Hochbegabung - aus schulpsychologischer Sicht
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Hochbegabung - aus schulpsychologischer Sicht
Hochbegabung - aus schulpsychologischer Sicht Begabungsförderung ist zurzeit ein aktuelles Thema, bzw. deren Umsetzung wird diskutiert und geplant. Dabei besteht die Gefahr, dass die Hochbegabten „vergessen“ gehen. Vielleicht ist dies Ausdruck einer Haltung, dass diese Minderheit bereits von der Natur sehr reich beschenkt worden sei. Was soll denn die Gesellschaft noch dazu beitragen? Die Tatsache, dass eine Hochbegabung ernsthafte Schwierigkeiten mit sich bringt, wird oft zu wenig beachtet, wie obiges Zitat erahnen lässt. Über die Häufigkeit der überdurchschnittlich Begabten und der Hochbegabten herrscht in Fachkreisen Einigkeit. Die überdurchschnittlich Begabten sind jene Kinder und Jugendliche, welche im Entwicklungsstand in einem oder mehreren Bereichen den Gleichaltrigen deutlich voraus sind; dies sind ungefähr ein bis zwei pro Klasse. Von Hochbegabung ist dann die Rede, wenn Kinder und Jugendliche im Entwicklungsstand in einem oder mehreren Gebieten um ein Mehrfaches voraus sind; hochbegabten Kindern begegnet man selten, es gibt eines pro 2-3 Klassen. Diese Zahlen zeigen, dass Hochbegabtenförderung eher auf regionaler Ebene Sinn macht. Die gemeindeübergreifende Kooperation wäre für diese Kinder auch ein wichtiger Bestandteil in der Vernetzung, damit sie Gleichgesinnte kennen lernen und sich untereinander austauschen können. Hochbegabung lässt sich in verschiedenen Gebieten feststellen, es existieren beispielsweise intellektuelle, musische oder sportliche Hochbegabung. Ein sportlich hochbegabtes Kind, welches im schulischen Alltag höchstwahrscheinlich gut eingebettet ist, holt sich Herausforderungen und Erfolge in seiner Lieblingsdisziplin. Wie steht es mit dem intellektuell hochbegabten Kind? Ihm steht kein entsprechendes Gefäss in der Freizeit zur Verfügung! Zudem ist der Schulunterricht kaum in der Lage, seinen ausserordentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, wie etwa dem grossen Vorwissen, den breiten Interessen und der schnellen Auffassungsgabe gerecht zu werden. Das schulische Programm ist auf Normalbegabte mit Bedürfnis nach schrittweisem Aufbau des Stoffes und Wiederholungen ausgerichtet. Unterforderung und damit verbundene Langeweile scheinen somit ein unausweichliches Schicksal, welches mittel- und langfristig grosses Leiden verursacht! Unzählige theoretische Konstrukte wurden entwickelt, um (Hoch-)Begabung zu definieren. Weit verbreitet ist die Meinung, dass neben überdurchschnittlichen Fähigkeiten Motivation und Kreativität Grundbestandteile der (Hoch-)Begabung seien. Somit bleibt jedoch das Phänomen der Minderleistung, d. h. dass trotz hoher Intelligenz nur bescheidene Leistungen erbracht werden, völlig ungeklärt. Weiterentwickelte Ansätze schlagen deshalb vor, dass ausschliesslich die hervorragenden Fähigkeiten Hochbegabung kennzeichnen, unabhängig davon, wie die übrigen Persönlichkeitsfaktoren aussehen. Die Entfaltung beispielsweise von Aufgabenverpflichtung wird als anzustrebendes Ziel anstatt als Voraussetzung betrachtet, und somit als Aufgabe der Pädagogik und Erziehung. Das unmittelbare Umfeld spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Hochbegabung ist ein Interaktionsprodukt, in dem die intellektuellen Fähigkeiten mit der sozialen Umwelt in Wechselwirkung stehen. Wenn hochbegabte Kinder keine entsprechenden schulischen Leistungen zeigen, sollen neben den persönlichen Bedingungen, wie unangemessene Stressbewältigung, ungünstige Arbeits- und Lernstrategien oder Prüfungsangst, auch die Umweltbedingungen unter die Lupe genommen werden. Kritische Lebensereignisse, schwierige Familiensituationen oder ein belastetes Klassenklima können zum Scheitern des hochbegabten Kindes beitragen. Hochbegabung mag vielen als eine Art besonderes Privileg erscheinen. Das hochbegabte Individuum erlebt sie jedoch häufig als deutlicher Nachteil. Im Folgenden sollen einige dieser Schwierigkeiten beschrieben werden. • Hochbegabte Kinder haben eine andere Art des Denkens aber auch des Fühlens. Hochbegabte Kinder sind besonders sensibel. Sie empfinden intensiv und besitzen besondere Gefühlsantennen. Eltern berichten auch von übersensiblen Reaktionen. Hochbegabte Kinder nehmen Kränkungen sehr zu Herzen oder sie fühlen sich in ein anderes Kind dermassen ein, dass sie noch mehr leiden als das Opfer selber. Mit dieser hohen Sensibilität geht eine erhöhte Verletzbarkeit einher. • Hochbegabung ist eine Abweichung von der Norm. Es ist schmerzhaft in einer Gesellschaft anders zu sein, die Abweichungen vom Normalen angreift. Hochbegabte Kinder erleben ein Minderheitenschicksal. Sie unterscheiden sich vom durchschnittlich begabten Kind mindestens so, wie sich ein leicht geistig behindertes Kind vom Durchschnitt unterscheidet. • Durchschnittliche Leistungsziele sind für Hochbegabte bisweilen sogar schwierig zu erreichen. Ihre Stärke liegt in der unkonventionellen Weltsicht, der Fähigkeit, ganz andere Dinge auf ganz anderen Wegen zu erreichen und Sachverhalte zu begreifen, die für andere unverstehbar sind. Hochbegabte werden in der Schule oft gemassregelt, weil ihre Beteiligung für den Rest der Klasse unnütz ist und den Fluss des allgemeinbezogenen Unterrichts behindert. Der Unterricht ist auf das durchschnittliche Kind ausgerichtet. • Hochbegabte Kinder lösen mit ihrem Eifer, ihrer Intensität und den plötzlichen Umschwüngen in ihrem Verhalten bei andern starke Affektreaktionen aus. Sehr oft wird versucht, hochbegabte Kinder in die Schranken zu weisen oder sie zu bremsen. • Wenn es in einer Familie ein als hochbegabt identifiziertes Kind gibt, reagieren die andern Geschwister häufig mit Eifersucht, Ressentiment und versuchen ihm einen Dämpfer aufzusetzen, was meist schlimme Folgen hat. • Im Kontakt mit Gleichaltrigen können Schwierigkeiten entstehen, da sich das Kind als anders oder unpassend erlebt und andere Bedürfnisse hat als die meisten andern Kinder seines Alters. Das hochbegabte Kind denkt, fühlt und handelt anders als andere. Sehr oft empfindet es sich als ausgegrenzt und bekommt vielleicht das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Es hat andere Interessen und bevorzugt andere Spiele. Sehr oft sucht sich das Kind dann Gleichbefähigte als Gefährten oder bevorzugt die Freundschaft mit älteren Kindern. Gelegentlich werden hochbegabte Kinder verführt, ihre Hochbegabung zu tarnen und im „System unterzutauchen“ im Streben nach Zugehörigkeit und Gefallen wollen. Zurzeit wird im ganzen Kanton Luzern Begabungsförderung geplant, bzw. bereits umgesetzt, dabei sollen die besonderen Bedürfnisse der Hochbegabten unbedingt mitberücksichtigt werden, welche sich von denjenigen der Normalbegabten eindeutig unterscheiden. So zeigen Hochbegabte ausser dem grossen spezifischen Faktenwissen ein starkes Interesse an Kausalzusammenhängen, erhöhte Konzentrationsfähigkeit, leidenschaftliche Ausdauer, tiefe Abneigung gegen Routineaufgaben, divergente Lösungsstrategien, um nur einige Beispiele zu nennen. Damit Hochbegabte gemäss ihrem Potential leisten können, muss auf diese Besonderheiten eingegangen werden. Grundsätzlich werden zwei Arten von Hochbegabungsförderung unterschieden: Enrichment (Anreicherung) und Akzeleration (Beschleunigung). Das so genannte Enrichment im engeren Sinne meint zusätzliche, vertiefende Lernangebote. Enrichment im weiteren Sinne beinhaltet auch das Anstreben einer Unterrichtsgestaltung, die mit ihrer Differenzierung und Individualisierung der Hochbegabung entgegenkommt. Dafür muss eine ressourcenorientierte Unterrichtsentwicklung stattfinden, im Sinne offener Lernziele nach oben, was zur Folge hat, dass für Hochbegabte der Stoff mit niedrigerem Schwierigkeitsgrad wegfällt. Akzeleration ermöglicht den Kindern eine Verkürzung der Zeit, in der sie die Lernziele erreichen können. Akzeleration eignet sich vor allem für Kinder und Jugendliche, deren Begabungen im Rahmen der Jahrgangsklasse nicht entsprechend gefördert werden. Dies bedeutet zum Beispiel frühere Einschulung oder das Überspringen von Klassen. Akzelerationsmassnahmen sind nicht gleichzusetzen mit Förderung. Sie entschärfen allenfalls die Unterforderungsproblematik. Setzt man Enrichment und Akzeleration hingegen ergänzend ein, vermeidet man durch Intensivieren und Komprimieren des Lehrplanes Wiederholungen, und schafft auch Zeit für andere Aktivitäten. So kommt man den Bedürfnissen von Hochbegabten entgegen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Hochbegabte Unterstützung brauchen, sowohl in intellektueller als auch in emotionaler Hinsicht. Eine Umgestaltung des Unterrichts ist notwendig. Dies kann sinnvoll durch Extrastunden in Werkstätten ergänzt werden. Im zwischenmenschlichen Bereich sind Verständnis, Akzeptanz und Ermutigung für das Anders-Sein unentbehrliche Bedingungen im Umgang mit Hochbegabten. Die aussergewöhnliche Sensibilität dieser Kinder erfordert eine Beziehungsqualität, welche Selbstkritik und Offenheit für Neues enthält, aus welcher die Bereitschaft für Lernen und Wachsen auf beiden Seiten entsteht. V. Bosshard, M. Rodoni, I. Torsello Hochdorf, Oktober 2005 Literatur Brackmann, A. (2005). Jenseits der Norm - hochbegabt und hoch sensibel? Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Webb, J. T., Meckstroth, E. A., Tolan, S. S. (2002). Hochbegabte Kinder, ihre Eltern, ihre Lehrer. Bern: Hans Huber Verlag. Wittmann, A. J. (2001). Hochbegabtenberatung in der Praxis. Göttingen: Hogrefe.