Amanda Lee Koe Dave Chua Mohamed Latiff Mohamed
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Amanda Lee Koe Dave Chua Mohamed Latiff Mohamed
2015 Moderne Literatur aus Singapur Amanda Lee Koe Dave Chua Mohamed Latiff Mohamed Yeng Pway Ngon Marc Nair 1 Moderne Literatur aus Singapur Vorwort2 Litprom Amanda Lee Koe 3 Ministry of Moral Panic Dave Chua 8 The Beating and Other Stories Mohamed Latiff Mohamed 11 Confrontation Yeng Pway Ngon 14 Trivialities About Me and Myself Marc Nair The Poet of Unlove 17 Singapur ist seit jeher ein Transitland der Moderne. Obwohl vergleichsweise klein bemessen an Fläche und Bevölkerung, spielt Singapur doch schon immer eine tragende Rolle im Austausch von materiellen und nicht zuletzt immateriellen Gütern zwischen Ostasien und den Partnern auf dem ganzen Globus. Diese prominente Position spiegelt sich auch in der Literatur dieses einzigartigen Kulturraums wider, in dem vier asiatische Sprachen gesprochen werden, dessen Verkehrssprache jedoch das Englische ist. Die fünf in dieser Zusammenstellung vorgestellten Autorinnen und Autoren präsentieren Singapur als eine dynamische Buchnation, deren Selbstverständnis sich aus ihrer weltwärts gewandten Geschichte und Gegenwart speist. Während der malaiisch-stämmige Autor Mohamed Latiff Mohamed in sei- nem Roman Confrontation an den von ethnischen Konflikten überschatteten Prozess der Entkolonisierung zu Beginn der 1960er Jahre erinnert und uns die Entstehung dieser Nation aus der Sicht eines gleichsam mit ihr heran wachsenden Jungen präsentiert, stehen die Autorin Amanda Lee Koe und der Slam-Poet Marc Nair für eine junge, kosmopolite Generation von Literaten, deren Texte in Sprachgestus und Sujet einen Mix aus dem spezifisch singa purischen Erbe und dem starken Einfluss zeitgenössischer amerikanischer Literatur aufweisen. Auch die meisterhaften Kurzgeschichten Dave Chuas nehmen deutlich Anleihen bei den angelsächsischen Meistern des knappen Erzählens, zeugen aber mit subtilen Anspielungen auch von der Melancholie und der allgegenwärtigen Entfremdung von Menschen, die unter einem besonders ausgeprägten Konformitätsdruck stehen. Schließlich zeigt Yeng Pway Ngons Text, ein avantgardistischer innerer Monolog als Streitgespräch, dass die Romankunst durch formale Experimente auch noch im 21. Jahr hundert neue Wege entdecken kann. Wir laden Sie ein, mit unserer Auswahl auf Entdeckungsreise zu gehen. Informationen unter www.litprom.de/aktuelles Ansprechpartnerin bei Litprom ist Anita Djafari: [email protected] oder Tel. 069 2102-113. Die Auswahl moderner Literatur aus Singapur präsentiert Litprom in Zusammenarbeit mit dem National Arts Council of Singapore. Vorwort Litprom 3 Zahlreiche von Amanda Lee Koes Kurzgeschichten sind bereits vor der Veröffentlichung der Sammlung Ministry of Moral Panic in Magazinen in Hong Kong, den USA und Deutschland (in: Der Greif ) erschienen. Sie arbeitet als Herausgeberin ihres eigenen Literaturjournals Ceriph , für das Designstudio StudioKelaido sowie als Literaturredakteurin für den Esquire und weitere Magazine. 2013 war sie Honorary Fellow des Iowa International Writing Program. Die im gleichen Jahr erschienene Kurzgeschichtensammlung Ministry of Moral Panic erhielt 2014 den Singapore Literature Prize for English Fiction. Amanda Lee Koe Ministry of Moral Panic 4 Ministry of Moral Panic Das Wappentier des Stadtstaates Singapur ist der sogenannte Merlion, ein hybrides Wesen mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Fisches. Der „mystische“ Merlion, dieses verzerrte, hochgradig paradoxe Fabeltier, soll sowohl an das alte Fischerdorf, das Singapur vor einigen Jahrhunderten noch war, sowie an die Bedeutung des alten Namens Singapura (Löwentor) erinnern. Doch der Merlion ist kein uraltes Fabeltier, er entspringt keiner der drei dominierenden Kulturen des Insel reiches, weder der chinesischen noch der malaiischen oder indischen: Der Merlion ist ein sehr modernes Phantasieprodukt. Er wurde 1964 von einem Mitglied des singapurischen Souvenirkomitees erdacht und ist als einge tragene Marke durch ein streng gehandhabtes Copyright geschützt. Nur an einem ganz bestimmten Ort wie Singapur können sich krude Phantasie und Pragmatismus auf eine Weise vermengen, dass so etwas absurd Schönes wie der Merlion überhaupt entstehen kann. Auch die fantastischen Kurzgeschichten der jungen Starautorin Amanda Lee Koe haben etwas von der wunderbaren Verschrobenheit des Merlion, doch nicht in dem Sinne, den die Tourismusbehörde Singapurs ihrem Maskottchen gerne beilegen würde. Das „Merlionsche“, also mithin auch Singapu rische an Amanda Lee Koes Geschichten besteht gerade in dem Spiel mit der grotesken Schönheit einer einprägsamen, aber völlig schiefen Bildsprache. Genau wie der hybride Meerlöwe scheinen auch ihre Geschichten aus mehreren, einander ausschließenden Welten zugleich zu stammen. Dazu macht sie das wunderbar Schiefe zum ästhetischen Schatz ihrer rührenden Geschichten um Außenseiter, Querköpfe, Queer-Bodys, die sich durch eine verrutschte Welt bewegen müssen. Ein Pärchen, sie ein Fan der 1920er Mode, er ein Austauschstudent mit bärenhafter Physiognomie, fassen den Beschluss, in ihren Rendezvous alle Parks der Insel abzuklappern; ein Mann trifft in einer Bar einen Transsexuellen, den er als Junge gedemütigt hatte, und lässt sich von ihm abschleppen; eine Kellnerin bedient einen alternden Serienstar, in den sie als kleines Mädchen verliebt war, und am nächsten Morgen wird er tot in seinem Bett aufgefunden. Nicht von ungefähr erinnern diese fehlgeschlagenen Liebesgeschichten an die schwer fassliche Romantik zeitgenössischer Autorinnen wie Miranda July, die Amanda Lee Koe selbst als eine große Inspiration für ihr eigenes Schreiben nennt. Sie selbst hat die Herangehensweise, nach der sie Kurzgeschichten schreibt, in einem Interview auch einmal mit einem Motto zusammengefasst, das sie von Susan Sontag geliehen hat: „Talking like touching. Writing like punching somebody.“ 5 Und tatsächlich wirken ihre Kurzgeschichten wie ein Schlag. Aber nicht wie ein brutaler Schlag ins Gesicht, sondern wie ein Herztreffer, ein Blattschuss, ein wilder Hieb, der den Zentralmuskel des Gefühls aus dem Takt bringt. Amanda Lee Koe ist die mit einem berückenden schriftstellerischen Talent ausgestattete Vorkämpferin einer neuen Generation Singapurischer Autoren, deren Geschichten so kosmopolit und mutig „merlion“ sind wie offenbar ihre eigene Lebenseinstellung. Textauszug Every Park on This Island Bukit Timah Hill The Bear says: We had a forest in our backyard. It caught fire one summer. The Bear says: I never finished exploring it. The Bear says: Well, what I mean is it was eleven acres. He’d asked, casually, if we had nature trails here in Singapore. I said we could try Bukit Timah Hill, and then I realised I’d asked him out, but right before I froze up he said, Sure. Looking for directions there, I come across a factoid: that it is the highest point on this island, at an altitude of 163.63 metres. It makes me feel funny, because when I imagine the word altitude, I imagine thin air, the need to acclimatise. He opens up his bag—knapsack, he says—and takes out a Ziploc. For you. Trail mix. It’s a mixture of almonds, raisins, peanuts, M&Ms and granola, and some how I think it’s the sweetest thing ever. We sit on the root of a tree sharing the trail mix, watching fat red ants go by. He tells me that on his boyhood nature trails in Pennsylvania, they would see white-tailed deer and red foxes. A small chameleon appears and crosses in front of us slowly, like some sort of visual cue or subtitle. I find myself laughing. Somehow he gets it, and laughs too, a deep, throaty laugh. I’ve never made a special trip to any park or hill in Singapore, I say as we part at the bus stop. I sure can tell, he says. Which girl would wear stuff like that to hike? The Bear points to my vintage T-straps, my sweetheartneckline sundress. Hike? When the hill is less than two hundred metres tall and the routes are all paved? I say. I must take you to Fort Canning Park one day—there’s an escalator built into the side of the hill, can you imagine that? How about, he says, We go to every park on this island. Every park on this island? Every park on this island. 6 Clementi Woods When I get home to my tenth floor flat in Clementi Woods, I boot my lap top up. On this island that calls itself a garden city, there are twelve city and heritage parks, thirteen community parks, six coastal parks, five southern ridge parks, six nature parks, four nature reserves, seven riverine parks, the Botanic Gardens, the Zoological Gardens, and the Gardens by the Bay. I draw up a map, mark them all out, and pin it to the corkboard above my desk. Over dinner, I ask my parents for the land area of our flat. Land area, of our tenth floor flat, the same strange rhythm as “an altitude of 163.63 met res”. It makes me feel, all of a sudden, that all these years I have been wal king on air, that each block of flats is a soufflé of sorts. All the air that passes through windows, balconies, open doors: we’re layered atop one another, whipped into a social dough. The Cantopop karaoke beat from not one, but three floors down, the smell of rendang curry from the adjacent kitchen window of a Malay family. About seven hundred square feet, my mother says. Why? I don’t answer her. I do an online conversion. 700 square feet = 0.0160697888 acres. Singapore Zoological Gardens My parents like to tell this story, of me crying over bears when I was a kid. Bears had been my favourite animal. I had books with big brown bears, who had little potbellies and ate honey out of jars, who stood upright. I had a stuffed teddy bear I slept next to at night. When we went to the zoo for the first time, I was beside myself with excitement. I ignored everything else we passed—flamingos, golden tamarins, zebras, lions. We got to the sun bear enclosure and my father lifted me up under the arms for a better look. It was not large, nor brown, nor furry. It reminded me of the dark spots on the skin of an overripe banana, and I began to cry. When I first saw the Bear, I went right up behind him. He was standing by the vending machine outside a lecture theatre on campus, frowning. He was very tall; big-boned and pudgy, with a paunch showing slightly under his black t-shirt, and soft, wavy honey brown hair just past his shoulders. I couldn’t figure out what it was about him—there were better looking white boys on the exchange programme and local boys around that I’d never stopped to stare at—but there I was right behind him, and then I realised I’d found my picturebook bear. He turned around. Tough luck, he muttered, shrugging. The vending machine had eaten his coins without dispensing his item. He was walking away. 7 I kicked the vending machine—perhaps that was the first time I’d kicked anything my whole life. The packet of M&Ms fell into the dispenser gutter. He turned back and I was ready to hand it over to him. I could feel my face shining. Thanks, he said. He didn’t look impressed. For a moment he looked as if he was going to walk away again, then he told me his name. I won’t say it, because to me he will forever simply be the Bear. I told him my name back, a Chinese name, and he said right away, I’m going to have to give you a new name, girl. I stared dumbly back at him. The Bear said: Besides the fact that I’ll never be able to pronounce it, it’s soft and . . . gospel. You need something more hard-hitting if you don’t want to blend in with the wallpaper. He turned to me, checking—You don’t, right? I knew I had always been a wallpaper type of girl, I was quiet and if I stood out it was only because the other girls thought I was weird in my vintage dresses and shoes and my significant (if useless) knowledge of Pre-Code Hollywood—I might be wrong but maybe only certain types of girls can pull off vintage, one of them had said to her posse as I walked past them once. The Bear was snapping his fingers. Sledgehammer, he said. I loved it. It was time for me to say something, and I thought it through, and pushed my spectacles up my nose bridge and inhaled before I said it: You talk like the movies. The Bear grinned wildly at me, with large white teeth. He opened the packet of M&Ms and gave me a red one, himself a blue. Publikationen Ministry of Moral Panic. Kurzgeschichten, Epigram Books, Singapur 2014, 210 Seiten. Preise Singapore Literature Fiction Prize for English Literature 2014 8 Der 1970 in Malaysia geborene und als Kind nach Singapur emigrierte Dave Chua wurde bereits durch seinen 1995 veröffentlichten Debütroman Gone Chase zu einem Star der Literaturszene Singapurs. Nach einem Studium der Computerwissenschaften in Berkeley wendete er sich dem Schreiben zu. Für seine Kurzgeschichte Father’s Gift , die später überarbeitet unter dem Titel The Beating erschien, erhielt er den Golden Point Award, Singap urs wichtigsten Literaturpreis, in der Kategorie Kurzgeschichte. Dave Chua The Beating and Other Stories 9 The Beating and Other Stories Eine technisch sehr anspruchsvolle, dabei aber ungemein wirkungsvolle Methode, um eine gute Kurzgeschichte zu schreiben, besteht darin, im Erzählstil sich wie ein Verhaltensforscher zu geben: kein Wort zu viel zu schreiben, nur das zu beschreiben, was man auch wirklich beobachten kann, Mutmaßungen über Intentionen zu unterlassen und vor allem keine rhetorischen Kniffe anzuwenden, die üblicherweise eine Einfühlung des Lesers in die Figuren forcieren sollen. Die reine Schilderung der Ereignisfolge kann, wenn sich der Autor auf diesen Schreibstil versteht, eine unwiderstehliche Sogwirkung entfalten, da der Leser automatisch in der scheinbar glatten Oberfläche der Schilderungen nach tieferen Bedeutungen zu suchen beginnt – und dabei auf eine nie ganz zufriedenstellende Weise fündig wird. Was dann bleibt, ist ein langer Nachklang, sind Geschichten, die wirken, gerade weil sie sehr alltägliche Begebenheiten schildern. David Chua ist ein Meister dieser speziellen Erzählweise, die seine Leser sofort an den amerikanischen Großmeister der Short Story, Raymond Carver, denken lässt. Chuas von einer tiefen, ihnen selbst verschlossenen Melancholie geprägten Charaktere bewegen sich orientierungslos durch seine sparsam erzählten Geschichten. Es sind meist Menschen in den mittleren Jahren, die sich von ihrer Liebe, von einem festgefahrenen Lebensweg, ja von sich selbst entfremdet haben, für die es aber zu spät ist, im Trotz aufzubegehren: Ihre Konflikte sind eingefroren, und sie selbst sind nicht mehr in der Lage, diese anzugehen. Die Melancholie, dieses universelle Menschheitsgefühl, schleicht sich ein in jede ihrer noch so alltäglichen Handlungen, macht sie stumpf und selbst da, wo sie aktiv werden wollen, zu Personen, denen ihr eigenes Tun eher widerfährt, als dass es sie auszeichnet. Hier werden keine zu engen Häute abgestreift, keine Metamorphosen vollzogen. Chua stellt mit seiner Kunst dem Hochglanznarrativ der modernen Gesellschaft, wonach man sich immer wieder neu erfinden kann und muss, eine einzelne, aber pointierte Beobachtung gegenüber: Es ist unmöglich sich immerzu zu verändern, mit der Zeit mögen zwar alle Verwundungen verheilen, allein die Narben bleiben ein Leben lang und legen einen Schatten darüber. Solche Charaktere können nicht Protagonisten wahnwitziger Ereignisse sein, die „unerhörte Begebenheit“, die Goethe für seine Novellen für so essentiell hielt, kann deshalb in Chuas Geschichten nur ausbleiben. Auch wenn sich manch einer der Protagonisten wohl heimlich nach einem wundersamen Eingriff des Schicksals sehnt. Aber gerade deshalb rücken sie dem Leser so nah: Fast unmerklich stellt sich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit den geschilderten Figuren ein. 10 Da sind zum Beispiel die beiden Geschwister aus The Beating, die einen despotischen Vater zu Grabe tragen müssen und auf der Totenfeier verzweifelt darum ringen, mit ihm abschließen zu können. Da ist die ältere Dame in The Man Who Came Alone to Eat, die, weil die über alles geliebte Tochter ausgezogen ist, einen Job als Kellnerin annimmt und eine Sympathie für einen Mann entwickelt, der immer alleine das Restaurant besucht. Es sind diese Geschichten aus dem Alltag, mit denen der Autor uns rührt, weil kein Satz, kein Bild, keine einzige beschreibende Notiz in seiner perfekten Prosa überflüssig ist. Und selbst wenn ein besonderes Ereignis wie der Tsunami in Thailand, der in The Drowning den Sohn eines älteren Ehepaares das Leben kostet, eine Geschichte in Gang setzt, so ist es doch nur der Katalysator für das eigent liche Drama, das sich zwischen den beiden voneinander entfremdeten Ehe leuten abspielt. Voller Angst reisen sie an den Unglücksort, suchen vergeblich nach ihrem Sohn und müssen sich spätestens jetzt eingestehen, dass mit ihm auch das Fundament ihrer Beziehung vom Wasser fortgerissen wurde. Wie Chua die doppelte existenzielle und gleichzeitig völlig banale Verlorenheit dieser beiden gebrochenen Menschen darstellt, das ist ganz einfach meister liche Erzählkunst: „Where do we start?, Mr. Chan says. He goes around asking the staff. He queues up, not knowing what the queues are for.“ Publikationen The Beating and Other Stories. Kurzgeschichten, Ethos Books, Singapur 2011, 210 Seiten. Gone Chase. Roman, SNP Pub, Singapur 1996, 153 Seiten (neu erschienen bei Ethos Books, Singapur 2002, 140 Seiten) Gone Chase 1 + 2. Graphic Novel (mit Koh Hong Teng) 2010 u. 2011 TV-Produktionen Tomato Twins, 1986 Achar!, 2004–2005 Preise Singapore Literature Prize Commendation Award 1996 Singapore Screenplay Award 2001 Singapore Press Holdings-National Arts Council Golden Point Award 1995 11 Mohamed Latiff Mohamed wurde 1950 in Singapur geboren und gilt als eine der einflussreichsten Stimmen in der malaiischen Literaturszene. Sein Werk umfasst sowohl Lyrik als auch Prosa und kreist insbesondere um die Marginalisierung und Diskriminierung der malaiischen Minderheit im postkolonialen Singapur. Trotz eindeutiger historischer und geo grafischer Bezüge bewegt sich sein Schreiben doch stets entlang universeller Fragen nach Identität, Zuge hörigkeit und den Wunden einer nicht überwundenen Geschichte. Sein Werk hat auch in den Nachbarländern Malaysia und Indonesien große Anerkennung gefunden und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Mohamed Latiff Mohamed Confrontation 12 Confrontation Der Roman erzählt aus der Perspektive des jungen Adi, der in einem kleinen Dorf auf der Hauptinsel Singapurs aufwächst, vor der Umbruchszeit der 1960er Jahre, die letztlich zur Unabhängigkeit der englischen Kolonie führte. Das überschaubare Leben im ärmlichen Kampung (malaiisch: Dorf) Adis mit seinen kleinen und großen Tragödien spielt sich rund um einen großen Banyan-Baum ab, dessen prächtige Krone die Ortschaft beherrscht. Immer wieder steigt der junge Adi auf diesen als verwunschen geltenden Baum, um von dort aus das brodelnde Durcheinander seiner von einer Vielzahl tragikomischer Charaktere bewohnten Nachbarschaft zu überblicken: Da ist die alkoholabhängige Gelegenheitsprostituierte Kak Salmah, die ihre Frustration an ihrer Tochter auslässt, der greise Chinese Tong San, dessen Frau trotzdem jedes Jahr ein Kind bekommt, die fremde Ehemänner verführende Bibi sowie der gebildete, kunstsinnige, aber arbeitslose Abang Dolah, der für Adi zu einer Art Ersatz für den eigenen spielsüchtigen und verantwortungslosen Vater wird. Adi selbst ist ein neugieriges Kind, das mit einer Bande von Freunden um die Häuser zieht, sich in Filmvorführungen schleicht und auch schon einmal Töpfe und Pfannen aus den Hinterhöfen der Reichenviertel klaut, um das Haushaltsgeld seiner Mutter aufzubessern. Diese wird von Adis Vater regelmäßig im Stich gelassen und muss sich zudem um eine behinderte Adoptivtochter kümmern. Das alltägliche Leben ist von Armut und unverdrossener Lebenslust, von immer wieder aufflackernden Bandenkriegen und gleichzeitig von großer Solidarität auch zwischen den unterschiedlichen Ethnien geprägt. Chinesen, Malaien, Inder und Tamilen leben Seite an Seite. Adi selbst führt ein Leben zwischen Schule und Jungenstreichen. Doch aufgrund der Enge im Armenviertel seines Dorfes wird er auch öfter als ihm lieb ist Zeuge des von der Armut ausgelösten psychischen Elends der Menschen um ihn herum. Aber genauso häufig ist er auch Zaungast bei den vielen komischen Episoden, die sich im alltäglichen Miteinander so vieler eigen williger Charaktere fast schon zwangsläufig ergeben müssen. Solchermaßen nimmt das Leben seinen Gang, bis es eines Tages zur Titel gebenden Kon frontation kommt. Als die weltweiten Entkolonialisierungsbemühungen nach Südostasien schwappen, strebt auch das für den Seehandel so zentrale Singapur nach Unabhängigkeit. Der Geist der Emanzipation und der Wunsch nach politischer Teilhabe, vor allem verkörpert durch den zum politischen Aktivisten gewordenen Aband Dolah, erfasst Adis Kampung. Er selbst hat die Aufnahmeprüfung zur weiterführenden Schule bestanden und beginnt sich für die malaiische 13 Literatur zu interessieren. Wie viele andere träumt auch er von einem Zusam menschluss Singapurs und weiterer Inselreiche zu einem Großmalaysia, das nach der ersten allgemeinen Wahl Singapurs im Jahr 1962 in greifbare Nähe gerückt war. Doch die Hoffnung auf einen Verbleib Singapurs im politisch neu entstehenden Malaysia währte nur kurz. Die nach der Wahl aufflammenden ethnischen Konflikte zwischen der chinesisch-stämmigen Bevölkerung und den übrigen Ethnien auf dem Gebiet der Insel Singapur führte nur zwei Jahre nach der Wahl zur Abspaltung von Malaysia, wodurch der Stadtstaat Singapur in seiner heutigen Form entstand. Diese historische Zäsur hat Mohamed Latiff Mohamed in einem Interview als eine persönliche Tragödie beschrieben. Confrontation ist nicht nur ein Portrait der untergegangenen Welt des kleinen Kampung, sondern auch eine Geschichte über antikoloniale Hoffnung und deren Zusammenbruch. Im Schicksal der kleinen Leute aus Adis Dorf spiegelt sich eine ganze Epoche, die an den politischen Ränken nach der Entkolonialisierung zerbricht. Das Rad der Geschichte dreht sich (wie immer) losgelöst von den bescheidenen Hoffnungen der kleinen Leute und bestimmt dennoch ihr Leben bis ins kleinste Detail. Mohamed Latiff Mohamed zeigt sich in diesem Buch als engagierter Literat, dessen Kunst im Kleinen von den Wunden der Geschichte zu berichten weiß. Er erinnert daran, dass das politisch einmalige Konstrukt des Stadtstaates Singapur nicht nur aus seiner wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte besteht. Denn gebaut ist dieser eigenartige Zwitter auf einem für ihn noch immer nicht überwundenen Konflikt, über dem durch die Entkolonialisierung nicht eingelösten Wunsch der malaiischen Bevölkerung nach einer eigenen Identität. Publikationen Confrontation. Roman, Epigram Books, Singapur 2013, 220 Seiten The Widower. Roman, Epigram Books, Singapur 2015, 140 Seiten Preise Montblanc-NUS Centre for the Arts Literary Award 1998 Southeast Asian Write Award 2002 Tun Seri Lananag Award 2003 Singapore Literature Prize 2004, 2006, 2008 National Arts Council Special Recognition Award 2009 Cultural Medallion 2013 14 Yeng Pway Ngon (*1947) zählt zu den renommiertesten und vielseitigsten Autoren Singapurs. Sein auf Chinesisch verfasstes Œuvre umfasst mehr als 25 Titel. Er ist sowohl als Dichter, Romancier und Essayist wie auch als Autor von Schauspielen und Kritiken in Erscheinung getreten. Bereits dreimal gewann er den Singapore Literature Prize und erhielt aufgrund seiner Verdienste für die Literatur seines Landes die Cultural Medallion. Sein Roman Trivialities About Me and Myself wurde im Jahr seines Erscheinens 2006 von dem Asiaweek Magazin (Hong Kong) auf die Liste der 10 besten chinesisch-sprachigen Neu erscheinungen gewählt. Yeng Pway Ngon Trivialities About Me and Myself 15 Trivialities About Me and Myself Dies ist ein äußerst ungewöhnlicher Roman. Das Setting scheint altbekannt: Ein alter Mann verliert durch seine eigene Gier und Maßlosigkeit sein Vermögen, seine Liebe und seine Gesundheit. Schließlich ganz unten angekommen, setzt er sich, ähnlich wie Becketts Krapp, hin, um in einem endlosen inneren Monolog vor sich selbst Rechenschaft über sein gescheitertes Leben abzulegen. Doch Ah-hui, so der Name des Alten, erzählt die Geschichte seines Lebens nicht einem Tonband oder einer abwesenden Geliebten, nicht einmal dem Surrogat-Gegenüber Papier, das ja mit jedem noch so großen Unhold geduldig ist, sondern er erzählt diese Geschichte sich selbst. Oder genauer: Er rechtfertigt sich vor seinem zweiten Ich, das er Myself nennt. Denn in Ah-huis Brust leben seit seinen Kindheitstagen zwei Seelen: Die eine, die er Me nennt, ist ein von Egoismus und Leidenschaften beherrschter Mensch, dem schneller Erfolg und exzessiver Genuss über alles geht. Der zweite Seelenanteil ist die moralische, mahnende Stimme in seinem Kopf, eben jener Myself, der in ständigem Widerstreit mit diesem Me steht. Als Kind(er) verstehen sich Me und Myself noch prächtig. Sie sind die besten Spielgefährten, auch wenn sie durch ihr ständiges murmelndes Zwiegespräch für einige witzige Szenen und nicht wenig Kummer bei den erschreckten Eltern sorgen. Mit der Zeit gewöhnen sich Me und Myself daran, ihre Unterhaltungen im Stillen für sich zu führen. Ihre Ausbildung verläuft dank der Belesenheit von Myself reibungslos und sie beginnen bei einer Zeitung zu arbeiten. Doch bald meldet sich Me vehement zu Wort, den es nach Geld, Ruhm und sexuellen Eroberungen dürstet. Er gewinnt die Oberhand über Myself und beginnt seine Ziele rücksichtslos und konsequent anzugehen. Und zunächst stellt sich der persönliche Erfolg auch ein, je mehr es ihm gelingt, die moralischen Bedenken Myselfs in den Hin tergrund zu verdrängen. Er heiratet eine wohlhabende Frau, bekommt einen Sohn und gründet mit ihr eine kleine Firma. Aber mit dem zunehmenden Erfolg werden auch die Ansprüche von Me immer größer. Schließlich gelingt es ihm, Myself ganz zu vertreiben. Nun brummt das Geschäft. Ah-Hui ent wickelt sich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann, der sich eine Geliebte hält, für die er dann auch seine Frau verlässt. Neue Mätressen und Laster kommen hinzu. Doch der rasche Aufstieg wird schließlich durch einen umso tieferen Fall abgelöst. Schon bald findet sich der gänzlich von Myself ver lassene Me völlig mittellos in einem Rattenloch wieder. Seine Eltern sind tot, weder seine erste Frau noch sein Sohn wollen noch etwas mit ihm zu tun haben. Schwer gezeichnet an Körper und Seele, beginnt er einen Brief an sein verlorenes, anderes Ich, an Myself zu schreiben, um reinen Tisch zu machen. 16 Schonungslos deckt er dem Verschollenen seine Verfehlungen auf, sowie seinen letzten, innigsten Wunsch: dass Myself zu ihm zurückkommen möge. Yeng Pway Ngon erfindet mit diesem Buch eine ganz neue Form des Erzählens: den inneren Monolog als Streitgespräch. Trivialities About Me and Myself ist ein unerbittlicher Seelenstriptease vor einem Ich, das letztlich ein anderer ist. Publikationen Trivialities About Me and Myself. Roman, Epigram Books, Singapur 2014, 300 Seiten Preise National Book Development Council of Singapore‘s Book Award 1988 Cultural Medallion 2003 Singapore Literature Prize 2004, 2008, 2012 Southeast Asian Write Award 2013 17 Der Slam-Poet Marc Nair hat seit seinem Debüt mit Along the Yellow Line von 2007 fünf weitere Bücher mit Gedichten und Auszügen aus seinem Bühnenmaterial veröffentlicht – darunter ein Band mit Foto-Haikus. Zwei seiner Gedichtsammlungen hat er zusammen mit der Gruppe Neon & Wonder als Spoken-Word-Alben vertont. Er vertrat sein Heimatland auf dem World Event of Young Artists, das 2012 in Nottingham stattfand. Obwohl noch keines seiner Bücher in deutscher Übersetzung vorliegt, war er doch schon auf der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ (Herbst 2015) vertreten. Die Kritikerin Katharina Borchardt empfiehlt seine Gedichte zur Übersetzung mit der Begründung: „Kraftvolle Prosagedichte, drängend und heutig, grundiert von einer feinen, unstillbaren Sehnsucht.“ Marc Nair The Poet of Unlove 18 The Poet of Unlove Die Gedichte Marc Nairs aus dem Band The Poet of Unlove leben durch maximal große künstlerische Freiheit. Als Per formancekünstler und Slam-Poet, der in englischer Sprache dichtet, hat Marc Nair denkbar wenig gemein mit den klassischen Ikonen asiatischer Dichtkunst, die höchstens als augenzwinkernder Verweis hier und da eingestreut werden (s. u.: The Language Hospital). Seine Verse suchen nicht nach einer abgele genen Pagode, in der sie still erklingen können; es sind keine Strophen, die eine besondere Stimmung äußerster Aufmerksamkeit verlangen, um zu funktionieren oder andernfalls ungehört zu verklingen: Nairs Reimeinfälle, Wortsprünge, Ideenwirbel sind offensiv, sprechen unmittelbar und laut zum Leser. Sie leben vom verqueren Witz, sind direkt, umstandslos und gerade deshalb mitreißend, ein „adrenalin shot of pure alphabet“. Wie jede gute SlamPoesie, die als Performance gedacht werden muss, legen es Nairs Texte darauf an, das Publikum zu überwältigen mit einem Mix aus Pop und Romantik, mit Wortspielgeklingel und absurden Referenzen. Deshalb finden sich hier so skurrile Themen wie ein Gedicht über einen Pizzabäcker in Laos, der feier wütigen Backpackern Marihuana auf die Pizza legt, eine Liga der Bartträger (Beard Liberation Front), die sich mit so illustren Mitgliedern wie Sokrates, Hemingway, Chuck Norris und dem Weihnachtsmann schmücken kann, oder der Kirche des heiligen Kopismus, deren Heilslehre darin besteht, Raub kopien im Internet zu „teilen“. Solche wohl jedem Leser zwischen 20 und 40 auf der ganzen Welt zugängliche Themen der globalen Popkultur, die einen nicht geringen Teil aller Slam-Poesie ausmachen, stellt Marc Nair jedoch auch noch einige wunderschöne Liebesgedichte zur Seite. Wie zum Beispiel das Gedicht I See You, das mit den Worten beginnt: „There are questions I try to answer in your skin. They curl within silence on days we do not meet.“ Auch hier erweist sich Marc Nair als schlagfertiger und gewitzter Autor, dessen Verse gleichzeitig eine verborgene Melancholie durchscheinen lassen, die mit dem feinen Humor dieses Autors durchmengt ist. Es scheint, als habe er sich das Gargoyle (das „Wasserspeierische“) aus dem gleichnamigen Gedicht behalten und zum Bildgeber seiner Poesie gemacht: „Gargoyle: the secret language of kids who couldn’t fit in.“ Seine Leser, die wahrscheinlich auch des Gargoyle mächtig sind, werden sich wiedererkannt fühlen und sich gerne von diesem so unkonventionellen Dichter der Unliebe in sein language hospital schicken lassen: 19 I. The Language Hospital Are you always reduced to silence? Do you suffer from diseases of the letter? If you get into a word-related accident Do you know where to go for help? Sometimes we all have to visit the language hospital The doctors are poets, and the nurses, well the nurses will be their Muses. Because if poets are physicians of language, they should get paid for all the ironic incisions, blank verse bandages and parodic prescriptions of words they provide. […] At the language hospital, there are procedures to remove tumours of words turned into themselves, diseased and ugly; throbbing from badly used tenses or bloated syntax. There are rooms to treat occasions Like promotions and births; where newborn linguists raise constant cries as unpublished poets take notes. […] When your condition has been stabilized And word-rate is back to normal, we test reflexes by making you write a haiku about the frogs in the pond outside. 20 II. The Poet of Unlove I am the poet of unlove. I wear shades on blind dates. I call you only by your surname. I describe your beauty inappropriately; […] I quote stats not the stars in your eyes. I am into the shape of your assets, financial, not physical. I almost always travel alone. Because I sleep with a stuffed animal. I am the poet of unlove. I live with my parents. […] My tweets are too short for you to think I can commit to long form, my blog posts can be read under a minute. I like you to get in and out of my site quickly. Don’t leave a comment; I’d rather wake up to spam the next morning. In my poems, There is only me, like a TV dinner without the TV. You are on the doorstep ringing the bell, waiting to surprise, Because you believe home is where the heart is, but I, I am never home. Publikationen The Poet of Unlove. Spoken Word, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2015 Along the Yellow Line. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2007 Chai. Reisegedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2010 After Class. Photohaikus, Blurb Self-Publishing, San Francisco 2011 Postal Code. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2013 Animal City. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2014 21 Bildrechte Impressum Die Bildrechte der Cover liegen bei Redaktion: Anita Djafari den Verlagen. Die Verlage zu den Mitarbeit: Joscha Hekele einzelnen Titeln sind wie folgend: Texte: Achim Stanislawski Textauswahl: Litprom Ministry of Moral Panic: in Zusammenarbeit mit dem Epigram Books National Arts Council of Singapore. The Beating and other stories: Gestaltung: textgrafik.com Ethos Books Confrontation: Weitere Informationen unter Epigram Books www.litprom.de Trivialities About Me and Myself: Epigram Books Bei Interesse richten Sie Ihre Anfrage The Poet of Unlove: bitte an [email protected] Red Wheelbarrow Books © LITPROM Porträts Oktober 2015 Amanda Lee Koe: © Kirsten Tan Dave Chua: © Dave Chua Marc Nair: © Marc Nair Mohamed Latiff Mohamed und Yeng Pway Ngon: © Mindy Tan für Epigram Books