Amanda Lee Koe Dave Chua Mohamed Latiff Mohamed

Transcrição

Amanda Lee Koe Dave Chua Mohamed Latiff Mohamed
2015
Moderne Literatur
aus Singapur
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Amanda Lee Koe
Dave Chua
Mohamed Latiff
Mohamed
Yeng Pway Ngon
Marc Nair
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Moderne Literatur
aus Singapur
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Vorwort2
Litprom
Amanda Lee Koe
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Ministry of Moral Panic
Dave Chua
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The Beating and Other Stories
Mohamed Latiff Mohamed
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Confrontation
Yeng Pway Ngon
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Trivialities About Me and Myself
Marc Nair
The Poet of Unlove
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Singapur ist seit jeher ein Transitland der Moderne. Obwohl vergleichsweise
klein bemessen an Fläche und Bevölkerung, spielt Singapur doch schon
immer eine tragende Rolle im Austausch von materiellen und nicht zuletzt
immateri­ellen Gütern zwischen Ostasien und den Partnern auf dem ganzen
Globus. Diese prominente Position spiegelt sich auch in der Literatur dieses
einzigartigen Kulturraums wider, in dem vier asiatische Sprachen gesprochen
werden, dessen Verkehrssprache jedoch das Englische ist.
Die fünf in dieser Zusammenstellung vorgestellten Autorinnen und Autoren
präsentieren Singapur als eine dynamische Buchnation, deren Selbstverständnis sich aus ihrer weltwärts gewandten Geschichte und Gegenwart speist.
Während der malaiisch-stämmige Autor Mohamed Latiff Mohamed in sei-
nem Roman Confrontation an den von ethnischen Konflikten überschatteten
Prozess der Entkolonisierung zu Beginn der 1960er Jahre erinnert und uns
die Entstehung dieser Nation aus der Sicht eines gleichsam mit ihr heran­
wach­senden Jungen präsentiert, stehen die Autorin Amanda Lee Koe und der
Slam-Poet Marc Nair für eine junge, kosmopolite Generation von Literaten,
deren Texte in Sprachgestus und Sujet einen Mix aus dem spezifisch singa­
purischen Erbe und dem starken Einfluss zeitgenössischer amerikanischer
Literatur aufweisen. Auch die meisterhaften Kurzgeschichten Dave Chuas
nehmen deutlich Anleihen bei den angelsächsischen Meistern des knappen
Erzählens, zeugen aber mit subtilen Anspielungen auch von der Melancholie
und der allgegenwärtigen Entfremdung von Menschen, die unter einem
besonders ausgeprägten Konformitätsdruck stehen. Schließlich zeigt Yeng
Pway Ngons Text, ein avantgardistischer innerer Monolog als Streitgespräch,
dass die Romankunst durch formale Experimente auch noch im 21. Jahr­
hundert neue Wege entdecken kann. Wir laden Sie ein, mit unserer Auswahl
auf Entdeckungsreise zu gehen.
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Informationen unter www.litprom.de/aktuelles
Ansprechpartnerin bei Litprom ist Anita Djafari: [email protected] oder
Tel. 069 2102-113.
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Die Auswahl moderner Literatur aus Singapur präsentiert Litprom in
Zusammenarbeit mit dem National Arts Council of Singapore.
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Vorwort
Litprom
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Zahlreiche von Amanda Lee Koes
Kurzgeschichten sind bereits vor der
Veröffentlichung der Sammlung
Ministry of Moral Panic in Magazinen
in Hong Kong, den USA und Deutschland (in: Der Greif ) erschienen. Sie
arbeitet als Herausgeberin ihres
eigenen Literaturjournals Ceriph , für
das Designstudio StudioKelaido sowie
als Literaturredakteurin für den
Esquire und weitere Magazine. 2013
war sie Honorary Fellow des Iowa
International Writing Program. Die im
gleichen Jahr erschienene Kurzgeschichtensammlung Ministry of Moral
Panic erhielt 2014 den Singapore
Literature Prize for English Fiction.
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Amanda Lee Koe
Ministry of Moral Panic
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Ministry of Moral Panic
Das Wappentier des Stadtstaates Singapur ist der sogenannte Merlion, ein hybrides Wesen mit dem Kopf eines
Löwen und dem Körper eines Fisches. Der „mystische“
Merlion, dieses verzerrte, hochgradig paradoxe Fabeltier, soll
sowohl an das alte Fischerdorf, das Singapur vor einigen
Jahrhunderten noch war, sowie an die Bedeutung des alten
Namens Singapura (Löwentor) erinnern. Doch der Merlion ist kein uraltes
Fabeltier, er entspringt keiner der drei dominierenden Kulturen des Insel­
reiches, weder der chinesischen noch der malaiischen oder indischen: Der
Merlion ist ein sehr modernes Phantasieprodukt. Er wurde 1964 von einem
Mitglied des singapurischen Souvenirkomitees erdacht und ist als einge­
tragene Marke durch ein streng gehandhabtes Copyright geschützt. Nur an
einem ganz bestimmten Ort wie Singapur können sich krude Phantasie und
Pragmatismus auf eine Weise vermengen, dass so etwas absurd Schönes
wie der Merlion überhaupt entstehen kann.
Auch die fantastischen Kurzgeschichten der jungen Starautorin Amanda
Lee Koe haben etwas von der wunderbaren Verschrobenheit des Merlion,
doch nicht in dem Sinne, den die Tourismusbehörde Singapurs ihrem Maskottchen gerne beilegen würde. Das „Merlionsche“, also mithin auch Singapu­
rische an Amanda Lee Koes Geschichten besteht gerade in dem Spiel mit der
grotesken Schönheit einer einprägsamen, aber völlig schiefen Bildsprache.
Genau wie der hybride Meerlöwe scheinen auch ihre Geschichten aus mehreren, einander ausschließenden Welten zugleich zu stammen. Dazu macht sie
das wunder­bar Schiefe zum ästhetischen Schatz ihrer rührenden Geschichten
um Außenseiter, Querköpfe, Queer-Bodys, die sich durch eine verrutschte
Welt bewegen müssen. Ein Pärchen, sie ein Fan der 1920er Mode, er ein Austauschstudent mit bärenhafter Physiognomie, fassen den Beschluss, in ihren
Rendezvous alle Parks der Insel abzuklappern; ein Mann trifft in einer Bar
einen Transsexuellen, den er als Junge gedemütigt hatte, und lässt sich von
ihm abschleppen; eine Kellnerin bedient einen alternden Serienstar, in den
sie als kleines Mädchen verliebt war, und am nächsten Morgen wird er tot in
seinem Bett aufgefunden.
Nicht von ungefähr erinnern diese fehlgeschlagenen Liebesgeschichten an
die schwer fassliche Romantik zeitgenössischer Autorinnen wie Miranda July,
die Amanda Lee Koe selbst als eine große Inspiration für ihr eigenes Schreiben
nennt. Sie selbst hat die Herangehensweise, nach der sie Kurzgeschichten
schreibt, in einem Interview auch einmal mit einem Motto zusammengefasst,
das sie von Susan Sontag geliehen hat: „Talking like touching. Writing like
punching somebody.“
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Und tatsächlich wirken ihre Kurzgeschichten wie ein Schlag. Aber nicht wie
ein brutaler Schlag ins Gesicht, sondern wie ein Herztreffer, ein Blattschuss,
ein wilder Hieb, der den Zentralmuskel des Gefühls aus dem Takt bringt.
Amanda Lee Koe ist die mit einem berückenden schriftstellerischen Talent
ausgestattete Vorkämpferin einer neuen Generation Singapurischer Autoren,
deren Geschichten so kosmopolit und mutig „merlion“ sind wie offenbar ihre
eigene Lebenseinstellung.
Textauszug
Every Park on This Island
Bukit Timah Hill
The Bear says: We had a forest in our backyard. It caught fire one summer.
The Bear says: I never finished exploring it.
The Bear says: Well, what I mean is it was eleven acres.
He’d asked, casually, if we had nature trails here in Singapore. I said we
could try Bukit Timah Hill, and then I realised I’d asked him out, but right
before I froze up he said, Sure. Looking for directions there, I come across a
factoid: that it is the highest point on this island, at an altitude of 163.63
metres. It makes me feel funny, because when I imagine the word altitude, I
imagine thin air, the need to acclimatise.
He opens up his bag—knapsack, he says—and takes out a Ziploc.
For you. Trail mix.
It’s a mixture of almonds, raisins, peanuts, M&Ms and granola, and some­
how I think it’s the sweetest thing ever.
We sit on the root of a tree sharing the trail mix, watching fat red ants go
by. He tells me that on his boyhood nature trails in Pennsylvania, they would
see white-tailed deer and red foxes. A small chameleon appears and crosses
in front of us slowly, like some sort of visual cue or subtitle. I find myself
laugh­ing. Somehow he gets it, and laughs too, a deep, throaty laugh.
I’ve never made a special trip to any park or hill in Singapore, I say as
we part at the bus stop. I sure can tell, he says. Which girl would wear stuff
like that to hike? The Bear points to my vintage T-straps, my sweetheartneckline sundress.
Hike? When the hill is less than two hundred metres tall and the routes
are all paved? I say. I must take you to Fort Canning Park one day—there’s an
escalator built into the side of the hill, can you imagine that?
How about, he says, We go to every park on this island.
Every park on this island?
Every park on this island.
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Clementi Woods
When I get home to my tenth floor flat in Clementi Woods, I boot my lap­
top up. On this island that calls itself a garden city, there are twelve city and
heritage parks, thirteen community parks, six coastal parks, five southern
ridge parks, six nature parks, four nature reserves, seven riverine parks, the
Botanic Gardens, the Zoological Gardens, and the Gardens by the Bay. I draw
up a map, mark them all out, and pin it to the corkboard above my desk.
Over dinner, I ask my parents for the land area of our flat. Land area, of
our tenth floor flat, the same strange rhythm as “an altitude of 163.63 met­
res”. It makes me feel, all of a sudden, that all these years I have been wal­
king on air, that each block of flats is a soufflé of sorts. All the air that passes
through windows, balconies, open doors: we’re layered atop one another,
whipped into a social dough. The Cantopop karaoke beat from not one, but
three floors down, the smell of rendang curry from the adjacent kitchen
window of a Malay family.
About seven hundred square feet, my mother says. Why? I don’t answer
her. I do an online conversion. 700 square feet = 0.0160697888 acres.
Singapore Zoological Gardens
My parents like to tell this story, of me crying over bears when I was a kid.
Bears had been my favourite animal. I had books with big brown bears,
who had little potbellies and ate honey out of jars, who stood upright. I had
a stuffed teddy bear I slept next to at night.
When we went to the zoo for the first time, I was beside myself with ex­cite­ment. I ignored everything else we passed—flamingos, golden tamarins,
zebras, lions. We got to the sun bear enclosure and my father lifted me up
under the arms for a better look.
It was not large, nor brown, nor furry. It reminded me of the dark spots
on the skin of an overripe banana, and I began to cry.
When I first saw the Bear, I went right up behind him. He was standing
by the vending machine outside a lecture theatre on campus, frowning. He
was very tall; big-boned and pudgy, with a paunch showing slightly under
his black t-shirt, and soft, wavy honey brown hair just past his shoulders.
I couldn’t figure out what it was about him—there were better looking
white boys on the exchange programme and local boys around that I’d never
stopped to stare at—but there I was right behind him, and then I realised I’d
found my picturebook bear.
He turned around. Tough luck, he muttered, shrugging. The vending
machine had eaten his coins without dispensing his item. He was walking
away.
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I kicked the vending machine—perhaps that was the first time I’d kicked
anything my whole life. The packet of M&Ms fell into the dispenser gutter.
He turned back and I was ready to hand it over to him. I could feel my face
shining.
Thanks, he said. He didn’t look impressed. For a moment he looked as if
he was going to walk away again, then he told me his name. I won’t say it,
because to me he will forever simply be the Bear.
I told him my name back, a Chinese name, and he said right away, I’m
going to have to give you a new name, girl.
I stared dumbly back at him.
The Bear said: Besides the fact that I’ll never be able to pronounce it, it’s
soft and . . . gospel. You need something more hard-hitting if you don’t
want to blend in with the wallpaper.
He turned to me, checking—You don’t, right? I knew I had always been
a wallpaper type of girl, I was quiet and if I stood out it was only because
the other girls thought I was weird in my vintage dresses and shoes and my
significant (if useless) knowledge of Pre-Code Hollywood—I might be
wrong but maybe only certain types of girls can pull off vintage, one of
them had said to her posse as I walked past them once.
The Bear was snapping his fingers.
Sledgehammer, he said.
I loved it. It was time for me to say something, and I thought it through,
and pushed my spectacles up my nose bridge and inhaled before I said it:
You talk like the movies.
The Bear grinned wildly at me, with large white teeth. He opened the
packet of M&Ms and gave me a red one, himself a blue.
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Publikationen
Ministry of Moral Panic. Kurzgeschichten, Epigram Books, Singapur 2014,
210 Seiten.
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Preise
Singapore Literature Fiction Prize for English Literature 2014
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Der 1970 in Malaysia geborene
und als Kind nach Singapur emigrierte Dave Chua wurde bereits
durch seinen 1995 veröffentlichten
Debütroman Gone Chase zu einem
Star der Literaturszene Singapurs.
Nach einem Studium der Computerwissenschaften in Berkeley wendete
er sich dem Schreiben zu. Für seine
Kurzgeschichte Father’s Gift , die
später überarbeitet unter dem Titel
The Beating erschien, erhielt er
den Golden Point Award, Singa­p urs
wichtigsten Literaturpreis, in der
Kategorie Kurzgeschichte.
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Dave Chua
The Beating and Other Stories
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The Beating and Other Stories
Eine technisch sehr anspruchsvolle, dabei aber ungemein
wirkungsvolle Methode, um eine gute Kurzgeschichte
zu schreiben, besteht darin, im Erzählstil sich wie ein Verhaltensforscher zu geben: kein Wort zu viel zu schreiben, nur
das zu beschreiben, was man auch wirklich beobachten kann,
Mutmaßungen über Intentionen zu unterlassen und vor
allem keine rhetorischen Kniffe anzuwenden, die üblicherweise eine Einfühlung des Lesers in die Figuren forcieren sollen. Die reine Schilderung der
Ereignisfolge kann, wenn sich der Autor auf diesen Schreibstil versteht, eine
unwider­stehliche Sogwirkung entfalten, da der Leser automatisch in der
scheinbar glatten Oberfläche der Schilderungen nach tieferen Bedeutungen
zu suchen beginnt – und dabei auf eine nie ganz zufriedenstellende Weise
fündig wird. Was dann bleibt, ist ein langer Nachklang, sind Geschichten, die
wirken, gerade weil sie sehr alltägliche Begebenheiten schildern.
David Chua ist ein Meister dieser speziellen Erzählweise, die seine Leser
sofort an den amerikanischen Großmeister der Short Story, Raymond Carver,
denken lässt. Chuas von einer tiefen, ihnen selbst verschlossenen Melancholie
geprägten Charaktere bewegen sich orientierungslos durch seine sparsam
erzählten Geschichten. Es sind meist Menschen in den mittleren Jahren, die
sich von ihrer Liebe, von einem festgefahrenen Lebensweg, ja von sich selbst
entfremdet haben, für die es aber zu spät ist, im Trotz aufzubegehren: Ihre
Konflikte sind eingefroren, und sie selbst sind nicht mehr in der Lage, diese
anzugehen. Die Melancholie, dieses universelle Menschheitsgefühl, schleicht
sich ein in jede ihrer noch so alltäglichen Handlungen, macht sie stumpf und
selbst da, wo sie aktiv werden wollen, zu Personen, denen ihr eigenes Tun eher
widerfährt, als dass es sie auszeichnet. Hier werden keine zu engen Häute
abgestreift, keine Metamorphosen vollzogen. Chua stellt mit seiner Kunst
dem Hochglanznarrativ der modernen Gesellschaft, wonach man sich immer
wieder neu erfinden kann und muss, eine einzelne, aber pointierte Beobachtung gegenüber: Es ist unmöglich sich immerzu zu verändern, mit der Zeit
mögen zwar alle Verwundungen verheilen, allein die Narben bleiben ein Leben
lang und legen einen Schatten darüber.
Solche Charaktere können nicht Protagonisten wahnwitziger Ereignisse
sein, die „unerhörte Begebenheit“, die Goethe für seine Novellen für so essentiell hielt, kann deshalb in Chuas Geschichten nur ausbleiben. Auch wenn
sich manch einer der Protagonisten wohl heimlich nach einem wundersamen
Eingriff des Schicksals sehnt. Aber gerade deshalb rücken sie dem Leser so
nah: Fast unmerklich stellt sich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit den
geschilderten Figuren ein.
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Da sind zum Beispiel die beiden Geschwister aus The Beating, die einen
despotischen Vater zu Grabe tragen müssen und auf der Totenfeier verzweifelt darum ringen, mit ihm abschließen zu können. Da ist die ältere Dame
in The Man Who Came Alone to Eat, die, weil die über alles geliebte Tochter
ausge­zogen ist, einen Job als Kellnerin annimmt und eine Sympathie für einen
Mann entwickelt, der immer alleine das Restaurant besucht. Es sind diese
Geschichten aus dem Alltag, mit denen der Autor uns rührt, weil kein Satz,
kein Bild, keine einzige beschreibende Notiz in seiner perfekten Prosa überflüssig ist.
Und selbst wenn ein besonderes Ereignis wie der Tsunami in Thailand,
der in The Drowning den Sohn eines älteren Ehepaares das Leben kostet, eine
Geschichte in Gang setzt, so ist es doch nur der Katalysator für das eigent­
liche Drama, das sich zwischen den beiden voneinander entfremdeten Ehe­
leuten abspielt. Voller Angst reisen sie an den Unglücksort, suchen vergeblich
nach ihrem Sohn und müssen sich spätestens jetzt eingestehen, dass mit
ihm auch das Fundament ihrer Beziehung vom Wasser fortgerissen wurde.
Wie Chua die doppelte existenzielle und gleichzeitig völlig banale Verlorenheit
dieser beiden gebrochenen Menschen darstellt, das ist ganz einfach meister­
liche Erzählkunst:
„Where do we start?, Mr. Chan says. He goes around asking the staff.
He queues up, not knowing what the queues are for.“
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Publikationen
The Beating and Other Stories. Kurzgeschichten, Ethos Books, Singapur 2011,
210 Seiten.
Gone Chase. Roman, SNP Pub, Singapur 1996, 153 Seiten (neu erschienen
bei Ethos Books, Singapur 2002, 140 Seiten)
Gone Chase 1 + 2. Graphic Novel (mit Koh Hong Teng) 2010 u. 2011
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TV-Produktionen
Tomato Twins, 1986
Achar!, 2004–2005
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Preise
Singapore Literature Prize Commendation Award 1996
Singapore Screenplay Award 2001
Singapore Press Holdings-National Arts Council Golden Point Award 1995
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Mohamed Latiff Mohamed wurde
1950 in Singapur geboren und gilt als
eine der einflussreichsten Stimmen
in der malaiischen Literaturszene.
Sein Werk umfasst sowohl Lyrik als
auch Prosa und kreist insbesondere
um die Marginalisierung und Diskriminierung der malaiischen Minderheit
im postkolonialen Singapur. Trotz
eindeutiger historischer und geo­
grafischer Bezüge bewegt sich sein
Schreiben doch stets entlang universeller Fragen nach Identität, Zuge­
hörigkeit und den Wunden einer nicht
überwundenen Geschichte. Sein
Werk hat auch in den Nachbarländern
Malaysia und Indonesien große Anerkennung gefunden und wurde mit
zahlreichen internationalen Preisen
ausgezeichnet.
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Mohamed Latiff Mohamed
Confrontation
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Confrontation
Der Roman erzählt aus der Perspektive des jungen Adi, der
in einem kleinen Dorf auf der Hauptinsel Singapurs aufwächst, vor der Umbruchszeit der 1960er Jahre, die letztlich
zur Unabhängigkeit der englischen Kolonie führte. Das überschaubare Leben im ärmlichen Kampung (malaiisch: Dorf)
Adis mit seinen kleinen und großen Tragödien spielt sich rund
um einen großen Banyan-Baum ab, dessen prächtige Krone die Ortschaft
beherrscht. Immer wieder steigt der junge Adi auf diesen als verwunschen
geltenden Baum, um von dort aus das brodelnde Durcheinander seiner von
einer Vielzahl tragikomischer Charaktere bewohnten Nachbarschaft zu überblicken: Da ist die alkoholabhängige Gelegenheitsprostituierte Kak Salmah,
die ihre Frustration an ihrer Tochter auslässt, der greise Chinese Tong San,
dessen Frau trotzdem jedes Jahr ein Kind bekommt, die fremde Ehemänner
verführende Bibi sowie der gebildete, kunstsinnige, aber arbeitslose Abang
Dolah, der für Adi zu einer Art Ersatz für den eigenen spielsüchtigen und verantwortungslosen Vater wird.
Adi selbst ist ein neugieriges Kind, das mit einer Bande von Freunden um
die Häuser zieht, sich in Filmvorführungen schleicht und auch schon einmal
Töpfe und Pfannen aus den Hinterhöfen der Reichenviertel klaut, um das
Haushaltsgeld seiner Mutter aufzubessern. Diese wird von Adis Vater regelmäßig im Stich gelassen und muss sich zudem um eine behinderte Adoptivtochter kümmern. Das alltägliche Leben ist von Armut und unverdrossener
Lebenslust, von immer wieder aufflackernden Bandenkriegen und gleichzeitig
von großer Solidarität auch zwischen den unterschiedlichen Ethnien geprägt.
Chinesen, Malaien, Inder und Tamilen leben Seite an Seite.
Adi selbst führt ein Leben zwischen Schule und Jungenstreichen. Doch
aufgrund der Enge im Armenviertel seines Dorfes wird er auch öfter als ihm
lieb ist Zeuge des von der Armut ausgelösten psychischen Elends der Menschen um ihn herum. Aber genauso häufig ist er auch Zaungast bei den vielen
komischen Episoden, die sich im alltäglichen Miteinander so vieler eigen­
williger Charaktere fast schon zwangsläufig ergeben müssen. Solchermaßen
nimmt das Leben seinen Gang, bis es eines Tages zur Titel gebenden Kon­
frontation kommt.
Als die weltweiten Entkolonialisierungsbemühungen nach Südostasien
schwappen, strebt auch das für den Seehandel so zentrale Singapur nach
Unabhängigkeit. Der Geist der Emanzipation und der Wunsch nach politischer
Teilhabe, vor allem verkörpert durch den zum politischen Aktivisten gewordenen Aband Dolah, erfasst Adis Kampung. Er selbst hat die Aufnahmeprüfung
zur weiterführenden Schule bestanden und beginnt sich für die malaiische
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Literatur zu interessieren. Wie viele andere träumt auch er von einem Zu­sam­
menschluss Singapurs und weiterer Inselreiche zu einem Großmalaysia, das
nach der ersten allgemeinen Wahl Singapurs im Jahr 1962 in greifbare Nähe
gerückt war. Doch die Hoffnung auf einen Verbleib Singapurs im politisch neu
entstehenden Malaysia währte nur kurz. Die nach der Wahl aufflammenden
ethnischen Konflikte zwischen der chinesisch-stämmigen Bevölkerung und
den übrigen Ethnien auf dem Gebiet der Insel Singapur führte nur zwei Jahre
nach der Wahl zur Abspaltung von Malaysia, wodurch der Stadtstaat Singapur
in seiner heutigen Form entstand. Diese historische Zäsur hat Mohamed
Latiff Mohamed in einem Interview als eine persönliche Tragödie beschrieben.
Confrontation ist nicht nur ein Portrait der untergegangenen Welt des
kleinen Kampung, sondern auch eine Geschichte über antikoloniale Hoffnung
und deren Zusammenbruch. Im Schicksal der kleinen Leute aus Adis Dorf
spiegelt sich eine ganze Epoche, die an den politischen Ränken nach der Entkolonialisierung zerbricht. Das Rad der Geschichte dreht sich (wie immer)
losgelöst von den bescheidenen Hoffnungen der kleinen Leute und bestimmt
dennoch ihr Leben bis ins kleinste Detail.
Mohamed Latiff Mohamed zeigt sich in diesem Buch als engagierter Literat,
dessen Kunst im Kleinen von den Wunden der Geschichte zu berichten weiß.
Er erinnert daran, dass das politisch einmalige Konstrukt des Stadt­staates
Singapur nicht nur aus seiner wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte besteht. Denn
gebaut ist dieser eigenartige Zwitter auf einem für ihn noch immer nicht überwundenen Konflikt, über dem durch die Entkolonialisierung nicht ein­gelösten
Wunsch der malaiischen Bevölkerung nach einer eigenen Identität.
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Publikationen
Confrontation. Roman, Epigram Books, Singapur 2013, 220 Seiten
The Widower. Roman, Epigram Books, Singapur 2015, 140 Seiten
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Preise
Montblanc-NUS Centre for the Arts Literary Award 1998
Southeast Asian Write Award 2002
Tun Seri Lananag Award 2003
Singapore Literature Prize 2004, 2006, 2008
National Arts Council Special Recognition Award 2009
Cultural Medallion 2013
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Yeng Pway Ngon (*1947) zählt zu den
renommiertesten und vielseitigsten
Autoren Singapurs. Sein auf Chinesisch verfasstes Œuvre umfasst mehr
als 25 Titel. Er ist sowohl als Dichter,
Romancier und Essayist wie auch als
Autor von Schauspielen und Kritiken
in Erscheinung getreten. Bereits dreimal gewann er den Singapore Literature Prize und erhielt aufgrund seiner
Verdienste für die Literatur seines
Landes die Cultural Medallion. Sein
Roman Trivialities About Me and
My­­self wurde im Jahr seines Erscheinens 2006 von dem Asiaweek Magazin (Hong Kong) auf die Liste der
10 besten chinesisch-sprachigen Neu­
erscheinungen gewählt.
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Yeng Pway Ngon
Trivialities About Me and Myself
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Trivialities About Me and Myself
Dies ist ein äußerst ungewöhnlicher Roman. Das Setting
scheint altbekannt: Ein alter Mann verliert durch seine eigene
Gier und Maßlosigkeit sein Vermögen, seine Liebe und seine
Gesundheit. Schließlich ganz unten angekommen, setzt er
sich, ähnlich wie Becketts Krapp, hin, um in einem endlosen
inneren Monolog vor sich selbst Rechenschaft über sein
gescheitertes Leben abzulegen.
Doch Ah-hui, so der Name des Alten, erzählt die Geschichte seines Lebens
nicht einem Tonband oder einer abwesenden Geliebten, nicht einmal dem
Surrogat-Gegenüber Papier, das ja mit jedem noch so großen Unhold geduldig
ist, sondern er erzählt diese Geschichte sich selbst. Oder genauer: Er rechtfertigt sich vor seinem zweiten Ich, das er Myself nennt. Denn in Ah-huis Brust
leben seit seinen Kindheitstagen zwei Seelen: Die eine, die er Me nennt, ist
ein von Egoismus und Leidenschaften beherrschter Mensch, dem schneller
Erfolg und exzessiver Genuss über alles geht. Der zweite Seelenanteil ist die
mora­lische, mahnende Stimme in seinem Kopf, eben jener Myself, der in ständigem Widerstreit mit diesem Me steht. Als Kind(er) verstehen sich Me und
Myself noch prächtig. Sie sind die besten Spielgefährten, auch wenn sie durch
ihr ständiges murmelndes Zwiegespräch für einige witzige Szenen und nicht
wenig Kummer bei den erschreckten Eltern sorgen. Mit der Zeit gewöhnen
sich Me und Myself daran, ihre Unterhaltungen im Stillen für sich zu führen.
Ihre Ausbildung verläuft dank der Belesenheit von Myself reibungslos und sie
begin­nen bei einer Zeitung zu arbeiten. Doch bald meldet sich Me vehement
zu Wort, den es nach Geld, Ruhm und sexuellen Eroberungen dürstet. Er
gewinnt die Oberhand über Myself und beginnt seine Ziele rücksichtslos und
konsequent anzugehen. Und zunächst stellt sich der persönliche Erfolg auch
ein, je mehr es ihm gelingt, die moralischen Bedenken Myselfs in den Hin­
tergrund zu verdrängen. Er heiratet eine wohlhabende Frau, bekommt einen
Sohn und gründet mit ihr eine kleine Firma. Aber mit dem zunehmenden
Erfolg werden auch die Ansprüche von Me immer größer. Schließlich gelingt
es ihm, Myself ganz zu vertreiben. Nun brummt das Geschäft. Ah-Hui ent­
wickelt sich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann, der sich eine Geliebte
hält, für die er dann auch seine Frau verlässt. Neue Mätressen und Laster
kommen hinzu. Doch der rasche Aufstieg wird schließlich durch einen umso
tieferen Fall abgelöst. Schon bald findet sich der gänzlich von Myself ver­
lassene Me völlig mittellos in einem Rattenloch wieder. Seine Eltern sind tot,
weder seine erste Frau noch sein Sohn wollen noch etwas mit ihm zu tun
haben. Schwer gezeichnet an Körper und Seele, beginnt er einen Brief an sein
verlorenes, anderes Ich, an Myself zu schreiben, um reinen Tisch zu machen.
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Schonungslos deckt er dem Verschollenen seine Verfehlungen auf, sowie
seinen letzten, innigsten Wunsch: dass Myself zu ihm zurückkommen möge.
Yeng Pway Ngon erfindet mit diesem Buch eine ganz neue Form des
Erzählens: den inneren Monolog als Streitgespräch. Trivialities About Me and
Myself ist ein unerbittlicher Seelenstriptease vor einem Ich, das letztlich
ein anderer ist.
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Publikationen
Trivialities About Me and Myself. Roman, Epigram Books, Singapur 2014,
300 Seiten
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Preise
National Book Development Council of Singapore‘s Book Award 1988
Cultural Medallion 2003
Singapore Literature Prize 2004, 2008, 2012
Southeast Asian Write Award 2013
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Der Slam-Poet Marc Nair hat seit seinem Debüt mit Along the Yellow Line
von 2007 fünf weitere Bücher mit
Gedichten und Auszügen aus seinem
Bühnenmaterial veröffentlicht –
darunter ein Band mit Foto-Haikus.
Zwei seiner Gedichtsammlungen hat
er zusammen mit der Gruppe Neon &
Wonder als Spoken-Word-Alben vertont. Er vertrat sein Heimatland auf
dem World Event of Young Artists, das
2012 in Nottingham stattfand. Obwohl
noch keines seiner Bücher in deutscher Übersetzung vorliegt, war er
doch schon auf der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ (Herbst 2015)
vertreten. Die Kritikerin Katharina
Borchardt empfiehlt seine Gedichte
zur Übersetzung mit der Begründung:
„Kraftvolle Prosagedichte, drängend
und heutig, grundiert von einer feinen,
unstillbaren Sehnsucht.“
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Marc Nair
The Poet of Unlove
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The Poet of Unlove
Die Gedichte Marc Nairs aus dem Band The Poet of Unlove
leben durch maximal große künstlerische Freiheit. Als Per­
formancekünstler und Slam-Poet, der in englischer Sprache
dichtet, hat Marc Nair denkbar wenig gemein mit den klassischen Ikonen asiatischer Dichtkunst, die höchstens als
augenzwinkernder Verweis hier und da eingestreut werden
(s. u.: The Language Hospital). Seine Verse suchen nicht nach einer abgele­
genen Pagode, in der sie still erklingen können; es sind keine Strophen,
die eine besondere Stimmung äußerster Aufmerksamkeit verlangen, um zu
funktio­nieren oder andernfalls ungehört zu verklingen: Nairs Reimeinfälle,
Wortsprünge, Ideenwirbel sind offensiv, sprechen unmittelbar und laut zum
Leser. Sie leben vom verqueren Witz, sind direkt, umstandslos und gerade deshalb mitreißend, ein „adrenalin shot of pure alphabet“. Wie jede gute SlamPoesie, die als Performance gedacht werden muss, legen es Nairs Texte darauf
an, das Publikum zu überwältigen mit einem Mix aus Pop und Romantik, mit
Wortspielgeklingel und absurden Referenzen. Deshalb finden sich hier so
skurrile Themen wie ein Gedicht über einen Pizzabäcker in Laos, der feier­
wütigen Backpackern Marihuana auf die Pizza legt, eine Liga der Bart­träger
(Beard Liberation Front), die sich mit so illustren Mitgliedern wie Sokrates,
Hemingway, Chuck Norris und dem Weihnachtsmann schmücken kann, oder
der Kirche des heiligen Kopismus, deren Heilslehre darin besteht, Raub­
kopien im Internet zu „teilen“. Solche wohl jedem Leser zwischen 20 und 40
auf der ganzen Welt zugängliche Themen der globalen Popkultur, die einen
nicht geringen Teil aller Slam-Poesie ausmachen, stellt Marc Nair jedoch auch
noch einige wunderschöne Liebesgedichte zur Seite. Wie zum Beispiel das
Gedicht I See You, das mit den Worten beginnt: „There are questions I try to
answer in your skin. They curl within silence on days we do not meet.“
Auch hier erweist sich Marc Nair als schlagfertiger und gewitzter Autor,
dessen Verse gleichzeitig eine verborgene Melancholie durchscheinen lassen,
die mit dem feinen Humor dieses Autors durchmengt ist. Es scheint, als habe
er sich das Gargoyle (das „Wasserspeierische“) aus dem gleichnamigen
Gedicht behalten und zum Bildgeber seiner Poesie gemacht: „Gargoyle: the
secret language of kids who couldn’t fit in.“
Seine Leser, die wahrscheinlich auch des Gargoyle mächtig sind, werden
sich wiedererkannt fühlen und sich gerne von diesem so unkonventionellen
Dichter der Unliebe in sein language hospital schicken lassen:
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I. The Language Hospital
Are you always reduced to silence?
Do you suffer from diseases of the letter?
If you get into a word-related accident
Do you know where to go for help?
Sometimes
we all have to visit the language hospital
The doctors are poets, and the nurses,
well the nurses will be their Muses.
Because if poets are physicians of language,
they should get paid for all the ironic incisions,
blank verse bandages and parodic prescriptions
of words they provide.
[…]
At the language hospital,
there are procedures to remove
tumours of words turned into themselves,
diseased and ugly; throbbing from
badly used tenses or bloated syntax.
There are rooms to treat occasions
Like promotions and births; where
newborn linguists raise constant cries
as unpublished poets take notes.
[…]
When your condition has been stabilized
And word-rate is back to normal, we test reflexes
by making you write a haiku about the frogs
in the pond outside.
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II. The Poet of Unlove
I am the poet of unlove.
I wear shades on blind dates.
I call you only by your surname.
I describe your beauty inappropriately;
[…]
I quote stats not the stars in your eyes.
I am into the shape of your assets, financial,
not physical.
I almost always travel alone.
Because I sleep with a stuffed animal.
I am the poet of unlove.
I live with my parents.
[…]
My tweets are too short for you to think I can commit
to long form, my blog posts can be read under a minute.
I like you to get in and out of my site quickly.
Don’t leave a comment; I’d rather wake up to
spam the next morning.
In my poems,
There is only me, like a TV dinner without the TV.
You are on the doorstep ringing the bell, waiting to surprise,
Because you believe home is where the heart is, but I,
I am never home.
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Publikationen
The Poet of Unlove. Spoken Word, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2015
Along the Yellow Line. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2007
Chai. Reisegedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2010
After Class. Photohaikus, Blurb Self-Publishing, San Francisco 2011
Postal Code. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2013
Animal City. Gedichte, Red Wheelbarrow Books, Singapur 2014
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Bildrechte
Impressum
Die Bildrechte der Cover liegen bei
Redaktion: Anita Djafari
den Ver­lagen. Die Verlage zu den
Mitarbeit: Joscha Hekele
einzelnen Titeln sind wie folgend:
Texte: Achim Stanislawski
Textauswahl: Litprom
Ministry of Moral Panic:
in Zusammenarbeit mit dem
Epigram Books
National Arts Council of Singapore.
The Beating and other stories:
Gestaltung: textgrafik.com
Ethos Books
Confrontation:
Weitere Informationen unter
Epigram Books
www.litprom.de
Trivialities About Me and Myself:
Epigram Books
Bei Interesse richten Sie Ihre Anfrage
The Poet of Unlove:
bitte an [email protected]
Red Wheelbarrow Books
© LITPROM
Porträts
Oktober 2015
Amanda Lee Koe: © Kirsten Tan
Dave Chua: © Dave Chua
Marc Nair: © Marc Nair
Mohamed Latiff Mohamed und
Yeng Pway Ngon: © Mindy Tan
für Epigram Books
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