“115
Der Gedanke, daß die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nicht die objektive
Erkenntnis (der Vergangenheit, des Wesens der Geschichte etc.) sein kann, sondern
daß sich der historische Sinn nur in einer freien Aneignung entfalten kann, führt
Nietzsche dazu, das Herkommen genealogisch und nicht historisch zu erklären. Die
Aneignung der Historie schafft eine zweite Natur, die sich in der
114
! Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft ("la gaya scienza"). § 34: "Historia
abscondita". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969
(6). Bd. II. S. 62.
115
! Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: ders.:
Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 101 f.
73
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
Auseinandersetzung mit der ersten in der Perspektive kommender Generationen zu
einer neuen ersten Natur ausprägt. Der Sinn des Gewesenen kann sich nicht über
den Vergleich mit der Gegenwart erschließen, sondern stellt sich im Bezug zur
zersplitterten Gegenwart posthum her.116
Die Freiheit des Herkommens stellt Nietzsche in einem Aphorismus in
„Menschliches, Allzumenschliches“ dar. Die Gegenwart stellt keine Uniformität
von Werten dar, sondern eine Asynchronizität von Verschiedenem. Nietzsches
spricht nicht mehr von einem tragischen Zeitalter, sondern nennt die Gegenwart
das „Zeitalter der Vergleichung“ (§ 23). In dem Aphorismus schreibt er: „Je
weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so größer wird
die innere Bewegung der Motive, um so größer wiederum, dementsprechend, die
äußere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der
Bestrebungen.“117 Im Unterschied zur kulturpessimistischen Klage über den Verlust
substantieller und einheitlicher Werte stellt die Freiheit des Herkommens im
Zeitalter der Vergleichung für Nietzsche nicht nur das Leiden der Zeit, sondern
vielmehr eine Chance für die Zukunft dar.118
116
! Zur 'posthumen Existenz' vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft ("la gaya
scienza"). § 365: "Der Einsiedler spricht noch einmal". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v.
Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 238 f.; Friedrich Nietzsche: GötzenDämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert. Sprüche und Pfeile, § 15. In: ders.:
Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 944.;
Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Vorwort. In: ders.: Werke in drei
Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 1163.
117
! Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. §
23: "Zeitalter der Vergleichung". In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 464.
118
!
! In diesem Zusammenhang sei auf einen interessanten Diskussionsbeitrag von Ivan Illich
hingewiesen: Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. München: C.H. Beck, 1995 (2).
[zuerst: Reinbek: Rowohlt, 1983] {Gender. New York: Pantheon Books, 1982; © 1982, 1983
by Ivan Illich}
Illich schreibt in seinem kritischen Beitrag: "Der unvermeidliche Verlust von Bezogenheit auf
Ort, Dialekt und Geschichte im Zuge der Monetarisierung erschien mir als Zerstörung jeder
Grundlage für Ethik." (S. 7 f.) Die Freiheit des Herkommens im Zeitalter der Vergleichung wird
als "Genus-Verlust" beschrieben. Unter Genus ist die solidarische Zusammengehörigkeit
vernakulärer Kulturen und ihre lokale Situiertheit zu verstehen. Während die Trennung der
Geschlechter im Genus nicht aufgehoben, sondern kulturell und sozial eingebunden wird
('Genus-Scheidelinie'), gehören Sexismus und ökonomisches Wachstum zusammen. Mit dem
Triumph der Warenwirtschaft ("Herrschaft der Knappheit") hat sich die Herrschaft des Sexus
gegenüber dem Genus etabliert. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gehen in der
Annahme des geschlechtsneutralen ökonomischen Wesens unter.
74
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
In den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ ist es die Generation der Jugend,
deren Kräfte die Lähmung im historischen Sinn überwinden können.119 Allgemeiner
ist es die typologische Gestalt des Freigeistes, aus der heraus die Freiheit des
Herkommens realisiert werden kann:
„In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gast gewesen; den
dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe
und Vorhaß; Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder
selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit
gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder
Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar
gegen Not und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgendeiner
Regel und ihrem »Vorurteil« losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und
Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit
unbedenklichen Fingern für Unfaßbares, mit Zähnen und Mägen für das
Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe
Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagnis, dank einem Überschusse von »freiem
Willen«, mit Vorder- und Hinterseelen, denen keiner leicht in die letzten
Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuß zu Ende
laufen dürfte, Verborgne unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir
gleich Erben und Verschwendern gleichsehn, Ordner und Sammler von früh
bis abend, Geizhälse unsres Reichtums und unsrer vollgestopften
Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in
Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten, mitunter
Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage; ja wenn es nottut, selbst
Vogelscheuchen – und heute tut es not: nämlich insofern wir die geschwornen
eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit sind, unsrer tiefsten
mitternächtlichsten, mittäglichsten Einsamkeit – eine solche Art Mensch sind
wir, wir freien Geister! und vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr
Kommenden? ihr neuen Philosophen? –“120
119
! Vgl. auch § 9 und 10 in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (Friedrich
Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der
Historie für das Leben. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta). München:
Hanser, 1969 (6). Bd. I. S. 209-285.).
120
! Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Zweites
Hauptstück: Der freie Geist, § 44. In: ders.: Werke in drei Bänden (hrsg. v. Karl Schlechta).
München: Hanser, 1969 (6). Bd. II. S. 607 f.
75
4. Exkurs: Genealogie und die klassische Geschichtswissenschaft
76
5. Zusammenfassung
5. Zusammenfassung
Nietzsches Genealogie ist eine kritische Untersuchung der Entstehungs- und
Entwicklungsbedingungen sozialer und kultureller Zustände. Die bestehenden
Formationen werden nach ihrem Herkommen beurteilt. Im Unterschied zur
traditionellen Genealogie stellt Nietzsches Genealogie keine Ahnenforschung dar,
sondern zeigt in der Neubestimmung des Begriffs, daß das Herkömmliche, die
selbstverständlich als nützlich und notwendig genommenen Werte, auf eine
Vorgeschichte verweisen, die sich in den Werten selbst verkehrt repräsentiert. Der
Verlauf des Herkommens verkleidet und verdeckt sich typologisch in der Regel des
Herkömmlichen. Die wertbegrifflichen Oppositionen, auf die sich die
Herrschaftsordnung stützt, werden in der Genealogie Nietzsches etymologisch
aufgebrochen und umgewertet.
Die utilitaristische Moraltheorie, aus der Nietzsches Konzeption einer
genealogischen Wertekritik hervorging, beurteilt moralische Werte mit
wissenschaftlichen Mitteln gemäß ihrer Herkunft aus der sozioevolutionären
Nützlichkeit. Die reinen Werte der Moral werden nicht als transzendente Ideale,
sondern als gewordene Vorstellungen betrachtet. Nicht ihre Idealität, sondern das
Vergessen ihres Werdens in der Gewohnheit machte sie zu geltenden Maßregeln des
Verhaltens.
Die Genealogie sieht dagegen den Ursprung der Werte nicht in ihrer
Nützlichkeit, sondern in der Inszenierung einer gewaltsamen Verausgabung.
Etymologisch die Wertbegriffe umkehrend und perspektivistisch eine Typologie der
Werte entwerfend zeigt sich vornehmlich in der Gestalt des Priesters die
massenpsychologische Instrumentalisierung der wertbegrifflichen
Unterscheidungen. Die politischen Machtbegriffe verwandeln sich zu
psychologischen Kategorien der Innerlichkeit. Das Pathos der Distanz, aus dem die
Werte hervorgehen, wird in der herrschenden misarchistischen Erklärung
geleugnet. Der Misarchismus bestätigt das demokratische Vorurteil, nach dem die
Gleichheit der Menschen primär und die Verschiedenheit ein nachträgliches
kulturalistisches Prinzip sei. Sobald die Heterogenität der Vorgeschichte und der
Macht-Wille des Werdens in den Vorstellungen einer wissenschaftlichen
77
5. Zusammenfassung
Objektivität, einer Gleichheit der Kräfte und einer Wahrheit der Geschichte
aufgelöst werden, gelangen asketische Ideale und vom Ressentiment bestimmte
Werte an die Herrschaft.
Die Etablierung der allgemeinen Sklavenmoral ist mit der Heraufkunft des
Nihilismus in der europäischen Kultur verbunden. Der Wert der Werte ist
metaphysisch nicht mehr verbürgt. Die Entwertung der Werte setzt unter der
Herrschaft asketischer Ideale keine aktiven Kräfte frei, sondern bindet sie
retroversal im Ressentiment. In der Organisation der modernen Massengesellschaft
siegt der Widerwille über den Willen zur Macht.
Die genealogische Kritik der Herkunft bestehender Werte zeigt nicht allein
das Fortbestehen kultischer Strukturen in der demokratischen Hierarchie der Werte
auf, sondern viel eher noch wird in der genealogischen Perspektivierung ein
zukünftiges Denken eröffnet. Die Asynchronizität im Zeitalter der Vergleichung
zeichnet sich nach dem Zusammenbruch der transzendenten Wertvorstellungen
durch eine freie Auslegung des Herkommens aus.
Die freiheitlichen Aspekte in Nietzsches Denken herausstellend schreibt
Giorgio Colli:
„Nietzsche ist das Individuum, das als einziges unsere Gedanken über das
Leben auf ein höheres Allgemeinniveau gehoben hat, und dies gelang ihm,
weil er sich von den Menschen und Dingen, die ihn umgaben, einen
rücksichtslosen Abstand bewahrte, so daß wir nun gezwungen sind, von der
Ebene auszugehen, die er uns angewiesen hat. Seine Stimme übertönt jede
andere Stimme der Gegenwart; die Klarheit seines Denkens läßt jedes
andere Denken unscharf erscheinen. Für den, der sich aus den Ketten gelöst
hat und in der Arena der Erkenntnis und des Lebens Tyrannen nicht
anerkennt, zählt einzig er.“ 121
Nietzsches Philosophie ist eine Philosophie der Zukunft. Sein unzeitgemäßes
Denken schafft eine Distanz zu den Nützlichkeitswerten der kursierenden und
121
! Giorgio Colli: Nach Nietzsche. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt, 1993. [zuerst:
Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1980] {Dopo Nietzsche. Milano: Adelphi Edizioni,
1974} S. 212. - Auf S. 34 ist dort aber auch zu lesen: "Es wäre besser für ihn [Nietzsche]
gewesen, jeden Morgen die »Times« zu lesen, wie Schopenhauer es getan hatte, auf der Suche
nach der menschlichen Natur. Er hätte lebendigeres Material gefunden."
78
5. Zusammenfassung
gängigen Auffassungen. In der Distanz ist es möglich, die Werte nicht nur zu
kritisieren, sondern an ihnen eine Umwertung zu vollziehen. Die Umwertung stellt
keine reziproke Umkehrung dar, sondern schafft in der Transformation neue Werte
und Vorstellungen.
Problematisch bleibt in der Philosophie Nietzsches die Autorität seiner
Stimme und Position. Ein Problem, das Nietzsche selbst in seinem „Ecce Homo“
aufzubrechen versucht hat. Die vielfachen selbstkritischen Stellungnahmen haben
jedoch eher noch die Legendenbildung vorangetrieben. Die historische Auslegung
seiner Schriften hat gezeigt, daß sich seine Texte durch ihre Offenheit und
Vieldeutigkeit zur Stiftung autoritärer Werte in der Moderne eignen. Die
mißbräuchliche Aneignung nimmt die polemischen Attacken und überheblichen
Positionen Nietzsches, um aus der Kritik neue substantialistische Werte zu bilden.
Sicherlich gibt es keinen rechtmäßigen Zugang zu Nietzsches Philosophie.
Sein experimentelles, heteronomes und sprunghaftes Denken verweigert sich der
Integration in die Kontinuität des Sinns. Nur aus der jeweils neu herzustellenden
Distanz zur Gegenwart können seine Texte ihre Aktualität entfalten. Nietzsches
Denken wird in diesem Sinne immer offen bleiben und niemals „ankommen“.
79
80
Literaturverzeichnis
Literatur
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Relevante
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Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (J.C.B. Mohr, Tübingen) Bd. XX (1904), S. 1-54 und Bd. XXI
(1905), S. 1-110. Später in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I.
Tübingen 1920. S. 17-206.]
Johannes M. Werner: Erkenntnis und Wahrheit. Nietzsches Destruktion der Erkenntnistheorie als
Konsequenz des Verlustes verbindlicher Wahrheit. Frankfurt/M.: Lang, 1986.
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Literaturverzeichnis
Alan White: Within Nietzsche’s Labyrinth. New York: Routledge, 1991
Dieter Wyss: Strukturen der Moral. Untersuchungen zur Anthropologie und Genealogie moralischer
Verhaltensweisen. Göttingen 1968.
Hans Zitko: Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz. Würzburg: Königshausen und
Naumann, 1991.
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Erklärung
Ich versichere an Eides Statt durch meine eigene Unterschrift, daß ich die vorstehende
Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und alle Stellen, die wörtlich oder
annähernd wörtlich aus Veröffentlichungen entnommen sind, als solche kenntlich
gemacht und mich auch keiner anderen als der angegebenen Literatur bedient habe.
Hamburg, den 11. Dezember 1995
Heiko Wichmann
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Lebenslauf
am 7. November 1966 in Bremen geboren als erster Sohn von Rudolf und Erika
Wichmann
Schulausbildung:
!
• Grundschule:
August 1973 Einschulung in der Schule a.d. Curiestr., Bremen (1. Klasse)
1974: Wechsel zur Mahndorfer Schule, Bremen (2. Klasse)
!
• Schulformunabhängige Orientierungseinheit:
1977: Schulzentrum a.d Drebberstr., Bremen (5. Klasse)
!
• Gymnasium:
1979: Schulzentrum a.d Drebberstr., Bremen (7. Klasse)
1983: Schule a.d. Parsevalstr., Bremen (11. Klasse)
• Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife im Juni 1986
Zivildienst:
vom 4. August 1986 bis 31. März 1988
im Krankentransport des Allgemeinen Krankenhauses Wandsbek, Hamburg
Studium:
seit April 1988 an der Universität Hamburg eingeschrieben
als Student der Philosophie
(mit den Nebenfächern Neuere Deutsche Literatur und Journalistik)
mit dem erstrebten Abschluß des Magister
von September 1991 bis März 1995 Beschäftigung als studentische Hilfskraft im Computer Pool des
Fachbereichs Sprachwissenschaften der Universität Hamburg
April bis September 1995 Honorararbeit (Computerservice) im Zentrum für Deutsche Gebärdensprache und
Kommunikation Gehörloser an der Universität Hamburg