Das Geheimnis am Wasserturm

Transcrição

Das Geheimnis am Wasserturm
Wilhelm Thöring
Das Geheimnis am
Wasserturm
Ein Jugendbuch
.
© 2013 Wilhelm Thöring
Autor: Wilhelm Thöring
Umschlaggestaltung, Illustration: Antje Keidies
Lektorat, Korrektorat: Andreas Klatt
Verlag: Westfälische Reihe, Münster
ISBN: 978-3-95627-046-8
Printed in Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für
die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
In der Geschichte kommen vor:
Kristof Gerlacher mit Männe, seinem weiß-braunen
Hund. Mit dem Namen Kristof wird er nur von seinen Lehrern gerufen, die Familie nennt ihn Krissi. Männe verhilft
Kristof zu einem Geheimnis, von dem ihr in diesem Buch
allerlei erfahrt.
Herr und Frau Gerlacher, Kristofs Eltern. Herr
Gerlacher ist Busfahrer und interessiert sich brennend für
Sport. Frau Gerlacher hilft in einer Bäckerei aus. Sie ist eine
liebevolle Mutter, leider ahnt und weiß sie sehr viel, und
das bringt Unruhe in Kristofs Leben.
Stefan, Kristofs älterer Bruder. Stefan spielt Handball
und in dieser Geschichte spielt er auch noch Schicksal. Kristof und Stefan sind sich nicht immer grün, aber das ändert
sich in dieser Geschichte.
Tobias Eisenberger hat in der Clique der Radrennfahrer
das Sagen. Von Kristof und der Clique wird er nur Tobbi
gerufen. Ihm vertraut Kristof sein Geheimnis an.
Linus Haberkorn, der kleinste in der Radrenn-Clique.
Ihn rufen sie ‚Krümel’. Linus wird in das Geheimnis eingeweiht, genauso wie
Norbert Monkebein, der Stotterer, der gerne hilft, aber
nicht gerne etwas sagt. Auf ihn ist Kristof sauer, weil er
seinen Hund Männe beleidigt hat.
Sophia und Celine, die einzigen Mädchen in der Gruppe. Sie überraschen Kristof mit Nettigkeiten. Celine, das hat
die Mutter von Tobias Eisenberger gesagt, sei ein ausländischer Name. So heißt hier eine Kartoffelsorte. Klar, dass
Celina schnell ihren Spitznamen weghat: Kartoffel.
Bodo P., der Obdachlose, der im Supermarkt etwas Unrechtes getan hat und den Rechtsradikale deswegen bedrohen und verfolgen. Sie heißen bei der Clique und bei
Kristofs Eltern nur: ‚Die Glatzen’. Sie tragen schwarze oder
tarnfarbene Kleidung und hohe Schnürstiefel, und die
meisten haben ihren Kopf kahl geschoren. Die ‚Glatzen’
wollen, dass es keine Ausländer und Obdachlose mehr in
der Stadt gibt. Als sie den Obst- und Gemüseladen vom
Türken, Herrn Gülkül, kurz und klein schlagen, kommen
sie hinter schwedische Gardinen.
Atze und die Halbglatze – beide gehören zur Gruppe
der Glatzen, die Bodo P. jagen. Sie treffen sich oft an der
Bushaltestelle der Linie sieben, wo sie sich schreckliche
Dinge ausdenken. Die Bushaltestelle ist nicht weit vom
Wasserturm, dem Ort von Kristofs Geheimnis.
Die Zeitung schreibt von Rätseln
D
ie Hälfte der Sommerferien ist vorüber. Es ist später Vormittag. Die Familie Gerlacher sitzt immer
noch beim Frühstück.
Herr Gerlacher liest seine Zeitung. Plötzlich schnaubt er
und klatscht die Zeitung auf den Tisch. So hat er damals
geschnaubt und die Zeitung hingeklatscht, als in Stefans
vorletztem Zeugnis stand, dass der Schüler Stefan
Gerlacher nicht versetzt wird.
Stefan ist siebzehn, er geht aufs Gymnasium und ist
sechs Jahre älter als sein Bruder Kristof.
„Na und“, hat Stefan gefragt. „Die meisten drehen eine
Ehrenrunde.“
Weil der Vater sich aufregte und um weiteren Fragen
vorzubeugen, hatte Stefan sich schnell ein halbes Brötchen
in den Mund gestopft und konzentriert in seine Tasse gestarrt. Wenn er den Mund voll hat, kann er dem Vater nicht
antworten.
„Was verhagelt dir denn heute die Petersilie“, fragt Frau
Gerlacher, die über die Fingernägel ihrer linken Hand bläst,
die sie sich gerade mit Lack bepinselt hat.
„Hier, lies das, Mutter!“
Herr Gerlacher schiebt seiner Frau die Zeitung über den
Tisch.
„Jetzt ist das auch schon bei uns gelandet!“
„Was denn“, fragt die Mutter und schiebt ihm die Zeitung wieder zu.
Herr Gerlacher liest vor:
7
„Überfall auf indischen Studenten. Vor einem türkischen
Geschäft in der Nähe des Wasserturms ist in der Nacht von
Samstag auf Sonntag ein indischer Student, der auf den
Nachtbus wartete, von einer Gruppe junger Männer zusammengeschlagen worden. Die Gruppe hat den Hitlergruß gezeigt und antirassistische Parolen gerufen. Der
Überfallene wurde zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht.“
Frau Gerlacher vergisst, ihre Fingernägel anzupusten.
Sie schlenkert einige Male mit der Hand durch die Luft und
meint:
„Nein, so was! Ich habe immer gedacht, unser Ort sei
sauber, hier gäbe es keine Glatzen!“
Kristof, der nichts versteht, versucht in die Zeitung zu
schielen. Vielleicht gibt es ein Bild von dem, was die Eltern
so aufbringt. Nein, ein Bild gibt es nicht.
„Mama, sind Glatzen denn schmutzig?“
„Schmutzig“, knurrt der Vater. „Die sind gefährlich wie
eine schlimme Krankheit.“
Mehr will Kristof nicht wissen, denn auf der Straße ist
seine Clique versammelt. Zuerst ruft Tobias Eisenberger
nach ihm, dann alle anderen.
„Zuerst wird aufgegessen“, sagt die Mutter. „dann
kannst du gehen.“
Aber Krissi tut, als höre er die Clique nicht. Da stimmt
doch etwas nicht! Frau Gerlacher macht sich Gedanken:
Warum bleibt der Junge heute so ruhig? Sonst hat er sofort
Hummeln im Hintern, wenn er seine Clique hört!
Wollten sie heute nicht ein Radrennen veranstalten? Wie
bei der Tour de France soll es werden, hat Krissi gesagt.
Dafür hat sie für jeden Teilnehmer einen Preis gekauft. Als
8
heimliche Überraschung. Was steckt dahinter, dass der
Junge heute so cool bleibt?
Sie wird es spätestens heute Abend an seinem Bett erfahren. Sie weiß: Bis dahin ist für ihn der Kummer so groß
und schwer geworden, dass sie helfen muss.
Und jetzt sitzt Krissi, der das schnellste Fahrrad fährt,
ein Rad mit zehn Gängen, am Tisch und tut, als wäre ihm
das, was er auf der Straße hört, wurscht.
„Heute früh habe ich im Supermarkt etwas Merkwürdiges erlebt“, erzählt Frau Gerlacher. „Ich stand am Regal mit
den Gewürzgurken, du weißt, Vater, gleich neben der Kasse, da haben sie einen jungen Mann beim Klauen erwischt.
Einen Tippelbruder. Ein Glas Würstchen und Hustenbonbons wollte er mitgehen lassen.“
„So was machen doch nicht nur Tippelbrüder. Das
kommt immer wieder einmal vor“, sagt Herr Gerlacher in
seine Zeitung.
„Und weil der kein Geld hatte“, erzählt Frau Gerlacher
weiter, „hat eine alte Frau Würstchen und Bonbons bezahlt.
Den Geschäftsführer hat sie angefaucht, weil der die Polizei
rufen wollte. ‚Sehen Sie denn nicht, dass der arme Teufel
Hunger hat? Sehen Sie ihn an: Wie krank der aussieht! Rote
und nasse Augen, eine Triefnase, Husten... Und wie der
bibbert! Wie ein junger Hund im Regen! Lassen Sie ihn laufen! Das, was der junge Mann genommen hat, das bezahle
ich!’ An der Tür wartete sie, bis der junge Mann gegangen
ist.“
Herr Gerlacher schweigt dazu. Nachdem er seine Brote
in die Tasche gepackt hat, ist er aufgestanden, hat der Mutter einen Kuss gegeben, hat durch Krissis Haar gewuselt
und Stefan zugezwinkert, dann ist er gegangen. Das macht
er immer, wenn er zur Arbeit muss.
9
Herr Gerlacher ist Busfahrer bei der Stadt. In dieser Woche muss er von Mittag bis in den Abend fahren. Wenn er
heimkommt, ist Krissi meistens schon im Bett. Die Zeitung
hat er mitgenommen, die will er Stück für Stück an den
Endstationen lesen. Heute haben sie etwas über den Wasserturm geschrieben. Die Stadt will ihn niederreißen. Das
findet Herr Gerlacher schade. Außer dem Wasserturm und
der Kirche gäbe es kein altes Gebäude mehr in der Stadt.
10
Kristof macht eine Entdeckung
N
achdem der Vater das Haus verlassen hat, ist auch
Krissi vom Tisch aufgestanden. Er hat Männe,
seinen weißen, leicht zotteligen Hund mit den
großen, braunen Flecken an die Leine genommen und ist
gegangen.
Der Männe sieht aus wie ein struppiges, zu klein geratenes weiß-braunes Pferd aus dem Zirkus. Wer mit Kristof
Streit bekommen will, der braucht nur zu behaupten, was
er da an der Leine habe, das sei kein Hund. Auch kein eingelaufenes Zirkuspferd sei das, sondern bloß eine misslungene Minikuh. Das zu vergeben, fällt Kristof schwer, und es
dauert immer sehr lange, bis er wieder mit dem spricht, der
seinen Hund beleidigt hat.
‚Endlich!’ - ‚Wo bleibst du denn?’ – ‚Der Krissi kommt’ ‚Wie, ohne Rad!’ – ‚Soll der Hund auch mit?’ So rufen sie
durcheinander. Alle von seiner Clique warten auf ihn, sogar die beiden Mädchen.
„Mensch, das dauert aber!“ ruft Tobias Eisenberger, der
einen langen Schluck aus seiner neuen Radfahrerflasche
nehmen muss. „Wo ist dein Rad, Krissi?“
„Im Keller.“
„Ist es kaputt?“
„Nö.“
„Wir wollen doch ein Radrennen machen...“
„Macht doch ohne mich.“
„Was ist los? Du machst nicht mit?“
„Nö.“
11
„Spielverderber! Du bist gemein“, schimpft Celine, die
von allen Kartoffel gerufen wird. Denn Frau Eisenberger,
Tobias Mutter, hat gesagt, Celine sei ein ausländisches
Wort und heiße Kartoffel.
„Und warum nicht“, will Sofia wissen. Die hat heute
keinen Helm auf dem Kopf, sondern einen Strohhut mit
einem flatternden Band. „Du kannst einem aber auch jede
Freude vermasseln!“
„Der da“, Kristof nickt von oben herab zu Norbert
Monkebein, dem Stotterer, hin, „der hat gesagt, mein Hund
sei nicht nur eine Milchkuh – er sei eine riesige Bratwurst
auf Beinen. Darum!“
Die Clique möchte darüber lachen, aber sie verkneifen es
sich. Sie sind sprachlos und geknickt. Erst als Kristof ein
Stück weit gegangen ist, hört er, wie sie alle über den stotternden Norbert herfallen. Sie schimpfen und zanken mit
ihm, bis er heulend nach Hause fährt.
Am Rangierbahnhof ist Kristof allein, hier hat er seine
Ruhe. Dahin verfolgt ihn keiner von der Clique. Er lässt den
Männe frei, der sofort zu stöbern beginnt, denn in dem Gestrüpp gibt es viele Wildkaninchen. Obwohl auf diesen
Schienen nur noch ganz selten Lokomotiven zu sehen sind,
meistens ohne Waggons, darf er nicht auf das Gelände. Die
Mutter hat Angst und ihm verboten, zwischen den Schienen herumzulaufen, weil vor Jahren einem Jugendlichen,
der zwischen die Waggons kam, der Brustkorb zerquetscht
wurde.
‚Mama, nun bleib mal geschmeidig. Warum machst du
dir solche Kopfschmerzen? Ich komme doch noch gar nicht
mit der Brust bis an die Puffer’, versuchte Krissi, sie zu beruhigen.
‚Nein, mit der Brust nicht – aber mit deinem Kopf. Und
da der bei dir so hart ist, muss ich Angst um die Puffer ha12
ben’, hat sie gelacht. ‚Stell dir vor, wir müssen der Bahn
verbogene Puffer ersetzen müssen! – Und noch eins, Krissi:
Ohne Kopf ist der Mensch zeitlebens ein Krüppel!’
Sie hat ihrem Sohn einen Kuss aufs Haar gedrückt und
ihn laufen lassen.
Manchmal ist auf dem Rangiergelände ein Mann in auffallender Kleidung zu sehen, der die Gleise oder Weichen
oder die Prellböcke kontrolliert. Heute sieht Kristof niemanden. Er ist hier ganz allein mit seinem Hund, dem
Männe. Dem scheint es langweilig zu sein, weil sich kein
Karnickel aufscheuchen lässt. Er trottet neben Kristof her,
der sich den Wasserturm einmal aus der Nähe ansehen
will.
Der Wasserturm steht auf der anderen Seite des Rangiergeländes, und jetzt soll der abgerissen werden, sagt der
Vater. Der will es genau wissen und hat die Zeitung mitgenommen, um sie an den Endstationen zu lesen. Ja, eigentlich sieht der Wasserturm ganz schön aus, das findet auch
Kristof. Früher soll er das Wasser in die vielen Häuser der
Stadt gepumpt haben, so wurde ihm erzählt. Sogar bis weit
draußen vor die Stadt. Woher das Wasser heute kommt,
das weiß Kristof nicht. Er wird den Vater fragen, der weiß
alles.
Um den Turm herum wächst Unkraut, so hoch, dass er
sich gut darin verstecken kann. Schade um den Turm,
denkt Kristof. Wenn der unten eine Tür hätte, dann ließe es
sich fein darin wohnen. Runde Zimmer! Da gibt es keine
Ecken, und die Mutter brauchte nicht mit ihm zu schimpfen: ‚Nun räum doch endlich dein Gerümpel aus den
Ecken!’
Hier fängt der Männe wieder zu schnüffeln an, ja, er
wird unruhig, wird aufgeregt. Und plötzlich ist er verschwunden, ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber Kris13
tof hört, dass er richtig giftig bellt. Männes Bellen schallt,
als wäre er unten im Waschkeller bei der Mutter.
„Männe, komm her!“ Kristof muss mehrmals rufen, sogar ärgerlich rufen, bis der Hund kommt.
Am Rande eines Lochs, sagen wir einmal ein Loch, so
groß wie die Tischplatte von Kristofs Eltern, taucht der
Kopf vom Männe auf. Er fiept, wedelt wie verrückt mit
dem Schwanz, bellt Kristof an, dann verschwindet er wieder in seiner frisch entdeckten Unterwelt.
Das Loch ist überwuchert von Gestrüpp, als hätte es sich
getarnt. Man könnte leicht hineinfallen.
Kristof kauert davor, er überlegt, was er tun soll. Soll er
sich die Clique zur Verstärkung holen? Das gäbe erst einmal ein großes Palaver, und von der Kartoffel bekäme er zu
hören, erst würde er beim Radrennen kneifen, aber jetzt, da
er in der Patsche sitze und Bammel habe, wären sie gerade
gut genug, ihm beizustehen. Und die Mutter? Nein, die
würde gleich zur Polizei laufen. Auch den Stefan, seinen
großen Bruder, kann er nicht gebrauchen. Der Stefan spielt
immer den Klugen. Außerdem ist Stefan nachmittags meistens beim Handball.
Aber er hat ja jemanden, der ihm helfen kann! Männe!
Dazu ist der noch ein halber amerikanischer Kampfhund,
der sich weder vor Katzen noch vor Rottweilern fürchtet.
Nicht einmal vor Silvesterknallern.
So gut es geht, drückt Kristof mit den Schuhen das Gestrüpp weg. Vor ihm zeigt sich eine Steintreppe, die in einen Keller führt.
„Männe, komm mal her!“
Männe scheint zu wissen, dass es abenteuerlich wird.
Augenblicklich ist der Hund wieder oben. Und bevor er
14
wieder verschwinden kann, hat Kristof ihn an die Leine
genommen.
„Jetzt musst du brav sein und mich beschützen“, flüstert
er. Den Hund ganz dicht an seiner Seite, steigt er in einen
stockfinsteren und muffigen Keller.
Hier unten kennt der Männe sich schon aus. Er führt
Kristof durch einen langen stockfinsteren Gang, der voll ist
von Geröll und Schutt, und immer wieder läuft Kristof mit
dem Gesicht mitten hinein in Spinnennetze. Jetzt drängt
Männe ihn nach links in eine Kammer, wo in der Ecke ein
gräulicher, kreisrunder Fleck an der Decke zu sehen ist,
nicht viel größer als der Deckel einer Milchdose. Kristofs
Augen haben sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt. Er
bemerkt, dass unter dem kreisrunden Lichtfleck jemand
kauert. Männe zieht und bellt nicht mehr, seitdem er an
Kristofs Seite geht. Er knurrt nur noch. Schon draußen vor
der Kammer hat er zu winseln und zu knurren angefangen.
Eine Männerstimme fragt: „He, was willst du hier? Hast
du den Hund herunter geschickt?“
„Hallo! Wenn ich dabei bin, dann brauchst du vor meinem Hund keine Angst zu haben. Das ist der Männe. Der
Männe ist ein amerikanischer Kampfhund, aber nur zur
Hälfte. Eigentlich ist er ein bisschen mehr als die Hälfte
amerikanischer Kampfhund“, sagt Kristof für alle Fälle. Er
streckt seine Hand aus, aber der Mann am Boden nimmt sie
nicht. Kristof geht einen Schritt auf ihn zu:
„Ich bin der Krissi. Richtig heiße ich Kristof. Aber so ruft
mich nur meine Lehrerin, und manchmal rufen mich auch
die Eltern so, wenn die auf mich sauer sind. Und wenn es
zappenduster ist, dann ruft der Vater sogar: Herr Kristofer!
Aber meistens sagen die nur Krissi zu mir.“
„Interessiert mich nicht, wie deine Alten dich rufen. Der
Hund? Der ist gefährlich, wenn du nicht dabei bist?“
15
„Wenn ich will, dann ist der auch gefährlich wenn ich
dabei bin! Weißt du nicht, wie amerikanische Kampfhunde
sind? Wie drei Rottweiler zusammen! Aber jetzt ist der
Männe brav. Aber nur so lange, wie ich will!“
Der Mann dehnt ein langes „Jaaaa“, in die Dunkelheit.
Vielleicht hat er auch dazu genickt oder den Kopf geschüttelt, das konnte Kristof nicht erkennen. Er setzt sich auf ein
Mauerstück, das er neben sich fühlt. Du hast es schön hier,
wollte er zu dem Mann sagen, um ihm eine Freude zu machen. Aber im letzten Moment hat er sich auf die Zunge
gebissen, es ist ja gar nicht zu sehen, wie es hier unter der
Erde aussieht. Kristof fragt:
„Wohnst du hier?“
„Du kannst fragen, wie die auf dem Amt.“
„Entschuldigung...“
„Damit du’s weißt: Wo ich gerade bin, da wohne ich.“
Der Mann bibbert. Er bibbert so stark, dass seine Zähne
aufeinander schlagen und Kristof es hören kann. Er fragt:
„Ist dir kalt?“
Er bekommt keine Antwort. Kristof sagt:
„Oben scheint die Sonne, da ist es heute warm. Geh
doch einfach nach oben.“
Der Mann schweigt weiter. Vielleicht kann er vor lauter
Bibbern nicht mehr reden.
„Oder bist du krank?“
Durch das Geklapper der Zähne gurgelt der Mann:
„Ringsum krank! Von vorne und hinten, auch von oben
und unten... Ich sage: Ringsum krank.“
16
„Dann geh doch zur Ärztin! Die Frau Doktor Zierenfuß,
die ist nett. Die macht dich schnell gesund. Und meistens
gibt die mir eine kleine Tüte Gummibärchen...“
„Wie schön! Ich kann aber nicht zu deiner Doktor Ziegenfuß gehen...“
„Zierenfuß heißt die!“
„Du könntest mich jetzt in Ruhe lassen, Junge.“
„Geh nach draußen, da scheint die Sonne, da ist es
warm...“
„Geht nicht“, sagt der Mann etwas freundlicher geworden. „Vorerst muss ich hier im Versteck bleiben.“
„Ach du Schreck! Die Polizei?“
„Ne, Glatzen.“
Kristof denkt nach. Steht heute nicht etwas über Glatzen
in der Zeitung? Unter Glatzen kann er sich nur alte Männer
mit weißem Haarkranz vorstellen, die oft einen Krückstock
bei sich haben. Ob die? Mit ihren Krückstöcken?
„Die brauchen doch Krückstöcke zum Laufen. Da bist
du doch viel schneller.“
„Kennst du keine Glatzen?“
„Doch, olle Männer mit... Die stehen heute in der Zeitung. Vater sagt, die sind schlimmer als die schlimmste
Krankheit.“
Der Mann keckert wie ein Vogel und wird dabei von einem Hustenanfall überfallen. Als der Anfall vorüber ist,
erklärt er:
„Das sind keine ollen Männer. Die meisten sind jung,
haben Springerstiefel an und dunkle Klamotten und sind
von oben bis unten tätowiert. Wie asiatische Zauberer. Ihre
Nacken sehen aus wie der Nacken des besten Bullen beim
17
Bauern. Diese Glatzen jagen Menschen, Ausländer, Farbige
und auch solche, die anders leben als die meisten.“
„Ach die meinst du! Die kenne ich. In den Fernsehnachrichten, da hab ich die öfter gesehen. Einmal auch hier bei
uns. Meine Eltern können die auch nicht leiden. Die Mutter
schimpft dann immer und sagt Kroppzeug dazu. Aber warum hast du davor Angst?“
„Die wollen mich alle machen. Abmurksen.“
Nachdem er sich noch einmal frei gehustet hat, erklärt
er, warum die Glatzen ihn jagen:
Vorgestern musste er den ganzen Tag in einer großen
Betonröhre sitzen, denn es hatte ohne Pause vom Morgen
bis zum Abend wie aus Kübeln geschüttet, erzählt er. Heute morgen wollte er im Supermarkt Hustenbonbons kaufen,
damit er seinen Husten los würde. Aber er hatte sein Geld
verloren. Hustenbonbons kosten nicht die Welt, hatte er
gedacht, dann klaue ich einfach ein Päckchen. Und ein Glas
Würstchen, weil der Hunger mir bis unter die Arme reichte.
„Und eine alte Frau hat das alles für dich bezahlt!“, ruft
Kristof. „Die Mutter hat das heute erzählt...“
„Sieh an, bin ich schon zum Stadtgespräch geworden?“
Wieder lacht er sein keckerndes Lachen, dann erzählt er
weiter: Er klaue nicht. Aber durch den Regen konnte er
kein Geld zusammenbetteln, denn es war ja niemand auf
der Straße. Die Leute saßen alle in ihren Wohnungen und
guckten durch die Scheiben.
„Ich verstehe“, sagt Kristof. „Du bist ein, ein... Landstreicher!“
„Haarscharf richtig! – Wie hab ich mich gefreut, dass die
alte Frau im Laden war, dass die nicht die Polizei gerufen
haben.“
18
„Cool!“ freut Kristof sich.
„Gar nicht cool. Ob Würstchen oder Hustenbonbons –
Diebstahl ist Diebstahl. Versuch bloß so was nicht! Na, ja.
Eine Glatze, die im Laden war, hat mich beobachtet. Draußen erwartete er mich. Da stand auch noch ein Kumpan
von ihm. ‚Das ist die Ratte, die vom Eigentum anderer
frisst!’ fauchte er. ‚So was gehört davongejagt! Ach, was
sage ich: Zertreten gehört der! Nicht genug, dass einem alle
paar Meter ein Bimbo, ein Ali mit seiner Vogelscheuche
oder ein Schlitzauge über den Weg läuft – jetzt müssen wir
auch noch diese arbeitsscheuen Schmarotzer durchfüttern!’
Sie hielten mich fest und stießen mich von einem zum
anderen. Ich weiß nicht, was die noch getan hätten, wäre da
nicht sehr langsam das Polizeiauto vorüber gefahren. Da
ließen sie mich gehen. Und der, der mich beobachtet hatte,
drohte: ‚Ratte, dir bleiben wir ab heute auf den Fersen, bis
wir dich alle gemacht haben. Du entwischst uns nicht!’
Bei der Balgerei habe ich die Hustenbonbons verloren,
aber das Glas Würstchen, das ist mir geblieben. Siehst du,
und seitdem sitze ich hier im Keller und warte darauf, dass
der Husten und die Bibberei endlich aufhören und ich mich
heimlich aus dem Staub machen kann.“
„Die Polizei hätte dich niemals verhaftet“, weiß Krissi.
„Die Würstchen, das war Mundraub, versteht doch jeder.
Und die Hustenbonbons, die hätte dir jede Apotheke geschenkt... Ich hab mal mit der Mutter erlebt, dass jemand
umgefallen ist. Dem haben sie auch Pillen und Tropfen umsonst gegeben. Und hinterher sogar noch was in einer kleinen Plastiktüte. Alles umsonst...“
„Ich kenne das“, sagt der Mann. „Ja, sie helfen. Aber so
freizügig sind sie bei mir nicht, ich bin nur ein Penner.“
19
Kristof ist still, er denkt nach. Auch der Männe ist die
ganze Zeit still geblieben. Er liegt im Schutt, die Schnauze
auf den Pfoten und schnieft, als würde er schlafen.
Wenn der Mann genau unter dem kreisrunden trüben
Loch sitzt, dass das wenige Licht auf ihn fällt, dann kann
Kristof ein ganz, ganz wenig von seinem Kopf erkennen.
Das Gesicht bleibt immer im Dunkel. Er sollte bei allen
Streifzügen die kleine Taschenlampe mitnehmen, denkt er.
Ja, die sollte immer in der Hosentasche sein, wie Taschentuch und ein Schnürsenkel, für alle Fälle. Endlich sagt er:
„Ich gehe mal nach Hause und hole dir Kamillentee.“
„Was willst du holen? Kamillentee? Pfui Deibel! Entschuldige, aber der gibt mir den Rest. Ich kann ihn nicht
einmal riechen. So was säuft nicht einmal dein amerikanischer Halbkampfhund. Pfefferminztee, ja, der wäre besser.
Oder eine große Plastikflasche Gänsewein. Du weißt, was
das ist?“
„Klar: Leitungswasser. Aber im Wasserturm ist nichts
mehr davon, der ist leer. Darum wird der gesprengt“.
„Der Turm hier oben?“
„Ja, weil der so alt ist.“
„Dann muss ich bald die Fliege machen.“
„Ja, musst du! Ich versuche, dir Pfefferminztee zu kochen!“
Als Kristof den Weg durch den Gang zurückstolpert,
hört er den Mann sagen:
„Eigentlich bist du doch ein ganz feiner Kerl, Krissi!“
20

Documentos relacionados