Kampf um Teilhabe - BaWue-Net

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Kampf um Teilhabe - BaWue-Net
Wie beziehen sie sich aufeinander?
Welche Suchbewegungen gibt es?
Wo ist effektiver Widerstand möglich?
Welche Relevanz haben soziale Kämpfe in anderen Ländern,
transnationale Vernetzungen und Migration?
9 783899 652994
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www.vsa-verlag.de
Kampf um Teilhabe
Akteure – Orte – Strategien
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ISBN 978-3-89965-299-4
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Christoph Haug / Rudi Maier /
Berit Schröder (Hrsg.)
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Die Beiträge in diesem Band gehen der Frage nach, mit welchen
Strategien Gewerkschaften und soziale Bewegungen den sich
wandelnden kapitalistischen Verhältnissen begegnen.
Christoph Haug / Rudi Maier / Berit Schröder (Hrsg.) Kampf um Teilhabe
Wenn Beschäftigte der PIN-AG gegen ihre eigene Lohnerhöhung
demonstrieren und linke AktivistInnen einen Heiligen verehren,
dann muss sich im »Kampf um Teilhabe« etwas geändert haben.
15.04.2008 15:21:36
Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder (Hrsg.)
Kampf um Teilhabe
Akteure – Orte – Strategien
Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder (Hrsg.)
Kampf um Teilhabe
Akteure – Orte – Strategien
VSA-Verlag Hamburg
www.vsa-verlag.de
Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung
Dieses Buch wird unter den Bedingungen einer Creative Commons License veröffentlicht: www.creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/de/. Nach dieser Lizenz dürfen Sie den Inhalt für nichtkommerzielle Zwecke vervielfältigen, verbreiten und öffentlich aufführen und Bearbeitungen anfertigen unter der Bedingung,
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PIN-AG«; die Rechte hierfür liegen bei Aris Papadopoulos (Berlin). Die Abbildung »San Precario« wurde gestaltet von der Chainworkers.org CreW (inspiriert von den Arbeiten des kanadischen
Künstlers Chris Woods).
© VSA-Verlag 2008, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg
Druck und Buchbindearbeiten: Idee, Satz & Druck, Hamburg
ISBN 978-3-89965-299-4
Inhalt
Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel ............................................... 7
1. Widerstand und Vereinnahmung
Berit Schröder
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche ............ 20
Niels Seibert
G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität ..................................... 34
Rudi Maier
Image. Imagine. Imagineering.
Intervenieren im kognitiven Kapitalismus .................................................... 44
Karen Wagels
Geschlecht als politisches Terrain –
zur wissenschaftlichen Intervention in ein Begriffsregime .......................... 58
Tino Plümecke
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung .................... 70
Astrid Henning
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln ........... 83
2. Lokale Praxis im globalen Kontext
Nikola Siller
Die Bedeutung des zapatistischen Politikverständnisses
für die Altermundistabewegung ................................................................... 98
Christoph Haug
Die »Politik der Armen« als Beitrag zu einer Theorie
demokratischer Gerechtigkeit im Kontext »globaler Apartheid« ............... 112
Dorothea Härlin
Intellektuelle in Bewegung? ...................................................................... 126
Der Aufruf von Bamako und die Raum-Akteur-Debatte
auf dem Weltsozialforum
3. Institutionalisierung und Professionalisierung
Dario Azzellini
Von der repressiven zur partizipativen
und protagonistischen Demokratie ............................................................ 140
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
Wolfgang Graf
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel ............ 153
Christian Schütte-Bäumner
(De-)Konstruktion der Kategorie »Experte« ................................................ 167
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
4. Gewerkschaftliches Umdenken im Post-Fordismus
Hae-Lin Choi
Know your enemy ....................................................................................... 182
Strategische Unternehmensrecherche als wesentliches Element
gewerkschaftlicher Organizingkampagnen in den USA
Torsten Bewernitz
Streik – ein Konzept mit Zukunft? ............................................................... 196
Aspekte gewerkschaftlichen Widerstands im globalen Kapitalismus
Yasmin Fahimi
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften ....................... 209
Ein Diskussionsbeitrag über die Herausforderungen
der Gewerkschaften in Deutschland
5. Studien zur Vielfalt gewerkschaftlicher Akteure
Kirstin Bromberg
Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung? .......................................... 222
Sozialweltliche Antworten auf die Frage,
wie Gewerkschaften funktionieren
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Prekäre und flexibilisierte Beschäftigungsbedingungen
in der Sozialen Arbeit ................................................................................. 236
Auf der Suche nach gewerkschaftlichen Handlungsstrategien
Über die AutorInnen ................................................................................... 249
Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
Wenn, wie kürzlich geschehen, ...
... Belegschaften keinen Betriebsrat wollen: Im börsennotierten Softwarekonzern SAP fanden nach jahrelangem Gerangel zwischen Firmenleitung, Belegschaft und den Gewerkschaften ver.di und IG Metall im Sommer 2006 die ersten Betriebsratswahlen statt. Immer wieder hatte sich eine große Mehrheit der
Angestellten gegen eine solche Wahl gestemmt. Als stärkste Gruppe ging die
Liste der Angestellten hervor, die ein kooperatives Verhältnis zwischen Belegschaft und Arbeitgeber pflegen. Die Gewerkschaftsliste bekam nur wenige
Stimmen (Girndt 2006).
... neue Gewerkschaften plötzlich die Löhne in die Höhe schrauben: Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) konnte die jüngste Tarifauseinandersetzung
gegen die Deutsche Bahn AG nicht nur eindeutig für sich entscheiden, sondern
genoss darüber hinaus auch über mehrere Monate hinweg eine beachtliche Solidarität in der Bevölkerung (Infratest dimap 2007a/b). Die Strategie der Bahn
AG, die Streiks der GDL mit Verweis auf das Gemeinwohl zu diskreditieren,
ging nicht auf. Die DGB-Gewerkschaft Transnet unterstützt hingegen die Privatisierungspläne der Bahn AG, die von der Bevölkerungsmehrheit sowie anderen Gewerkschaften (ver.di und IG Metall) abgelehnt werden.
... der Diebstahl von Champagner und Hirschkeulen europaweit Beifall erhält:
Im April 2006 erstürmten 30 als »Superhelden« verkleidete AktivistInnen den
Gourmet-Supermarkt »Frische Paradies« in Hamburg und entwendeten Champagner, Hirschkeulen und andere Delikatessen. Anschließend verteilten sie diese
an ErzieherInnen, PraktikantInnen, Putzfrauen und Ein-Euro-JobberInnen und
zeigten damit, dass trotz des immensen Reichtums in der Stadt das Überleben
für prekär Beschäftigte immer schwieriger wird. Europaweit fand die Aktion in
den Medien großen Anklang (Euromayday 2006). In italienischen Supermärkten wurde »San Precario«, der auf der Titelseite abgebildete ›Schutzheilige aller prekär Beschäftigten‹, bereits mehrfach angetroffen.
... Belegschaften und Arbeitgeber Hand in Hand gegen Lohnerhöhungen demonstrieren: Mindestlöhne, so sieht es offensichtlich die Führung der grünen
Post PIN Mail AG Berlin, zerstören die Arbeitsplätze bei der PIN-Group. Des-
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Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
halb forderte das Unternehmen seine Beschäftigten im Oktober 2007 auf, gegen den zwischen ver.di und dem Arbeitgeberverband Postdienste geschlossenen
Mindestlohntarifvertrag für die Postbranche auf die Straße zu gehen. Während
der Arbeitszeit natürlich. Mehrere tausend Beschäftigte demonstrierten in der
Folge vor dem Brandenburger Tor gegen die Gewerkschaft ver.di und gegen
ihre eigene Lohnerhöhung (ver.di 2007).
Wenn derlei merkwürdige Dinge geschehen, dann hat sich offensichtlich etwas
gravierend verändert. Die obige Liste der sozialen Kämpfe unterschiedlichster
Ausprägungen, die alle um den Begriff der Teilhabe kreisen, ließe sich lange
fortsetzen. Diese Liste stellt uns GewerkschafterInnen, politische AktivistInnen
und kritische WissenschaftlerInnen vor neue Denkaufgaben. Denn: wenn sich
die Orientierungspunkte für Protest und Widerstand verändern, gesellschaftliche Umbrüche neue Marken setzen, wenn die DGB-Gewerkschaften offensichtlich nicht länger den Alleinvertretungsanspruch für abhängig Beschäftigte
beanspruchen können und andere AkteurInnen mit neuen Strategien in die politische Arena treten, dann gilt es, die Frage nach Kämpfen um Teilhabe auf der
Folie gesellschaftlicher Umbrüche neu zu diskutieren.
1. Ausgangspunkte für dieses Buch
Beobachtungen dieser Art waren der Ausgangspunkt dafür, die Promovierendentagung der Hans-Böckler-Stiftung im Mai 2007 unter den Titel »Jenseits von
Mitbestimmung und Widerstand? Neue Handlungsformen zur Durchsetzung gesellschaftlicher Teilhabe« zu stellen. Die PromotionsstipendiatInnen der Stiftung waren eingeladen, über die aktuellen Veränderungen sozialer Kämpfe und
ihre Bedingungen zu diskutieren. Der bewusst offen gehaltene Aufruf für diese
Tagung erklärt die Themenvielfalt im nun vorliegenden Band, der die meisten
der Tagungsbeiträge dokumentiert.
Eine Annäherung an ein Feld »Jenseits von Widerstand und Mitbestimmung«
bedingt eine Auseinandersetzung mit den Akteuren, Strategien wie auch den konkreten Orten, an denen ein Jenseits der alten Pfade ausprobiert und neue Wege
gesucht werden können. Gefragt wird daher, wie sich der gesellschaftliche Wandel auf »traditionelle« Akteure auswirkt und danach, welche neuen gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Akteure entstehen – hier und weltweit. Dazu gehören Fragen, an welchen Orten bzw. in welchen gesellschaftlichen Bereichen
um gesellschaftliche Teilhabe gerungen wird und welche Strategien und Organisationsformen die verschiedenen Akteure wählen. Nicht zuletzt werden Fragen nach den eigenen Lebensrealitäten unter sich verändernden gesellschaft-
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
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lichen Bedingungen nicht ausgeblendet – als junge WissenschaftlerInnen, die
sich als StipendiatInnen ebenso wie als GewerkschafterInnen, AntifaschistInnen, BewegungsaktivistInnen oder kritische WissenschaftlerInnen begreifen
können und die ebenfalls unterschiedliche Orte und Strategien für die jeweils
eigenen Kämpfe um Teilhabe wählen.
2. Kampf um Teilhabe
Unter Kampf verstehen wir die Vielzahl von emanzipatorischen Interventionen
im gesellschaftlichen Gemenge in einem weiten und umfassenden Sinn. Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz sind dabei genauso bedeutend wie lokale
Auseinandersetzungen um selbstorganisierte Zentren, Räume und Positionen.
Kampagnen, die national wie international ihren Ausdruck finden und die von
breiteren Bewegungen oder großen Organisationen getragen werden, sind in
diesem Sinne ebenfalls Ausdruck von Teilhabekämpfen, die allesamt stets in
konkreten gesellschaftlichen Bereichen unter konkreten Bedingungen stattfinden. Die jeweils spezifisch eingesetzten Mittel dieser Auseinandersetzungen
können dabei unterschiedlicher kaum sein, wie auch die Beiträge in diesem
Band zeigen.
Ausgangspunkt für die Frage nach Teilhabe ist für uns das Postulat eines
universellen Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe. Darunter ist das Recht aller Menschen auf ein gutes Leben zu verstehen, es ist ein Recht auf Teilhabe
an Wohlstand, wie auch das Recht auf politische Partizipation. In Abgrenzung
zu einer Konzeption des national organisierten fordistischen Wohlfahrtsstaats
begreifen wir Teilhabe als ein globales Postulat, das als universelles Recht auf
Teilhabe für alle Menschen gleich gilt – und zwar bedingungslos. Das Recht
auf Teilhabe besteht ohne Verweis auf Pflichten (Rätz o.J.).
Doch das Recht auf Teilhabe darf nicht einfach ein für alle mal als festgeschrieben verstanden werden. Vielmehr gilt es, globale Rechte als stets umkämpftes Terrain zu verstehen, auf dem sich das Selbstverständnis politischer
und sozialer Bewegungen artikuliert (Samsa 2006). Globale Rechte werden
durch nichts und niemanden gewährt, sondern müssen von unten, von den Akteuren selbst in ihrer konkreten Situation, Schritt für Schritt erkämpft werden,
von ihrer erstmaligen Formulierung bis hin zur Verankerung in positives Recht.
Wir betrachten in diesem Sinne den Kampf um gesellschaftliche Teilhabe und
die damit verbundenen Suchprozesse verschiedener, ob kollektiver oder individueller Akteure, als Ausdruck eines Versuchs, einem Leben auf der Basis der
Teilhabe für Alle einen Schritt näher zu kommen.
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Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
3. Teilhabekämpfe in Zeiten der Umbrüche
Wandel, Veränderung, Transformation, Umbruch – zahlreiche Begriffe sind im
Gebrauch, wenn es darum geht, die Gegenwartsgesellschaft zu beschreiben.
Weitgehende Einigkeit besteht in der Analyse darin, dass sich deutliche »Umbrüche« auf zahlreichen Ebenen erkennen lassen. Unterschiedlich sind die Begrifflichkeiten mit denen verschiedene WissenschaftlerInnen diese grundlegenden Veränderungsprozesse auf den Punkt bringen: »Flüchtige Moderne«
(Baumann 2000), das »Ende der organisierten Moderne« (Castel 2003: 55),
»neokapitalistische Revolution« (Touraine 1999: 41), »der neue Geist des Kapitalismus« (Boltanski & Chiapello 1999), »Turbo-Kapitalismus« (z.B. Altvater et al. 1997), »Globale Apartheid« (Booker & Minter 2001), Ulrich Becks
»Risikogesellschaft« (1986) oder einfach »Das Ende des Kapitalismus wie wir
ihn kennen« (Altvater 2005) sind einige solcher Großbegriffe, mit denen der
komplexe gesellschaftliche Wandel beschrieben wird.
Der Wandel wirkt sich auf das Leben aller aus – wenn auch die Folgen sich
für die gesellschaftlichen Gruppen ganz unterschiedlich zeigen – und so gehen wir davon aus, dass auch die Kämpfe um Teilhabe von diesem Wandel erfasst sind. Veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen stellen, so eine leitende
These dieses Bandes, die AkteurInnen vor die Aufgabe, sich diesen Veränderungen im Kampf um Teilhabe zu stellen. Dabei lassen sich in diesem Band deutliche Schwerpunkte erkennen, die vor allem die Welt(en) der Gewerkschaften
und der sozialen Bewegungen betreffen. Wurden die auf postmaterielle Werte
hin orientierten Protestbewegungen der 1970er und 80er Jahre noch als »neue
soziale Bewegungen« bezeichnet um sie begrifflich von der traditionellen ArbeiterInnenbewegung abzugrenzen, so ist bei den heutigen globalisierungskritischen Bewegungen eine Konvergenz von »alten« und »neuen« Bewegungen
zu erkennen. Auch wenn die Annährung gewerkschaftlicher und außergewerkschaftlicher Akteure bisweilen nur zaghaft erfolgt, so sind die Überschneidungen
ihrer Themen doch unverkennbar.
Dies spiegelt sich auch im Namen des in bundesdeutschen Gewerkschaftskreisen zunehmend diskutierten Konzeptes des social movement unionism wieder. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts haben vor allem US-amerikanische
aber auch britische Gewerkschaften neue Formen der Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung erprobt.
Eine wesentliche Richtung dieser Renewal-Strategien (die v.a. der Erosion
des Dualen Systems der Interessenvertretung [Müller-Jentsch 1997] begegnen
sollen), ist das Konzept des Organizings. Trotz der unterschiedlichen Formen
und Akzentsetzungen, die Organizing-Kampagnen heute aufweisen (Bremme et
al. 2007), steht im Zentrum der Kampagnen die Selbstorganisierung und wird
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
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die Stellvertreterpolitik, die lange Zeit gewerkschaftliches Denken beherrscht
hat, in den Hintergrund gerückt.
Die heutige globalisierungskritische Bewegung wird, wie schon die über
vier Jahrzehnte andauernde globale Antiapartheidsbewegung, mit Verweis auf
die Pluralität ihrer Akteure als »Bewegung der Bewegungen« bezeichnet. Dieser Verweis auf die »Singularitäten, die gemeinsam handeln« (Hardt & Negri
2004: 123), wird heute mehr denn je als Ausdruck von Stärke verstanden. Doch
dieses Ideal wirft nicht nur die Frage nach den gemeinsamen Zielen und Themen auf, sondern auch bedeutende Fragen danach, ob und welche Formen kollektiver Organisierung notwendig sind, um folgenreich ins gesellschaftliche Gemenge eingreifen zu können.
Viele aktuelle Diskussionen und Entwicklungen sind Ausdruck entsprechender Suchbewegungen. Beispielsweise die Debatte um das (bedingungslose) Grundeinkommen wie sie u.a. vom Netzwerk Grundeinkommen vorangetrieben wird oder die immer konkreter werdenden Forderungen nach einer
internationalen Steuerpolitik des Tax Justice Network. Auch die Überlegungen
zu einer zukünftigen Solidarischen Ökonomie (z.B. Giegold & Embshoff 2007)
sind Ausdruck alternativer Gesellschaftsentwürfe. Und die Bewegungen gegen
die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen (Wasser, Transport,
Gesundheit, soziale Dienste, Bildung, Energie, Renten, etc.) diskutieren ebenso
über Alternativen zum paternalistischen Wohlfahrtsstaat und Möglichkeiten seiner Demokratisierung. wie sie sich gegen dessen hemmungslosen Abbau zur
Wehr setzen. Auch die Versuche der Euromayday-Bewegung, den 1. Mai zu repolitisieren oder das Netzwerk Freies Wissen, das Alternativen zu Patenten und
»geistigen Eigentumsrechten« im Bereich der Wissensgenerierung und -verbreitung (Software, Pharma, Saatgut, Medien, Textpublikation1) erarbeitet (Bödecker et al. 2005), müssen hier genannt werden.
4. Die Beiträge
Es gehört eine gute Portion Willkür und Pragmatismus dazu, die Vielfalt der
Beiträge dieses Bandes in eine gegliederte Reihenfolge zu bringen. Dennoch
meinen wir, dass die fünf Abschnitte des Buches wichtige gemeinsame Themen repräsentieren: »Widerstand und Vereinnahmung«, »Lokales Handeln im
globalem Kontext«, »Institutionalisierung und Professionalisierung«, »Gewerkschaftliches Umdenken im Post-Fordismus?« und »Studien zur Vielfalt gewerk1
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beliebig kopiert und (nicht-kommerziell) weitergegeben werden.
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Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
schaftlicher Akteure« heißen die Kapitel, in die wir die einzelnen Beiträge gegliedert haben und die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Widerstand und Vereinnahmung
Dass Widerstand stets auch von denen, gegen die er sich richtet, vereinnahmt
werden kann, ist kein neues, aber ein wichtiges und vielschichtiges Thema. Berit Schröder analysiert, wie es der Protestbewegung gegen den G8-Gipfel 2007
in Heiligendamm gelang, erfolgreich Widerstand zu leisten, nachdem die G8Proteste zwei Jahre zuvor in Gleneagles von den G8 für sich vereinnahmt werden konnten. Eine breit angelegte Bündnispolitik und die Akzeptanz von Differenzen ermöglichte das Ausprobieren neuer Organisationsformen, die zum
Erfolg der »Choreographie des Widerstands« beitrugen. Niels Seibert richtet
das Augenmerk auf die staatlichen Kriminalisierungsversuche und die damit
einhergehende Repression vor, während und nach den G8-Protesten. Er betont,
dass die Beschränkung von Solidarität auf defensive Aktionsformen und kritische Wissenschaft ein Türöffner für die Vereinnahmung des Widerstandes ist.
Rudi Maier zeigt am Beispiel einer spektakulären Aktion auf dem Wiener Karlsplatz, wie der Lifestylekonzern Nike, zu dessen Marketingstrategie die Vereinnahmung (und Schöpfung) von »Subkulturen« gehört, selbst zum Zweck des
Widerstands vereinnahmt wird. Er legt dar, welche Bedeutung diese Aktion angesichts der heutigen Arbeitsorganisation unter dem Leitbild des »kognitiven
Kapitalismus« für zukünftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen hat. Karen Wagels untersucht in ihrem Beitrag die Kategorie Geschlecht als politisch
umkämpftes Feld und zeigt, dass wissenschaftliches Reden über Geschlecht nur
dann zur Transformation herrschender Begrifflichkeiten beitragen kann, wenn
die Bedingungen dieses Redens nicht nur reflektiert und deren Genese rekonstruiert wird, sondern auch neu begründet, d.h. wenn der Rahmen des Redens neu
geschaffen oder verändert wird. Als eine Methode, die Widerstand gegen ein dominantes Begriffsregime ermöglicht, schlägt sie den Grounded-Theory-Ansatz
vor. Tino Plümecke geht dem Dilemma nach, dass Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse immer innerhalb dieser Verhältnisse ansetzen muss,
und damit ihre Vereinnahmung schon vorprogrammiert zu sein scheint. Seine
post-strukturalistisch inspirierte Analyse kommt zu dem Schluss, dass ein dezentralisierter Machtbegriff nach Foucault zwar die Möglichkeit eröffnet, entsprechend dezentralisierte Widerstandspunkte zu identifizieren, doch schützt
auch dies nicht vor (neoliberaler) Vereinnahmung kreativer Widerstandspraxen,
solange nicht bestehende Regeln strategisch übernommen werden, um durch
»geringfügige aber nicht irrelevante Modifikationen« ihre Widersprüchlichkeit
sichtbar zu machen und damit zu verändern oder ad absurdum zu führen. Astrid
Hennings Beitrag kreist um das Konzept der Autonomie der Migration, demzu-
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
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folge Migration per se nicht nationalstaatlich vereinnahmt werden kann, da die
MigrantInnen permanent die staatliche Sicherheitspolitik unterlaufen und den
Staat damit in eine defensive Rolle bei der Migrationskontrolle drängt. Widerstand und Widerständigkeit ist fester Bestandteil der Lebens- und Arbeitspraxis insbesondere illegalisierter MigrantInnen geworden.
Lokale Praxis im globalen Kontext
Das Motto »Global denken, lokal Handeln« ist problematischer als es auf den
ersten Blick scheint. Die zunehmende Transnationalisierung von Protestbewegungen und damit auch die Lebenswelt vieler AktivistInnen haben sichtbar gemacht, dass es viele widerstreitende globale Denkmuster gibt, die ihrerseits
aus lokaler Praxis resultieren. Die Verbindung von globalem Denken und lokalem Handeln, ebenso wie die von lokalem Denken und global koordiniertem
Handeln, ist also noch lange nicht eindeutig definiert. Wie sich das in der politischen Praxis sozialer Bewegungen niederschlägt, illustrieren die Beiträge in
diesem Abschnitt.
Nikola Siller zeigt, dass die globale Altermundistabewegung einem Politikverständnis folgt, das in den fünf Begriffen Würde, Anti-Macht, Revolution,
Kollektivität und Autonomie auf einen globalen Nenner gebracht werden kann,
dessen Kraft aber in der lokalen Interpretation und Umsetzung dieser Prinzipien liegt. Es waren die mexikanischen Zapatistas, die in ihrer Rebellion die
lokale Praxis dieser Begriffe konsequent entwickelt haben, doch Siller zeigt am
Beispiel der Protestmobilisierung zum G8-Gipfel in Heiligendamm, wie sich
diese Prinzipien auch dort in der täglichen Praxis des Protests und der Protestvorbereitung manifestierten. Christoph Haug greift Nancy Frasers Gedanken
auf, dass der Begriff der Gerechtigkeit in der globalisierten Welt neben sozialer und kultureller auch politische Teilhabe einschließen muss und illustriert
die Bedeutung dieser dritten Gerechtigkeitsdimension anhand der Bewegung
der SlumbewohnerInnen im südafrikanischen Durban, die nicht etwa aufgrund
ihrer Armut entstand, sondern Aufgrund von politischer Diskriminierung. Die
demokratische politische Praxis, die die Bewegung daraufhin entwickelte, baut
auf den lokalen Dialog aller Betroffenen und stellt dadurch einen Beitrag zur
Entwicklung einer globalen Theorie demokratischer Gerechtigkeit jenseits des
nationalstaatlichen Rahmens dar. Dorothea Härlin weist entschieden das Vorhaben einer Gruppe globaler Intellektueller zurück, die versuchen, das Weltsozialforum zum Aufbau einer Art »fünften Internationale« zu nutzen. Sie verteidigt
die Weltsozialforen als offene Räume des Austauschs der globalisierungskritischen Bewegungen, deren hierarchiefreie Kommunikation auf den Gemeinsamkeiten lokaler Praxis aufbaut und dem Gedanken einer Vereinheitlichung
durch eine intellektuelle Avantgarde zuwiderlaufen.
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Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
Institutionalisierung und Professionalisierung
Prozesse der Professionalisierung und Institutionalisierung von Bewegungen
stellen für viele Akteure einen deutlich positiven Bezugspunkt dar. Die hierzu
vorliegenden Beiträge illustrieren allerdings auch, wie ambivalent solche Prozesse dennoch sein können.
Dario Azzellini beschreibt die Geschichte der bolivarianischen Revolution
in Venezuela, in der eine Vielzahl von Bewegungen zur Entwicklung von der
repressiven zur partizipativen Demokratie beigetragen hat. Obwohl es bis auf
weiteres nicht gelungen ist, die Rätestrukturen in der Verfassung zu institutionalisieren, stellt Venezuela unter Präsident Chavez weiterhin für viele einen positiven Bezugspunkt für den Aufbau eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«
dar. Wolfgang Graf beschreibt die gesellschaftliche Entwicklung von den Boykottbewegungen der 1970er und 80er Jahre, die den internationalen Handel als
Druckmittel gegen unliebsame politische Regime nutzten, hin zum professionell organisierten fairen Handel, der zwar auch auf die Macht des Handels baut,
aber statt des »Nein« zu Produkten aus bestimmten Ländern auf das »Ja« als
Leitbild einer wachsenden Branche setzt. Graf zeigt, wie das Dilemma der Boykottbewegung – für jedes Land lassen sich stets Gründe finden es zu boykottieren – im fairen Handel noch verkompliziert wird: »Ist es fair, die globale Emission von CO2 durch den Kauf von fairen Rosen oder Früchten aus Afrika oder
Südamerika zu erhöhen?« Christian Schütte-Bäumner befasst sich mit der zunehmenden Professionalisierung der Praxis in AIDS-Hilfen und beschreibt die
damit verbundene Entpolitisierung mittels des Begriffs der »Entschwulung«.
Aus der Perspektive kritischer Wissenschaft führt die Herausbildung von ExpertInnen in den AIDS-Hilfen zu einem doppelten Problem: Zum einen wird
durch den Einsatz von Experteninterviews das professionalisierte Wissen allzu
leicht verdinglicht, zum anderen kommt es zu einer Entfremdung der ExpertInnen von der Basis der Bewegung.
Gewerkschaftliches Umdenken im Post-Fordismus?
Wenn Gewerkschaften Gegenmacht zu transnationalen Konzernen aufbauen
wollen, müssen sie sich die Frage stellen, worauf sich diese Gegenmacht unter den neuen Bedingungen aufbauen lässt. Die Debatte hierzu füllt inzwischen
ganze Bibliotheken. Die drei Beiträge in diesem Abschnitt gehen auf drei wichtige gewerkschaftliche Strategien ein und fragen nach Bedingungen und Voraussetzungen ihres Erfolgs.
Hae-Lin Choi bezieht sich auf die neuere Strategie des »Organizing« und
verweist auf die zentrale Bedeutung strategischer Unternehmensrecherche als
einer systematischen Untersuchung jeglicher Aspekte eines Unternehmens im
Vorfeld und während einer Organizing-Kampagne. Sie erläutert die einzelnen
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
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Schritte dieser in Deutschland noch wenig bekannten Recherchepraxis und diskutiert die Einrichtung von Studiengängen für Unternehmensrecherche in den
USA sowie die damit verbundene Zunahme nicht-gewerkschaftlicher Angestellter in den Gewerkschaften. Thorsten Bewernitz diskutiert in seiner Analyse
verschiedener Arbeitskämpfe der letzten Jahre die Strategie des Streiks und betont den Streik als wichtiges kollektives Erlebnis und Schule des basisdemokratischen Kampfes. Er zeigt Skepsis gegenüber gewerkschaftlichen Tendenzen,
angesichts der geschwundenen ArbeiterInnenmacht, ihre Stärke aus Bündnissen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren zu schöpfen. Obschon solche
Bündnisse sinnvoll sein können, gilt es, die gewerkschaftliche Organisierung
vor allem mit der strukturellen ArbeiterInnenmacht in Einklang zu bringen.
Yasmin Fahimi gibt uns Einblicke in die Strategiediskussion in der Hauptverwaltung der IG BCE und beschreibt vor dem Hintergrund des Wandels der Arbeitswelten, wie Anpassungen an die Ansprüche der ArbeitnehmerInnen möglich sind, ohne den traditionellen Rahmen des sozialpartnerschaftlichen Dialogs
zu verlassen. Im Rahmen der IG BCE-Imagekampagne »Modell Deutschland
… zuerst der Mensch!« wird für die Berücksichtigung des DGB-Index Gute
Arbeit und interne Optimierungsverfahren als Rettungsanker für die Gewerkschaften geworben.
Studien zur Vielfalt gewerkschaftlicher Akteure
In der Öffentlichkeit und auch in gewerkschaftlichen Kreisen dominiert das Bild
der Gewerkschaften als hierarchisch strukturierte Organisationen, die sich für
das Wohl der ArbeitnehmerInnen einsetzen, klassischerweise für den männlichen
Fabrikarbeiter. Die beiden Studien in diesem Abschnitt erinnern daran, dass das
Spektrum gewerkschaftlicher Akteure deutlich vielfältiger ist und wie wichtig
es ist, dass diese Vielfalt in den Organisationsstrukturen und in den Köpfen der
hauptamtlichen GewerkschafterInnen repräsentiert wird.
Kirstin Bromberg hat hauptamtliche GewerkschafterInnen über ihren Weg
zur Gewerkschaft und ihre Rekrutierungsstrategien befragt und konnte dabei
vier Bindungstypen identifizieren: »Organisationsagenten«, »Sozialisationsagenten«, »Klassenkampfakteure« und »Bewegungsakteure«. Jeder dieser Typen
hält seinen eigenen Werdegang für gewerkschaftstypisch und orientiert sich unbewusst bei der Rekrutierung von Nachwuchs an dieses Schema. Dadurch wird
die Vielfalt gewerkschaftlicher Akteure reproduziert. Ulrike Eichinger und Tanja
Krämer lenken den Blick auf die Berufsgruppe der SozialarbeiterInnen, die sich
einerseits durch einen relativ hohen Organisationsgrad auszeichnet, deren andauernd schlechten und sich weiter verschlechternden Arbeitsbedingungen andererseits innerhalb der zuständigen Branchengewerkschaften ver.di und GEW
jedoch eher stiefmütterlich behandelt werden. Die Studie der beiden Autorinnen
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Christoph Haug/Rudi Maier/Berit Schröder
führte innerhalb der Berliner GEW zu Umstrukturierungen, die eine bessere Repräsentation der überdurchschnittlich benachteiligten Gruppe innerhalb der von
LehrerInnen dominierten Gewerkschaften gewährleisten soll.
In den hier vorliegenden, durchaus unterschiedlich gelagerten Fallstudien und
Analysen, finden sich zahlreiche ähnliche Probleme, Begriffe und Lösungsansätze, deren Gemeinsamkeiten in aller Kürze darzustellen eine lohnende Aufgabe darstellt. Auffallend ist, dass große, gesellschaftstheoretische Entwürfe,
wie sie etwa in den 1970er aber auch noch in den 1980er Jahren unter Studierenden bedeutsam waren, in den Beiträgen dabei eine deutlich untergeordnete
Rolle spielen. Dies war keine Vorgabe an die AutorInnen, sondern muss selbst
als Ausdruck des Wandels verstanden werden: Die beschriebenen Kämpfe lassen sich eben nicht so leicht subsumieren. Derzeit ist die empirisch begründete,
suchende Theorieerzeugung offenbar von größerer Bedeutung als die Exegese
kanonischer Texte. Mehrere Beiträge heben explizit die Wissensproduktion in
der lokalen Praxis der politischen Auseinandersetzung hervor (Bewernitz, Härlin, Haug, Schütte-Bäumner) bzw. nehmen eine reflexive Position gegenüber
der eigenen Wissensproduktion als AkademikerInnen ein (Plümecke, SchütteBäumner, Wagels). Die Thematisierung von Wirtschaftsunternehmen als politische Akteure (Choi, Graf, Maier) lässt begründet vermuten, dass diese Akteure mehr denn je die gesellschaftlichen Beziehungen prägen und strukturieren,
wie generell auch die Sphäre des Konsums zu einem überaus wichtigen Thema
im Zusammenhang mit der Frage von gesellschaftlicher Teilhabe geworden ist
(Graf, Haug, Henning). Welche Bedeutung u.a. die Entgrenzung von Arbeit und
Freizeit hat, ist Thema einzelner Beiträge (Eichinger/Krämer, Fahimi, SchütteBäumner), ebenso wie die Suche nach neuen Bündnispartnern und die Diversität
solcher Bündnisse (Azzelini, Bromberg, Choi, Schröder, Seibert, Siller; kritisch:
Bewernitz). Zugleich wird die Bedeutung einer bestimmten Akteursgruppe im
Kampf um Teilhabe hervorgehoben: die der Marginalisierten und Ausgeschlossenen (Haug, Henning). Mehrere Beiträge befassen sich mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im vergangenen Jahr (Schröder, Seibert,
Siller), die die politische Diskussion innerhalb der Linken (und zum Teil auch
in der Öffentlichkeit) prägten und prägen. Deutliche Kennzeichen des gesellschaftlichen Wandels finden sich darüber hinaus in den Debatten um adäquate
Handlungsmodelle in Zeiten der Globalisierung, bei denen nicht selten national geprägte Konzepte zum Vorschein kommen und die vermuten lassen, dass
die Entwicklung von globalen Kategorien eine mühsame Arbeit darstellt, die
auch nicht von allen gewollt ist (Fahimi, Haug, Henning).
Die Beiträge in diesem Tagungsband könnten den Eindruck erwecken, dass
Kämpfe um Teilhabe per se einen emanzipatorischen Charakter haben und im
Gesellschaft im Wandel – Kämpfe im Wandel
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Kern mag es stimmen, dass dem Impetus, das eigene Recht auf gesellschaftliche Teilhabe einzufordern, immer ein progressives Moment innewohnt. Doch
zeigt sich gerade bei der derzeitigen Zunahme und Intensivierung von Teilhabekämpfen, dass dieser Impetus auch nationalistisch, rassistisch und, gerade im
Bezug auf den »Finanzkapitalismus«, antisemitisch vereinnahmt wird. Protestbewegungen sind nicht von Natur aus radikal-demokratisch und in diesem Sinne
emanzipatorisch. Als HerausgeberInnen haben wir eingangs versucht, den Rahmen für emanzipatorische Teilhabekämpfe abzustecken, indem wir sie auf ein
globales Recht auf Teilhabe bezogen haben. Wir schlagen vor, diese, noch näher zu bestimmenden globalen sozialen Rechte, als Messlatte für progressive
Teilhabekämpfe zu sehen. Protest und Widerstand im emanzipatorischen Sinne
darf gegenüber der Überzeugungskraft rechter Diskurse nicht blind sein, sondern
muss den aktiven Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus beinhalten.
Literatur
Altvater, Elmar/Fehrmann, Eberhard/Haug, Frigga/Negt, Oskar (Hrsg.) (1997):
Turbo-Kapitalismus. Gesellschaft im Übergang ins 21. Jahrhundert. Hamburg:
VSA.
Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale
Kapitalismuskritik. 5. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007.
Bauman, Zygmunt (2000): Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2003.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bödeker, Sebastian/Moldenhauer, Oliver/Rubbel, Benedikt (2005): Wissensallmende:
Gegen die Privatisierung des Wissens der Welt durch »geistige Eigentumsrechte«
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1. Widerstand und Vereinnahmung
Berit Schröder
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder
in Zeiten der Umbrüche
Vorne weht die grüne Fahne. Es folgt ein bunter Zug von Demonstrierenden, den
beschwerlichen Weg durch Rapsfelder, Äcker und Getreidefelder nehmend. Koordiniert mit anderen Protestzügen überqueren die rund 5.000 Menschen Straßen und Bäche. Beim Nähern an die mit Polizei besetzten Straßen fächern sich
die AktivistInnen in kleine Gruppen auf, ziehen die Polizeiketten auseinander.
Die Lücken zwischen den PolizistInnen werden größer, die schweren Wasserwerfergeschütze umgangen, und dann, dann geht es durch. Durchfließen, Durchdrücken, Durchlaufen, Möglichkeiten gibt es viele.
Diese Bilder gingen um die Welt. Lange Protestmärsche, gut koordiniert, eingeübt und aufeinander abgestimmt, schlängelten sich durch die Weizenfelder
rund um Heiligendamm. Ziel waren die Zufahrtsstraßen des Nobelhotels Kempinski. Hier tagten vom 6. bis zum 8. Juni 2007 die Staats- und Regierungschefs
der Gruppe Acht1 – umzingelt von Protest und Widerstand.
Die globalisierungskritische Bewegung und die Proteste rund um G8 sind
Ausdruck globalen gesellschaftlichen Wandels und prekarisierter Arbeits- und
Lebensverhältnisse. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem globalisierungskritischen Protest 2007 in Heiligendamm. Zentrale These hierbei ist, dass die
Proteste gegen den G8-Gipfel trotz der Umbrüche und vielfach beschworenen
Krise von Protest und solidarischer Organisierung (Castel 2005; Baumann 2008)
deutlich machen konnten, dass Protest auch heute erfolgreich sein kann.
In einem ersten Schritt beschreibe ich die Proteste rund um den G8-Gipfel
2007, hier liegt der Schwerpunkt auf der Block-G8-Kampagne. In einem zweiten
Schritt nähere ich mich den von mir als neue Herausforderungen bezeichneten
Bedingungen, mit denen Protest und Widerstand heute konfrontiert ist. Erst in
einem letzten Schritt werde ich auf der Folie der neuen Herausforderungen eine
Bewertung der Proteste in Heiligendamm vornehmen und diese als positives
Beispiel für Experimentierfelder von Protest und Widerstand herausstellen.
1
Frankreich, Großbritannien, Italien, USA, Kanada, Japan, Russland und Deutschland. Russland ist seit 2006 Vollmitglied der G8.
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
21
Globalisierungskritischer Protest hat viele Gesichter: Block-G8-Kampagne
und andere Aktivitäten rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm
Heiligendamm im Jahr 2007, das war der Ort, an dem auch hierzulande erstmals globalisierungskritischer Protest in dieser Dimension seinen Ausdruck
fand. Die Groß-Demonstration am 2. Juni war zahlenmäßig die größte gemeinsame Veranstaltung der GipfelkritikerInnen, zu der rund 70.000 Menschen dem
Aufruf »eine andere Welt ist möglich« folgten. Neben der Demonstration fanden im Rahmen der so genannten Gesamtchoreografie des Widerstands2 in den
Tagen zwischen Groß-Demo und Blockaden (6.-8. Juni) zahlreiche Aktionstage
zum Thema Bewegungsfreiheit, globale Landwirtschaft, Militarisierung und
Klima statt, an denen ebenfalls jeweils Tausende teilnahmen. Neben Informationsveranstaltungen zu den genannten Themen initiierten maßgeblich NGOs,
kirchliche Zusammenhänge und Stiftungen, aber auch andere Netzwerke den
Alternativgipfel, der als wesentlicher Ort für die Debatte über globalisierungskritische Zusammenhänge und transnationale Erfahrungen bestimmt war. Dieser fand parallel zu den Blockadeaktionen statt.
Besonders die aktionistischen Teile der Bewegung verbrachten die Tage des
Gipfelprotests in den drei größeren Camps, die eigens für und von GipfelgegnerInnen aufgebaut wurden.
Im Folgenden werde ich die Block-G8-Kampagne näher vorstellen. Wenn
die Suche nach Veränderungen auch im globalisierungskritischen Protest betont wird, so wird das am deutlichsten in den Aktionsformen. Die Aktionsform
Pink&Silver bestimmte das Bild in Genua, in Gleneagles tauchte die Rebel
Clowns Army auf, Block-G8 und viele kleine andere Maskeraden bestimmten
das Protestgeschehen in Heiligendamm. Diese vielen unterschiedlichen Maskeraden können auch als subjektive Suche nach Veränderung gedeutet werden.
Die Block-G8-Kampagne war Ausdruck der Suche nach neuen Aktionsformen,
die partizipativ für möglichst viele sind und Raum für das Entwickeln eigener
Kriterien von Legitimität und Grenzen bei Aktionen lassen.
Den Gipfel Blockieren! Die Block-G8-Kampagne
»Wir kommen um zu bleiben!« Das war das Motto der Block-G8-Kampagne. Mit
Massenblockaden, an denen insgesamt 10.000 Menschen teilnahmen, konnten
für den Zeitraum des G8-Gipfels die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm dicht
gemacht werden, sodass der Landweg zeitweise komplett gesperrt war.
2
Diese wurde im Laufe breiter und verschieden besetzter Koordinierungskreise und
Aktionskonferenzen entwickelt.
22
Berit Schröder
Das Tagungshotel Kempinski war umgeben von einem knapp 13 Kilometer langen Sicherheitszaun, der durch zwei offizielle Durchgangsschleusen wie
einen weiteren Nebeneingang von den Gipfelteilnehmenden passiert werden
konnte. Die Block-G8-Kampagne konzentrierte ihre Aktionen auf den Nebensowie einen Haupteingang. Die dritte Einfahrt wurde von weiteren AktivistInnen, die sich im Vorfeld aber nicht der Block-G8-Kampagne angeschlossen hatten, immer wieder blockiert.
Eine erste kollektive Anstrengung und Entschlossenheit verlangte am 6. Juni
das Aufsuchen der geplanten Straßenabschnitte, da auf dem Weg zu den Zufahrtsstraßen Polizeikräfte z.T. massiv das Erreichen und spätere Besetzen der
Straßen zu verhindern suchten. Nur aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der BlockiererInnen wie auch der vorher eingeübten Strategie der 5-Finger-Taktik3, konnten die Hindernisse der Polizei überwunden werden und die
Blockaden später auch aufrechterhalten bleiben. Die Polizei konnte schließlich
die rund 4.000 Leute, die dauerhaft an den Blockaden teilnahmen, nicht von der
Straße räumen und vor allem nicht gewährleisten, dass die entschlossen auftretenden BlockiererInnen nach einer Räumung von der Straße fernbleiben würden. Wesentliche Elemente der Block-G8-Kampagne, die zugleich die Stärke
der Blockaden waren, sind:
Die spektrenübergreifende Organisierung der Blockaden
Block-G8 war ein extra für den G8-Gipfel gegründetes Bündnis aus über 120
verschiedenen Organisationen, Gruppen und Netzwerken. Darunter kirchliche
Gruppen, gewerkschaftliche Jugendorganisationen, Anti-Castor-Gruppen, Linksradikale, Antifa-Gruppen aber auch Jugendorganisationen der Grünen und Linkspartei sowie Gruppen aus dem Umfeld der X-Tausend-Mal-Quer-Kampagne.4
Trotz der unterschiedlichen Protest- und vor allem Aktionskulturen der beteiligten Gruppen konnte ein Konsens gefunden werden. So waren verschiedene
Formen der Überwindung von Polizeiketten ebenso möglich, wie auch die Praxisform auf der Blockade selber variabel (Sitzen, Stehen, Liegen). Allerdings
hatten sich alle an der Vorbereitung beteiligten Gruppen vorher auf einen Aktionskonsens geeinigt, sodass es zwar eine Bandbreite von unterschiedlichen
Praxisformen gab, bestimmte Aktionsformen, wie beispielsweise Materialblockaden auf der blockierten Straße aber explizit ausgeschlossen wurden. Das ei3
Methode, um die Straße für die Blockade zu erreichen, beschrieben in der Einleitung.
4
Die Kampagne X-Tausend-Mal-Quer wurde anlässlich der Castor-Transporte nach
Gorleben gegründet und brachte ihre Erfahrungen mit Großeinsätzen der Polizei in die
Block-G8-Kampagne ein.
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
23
nigen auf einen Aktionskonsens ist keine Selbstverständlichkeit. Denn es setzt
voraus, dass sich alle ein Stück weit von ihren gewohnten politischen Praxisformen lösen und miteinander neue Aktionskonzepte entwickeln müssen.
Mit Transparenz und Partizipation konnte Entschlossenheit hergestellt werden
Idee des Bündnisses war es, dass eine breite Delegitimierung der G8 nur zum
Ausdruck gebracht werden kann, wenn der Gipfel mittels realer Blockaden
gestört und damit die Ablehnung der Politik der G8 sichtbar wird. Ziel der
Kampagne war deswegen das Abschneiden des G8-Gipfels von seiner Infrastruktur. Dafür sollte eine Aktionsform gefunden werden, die Raum für Selbstorganisierung bietet, zugleich aber auch die Aktionsformen im Vorfeld transparent macht.
Um die Aktionskonzepte schon im Vorfeld transparent zu machen und ein
möglichst hohes Maß der Partizipation zu erreichen, diskutierten die Beteiligten
bereits im Vorfeld Blockade-Strategien und führten allein in der BRD mehrere
hundert Aktionstrainings und Informationsveranstaltungen durch. So konnten
tausende Menschen auf Situationen vorbereitet werden, die bei den Blockaden
entstehen würden. Dadurch konnten sich viele bis dato nur wenig erfahrene AktivistInnen mit Blockade-Aktionen vertraut machen sowie über Befürchtungen
aber auch rechtliche Konsequenzen diskutieren. Mindestens genauso zentral wie
die Aktionstrainings war das Bilden von kleinen Bezugsgruppen. Diese haben
die Funktion, ein Bezugssystem für die Aktionen zu schaffen, in der die Kleingruppen koordiniert handeln, aber auch aufeinander aufpassen können. Die Bezugsgruppen waren für die Tage des Gipfel-Protests die Voraussetzung für die
erfolgreiche Selbstorganisierung.
Öffentlichkeit im Vorfeld herstellen
Durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit berichteten die Medien bereits vorab
ausführlich über Block-G8, wie beispielsweise über lokale Aktionstrainings und
Info-Veranstaltungen (Tagesspiegel 2007). Neben der Presseaufmerksamkeit
versuchte die Kampagne konkrete wie symbolische Unterstützung in gesellschaftlichen Kreisen zu bekommen, die nicht zu den »typischen AktivistInnen
der Straße« zählen, aber ebenfalls Kritik an zunehmenden Ungleichheitsverhältnissen und Ausgrenzungen formulieren. So veröffentlichte die Block-G8-Kampagne die Namen von Personen aus der Kunst- und Kulturszene wie auch aus
Wissenschaft und Gewerkschaften. Damit konnte der Protest gegen G8 nicht
nur die öffentliche Aufmerksamkeit erhöhen, die Sammlung von UnterstützerInnen hatte ebenso eine gewisse Schutzfunktion vor staatlicher Repression für
diejenigen, die sich an den Blockaden beteiligten.
24
Berit Schröder
Trotz der intensiven Vorbereitungen hatte fast niemand damit gerechnet, dass
die Blockade-Aktionen zum einen für eine so lange Zeit (drei Tage) und zum
anderen in so unmittelbarer Nähe des Tagungshotels stattfinden können. Als
Gründe für den Erfolg sind neben der strategischen Vorbereitung auch die systematische Überbelastung der Polizei zu nennen. Aufgrund der großen Parallelität von Aktionen, so fanden u.a. zum Beginn der Block-G8-Blockaden auch
die Aktionen am Rostocker Flughafen statt, waren die Einsatzkräfte der Polizei weit verstreut und konnten nicht alle Orte des Widerstandes gleich massiv
einkreisen.
Bevor eine Bewertung der Proteste vorgenommen wird, gehe ich im Folgenden auf einige Aspekte ein, die ich als neue Herausforderungen für globalisierungskritischen Protest bezeichne.
Protest vor neuen Herausforderungen – Von »Gegenmanövern«
und prekären Bedingungen der Organisierung
Die Transformationsprozesse5, die mit dem Prozess der Globalisierung einhergehen, veränderten die Bedingungen im Postfordismus als auch die Charakteristika der neuen Bewegungen: Für das Kapital eröffneten sich – verstärkt nach
dem Zusammenbruch der als »realsozialistisch« bezeichneten Staaten – neue
Verwertungsräume, der Zugriff auf Waren- und Arbeitsmärkte weitete sich weltweit aus und die in nationalen Räumen ausgehandelten Kompromisse zwischen
Arbeit und Kapital wurden aufgeweicht. Damit einher ging eine grundlegende
Veränderung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, der auch als Prozess
der Denationalisierung beschrieben wird (Hirsch 2001: 20). Im Zuge der Internationalisierung der Produktion klinkt sich das Kapital aus den national-ökonomischen Akkumulations- und Regulationszusammenhängen aus, die für die
Entwicklung des Binnenmarkts im Fordismus typisch waren. Die zunehmende
Wahrnehmung der Standortkonkurrenz wurde international wie auch binnenstaatlich als Druckmittel genutzt, um Löhne und Arbeitsstandards zu senken und
die Auflösung von Flächentarifverträgen herbeizuführen. Verkürzt lässt sich das
so beschreiben, dass während vorher der Staat die Klassenantagonismen regulierte, so reguliert er jetzt die Kapitalinteressen. Diese Entwicklungen bewirken
Veränderungen auf der Seite des Protests, aber auch bei Institutionen, Regierungen und Formationen wie G8, Weltbank oder IWF, die den Globalisierungs5
Als Transformationsprozesse beschreibt Joachim Hirsch die Prozesse der Denationalisierung, der Privatisierung und Internationalisierung von policy regimes (2001:
20ff.).
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
25
prozess im beschriebenen Sinne zu steuern versuchen. Aus der Perspektive von
Protest und Widerstand ergeben sich neue Herausforderungen.
Protest, Regierungen, die Industriestaaten als Sieger der G8-Gipfel
»Einen Riesenschritt nach vorn«, so bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel euphorisch den G8-Gipfel und insbesondere die klimapolitischen Gespräche
(N24 2007). Angesichts solch euphorischer Meldungen stellt sich die Frage, ob
sowohl die G8 als auch die Demonstrierenden mit den erfolgreichen Blockaden und den für die bundesdeutsche Situation außerordentlich zahlreichen AktivistInnen als »SiegerInnen« hervorgingen.
Zum einen wird kaum jemand erwartet haben, dass auf der Pressekonferenz
der G8 Bundeskanzlerin Merkel von einem misslungenem Treffen berichtet,
genauso unerwartet wäre es gewesen, wenn die G8-RepräsentantInnen offiziell die Beeinträchtigungen durch Blockaden, Aktionen in der Roten Zone oder
geräuschvollen Protest beklagt, ja, gar Störungen öffentlich eingestanden hätten. Vielmehr nutzten die Staats- und Regierungschefs ihre Position gegenüber
der medialen Präsenz und erzählten das eine um das andere Mal von den erfolgreichen Gesprächen und Annäherungen auf dem Gipfeltreffen an der Ostsee.
G8: Integrationsmaschine zivilgesellschaftlicher Themen
Als ein »Gegenmanöver« der G8 kann der Versuch der Integration von Themen in die Agenda der G8 eingeordnet werden, die zuvor von sozialen Bewegungen besetzt waren. Spätestens seit dem Gipfel in Genua 2001 wird versucht,
den Großteil des Protests nicht im grundsätzlichen Widerspruch zur Politik der
etablierten Industriestaaten zu verorten, sondern das Treffen mit dem Mantel
der zivilgesellschaftlichen Beteiligung zu umhüllen (BUKO 2006). Das geschieht durch die Einbindung von NGOs oder durch das Aufgreifen von Themen der Zivilgesellschaft.
Diese Veränderung der Themenpalette der G8 wie auch die Kommunikation
mit NGOs oder Institutionen der Weltpolitik hängt zum einen mit dem Funktionswandel der G8-Gipfel zusammen:6 Gegründet hat sich die G8 als Reaktion auf eine Verschiebung internationaler Machtstrukturen. Entsprechend der
Veränderung der internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IWF) intensivierten die G8 ihren Austausch informeller Art, um ihre Vorherrschaftsstellung
zu wahren. Die G8-Treffen waren Orte der Bündelung der Interessen der beteiligten Nationalstaaten. Im Zuge der zunehmenden Umstrukturierung und weiteren Verschiebung der Machtachsen sinkt die tatsächliche Einflusshoheit der
G8 wieder ab, während ihre Symbolkraft an Bedeutung gewinnt. Heute versu6
Zur Geschichte der G8 siehe Schoppengerd 2007.
26
Berit Schröder
chen die G8 trotz Unstimmigkeiten und Widersprüchen in einer als immer unsicherer wahrgenommenen Welt, souverän aufzutreten: »(E)s wächst das Bedürfnis, Gestaltbarkeit zu demonstrieren und demonstriert zu bekommen. Die
G8 führen aus, was das herrschende Politikverständnis fordert: die Rolle einer
»Weltregierung«, einer Gruppe erfahrener Staatsmänner bzw. -frauen, die angesichts einer zügellosen Globalisierung, in einer immer unübersichtlicheren
Welt, den Überblick behalten – und nicht erkennen lassen, dass ihnen die Zügel längst selbst aus der Hand geglitten sind.« (Schuhmacher 2007)
Zum anderen verändern sich Positionen der G8 in einigen Feldern auch
schlicht aus einer veränderten, ökonomischen Interessenlage heraus. So zeigt
die Betrachtung des Diskurses um Hilfen für Afrika oder auch Entwicklungshilfeprojekte Interessen, die weniger unter dem Vorzeichen der bereitwilligen
Hilfe für Menschen in afrikanischen Communities stehen als vielmehr unter
dem der ökonomischen Verwertung. Dieses Phänomen konnte besonders beim
G8-Gipfel 2005 in Gleneagles beobachtet werden. Damals wurden in Form unterschiedlicher »Hilfs-Pakte« Gelder für Afrika organisiert. Eines der Ziele von
Schuldenerlassen oder der Erhöhung der Entwicklungshilfe ist die Einbindung
einer steigenden Zahl afrikanischer Menschen in den kapitalistischen Markt
als KonsumentInnen, in diesem Prozess werden Subsistenzwirtschaften aufgegeben und der Einstieg in die nationalen oder regionalen Ökonomien vorangetrieben. Das findet das Interesse transnationaler Konzerne und RegierungsvertreterInnen (Caffentzis 2006). Durch die Ausdehnung auf neue Räume, sprich
Absatzmärkte, können die für kapitalistische Systeme charakteristischen krisenhaften Erscheinungen vorübergehend beeinflusst werden. Auch dieser Aspekt
muss bei einer Auseinandersetzung mit der Funktion von Schuldenerlassen und
Armutsbekämpfungsprogrammen der G8 berücksichtigt werden.
Die G8 sucht den Schulterschluss mit ihren KritikerInnen
Ferner sind Kooperationen und Schulterschlüsse zwischen AkteurInnen der
Zivilgesellschaft und RepräsentantInnen des Gipfels von neuer Intensität und
Reichweite. Erinnert sei an den Gipfel 2005 in Gleneagles: Die Musiker Bob
Geldof und Bono initiierten vor Gipfelbeginn zehn Live8-Konzerte, die von einigen hunderttausend Menschen besucht wurden.7 Die Make-Poverty-HistoryKampagne, mobilisierte in enger Kooperation mit den Konzerten am 2. Juli
2005 im Vorfeld des G8-Gipfels über 300.000 Menschen nach Edinburgh und
demonstrierte für den Schuldenerlass für Afrika (makepovertyhistory 2005). Unterstützt wurde die Kampagne auch von Regierungsvertretern wie Tony Blair
7
Die Live8-Konzerte sind als Nachfolge des Benefizkonzerts Live Aid von Bob Geldof
zu sehen, das er 1985 anlässlich der Hungerkatastrophe in Äthiopien veranstaltete.
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
27
und dem damaligen britischen Finanzminister Gordon Brown. Sie ließen sich
so auf ein Spektakel ein, in dem Politik und Popkultur, Protest und Medien zu
einer riesigen Inszenierung verschmolzen (Krönig 2005).8 Protest wie in Gleneagles erinnert somit eher an Lobbyarbeit für die G8 denn an eine widerständige Praxis globalisierungskritischer Bewegungen.
Analytisch gesprochen lassen sich diese Veränderungen deutlich erkennen
und benennen. Denn diese veränderte Strategie der G8, die auch in vielen anderen umkämpften Feldern zu beobachten ist, lässt sich aus dem Verhältnis von
Macht und Widerstand erläutern, die beide, gegenseitig sich bedingend, beweglich und produktiv sein müssen. Machterhalt ist immer eng verbunden mit einer Integration von Protest und Widerstand, Macht »verfeinert ihre Strategie«
(Foucault 1976: 124) immer wieder neu. Dieses passierte auch im Zuge der
G8-Gipfel und der Mobilisierungen dagegen. Das kann auch als »Gegenmanöver der Macht« (ebd.: 125) bezeichnet werden, es zeigt, wie bedeutsam Protest
und Widerstand ist und unter welchem enormen Druck der Veränderung er stehen kann, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken.
Von den Schwierigkeiten kollektiven Handelns für emanzipatorische
Veränderung heute
Das Subjekt im Postfordismus ist einer Unsicherheit in Bezug auf Arbeitsplatz
und Lebensplanung ausgesetzt sowie der Erosion sozialer Strukturen.9 Der Unterschied zwischen Protest und Widerstand unter postfordistischen Arbeits- und
Lebensbedingungen und der alten Arbeiterbewegung oder den Neuen Sozialen
Bewegungen in den 1960er Jahren ist offensichtlich.
Zentraler Ausgangspunkt der alten sozialen Bewegung war das widersprüchliche Verhältnis von Arbeit und Kapital. Die damaligen Bewegungen entstanden, um die Situation der arbeitenden Klasse zu überwinden oder zumindest
zu verbessern. Als Organisationsform bildeten sich u.a. Gewerkschaften, aber
auch Parteien, die einen strukturalistischen Interessenbegriff zum Ausgangspunkt hatten. Trotz der divergierenden Gewerkschaftstypen war Grundlage der
damaligen Gewerkschaftspolitik eine verobjektivierbare Interessenlage aller
ArbeiterInnen, die in einem antagonistischen Verhältnis zu den Interessen der
8
Das gerade in GB diese Inszenierung gelang, ist auch auf die lange Tradition der
Kooperation zwischen NGOs und Popkultur zurückzuführen. In Großbritannien gab es
eine Kooperation zwischen Geldof und NGOs im Themenfeld Afrika bereits 1985.
9
Von Verunsicherung im Hinblick auf soziale Absicherung und Arbeitslosigkeit waren
zu fordistischen Zeiten vor allem Menschen im globalen Süden und MigrantInnen, Frauen
und weitere Gruppen betroffen, die nicht Beschäftigte der Kernökonomie waren.
28
Berit Schröder
Kapitalseite stand (Hyman 1996). Entlang dieser Interessen-Definitionen fanden Kämpfe statt.
Im Fordismus entschärften sich die gesellschaftlichen und ökonomischen
Antagonismen, Klassenauseinandersetzungen konnten in Lohnkämpfe kanalisiert und die regulativen Funktionen von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen ausgebaut werden. Die ArbeiterInnen und damit die Subjekte des
Fordismus waren nicht mehr nur MehrwertproduzentInnen, sie waren auch WarenkonsumentInnen. Lohnarbeitende der Kernökonomien partizipierten, wenn
auch bescheiden, am Wohlstand. Die verbesserten Reproduktionsbedingungen
wirkten verändernd auf Sozialstruktur und Klassenbewusstsein, Stichworte sind
hier die Diversifizierung der Lebenslagen, Ausweitung der Entscheidungsspielräume und individueller Lebensgestaltung (Beck 1983) und das Herauslösen aus
traditionellen Verhältnissen der Proletarität (Karathanassis 2006: 24).
Wenn traditionelle Formen der Organisierung in Parteien und Gewerkschaften
im Zuge postfordistischer Erneuerung des Kapitalismus an Bedeutung verlieren,
stellt sich die Frage der Organisierung10 unter Bedingungen der Prekarisierung
neu. Wenn es nicht mehr »die Interessen« als Ausgangspunkt für gesellschaftspolitische Veränderung gibt, sondern aufgrund unterschiedlicher Stellungen im
Produktionsprozess sich unterschiedliche Bedürfnis- und Interessenlagen ergeben, dann gilt es, diese heute zu definieren. Ein Ausdruck dieser Form von Forderungen und Überwindungsansätzen muss erst gefunden werden.
Doch dieser Prozess ist mühsam. Auch auf die Initiierung von und Beteiligung an Protest wirken strukturelle Bedingungen, wie die zunehmende Flexibilisierung und Selbstorganisation von Beschäftigten mit neuen Identifikationspotenzialen sowie eine erweiterte Verantwortungsübernahme der Einzelnen. Die
ohnehin schon verschwommenen Interessensgegensätze werden unsichtbarer,
sodass eine Selbstpositionierung im Betrieb oder auch in gesellschaftlichen Diskursen schwerer erscheint, weil eine »objektive Interessenslage als Arbeitskraft
nicht mehr erkennbar ist« (Voß/Pongratz 1998: 152). Auch die häufig als »Freiraum« bezeichnete Lebensphase Studierender ist diesen Veränderungen ausgesetzt, der Raum Universität ist längst nach den Kriterien der Ökonomisierung
von Lehre und Forschung bestimmt (Zeuner 2007). »Das Studierverhalten der
studentischen ArbeitskraftunternehmerInnen ist von der Antizipierung der Anforderungen des Arbeitsmarktes geprägt und dient der Entwicklung eines individuellen Qualifikationsprofils« (Hermann 2001: S. 5). In der Folge werden
Inhalte und Lebenserfahrungen, die als nebensächlich für die eigene Qualifika-
10
Die Debatte um Organisierung und das neue Subjekt wird im Kreis um die Mayday-OrganisatorInnen geführt (Nowak 2007; Riedmann 2006).
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
29
tion erscheinen, zurückgestellt. Fragen der Interessenvertretung wie auch andere politische Felder bleiben weitgehend unberücksichtigt.
Die Suche nach Formen der Organisierung und Auseinandersetzung mit Leben und Arbeiten unter den beschriebenen wie auch weiterer Bedingungen ist
u.a. auch Ausgangspunkt globalisierungskritischer Bewegungen. Charakteristisch für die globalisierungskritische Bewegung heute ist, dass die Frage nach
den Interessen neu gestellt wird und die Suche nach Definitionen für kollektive
Identitäten (Bader 1991:104ff.) wieder begonnen hat. Ein spezifischer Unterschied zu früheren sozialen Bewegungen ist bei der globalisierungskritischen
Bewegung der organisatorische wie pragmatische Internationalismus als Ausgangspunkt der Bewegung, die entschiedene Bejahung der heterogenen Zusammensetzung (Brunnengräber 2006: 22ff.; Seibert 2003: 59) sowie eine netzwerkartige Organisationsform, die an horizontalen Strukturen orientiert ist.
G8-Protest 2007: Experimentierfelder vor dem Hintergrund
neuer Herausforderungen
Hier gilt es jetzt auf der Folie der genannten neuen Herausforderungen, denen
Protest, aber eben auch globalisierungskritische Proteste ausgesetzt sind, die
Aktivitäten rund um Heiligendamm zu betrachten. Referenzpunkte hierfür sind
der Umgang der Bewegung mit den »Gegenmanövern« der Macht und den prekären Verhältnissen in Bezug auf Organisierung.
Die Gipfelproteste in Heiligendamm waren darauf vorbereitet, dass auf einer
oberflächlichen Betrachtungsebene eine thematische Nähe zwischen Themen
des Widerstands und des Gipfeltreffens hergestellt werden. Aus diesem Grunde
wurde bereits im Vorfeld immer wieder die breite Delegitimierung der G8 im
Zuge des Protests gefordert, in den Blockaden sollte sie einen praktischen Ausdruck finden. Die Strategie, frühzeitig die Delegitimierung der G8 als Basis des
Protests zu verankern, erschwerte eine Vereinnahmung des Protests. Es wurde
nicht auf eine Beeinflussung der Themensetzung oder der konkreten Entscheidungen abgezielt, sondern deren Legitimität grundsätzlich bestritten. Die Delegitimierung wurde massiv in die vorbereitenden Kreise eingebracht, die drei
großen im Vorfeld durchgeführten Aktionskonferenzen in den Jahren 2006 und
2007 danach ausgerichtet, dass ein unmissverständliches Nein durch die Umzingelung und die Blockade der G8 sichtbar wird. Viele der vorbereitenden Akteure versuchten immer wieder, die Delegitimierung und damit die Forderung
nach einer Abschaffung des Treffens der G8 als kleinsten gemeinsamen Nenner zu verankern und gegen stärker dialogorientierte Ansätze zu verteidigen.
Auch wenn das nur bedingt gelungen ist und viele der NGOs immer wieder
30
Berit Schröder
versuchten, auf die Agenda der G8 Einfluss zu nehmen11, so konnte die Delegitimierung gleichwohl ihren Ausdruck zum einen in den Blockaden, Camps
und Vorfeldaktionen finden, zum anderen war die Position der Delegitimierung
ebenso auf dem Alternativgipfel und vor allem auf der Großdemonstration am
2. Juni 2007 präsent.12
Insgesamt konnten jedoch in Heiligendamm, wie bei früheren Gipfelprotesten, die politischen Konzepte der G8 in der Öffentlichkeit nur begrenzt kritisiert
und hinterfragt werden. So gab es im April 2007 ein größeres Treffen zwischen
NGOs und G8-Sherpas und bei einem von der Kampagne Deine-Stimme-gegenArmut am 7. Juni organisierten Konzert in Rostock trat neben Herbert Grönemeyer auch wieder Bono auf. Im Gegensatz zu Gleneagles zwei Jahre zuvor,
gelang es der Bundesregierung diesmal jedoch nicht, den Protest zu vereinnahmen, das Bild »es wollen Protest und G8 alle das gleiche« konnte nicht produziert werden. Nicht zuletzt Dank des symbolträchtigen Zauns um den Tagungsort gelang es, ein klares Bild zu zeichnen, auf dem Protest und Widerstand auf
der einen Seite stehen, und die offiziellen Gipfel-Interessen auf der anderen.
Der Protest spielte dem G8-Gipfel nicht in die Hände.
Trotz der veränderten Lebens-, Arbeits- und Protestbedingungen gab es
rund um Heiligendamm dieses große Protestereignis, an dem sich insgesamt
100.000 Menschen ihren zeitlichen Kapazitäten entsprechend eingebracht haben. Es wurde sich organisiert, positioniert, das »Unternehmen«, auch die Uni,
verlassen, mit Freunden oder bis dato Unbekannten eine Bezugsgruppe gebildet. Viele Menschen, auch aus anderen Teilen der Erde brachten ihre Projekte
in den Prozess ein.
Im Vordergrund stehen seit dem Ende der 1990er Jahre nicht mehr so stark
identitätsbildende Merkmale, wie sie vor allem in der Arbeiterbewegung aber
auch den Neuen Sozialen Bewegungen zu finden waren, sondern handfeste Aspekte des täglichen Lebens unter den Bedingungen des Postfordismus (Riedmann 2006: 45), die auch die Suche nach neuen Wegen, Formen der Organisierung und Ansätzen der Veränderungen bestimmen. Eine Suche nach Formen der
Organisierung und Auseinandersetzung mit Leben und Arbeiten unter den herrschenden Bedingungen findet sich in der globalisierungskritischen Bewegung.
Hinter der Debatte über gesellschaftliche Teilhabe und Globale Soziale Rechte
verbirgt sich nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Gefälle zwischen dem
globalen Süden und den Ländern des Nordens. Die Debatte um Teilhabe durch
11
Bei einem Treffen in Bonn vom 24. bis 25. April 2007 gab es drinnen am Tisch
NGO-Vertretungen mit dem G8-Sherpa und vor den Türen Transparente und Parolen.
12
Etwa 7000 Personen waren Teil des Blocks der Interventionistischen Linken und
zeigten sich mit dem Slogan »Make Capitalism History«.
Heiligendamm 2007 – Experimentierfelder in Zeiten der Umbrüche
31
Aneignungen oder ein bedingungsloses Grundeinkommen setzt konkret auch
bei den Lebensrealitäten der Menschen in West-Europa und ihrer Wahrnehmung
der eigenen Situation an. Die Akzentuierung liegt dabei auf dem Potenzial der
Selbstorganisierung zur Veränderung bestehender Verhältnisse, damit zusammen hängt die Kritik an so genannten Stellvertreterkämpfen und an einer Politik der Delegierung von Problemlösungen (Zattler 2005: 10).13
Ein wesentlicher Erfolg waren im Sommer 2007 auch die erlangte Kraft und
gewonnenen Synergien durch die Überwindung der single-issue-Anliegen einzelner Teilbereichskämpfe, wie Kämpfen gegen Rassismus oder für entwicklungspolitische Anliegen. Nur durch den Willen fast aller an den Vorbereitungen
beteiligten Strömungen, gemeinsam die Verantwortung für den Protest zu übernehmen, konnten die Proteste um Heiligendamm zu einem so erfolgreichen
globalisierungskritischen Großereignis werden, auf das auch in den folgenden
Monaten aufgebaut werden konnte. Denn hätten beispielsweise die migrationspolitischen Gruppen alleine für eine Demo für Bewegungsfreiheit mobilisiert,
so hätten sie vermutlich weder die hohe TeilnehmerInnenzahl noch eine ebenso
große Medienaufmerksamkeit bekommen. Auch die internationale Großdemo
am 2. Juni hätte ohne die Mobilisierung durch Linkspartei und die Radikale
Linke eine zahlen- und wirkungsmäßig geringere Resonanz gefunden.
Die vielfachen Blockaden rund um den Gipfel haben deutlich gemacht, dass
Widerstand und Protest heute einen Prozess der Kooperation und Planung voraussetzen, um die Barrieren der Gegenseite, die sich abstrakt in Vereinnahmungsstrategien und konkret in Polizeiketten und Repression manifestieren, umgehen
zu können und erfolgreich Aktionen durchzuführen. Auch wirken die Erfahrungen nach: Bei dem Versuch der Neubesetzung eines Jugendzentrums in Kopenhagen griff der Vorbereitungskreis im Herbst 2007 die Idee der Block-G8Kampagne auf und stellte sie für die eigenen Bedürfnisse und Ziele um.
Ein Teil der globalisierungskritischen Bewegung hat ihr Gesicht gezeigt und
ging gestärkt aus den Protesten hervor. Auch wenn die Bedingungen sich nicht
zum Besseren gewandelt haben, so konnte doch das zuvor herrschende Motivationsloch vorerst zum Positiven gefüllt werden. Insofern war Heiligendamm
ein Experimentierfeld, das noch länger nachwirken wird.
13
Selbstverständlich steht ein Teil der globalisierungskritischen Bewegung für diese
appellative auch als reformistisch bezeichnete Politik, aber dennoch nimmt ein nicht unbedeutender Teil der Radikalen Linken die anderen Positionen zunehmend sichtbar ein.
32
Berit Schröder
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Niels Seibert
G8-Gipfel und Militanz,
Repression und Solidarität
Am Beispiel des G8-Gipfels, zu dem sich Anfang Juni 2007 die acht mächtigsten Staatschefs in Heiligendamm an der Ostsee versammelten, um eine Politik zu koordinieren, die bei vielen Menschen auf Ablehnung stößt, werden im
Folgenden die teils militanten Proteste, die erfolgte staatliche Repression sowie die darauffolgenden Initiativen der Solidarität resümiert und für eine entschiedene und offensive Solidaritätsarbeit plädiert, die die Legitimität militanter Politik hervorhebt.
Hintergrund
Die reichsten und mächtigsten Staaten verständigen sich seit 1975 während ihren jährlichen Treffen auf politische Maßnahmen und Programme, die die gesamte Welt betreffen. Die G8-Gipfel stehen seit Jahren aus vielen Gründen in
der Kritik. Kritisiert wird die Informalität und fehlende Legitimität der Treffen.
So besteht keine Transparenz über die Verhandlungen und Entscheidungsfindungen und es gibt keine Form einer demokratischen Kontrolle durch die von
den Beschlüssen betroffenen Menschen in aller Welt. Selbst innerhalb der G8Staaten erlaubt das repräsentativ-demokratische System keine adäquate Form
demokratischer Teilhabe und politischer Partizipation an den weitreichenden
Entscheidungen. Kritisiert wird zudem die inhaltlich-politische Ausrichtung der
Gipfeltreffen. Die dort ins Werk gesetzte Politik folgt im Wesentlichen neoliberalen Zielen und dient in weiten Teilen dem Erhalt der Vormachtstellung der
G8-Staaten und deren Industrien in der Welt.
Die Kritik äußert sich seit geraumer Zeit in Form von Massenprotesten rund
um inszenierte Großevents wie WTO-Konferenzen oder auch die G8-Treffen
selbst. Sie dienen als Ort um der eigenen Kritik exemplarisch und weltweit hörbar Ausdruck zu verleihen. Sie sind für die internationale globalisierungskritische Bewegung Orte des gemeinsamen Protests. Spätestens seit der Blockade
der WTO-Konferenz 1999 in Seattle nehmen die Proteste dabei auch militante
Formen an. Die Ausschreitungen anlässlich des G8-Gipfels 2001 in Genua trugen zu einem Bedeutungsgewinn und einem Anwachsen der Proteste bei. Die
G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität
35
Proteste anlässlich der Gipfeltreffen sind insbesondere bei den jeweiligen gastgebenden Staaten nicht willkommen. Deshalb sollte ein eigens gebauter zwölf
Kilometer langer Zaun um das Ostseebad Heiligendamm und eine noch weiter
reichende so genannte Rote Zone, für die während der Gipfeltage ein Aufenthaltsverbot ausgesprochen wurde, die zahlreich erwarteten Demonstrant/innen
davon abhalten, zu nahe an das Kempinski Grand Hotel vorzudringen und das
Gipfeltreffen zu stören.
Protestvorbereitung
Die Vorbereitung der Proteste anlässlich des G8-Gipfels 2007 in Deutschland war
etwas Besonderes. In nahezu jeder politischen Gruppe und Organisation waren
das G8-Treffen und die anstehenden Proteste ein Thema. Bereits zwei Jahre vor
dem Gipfel – sein genaues Datum stand noch nicht fest – vernetzten sich in allen
Ecken der Republik Menschen auf regionalen, bundesweiten und internationalen Treffen und Konferenzen, um vielfältige Protestaktivitäten zu organisieren.
Diese reichten von Kongressen und Demonstrationen über Massenblockaden
und Formen des zivilen Ungehorsams bis hin zu klandestinen Aktionen. Die
Gipfelgegner/innen repräsentierten ein breites gesellschaftliches Spektrum: Sie
kamen aus Kirchen, NGOs, Gewerkschaften, Parteien, politischen Netzwerken,
der Friedens- und der globalisierungskritischen Bewegung sowie linksradikalen
und autonomen Gruppen. Selbstverständlich kam es bei ihren Zusammentreffen auch zu Kontroversen und spannenden Streitigkeiten um unterschiedliche
Auffassungen und Einschätzungen von Protestinhalten und -formen. Gestritten wurde beispielsweise über die Frage, ob und inwieweit man Parteien in die
eigenen Bündnisse miteinbezieht oder ob der Gegengipfel besser vor und nicht
zeitgleich mit dem G8-Gipfel stattfinden sollte, damit alle gemeinsam den Tagungsort blockieren können und nicht diejenigen dabei fehlen, die an den inhaltlichen Veranstaltungen des Gegengipfels interessiert sind.
Trotz aller Meinungsverschiedenheiten blieb das Verbindende die gemeinsame Überzeugung, dass es nicht tragbar sei, dass die acht mächtigsten Staatschefs über das Schicksal der Welt entscheiden. Der breite Konsens beinhaltete
die Verständigung darüber, nicht am Tisch der G8-Staaten mitreden zu wollen
oder ihnen Forderungen zu stellen, sondern um für grundlegend andere Formen zu streiten, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. So entstand die Parole: »G8 delegitimieren!«
36
Niels Seibert
Repression
Die Protestvorbereitungen waren einigen deutschen Behörden und Diensten ein
Dorn im Auge. Bereits im Vorfeld des Gipfels führten von der Bundesanwaltschaft geleitete Ermittlungsverfahren am 9. Mai 2007 zu Hausdurchsuchungen
in 40 linken Projekten und Wohngemeinschaften. Teils mit Maschinenpistolen
bewaffnet und mit Sturmhauben vermummt stürmten Sondereinheiten der Bundespolizei früh morgens durch verschlossene Eingangstüren in die Wohnungen.
In einigen Fällen blieben sie dort bis in die späten Abendstunden, um akribisch
jeden Zettel zu betrachten, jede Zeitschrift und jedes Buch durchzublättern, in
jeden Tonträger hineinzuhören und Computer, Mobiltelefone, Kalender, Notizbücher, Zigarettenkippen für DNA-Proben und vieles mehr zu beschlagnahmen.
Der Vorwurf gegen namentlich 21 Verdächtige lautete »Gründung einer terroristischen Vereinigung nach §129a StGB«. Gemeint war sowohl die militante
gruppe, die seit 2001 zahlreiche Angriffe gegen multinationale Konzerne, Justizbehörden, Arbeitsämter und andere Institutionen unternahm, als auch eine so
genannte militante Kampagne zur Verhinderung des G8-Gipfels.
Neben zahlreichen Mobilisierungsveranstaltungen und Blockadetrainings
war es im Vorfeld des G8-Gipfels unter anderem auch zu militanten Interventionen gekommen. Einige davon nahm die Bundesanwaltschaft zum Anlass für
die Razzien. Mit verschiedenen Aktionen zu den Themenfeldern der G8-Proteste haben unterschiedliche Gruppen bewusst den Rahmen der Legalität überschritten. Sie erreichten damit eine große Medienöffentlichkeit und eröffneten
Empörungskorridore. Mit einigen Anschlägen verdeutlichten sie, dass die G8Gäste nicht willkommen sind: Schon im Oktober 2005 gab es einen materiell
nachhaltigen Angriff auf das im Bau befindliche Gästehaus des Auswärtigen
Amtes in Berlin. Ein gutes Jahr später wurde das Kempinski-Hotel in Heiligendamm mit Farbbeuteln beworfen. Auch die Themen des Gipfels und der Proteste
wurden von klandestin auftretenden Gruppen aufgegriffen: Um Patente und Monopole zu skandalisieren, verschenkten Weihnachtsmänner und -frauen in der
Adventszeit illegal gebrannte Musik-CDs. Zum Thema Globale Landwirtschaft
wurden Brandsätze bei einem Genmais-Konzern deponiert. Das Wohnhaus des
Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns wurde mit Steinen und Farbbeuteln beworfen, um dessen Verantwortung für den staatlichen Rassismus –
konkret die Lagerunterbringung von Flüchtlingen – hervorzuheben und damit
einen inhaltlichen Beitrag zum Thema Migration zu leisten. Das Anzünden der
Privat-PKWs zweier Vorstandsmitglieder eines Rüstungskonzerns hatte Krieg
und Militarismus zum Gegenstand. Weitere Inhalte waren die kolonialistischimperialistische Kontinuität deutscher Firmen, Arbeitsrechtsverletzungen und
die Verhinderung von Gewerkschaftsgründungen, Hartz IV und Polizeirepres-
G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität
37
sion (Broschürengruppe 2007: 46ff.). Die jeweilige Kritik an den genannten Inhalten äußerte sich in der Praxis, das Copyright zu verletzen, Scheiben einzuwerfen, Autos abzubrennen oder Hausfassaden farblich zu verändern. Einige
Medien, Politiker und Staatsanwälte bezeichneten diese regelverletzenden und
militanten Aktionen als terroristisch. Sie benutzten »Terrorismus« meist bewusst
als diffamierenden und ideologischen Begriff. Aber ob es sich überhaupt um
terroristische Akte handelt, wurde in der öffentlichen Diskussion unterschiedlich beantwortet (Hipp & Schmidt 2007).
Um die Durchsuchungsbeschlüsse auszustellen, reichte den Ermittlungsrichtern des Bundesgerichtshofs (BGH), dass die Betroffenen langjährige linke
Aktivist/innen sind oder sie zu Themen arbeiten, zu denen es auch Anschläge
gegeben hat. In einem Fall genügte für die Unterzeichnung des Durchsuchungsbeschlusses eine Internetrecherche zum Dussmann-Konzern, der wegen besonders niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen und wegen seiner Mitverantwortung für entwürdigende und diskriminierende Verhältnisse in
einem Berliner Flüchtlingslager wiederholt Ziel von Protest- und Widerstandsaktionen wurde. Konkrete Beweise für die Täterschaft der Durchsuchten lagen
nicht vor. Faktisch tappten die Fahnder im Dunkeln. Sie hatten und haben offenbar keine Ahnung, wer hinter den verschiedenen Anschlägen steckt, die thematisch den G8-Gipfel aufgegriffen haben. Wie fadenscheinig die Argumente der
Bundesanwaltschaft und der Ermittlungsrichter waren, belegt nicht zuletzt auch
ein am 4. Januar 2008 veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtshofs, demzufolge Durchsuchungen am 9. Mai 2007 rechtswidrig waren.
Die Polizeirazzien wurden von der Anti-G8-Bewegung als Versuch gewertet, die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel einzuschüchtern und die Bewegung zu spalten. Doch diese Strategie ging nicht auf: Schon am Abend der
Hausdurchsuchungen kam es in mehreren Städten zu spontanen Demonstrationen mit insgesamt 10.000 Menschen. Bezüge auf Demokratie, Meinungsfreiheit und Schutz der Privatsphäre sowie die dann später auch in Rostock skandierten Parolen »Wir sind alle 129a« und »militante gruppe: das Salz in der
Suppe« waren ein Ausdruck der Solidarität gegen die staatliche Repression.
Die Kriminalisierung von Menschen aus der G8-Protest-Vorbereitung wurde
zurückgewiesen und die Kampagne gegen den G8-Gipfel ging aufgrund der
Solidarisierung, die bis in bürgerlich-liberale Kreise reichte, gestärkt aus dem
Repressionsversuch hervor.
38
Niels Seibert
G8-Proteste
Mit der Teilnahme an den Protesten vor und während des G8-Gipfels bekannten
sich Zehntausende zu dem, was den von den Polizeirazzien Betroffenen vorgeworfen wurde: den G8-Gipfel verhindern zu wollen. An der Demonstration
am 2. Juni 2007, an den Aktionstagen »Globale Landwirtschaft«, »Migration«
und »Krieg, Folter und Militarismus« sowie an den Blockaden rund um Heiligendamm nahmen insgesamt mindestens 80.000 Menschen teil. Dabei wurde
ein breites Protestrepertoire eingesetzt: Demonstrationen mit Riesenpuppen,
mit Clownsarmee und mit schwarzem Block, Straßenrandale mit fliegenden
Pflastersteinen, Besetzungen, Kundgebungen, Spontandemos, Camps, Gegenkongresse, Konzerte, Massenmärsche in die Rote Zone, Durchbrechen von Polizeiketten, Sitzblockaden sowie professionelle Aktionen zu Wasser und in der
Luft (Mohr 2007).
Die bewusst mit einer Regelverletzung einhergehenden zweitägigen Massenblockaden von weit über 10.000 Menschen auf den Zufahrtswegen nach
Heiligendamm haben den Gipfel auf dem Landweg fast vollständig von seiner
Infrastruktur abgeschnitten. Die Versorgung der Gipfelteilnehmer/innen war
zeitweise nur über den Wasser- bzw. den Luftweg möglich. Das Treffen der
G8 wurde dadurch allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz in seinem Ablauf
gestört. Die Blockaden und andere Proteste waren eine Demonstration zivilen
Ungehorsams und rebellischen Widerstands. Sie waren – ebenso wie die Entglasung von Banken und die Steinwürfe auf martialisch ausgerüstete und für
ihre Brutalität bekannte Polizeihundertschaften während der Demo am 2. Juni
– eine kollektive, entschlossene und offensive Intervention. Insbesondere die
Blockaden brachten zum Ausdruck, dass viele Menschen bereit sind, sich eigenständig Räume jenseits des vorgegebenen Rahmens zu erobern und anzueignen
– auch durch die Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols. Sie waren beeindruckend auch für viele, die sich nicht daran beteiligten. Sie waren Anlass
für zahllose Gespräche, Diskussionen und Feierlichkeiten.
Verhaftungen
Nach Verhaftungen und weiteren Durchsuchungen am 31. Juli 2007 wurde bekannt, dass in der Zeit der Gipfelprotestvorbereitung noch andere Ermittlungsverfahren nach §129a gegen langjährige politische Aktivisten eingeleitet worden waren. Zunächst vier weiteren Personen, darunter der linke Stadtsoziologe
und Anti-G8-Aktivist Andrej Holm, wurde ebenfalls Mitgliedschaft in der militanten gruppe vorgeworfen. Als Beleg mussten, ähnlich wie für die Durch-
G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität
39
suchungen im Mai 2007, haarsträubende Ausführungen herhalten. Einige der
Betroffenen hätten wissenschaftliche Arbeiten verfasst, die »Schlagwörter und
Phrasen enthalten, die in Texten der militanten gruppe gleichfalls verwendet
werden« (wie beispielsweise »Gentrification«). Auch würden sie über die »intellektuellen Voraussetzungen« verfügen, die für das Verfassen der »vergleichsweise anspruchsvollen Texte« der militanten gruppe nötig seien (zit. nach Kaleck 2007).
Das Verfahren gegen die vier Beschuldigten wurde auf drei weitere Personen ausgeweitet, die in der Nacht zum 31. Juli 2007 nach dem Versuch, Bundeswehr-LKWs anzuzünden, festgenommen wurden. Auch Andrej Holm, der
sich Monate zuvor mit einem der drei weiteren Festgenommenen getroffen hat,
wurde verhaftet und saß drei Wochen in Untersuchungshaft. Sein Haftbefehl
wurde schließlich mit Beschluss vom 18. Oktober 2007 aufgehoben. Nach Ansicht des dritten Strafsenats des BGH liege kein dringender Tatverdacht gegen
ihn vor. Nach vier Monaten, am 28. November 2007, wurden auch die übrigen
drei Gefangenen auf Kaution entlassen. Gleichzeitig hat der BGH die umstrittene Terrorismus-Frage beantwortet und klargestellt, dass die militante gruppe
nach derzeitiger Gesetzeslage keine terroristische Vereinigung nach §129a,
sondern lediglich eine kriminelle Vereinigung nach §129 sei. Höchstrichterlich
wurde damit die Realität anerkannt: Die militante gruppe ist nicht die Rote Armee Fraktion.
Die §§129/129a gehören zum politischen Sonderstrafrecht in der Bundesrepublik. Sie wurden wiederholt verschärft, aber immer wieder werden sie auch
grundsätzlich kritisiert und ihre Abschaffung gefordert. Mit dem §129 ging
der Staat in den 1950er und 1960er Jahren gegen Kommunist/innen vor, 1976
wurde der §129a eingeführt, um ihn gegen die RAF einzusetzen. In den 1970er
und 1980er Jahren wurden außerdem zahlreiche §129a-Ermittlungsverfahren
lediglich aufgrund verbaler Äußerungen und Sympathiebekundungen mit Stadtguerillagruppen eingeleitet. Aufgrund dieses Paragraphen kann also schon eine
politische Gesinnung mit Strafe bedroht sein. Allein ein Anfangsverdacht einer Straftat reicht aus, um die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden massiv auszuweiten. So können auch ohne konkrete Beweise Menschen überwacht
und zu Leidtragenden von Hausdurchsuchungen werden. Der Paragraph ist daher in erster Linie ein Ermittlungs- und Ausforschungsparagraph, der vor allem
gegen die politische Linke eingesetzt wird (Gössner 2007). Ausgestattet mit den
weitreichenden Befugnissen, die das Instrumentarium §129/129a bietet, können geheime polizeiliche Methoden wie Postkontrolle, Telefonüberwachung,
Observationen, die Einschleusung von verdeckten Ermittlern mit falscher Identität, der Große Lauschangriff, aber auch Razzien, Straßenkontrollen, Rasterfahndung und mutmaßlich bald auch Online-Durchsuchungen begründet wer-
40
Niels Seibert
den. Außerdem erlaubt der §129a die Beschneidung der Verteidigungsrechte der
Betroffenen vor Gericht und die Verhängung isolierender Haftbedingungen. In
nur sechs Prozent aller abgeschlossenen Fälle kommt es überhaupt zu einer Anklage und einem Urteil (Gössner 2007).
In den hier vorgestellten Fällen bewahrheiteten sich die Befürchtungen der
Kritiker/innen der §§129/129a einmal mehr. Eines der Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Mitgliedschaft in der militanten gruppe läuft bereits seit 2001.
Die Betroffenen dieses Verfahrens unterliegen seitdem einer permanenten Überwachung, ohne dass irgendein für die Strafverfolgungsbehörden handfestes Ermittlungsergebnis zu Tage kam. Auch in den anderen Verfahren werden politisch engagierte Personen belästigt und ausspioniert. So wurde zum Beispiel am
Auto eines Betroffenen ein Peilsender des BKA entdeckt. Die Bundesanwaltschaft erhob bisher weder Anklage noch stellte sie die Verfahren ein.
Die Mitgliedschaft der Beschuldigten in der militanten gruppe vermuten die
Ermittlungsbehörden aufgrund von Überschneidungen in der Argumentation
und der Übereinstimmung formulierter Ziele. Tatsächlich drehen sich die Aktionen der militanten gruppe um Themen, die auch Themen der sozialen Bewegungen sind: Stadtentwicklung und Gentrifizierung, Krieg und Militarisierung,
soziale und politische Repression, staatlicher Rassismus und andere mehr. Mit
Anschlägen und Diskussionspapieren hat sich die militante gruppe auch in die
G8-Protestbewegung eingebracht. Nicht zuletzt deswegen gibt es in Teilen der
Linken große Sympathien für ihre Aktionen.
Aber nicht nur in ihren Fragestellungen und Inhalten, auch in der politischen
Praxis vieler linker und militanter Aktivist/innen gibt es Überschneidungen: Die
Regelverletzungen während des G8-Gipfels wie beispielsweise auf der Demo
am 2. Juni in Rostock sowie die Blockaden um Heiligendamm stellen ebenso
wie die zahlreichen Brandanschläge das staatliche Gewaltmonopol in Frage. Die
staatlichen Ermittlungsbehörden sehen das nicht gerne. Sie nervt die seit Jahren andauernden Militanzdebatten in Teilen der radikalen Linken ebenso wie
die kontinuierliche militante Praxis, die vor dem G8-Gipfel einen Höhepunkt
erreichte. Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erkennen in Anschlagserklärungen der militanten gruppe »den alten Geist der RAF« (Wittrock 2007) und
befürchten sogar, dass aus den permanenten Regelverletzungen, aus dem Infragestellen des staatlichen Gewaltmonopols und aus der Kontinuität militanter
Aktionen erneut eine Stadtguerilla entsteht (Nibbrig & Pletl 2007). Die umfangreiche Repression einschließlich der Verhaftungen zielt deshalb auch auf Einschüchterung und Verbreitung von Angst in der politischen Linken. Niemand
soll dem Gedanken verfallen oder gar Gefallen daran finden, die herrschende
Ordnung der Welt anzugreifen, wie es in Heiligendamm punktuell und erfolgreich geschehen ist.
G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität
41
Solidarität
Das Anfang August 2007 neu bekannt gewordene §129a-Verfahren löste sehr
schnell eine über die BRD hinausgehende Welle von Solidaritätserklärungen
vor allem in akademischen Kreisen aus. Diese wandten sich gegen die Verhaftung ihres Kollegen. Die breite, internationale Solidarität trug ihren Teil dazu
bei, dass die Richter am Bundesgerichtshof Andrej Holm und später auch die
drei anderen Verhafteten aus der Untersuchungshaft entließen.
In vielen Solidaritätserklärungen und in der Medienberichterstattung war die
Rede davon, dass die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr sei (Bündnis 2007).
Es wurde auch vom »Ende der kritischen Wissenschaft« (Schwentker 2007) gesprochen. Diese Aussagen waren eine Zuspitzung. Keiner der Betroffenen wurde
verfolgt, weil er kritischer Wissenschaftler ist. Linke Akademiker/innen müssen
deshalb nicht befürchten aufgrund schlauer Analysen verhaftet zu werden.
Andere Teile der Solidaritätsbewegung gehen deutlich weiter. Die den Verhafteten vorgeworfene Tat, Brandsätze unter Bundeswehrfahrzeuge gelegt zu
haben, wird als antimilitaristische Aktion verstanden und in einen Zusammenhang mit der deutschen Kriegspolitik gestellt (Gruppe X 2007). Vor dem Hintergrund des erwarteten Beschlusses des Bundestags für eine Verlängerung des
Afghanistaneinsatzes – gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung – begrüßten Menschen aus der Solidaritätsbewegung die konkrete Abrüstungsinitiative (Wohlgemuth 2007). Als solche verstanden, reiht sich die Aktion in antimilitaristische Aktivitäten der letzten Jahre auf verschiedenen Kontinenten und
anderen europäischen Ländern ein (Gruppe X 2007).
Doch beide Formen der Solidaritätsarbeit zeigen ein generelles politisches
Problem der Linken auf: Die von Repression Betroffenen werden meist als harmlos und unschuldig dargestellt. Unangesprochen bleibt dabei der Aspekt, dass
Widerstand Repression zur Folge hat und dass militante Linke für den Staat als
Terroristen gelten. So auch in diesem Fall. Die einen sprechen von »kritischen
Wissenschaftlern« und verschweigen deren politische Aktivitäten, die anderen
berufen sich auf ein Widerstandsrecht und argumentieren, die Bundeswehr anzugreifen, sei keine terroristische oder kriminelle Tat, unter anderem weil die
Mehrheit der Bevölkerung gegen den Einsatz in Afghanistan ist. Diese Interpretationen produzieren die Illusion, in der Linken gäbe es keine Bestrebungen nach einer revolutionären Perspektive mit militanter oder umstürzlerischer
Praxis. Sie machen deshalb linksradikale Politik unglaubwürdig und tragen zu
einer Entpolitisierung bei, weil sie die in der radikalen Linken vorhandenen revolutionären Ziele verleugnen und das politische Projekt militante gruppe bagatellisieren. Damit liquidieren sie militante Politik und bieten wenig Orientierung für andere politische Aktivist/innen.
42
Niels Seibert
Es gibt allerdings auch Ausnahmen, wie beispielsweise die Solidaritätsgruppen für die § 129a-Verfolgten in Bremen und Hamburg, die erklärten: »Wir sind
nicht harmlos. Wir sind nicht unschuldig. Wir kämpfen gegen diese herrschenden
Verhältnisse. Wir wollen ein anderes Leben. Wir wollen eine andere Welt. Es
geht uns um eine Welt, in der der Mensch und nicht die ökonomische Rationalität im Mittelpunkt von Denken und Handeln steht. Und – um uns in die Kontinuität der Geschichte zu stellen – mit Marx gesprochen: ›Alle Verhältnisse
umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.‹« (Soligruppen 2007)
Wer wie die G8-Kritiker/innen für eine andere, bessere Welt streitet, muss sich
auch über die möglichen Mittel und Wege dorthin verständigen. Wer Herrschaft
abschaffen will, muss die Bundeswehr bekämpfen, weil sie ein Herrschaftsinstrument ist. Genau das zu verteidigen und aufzugreifen, was die staatliche Repression ins Visier nimmt, für die Notwendigkeit militanter Praxen zu werben
und einzutreten, ist eine konsequente, entschlossene und offensive, das heißt:
militante Form der politischen Solidaritätsarbeit.
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G8-Gipfel und Militanz, Repression und Solidarität
43
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Rudi Maier
Image. Imagine. Imagineering.
Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
Image: Wien, Spätsommer 2003
Im Spätsommer 2003 wurde der altehrwürdige Karlsplatz in Wien zum Ort
eines aufschlussreichen Ereignisses. Der Sportswear- und Lifestyle-Konzern
Nike startete dort seine weltweite »Rethinking Space«-Kampagne unter dem
Motto: »You want to wear it, why shouldn’t cities wear it too?« Kern der Kampagne war, so kann der zugehörigen Kampagnen-Website entnommen werden,
eine von Nike finanzierte städtebauliche Aufwertung des Karlsplatzes – inklusive einer Umbenennung des Platzes in Nikeplatz.1
Abb 1: Rethinking Space – weltweit (Quelle: Website zur Kampagne)
1
Vgl. www.nikeground.com (15.8.2007). Für Anregungen danke ich Su Montoya und
Klaus Schönberger sowie Christoph Haug und Berit Schröder. Mein Dank für die Abbildungen 1 und 2 geht an Konrad Becker und an Eva und Franco Mattes.
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
45
Abb. 2: Strahlend rot und weithin sichtbar – der geplante Nike-Swoosh
auf dem Wiener Karlsplatz (Quelle: Eva and Franco Mattes)
Auch an anderen Orten dieser Welt, so zeigte die Website, solle diese Kampagne zum Einsatz kommen: Nach Wien, der ersten »Nike City«, sollen beispielsweise auch Sidney, London, Los Angeles, New York oder Rio de Janeiro
zu eben solchen »Cities« werden. Ein weiteres bedeutsames Detail: Neben der
Umbenennung des Karlsplatzes in Nikeplatz sei auch vorgesehen, ein strahlend
rot gestrichenes, weithin sichtbares, 36 Meter langes und 18 Meter hohes Monument in Form des »Nike-Swoosh« zu errichten. Ein speziell für die Kampagne
entwickelter Sportschuh mit der Bezeichnung »Ground Turbulence III« wurde
ebenfalls auf der Website präsentiert und angemerkt: »Das erste Paar des Ground
Turbulence III, symbolisch der Stadt Wien als Geschenk überreicht, wird am
Tag der Einweihung (des Nikeplatzes) vom Bürgermeister getragen werden.«2
Auch an die AnwohnerInnen des Platzes wurde gedacht. Direkt am Karlsplatz
war ein Informationspavillon aufgebaut worden. Dort konnte ein Modell des
Platzes »nach der Umgestaltung« besichtigt werden. Zudem wurden von dort
aus Informationsbroschüren zum geplanten Umbau und der Umbenennung des
Platzes an die interessierte Öffentlichkeit verteilt. Angesichts jahrelanger Debatten über die Themen Verkehrsführung am Karlsplatz und den (Dauer-)Aufent-
2
Übersetzt vom Autor.
46
Rudi Maier
halt von DrogenkonsumentInnen und Obdachlosen, dürfte es vermutlich einigen
WienerInnen durchaus gefallen haben, dass nun endlich gehandelt wurde.
Als Nikes Pläne zur Umgestaltung und Umbenennung des Karlsplatzes in
der Öffentlichkeit bekannt wurden (auch durch zahlreiche Emails besorgter und
erboster BürgerInnen an die lokale Presse und Verantwortliche der Stadtverwaltung), entzündete sich ein durchaus heftig zu nennendes mediales Dauerfeuer.
Befürchtet wurde wohl ein offensichtlicher »Ausverkauf« der Stadt, eine Privatisierung öffentlichen Raumes, die durchaus kennzeichnend für die kapitalistische Ökonomie seit dem Ende der Blockkonfrontation Anfang der 1990er
Jahre ist.3 Allerdings war die Presse durchaus nicht unkritisch, als sie fragte,
wer für diese »Sache« denn nun verantwortlich war. So verdichteten sich bald
Hinweise darauf, dass die Aktion möglicherweise nicht von Nike initiiert worden war. Vermutet wurde, dass sich jemand aus dem Fundus der Kommunikationsguerilla bedient und sich »den Namen des Gegners ausgeliehen« (autonome a.f.r.i.k.a.-Gruppe 1997: 65) hatte. Mehrere Dementis von Nike Austria
bekräftigten diese Vermutung. Die Tiroler Tageszeitung (6.10.2003) berichtete
unter der Überschrift: »Nike-Platz statt Karlsplatz: Aufregung um Homepage
mit Plänen« und schrieb: »Die Nike-Stellungnahme dazu fiel knapp aus: »Die
Homepage ist eine Fälschung. Wir haben damit nichts zu tun«, versicherte eine
Sprecherin des Konzerns in Wien auf APA-Anfrage.« Einen Tag später zitierte
die Wiener Zeitung erneut die Sprecherin des Konzerns, spekulierte jedoch,
ob nicht vielleicht die Dementis selbst eine clevere Werbekampagne von Nike
seien: »›Wir haben damit nichts zu tun‹, versicherte eine Sprecherin des Konzerns, die den Ball an die Wiener Internet-Kunstplattform ›Public Netbase‹ weiterspielte. Doch ein Sprecher dieser Initiative wies diesen Verdacht umgehend
zurück. ... Also doch nur ein Werbeschmäh?«
Nike Austria beließ es nicht bei derlei Vermutungen. Das Unternehmen kündigte als erste Reaktion an, Klage einzureichen: »Bei allem Spaß jedoch handelt es sich hierbei leider nicht um einen Lausbubenstreich, sondern um die
Verletzung unserer Markenrechte, weshalb Nike rechtliche Schritte gegen die
Urheber dieser Fälschungen einleiten wird.« (FCB Events & PR, 3.10.2003)
Diese Klage wurde später in der Tat eingereicht. Die österreichische Tageszeitung Der Standard (26.11.2003) kommentierte: »Ausgerechnet die auf Guerilla-Marketing spezialisierte Firma Nike, die auf die neusten Trends der Ju3
Dieser Wandel lässt sich an der Umbenennung (ehemals) öffentlicher Gebäude gut
erkennen und sie sind tatsächlich kennzeichnend für diesen Wandel: Fußball-Stadien
heißen seit geraumer Zeit Allianz- oder AOL-Arena, Plätze und Parks sind nach Unternehmen benannt. Wie lange die S-Bahn-Haltestelle »Bochum-Nokia« nach der Schließung dieses Werkes diesen Namen noch trägt, wird sich zeigen.
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
47
gendkultur setzt, entpuppt sich als Vertreter eines neuen Feudalismus.« Anders
ausgedrückt: Nike erwies sich offensichtlich als schlechter Verlierer, der keinen Spaß versteht.4
Im weiteren Verlauf der Aktion wurde deutlich, wer dahinter steckte und
auch, wer die erbosten Emails (allesamt mit gefälschten Absendern) geschrieben hatte. Zum einen war daran die international agierende KünstlerInnengruppe
0100101110101101.org beteiligt, zum anderen handelte es sich tatsächlich um
Public Netbase, das in Wien ansässige Institute for New Culture Technologies.5
Die (internationale) Presse berichtete fortan ausführlich über diese Intervention, wobei nicht die umfassenden Privatisierungsprozesse im Mittelpunkt der
Berichterstattung standen, sondern die ungefragte Nutzung der Markenzeichen
und das »Bespielen« des Markenimages von Nike. Zentral war die Frage nach
der »Legitimität« einer solchen Aktion »semiotischer Heckenschützen«6 (autonome a.f.r.i.k.a-gruppe 1997: 94), die auf das »ökonomische Herz der Symbolproduktion« des Konzerns zielte. Wie ging die Sache aus? Nike reichte wie
angekündigt Klage wegen der Verletzung ihrer Markenrechte ein. Nachdem
sich allerdings aufgrund der (internationalen) Berichterstattung die juristische
Strafverfolgung in Sachen »Nikeground« für das Unternehmen mehr und mehr
zu einem »PR-Super-Gau« und einem immensen Imageschaden auswuchs, zog
Nike die Klage zurück. 0100101110101101.org und Public Netbase schrieben
hierzu: »Die Einschüchterungsversuche des für seine subversiven Marketingstrategien bekannten Unternehmens haben sich als Bumerang erwiesen.«7
Imagine: Die »kulturelle Grammatik« und der kognitive Kapitalismus
Die Beschreibung der »Karlsplatz-Intervention« und der dort eingesetzten Techniken und Methoden dieses Protests können exemplarisch, so die zentrale These
dieses Beitrags, Aufschluss darüber geben, wie sich veränderte soziale und so4
Der gesamte Pressespiegel zu »Nikeground« umfasst 32 Artikel. Online unter: www.
t0.or.at/nikeground/press (15.8.2007)
5
Die Public Netbase musste ihre Arbeit im Jahr 2006 (aus politischen Gründen und
damit zusammenhängender ausbleibender Zuschüsse) beenden. Mehr hierzu www.t0.or.
at/t0/intro (15.8.2007)
6
Bereits 1967 beschrieb Umberto Eco die Idee einer »semiotischen Guerilla«. Interventionen, die sich des »semiotic sniping« (Dery 1993) und »Fakes« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 1997: 65ff.) bedienen, gelten seit Mitte der 1990er Jahre als bedeutsame Subversionsstrategien, die sich im Reich der Zeichen dem Kampf um die Rückeroberung des
öffentlichen Raums verschrieben haben.
7
Zit. n. www.t0.or.at/nikeground/pressreleases/de/004 (6.3.2008)
48
Rudi Maier
mit gesellschaftliche Praxen, verkürzt oftmals als »gesellschaftlicher Wandel«
etikettiert, konkret ausdrücken. Die Analyse der beschriebenen Aktion ermöglicht, wie im Folgenden ausgeführt wird, ein besseres Verständnis der »kulturellen Grammatik« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997: 14ff.) der Gegenwartsgesellschaft. Dieses Verständnis wiederum kann dazu beitragen, in zukünftigen
politischen Auseinandersetzungen und Teilhabekämpfen, die sich zunehmend
auf der symbolische Ebene abspielen werden, adäquate Handlungsmöglichkeiten für die eigene politische Arbeit zu finden.
Beispielhaft für eine solche zunehmende Bedeutung symbolischer Handlungsformen steht, wenn auch gänzlich anders als »Nikeground« gelagert, eine Aktion,
bei der sich anlässlich der Markteinführung des »VW Golf V« im Spätsommer
2003 die Stadt Wolfsburg für sechs Wochen in »Golfsburg« umbenannte. Der
Pressereferent des Wolfsburger Oberbürgermeisters teilte auf Anfrage hierzu
mit: »(D)ie Golfsburg-Aktion ist wirklich ein voller Erfolg. Bundesweit, sogar international, wurde und wird über diese Aktion berichtet. An sich war sie
nur als kleiner Marketing-Gag gedacht, als Dankeschön dafür, dass Volkswagen die neue Golfgeneration in Wolfsburg vorgestellt hat. ... Die Aktion hatte
nur ein Minimalbudget von 5.000 Euro aus der Marketingabteilung und wie es
aussieht, reicht dieses Budget auch aus.« (Laube 2003)
Abb. 3: Sonderstempel bei der Post – aus Wolfsburg wird Golfsburg (Quelle: Archiv
des Autors)
Das aus einem städtischen Mitarbeiterwettbewerb hervorgegangene (und somit
kostenlose) Logo zierte nicht nur diverse Merchandise-Artikel, sondern sorgte
vor allem für große mediale Aufmerksamkeit. Diese Aktion kann als Paradebeispiel einer »innovativen« Werbekampagne gedeutet werden, bei der ein »symbolisches Handeln« deutlich im Vordergrund stand.8 Angesichts zahlreicher immer ausgefeilterer und ausgefallenerer Werbekampagnen von Unternehmen fällt
es daher nicht schwer, sich vorzustellen, dass Nike selbst Urheber der »Nikeground«-Aktion hätte sein können. Eine solche »potenzielle Authentizität« ist
8
Zudem zeigt diese Kampagne auch das Ineinanderfallen öffentlicher und privatwirtschaftlicher Interessen.
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
49
stets Voraussetzung für einen gelungenen »Fake«. Fakes, so heißt es im »Handbuch der Kommunikationsguerilla«, sind »Erfindung(en) falscher Tatsachen zur
Erzeugung wahrer Ereignisse« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997: 58).
Die beschriebene Auseinandersetzung rund um den Wiener Karlsplatz ist in
der Tat wesentlich mehr als ein »Lausbubenstreich« oder lediglich eine hübsche
Randnotiz aus der österreichischen Hauptstadt. Auseinandersetzungen dieser
Art sind, wie der Ökonom Yann Moulier Boutang schreibt, zentrales Kennzeichen des Transformationsprozesses von einem Kapitalismus industrieller und
fordistischer Prägung zum »kognitiven Kapitalismus«: »Wir schlagen den Begriff des ›Kognitiven Kapitalismus‹ vor, um die Tragweite der aktuellen Konflikte besser zu begreifen, die auf die Neudefinition des Rechts auf geistiges und
immaterielles Eigentum zurückzuführen sind.« (Moulier Boutang 2003: 251)
Als Charakteristikum des kognitiven Kapitalismus nennt er eine Produktionsweise, die auf Unternehmen wie Nike besonders zutrifft:
»Die Verbindung zu den Produktionseinheiten wird zweitrangig, da die Quelle
des Werts nicht mehr in ihnen liegt. Das Kapital wird abstrakter, weniger abhängig von materiellen Zwängen des Standorts und der Kontrolle einer bestimmten
Arbeiterschaft. Die Firma wird zur ›leeren Schachtel‹ (hollow box) ... das heißt,
sie enthält hauptsächlich Eigentumsrechte und die juristischen Mittel, ihre Respektierung zu erzwingen.« (ebd: 256)
Die populäre Übersetzung dieser kompakten Beschreibung Moulier Boutangs
lautet: Sweatshop-Industrien, Out-Sourcing, undurchsichtige Subunternehmerstrukturen, Privatisierungen öffentlicher Güter, die zunehmenden Debatten rund
um Copyright-Fragen und (als Gegenbewegung) von Creative Commons Lizenzen (»Copyleft«) sowie alle Fragen zu Markenrechten, Patenten und geistigem Eigentum.
Zeitgleich markieren nicht nur die vermehrt auftretenden »Verrechtlichungs«Konflikte den oben skizzierten zunehmend symbolisch organisierten gesellschaftlichen Raum, auch auf Seiten des Protests gegen die vielfältigen neoliberalen Zumutungsregimes zeigen sich zahlreiche neue Interventionsformen. Als
Beispiel für eine solche Bewegung/Praxis können die italienischen Tute Bianche
genannt werden,9 die sich, inspiriert von den mexikanischen Zapatistas, »besonders offen für neue Sprachen und Handlungsweisen« zeigten und einen »subversiv spielerischen Umgang mit den Massenmedien« pflegten. Zudem wendeten sie die Technik der »Schaffung alternativer Mythen« an, deren Ziel es ist,
»eigene(r) Bewegungsmythen« zu produzieren, in denen die »Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Imaginierbaren dieser Bewegung, zwischen der
9
Die Tute Bianche (»Weiße Overalls«) haben sich ca. 1998 gegründet. Ausführlich
zur Geschichte, Praxis und theoretischen Verortung siehe Weiss 2008.
50
Rudi Maier
Vorstellung von sich selbst und der anderen, möglichen Welt, die man andeuten will« zum Vorschein kommen soll. Einer solchen zu imaginierenden Welt
soll dabei mittels symbolisch organisierter Interventionen in Theorie und Praxis nachgespürt werden, um »in das massenmediale Geschehen einzugreifen.«
Für die Tute Bianche kann konstatiert werden, »dass sie Kommunikation als einen entscheidenden Aspekt anerkannt haben« (Weiss 2008).
Sicherlich nicht zufällig haben sich die AktivistInnen das Unternehmen Nike
als Zielscheibe ihrer »kommunikativen« Intervention ausgewählt. Nike kann als
Prototyp eines »kognitiv-kapitalistischen« Unternehmens bezeichnet werden,
das mittels einer globalen Vernutzung von kulturalisierten Zeichen und Symbolen »Mehrwert« produziert (in der Sprache der Betriebswirtschaftslehre ist
dabei von einer »veränderten Wertschöpfungskette« die Rede), der in Form
von »Images« kommuniziert und zum Kauf angeboten wird. Diese Images, die
zumeist – aber nicht nur – bildgestützt vermittelt werden, referieren auf Haltungen, Einstellungen und Lebensstile. Der Konzern selbst stellt kein stofflichmaterielles Produkt her, sondern ein Werteensemble, das er sich teuer bezahlen lässt.10 Kognitiver Kapitalismus (als dritter Kapitalismus11) beschreibt eine
Produktionsweise, die zentral auf der »Ressource Wissen«, auf den geistigen
Fähigkeiten der Subjekte, beruht und aufbaut.12 Außerdem kennzeichnend sind
die zunehmende Bedeutung von immaterieller Arbeit und Dienstleistungen, die
fundamentale Rolle von Informationen und die daraus resultierenden »kognitiven interaktiven Prozesse sozialer Kooperationen.« (Moulier-Boutang 2001:
30) Daraus kann gefolgert werden: »Wissen ist die Hauptressource des Wertes
und wird die wichtigste Ressource im Prozess der Wertschöpfung.« (ebd.)
10
Zur Ergänzung: Der materielle Produktwert beträgt bei Schuhen dieser Marke häufig nicht mehr als zwei bis drei Euro pro Paar, der Verkaufspreis liegt hingegen häufig
bei ca. 100 Euro und mehr. Bezahlt wird beim Kauf derartiger Produkte somit vor allem auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die sich durch einen ähnlichen
Lebensstil definiert und auszeichnet. Zum materiellen Produktwert und den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie in den Ländern des Trikonts siehe auch: www.cleanclothescampain.org.
11
Die kapitalistische Entwicklung gestaltete sich bislang in drei Phasen bzw. Sektoren: Auf den Ausbau der Landwirtschaft und die Gewinnung von Rohstoffen (primärer
Sektor) folgte durch die »Modernisierung« eine Industrialisierung und die Herstellung
von weitgehend haltbaren Gütern (sekundärer Sektor), der sich nun in einer »Postmodernisierung« oder besser »Informatisierung« zeigt, in der Dienstleistungen und der Umgang mit Information zum Leitbild gesellschaftlicher Akkumulationsprozesse geworden
sind (tertiärer Sektor). Vgl. hierzu z.B. Hardt (2002).
12
Oftmals findet sich auch, die aus meiner Sicht stark verkürzende Bezeichnung »Wissensgesellschaft« als Zustandsdiagnose der aktuellen Gegenwartsgesellschaft.
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
51
Diese immateriellen und symbolischen Arbeiten an Ästhetik und Design, die
kulturelle Aufladung der Produkte sowie die Herstellung von Affekten zur Kundenbindung, die das Kerngeschäft von Nike darstellen,13 hat der Gesellschaftstheoretiker Michael Hardt als »affektive Arbeit« beschrieben: »Affektive Arbeit bedeutet hier für sich und unmittelbar die Konstitution von Gemeinschaften
und kollektiven Subjektivitäten.« (Hardt 2002: 1) Und weiter: »Affektive Arbeit produziert soziale Netzwerke, Formen der Gemeinschaftlichkeit, der Biomacht.« (ebd: 3) Diese immateriellen und affektiven Arbeiten werden (auch bei
Nike) vor allem durch enorm große und finanzstarke PR- und Marketingabteilungen geleistet. Dabei »docken« sie mit ihren Images an die derzeitigen hegemonialen, neoliberalen Aktivierungs-, Selbstführungs- und Freiheitsversprechen an und verstärken diese. Deren zentrale Botschaften lauten: »Du kannst
alles schaffen!«, »Be your own brand« oder bei Nike selbst: »Just do it!«. Produziert wird dabei stets auch Subjektivität, oder das, was als »Ware Subjektivität« (Babias 2002) bezeichnet wird und was an »(d)as unternehmerische Selbst«
(Bröckling 2007) appelliert bzw. appellieren will.
Solche von Unternehmen unter hohem finanziellem Einsatz aufgebauten und
äußerst fragilen Images müssen eine Vielzahl von Erwartungs-Eigenschaften
– »In-Sein«, »Cool-Sein«, »Hip-Sein« – stets erfüllen. Darüber hinaus müssen
diese hin und wieder sorgsam erneuert werden – in vielen Unternehmen gilt:
Nichts ist älter als der Trend von gestern. In ihrem Buch »Empire« sprechen
Michael Hardt und Antonio Negri bezüglich der gesellschaftlich wirkmächtigen
Produktion von Images von einer »biopolitischen Fabrikation der Ordnung«,
die an den »immateriellen Schnittstellen von Sprache, Kommunikation und des
Symbolischen« zu finden ist (Hardt/Negri 2002: 47).
Die zentralen Veränderungen zum fordistisch organisierten Industriekapitalismus sind zusammengefasst: Wissen wird zur wichtigsten Ressource (im kognitiven Kapitalismus), immaterielle und affektive Arbeit sowie Dienstleistungen
werden bedeutsamer, produziert wird Subjektivität unter den Bedingungen der
ökonomischen Globalisierung, welche ihren Ausdruck in einer biopolitischen
Fabrikation der Ordnung findet, die sprachlich, kommunikativ und symbolisch
erzeugt und aufrechterhalten wird. Für Unternehmen, aber auch für staatliche
Akteure, NGOs, Gewerkschaften usw., bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als dass die Produktion spezifischer Images, eine zunehmende, und ich
gehe davon aus, eine zentrale Bedeutung erlangen wird. Was heißt das nun für
zukünftiges emanzipatorisches Handeln?
13
Selbstverständlich arbeitet Nike auch an der Qualitätssicherung (und -verbesserung) der Produkte. Diese spielen jedoch – außer vielleicht im Bereich Sport – in der
Außenkommunikation so gut wie keine Rolle.
52
Rudi Maier
Imagineering: Mediale Repräsentationen und ästhetische Innovationen
Sprache, Symbole und Kommunikation sind im kognitiven Kapitalismus zu
zentralen gesellschaftlichen Bausteinen geworden – dies gilt vor allem für die
Erzeugung jeglicher Art medialer Repräsentation. Dies wiederum nutzen AktivistInnen, die sich des »Identitätsdiebstahls« bzw. der »Identitätskorrektur« im
Feld von »Imagekorrektur« und »Imagebeschmutzung« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 2001) verschrieben haben. Die Aktivistengruppe Yes Men stellt seit einigen Jahren gefakete Webseiten multinationaler Konzerne (z.B. McDonalds
oder der Dow Chemical Company) bzw. internationaler Organisationen (z.B. der
Welthandelsorganisation WTO oder des Internationalen Währungsfonds IWF)
ins Internet, aufgrund derer sie bereits mehrfach zu offiziellen Tagungen und
Kongressen ähnlicher Lobbyverbände oder zu TV-Interviewterminen eingeladen wurden. Als vermeintliche hohe Repräsentanten einer solchen Organisation erzeugen die Yes Men dort stets »alternative Mythen«. Lange Zeit verhallten beispielsweise die Forderungen nach einer umfassenden Entschädigung der
Opfer der Chemie-Katastrophe im indischen Bhophal des Jahres 1984 im Unternehmen Dow Chemical Company (DCC) (welche das verantwortliche Vorgängerunternehmen Union Carbide 1999 aufgekauft hatte) ungehört – bis sich
die Yes Men einmischten. Diese stellten eine Website mit dem Namen »Dow
Ethical« ins Internet und gaben sich dort als Vertreter dieses Unternehmens aus.
Ein BBC-Journalist meldete sich, es wurde ein TV-Termin vereinbart und ein
»Firmensprecher« namens »Jude Finisterra« teilte in einer »Breaking News«Live Sendung von BBC World Service anlässlich des 20. Jahrestags der Katastrophe u.a. folgendes mit: »Ich bin sehr glücklich, dass ich heute mitteilen
kann, das Dow erstmals die volle Verantwortung für die Katastrophe in Bhophal
übernimmt.« (Roth 2004; Schönberger 2005) Damit wurde die Katastrophe, bei
der Zehntausende starben und Hunderttausende bis heute geschädigt sind, auch
in Europa wieder ein Thema. Dass die Aktie von DCC massive Verluste nach
diesem – erfundenen – Statement zu verzeichnen hatte, sei ergänzend hinzugefügt und auch, dass sich die BBC am folgenden Tag entschuldigen musste, ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen zu sein. Dies taten sie,
indem sie erneut ausführlich über die Katastrophe in Bhopal und der heutigen
Rolle von DCC berichteten und die Yes Men erneut vor ihre Kameras holten.
Im Gegensatz zu Nike stellte DCC keine Strafanzeige – vermutlich wusste das
Unternehmen sehr genau, dass ihm dies mehr schaden als nutzen würde.14 Al14
Klaus Schönberger (2005) hat diese Aktion ausführlich beschrieben und analysiert.
Einen guten Überblicksartikel über die Yes Men liefert z.B. Sarreiter 2007. Die Website
findet sich unter: www.theyesmen.org.
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
53
lerdings: Nach wie vor sind die Opfer von Bhophal nicht angemessen entschädigt. Es sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dass (viele) Unternehmen heutzutage gelernt haben, mit Kritik nicht nur umzugehen, sondern diese geradezu
zu »managen« und ihrerseits Gegenstrategien zu entwickeln.15 Zu den entsprechenden Technologien zählen z.B. »Kooperation statt Konfrontation«, also der
Einbeziehung von Kritik oder auch Imagekorrekturen, bei denen gesellschaftlich positiv konnotierte Werte durch
das Unternehmen verstärkt werden,
um von unbequemen (und oft weitreichenden) Forderungen der Gegner
abzulenken. So hat das Unternehmen
Lidl etwa als Antwort auf die Forderung nach Betriebsräten in ihren Niederlassungen eine PR-Kampagne zur
medialen Image-Politur gestartet und
einige wenige »Fair Trade«-Produkte
in ihre Regale stellen lassen (www.
attac.de/lidl-kampagne 2006).16 In
denselben Kontext kann die in den
USA überaus bedeutsame Wal-MartKampagne gestellt werden. Die Auswirkungen dieser konzernkritischen
Kampagne
beim dortigen BranchenAbb. 4: Noch immer wenig Betriebsräte,
dafür ein paar Fair Trade-Produkte im
riesen hat Sabrina Zajak ausgeleuchAngebot (Quelle: Chacon, Postkartentet (Zajak 2007).
buch der Gewerkschaft ver.di)
15
Dafür spricht auch die Zunahme entsprechender Dienstleistungen für Unternehmen. Vgl. z.B. das Angebot der Krisenberatungsgesellschaft im Krisenmanagementverband im Internet. Dort heißt es u.a. auf der Startseite: »Wie kann unser Unternehmen
einen Produktrückruf oder den Boykottaufruf einer Bürgerinitiative kommunikativ bewältigen?« www.krisenmanagerverband.de/Krisenberatungsgesellschaft.krisenberatung
sgesellschaft.0.html (20.2.2008) Ausführlich zu den Gegenstrategien von Unternehmen
äußert sich vor allem Eveline Lubbers (2002).
16
Zu nennen sind hier die nicht unbedeutsamen Lidl-Kampagnen von ver.di und attac, die in Teilen zum einen auf das Image bzw. die Imagebeschädigung des Discounters abzielt, zum anderen wird die Kritik an Lidl von vielen Menschen tatsächlich auch
geteilt, was eine Solidarisierung mit den Kampagnenzielen vereinfacht. Zahlreiche neue
Publikationen verweisen zudem darauf, dass hier eine aktuell bedeutsames gesellschaftspolitisches Feld bearbeitet wird, z.B. von Hamann/Giese 2005; Gehlen 2007; Löding
et al. 2006; Mernyi 2005.
54
Rudi Maier
Zentral in den beschriebenen Beispielen war und ist jeweils die kommunikative Störung des spezifischen Images der Unternehmen, das als Ausgangspunkt der konkreten Interventionen diente. Derartige Aktionen befinden sich angesichts des gesellschaftlichen Leitbilds vom kognitiven Kapitalismus »auf der
Höhe der Zeit« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2007a: 107). In ihnen wird die zumeist unsichtbar wirkende Fabrikation von gesellschaftlicher Ordnung dadurch
sichtbar gemacht, dass durch die inszenierten Image-Störungen das Gegenüber
gezwungen ist, sich zu den hinter dem Image verborgenen (skandalösen) Praxen und Prozessen medial zu positionieren und die politischen Fragen somit
nicht länger durch das Image verdeckt werden.
Solche Imagekorrekturen und Imagebeschmutzungen bedürfen überdies keiner großen Apparate oder Institutionen und unterscheiden sich daher maßgeblich von Institutionen-, Kampagnen- oder Bewegungspolitiken, was durchaus
eine Stärke ist. Häufig ist »lediglich« eine genaue Kenntnis des Gegners sowie
der lokalen/örtlichen Gegebenheiten nötig, um sich ungefragt einzumischen.
Angesichts der heutigen Bedeutung von Sprache, Symbolen und der Kommunikation ist auch eine vorherige Beschäftigung mit Fragen des »Imagineering«
(Holert 2000) hilfreich, um die von Fall zu Fall notwendige »ästhetisch-symbolische Innovation« zu erfinden. Der Begriff »Imagineering«, zusammengesetzt aus »image« und »engineering«, meint dabei die bereits seit längerem bei
der Herstellung von (künstlichen) Bildern und Bilderwelten zugrunde liegenden Praktiken der »imagineers«, »jener Ingenieure, Architekten, Designer und
Multimedia-Spezialisten, die Disneyland und Disneyworld entworfen haben«
(ebd.: 9). Letztlich ist ein gutes Gespür für gesellschaftlich relevante Themen
und ein Wissen über die »kulturelle Grammatik« unverzichtbar, um wirksam
einzugreifen. Mittels solcherart gelagerter Interventionen können gesellschaftliche Widersprüche offengelegt und die vermeintliche Unhinterfragbarkeit bestehender Machtverhältnisse angegriffen werden. Sie stellen, abstrakter formuliert, so stets die Frage nach der Legitimität von Macht und Herrschaft, die auf
der – normalerweise unhinterfragten – kulturellen Grammatik basieren. Im besten Fall zeigen sie darüber hinaus im »alternativen Mythos« Auswege in eine
»andere Welt«: Stell dir vor ... 17
Anliegen dieses Beitrags war es, die Veränderungen des gesellschaftlichen
Raums, in den es sich (nach wie vor) einzumischen gilt, darzustellen und damit
gleichzeitig die veränderten Rahmenbedingungen für Protest, Partizipation und
Interventionen zu skizzieren. Die auf dem Wiener Karlsplatz erzeugte »konfron17
Ein ausführlicher Überblick über Theorie und Praxis, Rezeption und Fallstricke
der Kommunikationsguerilla findet sich in der Blogchronik der Kommunikationsguerilla im Internet unter http://kommunikationsguerilla.twoday.net/
Image. Imagine. Imagineering. Intervenieren im kognitiven Kapitalismus
55
tative Ästhetik« (die zugegeben die Messlatte für andere Aktionen sehr hoch
hängt) zeigt sich zunehmend auch in anderen politischen Kontexten wie etwa
in den ästhetisch-innovativen Protestformen der globalisierungskritischen Bewegungen: Pink&Silver, der BlacBlock, Feen uneindeutigen Geschlechts oder
die Rebel Clown Army inszenieren Dissens und Konfrontation auf einer symbolischen Ebene mit eigener Protest-Dramaturgie (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe
2007b). Sich intensiver mit den Anforderungen und Zumutungen im »kognitiven Kapitalismus« auseinanderzusetzen ist eine Aufgabe, die zukünftig vermehrt diskutiert und hoffentlich auch immer wieder praktisch angegangen werden wird.
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10.12.2007.
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autonome a.f.r.i.k.a-gruppe (2007a): Kommunikationsguerilla. In: Brand, Ulrich/
Lösch, Bettina/Thimmel, Stefan (Hrsg.): ABC der Alternativen. Von »Ästhetik des
Widerstands« bis »Ziviler Ungehorsam«. Hamburg: VSA, S. 106f. Onlineversion
unter www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ABC/ABC_der_Alternativen_Kommunikationsguerilla_Autonome_a.f.r.i.k.a._Gruppe.pdf. Aufgerufen
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autonome a.f.r.i.k.a-gruppe (2007b): Das Subversive suchen – Zehn Jahre »Handbuch
der Kommunikationsguerilla« – eine Bilanz. In: Analyse & Kritik. Zeitung für
linke Debatte und Praxis, Hamburg, Nr. 520 v. 21.9.2007. www.akweb.de/ak_s/
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Januar 2008.
Karen Wagels
Geschlecht als politisches Terrain –
zur wissenschaftlichen Intervention
in ein Begriffsregime1
»Denn ein Problem hat immer die Lösung, die es nach der Art, in der es gestellt ist,
und dem symbolischen Feld, über das man verfügt, um es zu stellen, verdient.«
(Deleuze 1973: 35)
Der Gedanke Deleuze’ ist verführerisch: Er konstatiert einen immanenten Zusammenhang dessen, was »herauszufinden« ist und in der Folge als »Wissen«
Geltung beansprucht, mit der Art und Weise, in der ein Problem »gestellt« ist sowie den Begrifflichkeiten, in denen es verfasst ist. Die Problem»stellung« selbst
wird somit zum diskursiven Produkt – bedingt durch das »symbolische Feld, über
das man verfügt« und eingebettet in machtförmige Prozesse gesellschaftlicher
Wissensproduktion. Vor diesem Hintergrund ist eine sich kritisch verstehende
Wissenschaft dazu angehalten, eigene Aussagen auf ihre Aussagebedingungen
hin zu reflektieren – eine Arbeit, die ich exemplarisch an der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit dem Begriff Geschlecht nachzeichnen werde.
Zweigeschlechtlichkeit ist der – historisch konstituierte und kulturell spezifische – Modus, der die gesellschaftliche Wissensproduktion beherrscht. Die
Rede von der »Natur« des Geschlechtkörpers – abgesichert durch wirkmächtige Diskurse der Natur- wie auch der Sozial- und Geisteswissenschaften – stellt
dabei eine Argumentationsfigur bereit, Zweigeschlechtlichkeit als »natürliche«
und somit legitimierte soziale Ordnung zu re/produzieren. Sozialkonstruktivistische Ansätze der Geschlechterforschung sind angetreten, den Blick auf die Prozesse der Naturalisierung von Geschlecht zu lenken und darin die Herstellungsmechanismen einer zweigeschlechtlichen Ordnung zu fokussieren.
Wenn es so ist, wie Elvira Scheich in ihrer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung formuliert, dass »... andere Formen der Praxis, der Erfahrung
und des Umgangs mit Natur, mit denen Wissenschaft in Wechselwirkung oder
Konkurrenz tritt, ignoriert werden« (Scheich 2001: 79), dann stellt sich unter
1
Ich danke meiner Marburger Interpretationsgruppe – Ulrike A. Richter, Almut
Sülzle und Agnieszka Zimowska – sowie Trixi Schwarzer für wichtige Hinweise und
anregende Diskussionen.
Geschlecht als politisches Terrain
59
der Perspektive gesellschaftlicher Teilhabe die Frage, wie »andere« Praxen in
den wissenschaftlichen Diskurs eingespeist werden können – ohne als »das Andere« die Norm (der zweigeschlechtlichen Ordnung) wiederum zu bestätigen.
Was ich diskutieren werde, ist die kontinuierliche Arbeit an der Transformation, die ein herrschender Begriff von Geschlecht durchlaufen muss, um »neues
Wissen« zu ermöglichen.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das sex/gender-System als analytisches Konzept in der Geschlechterforschung, in dem die Konstruiertheit von
Geschlecht gefasst wird. Die Konzentration auf gender als sozial variabel und
veränderbar hat dazu geführt, sex als zweigeschlechtlich organisierten Körper in
der Domäne des Sozialen aufgehen zu lassen (1.). Den Geltungsbereich dieses
Konstruktionsbegriffs auslotend, schaue ich mir das Verfahren der Grounded
Theory als eine Möglichkeit wissenschaftlicher Intervention an: Die explizite
Thematisierung des (theoretischen) Vorwissens und die eingezogenen Reflektionsschleifen implizieren einen dialektischen Begriff von empirischer Sozialforschung, der bestenfalls zu einem Prozess führt, in dem »Gegenstand« und
sich damit forschend befassende Akteur_innen2 einander verändern (2.). Im
Sinne einer Praxis kritischer Wissenschaft ist die Grounded Theory allerdings
um die Dimension gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu erweitern: Die theoretische Bestimmung des Feldes erlaubt, Wissen zu generieren und in die Diskussion zu bringen, das in der universalisierenden Rede von der zweigeschlechtlichen Ordnung aus dem Blick gerät (3.). Vor diesem Hintergrund begreife ich
die wissenschaftliche Arbeit am Begriff als eine politische Praxis, die sich das
machtförmige Gewordensein – und die Veränderbarkeit – des Denkbaren zur
Aufgabe macht.
Geschlecht als Konstruktion
doing gender ...
Das soziologische Konzept des doing gender wurde von West/Zimmerman
(1987) innerhalb eines ethnomethodologischen Forschungsansatzes entwickelt:
Zurückgehend auf Studien zu Transsexualität (Garfinkel 1967) und auf Analysen zur interaktiven und institutionellen Konstruktion von Geschlechtsstereotypen (Kessler/McKenna 1978; Goffman 1977; 1983) wird der Blick auf die
Herstellungsprozesse von Geschlecht in sozialen Interaktionen gelenkt. Die
2
Der Unterstrich geht zurück auf eine Anregung von Steffen Kitty Hermann (2003),
mit dieser Schreibweise auf einen geschlechtlichen Raum zu verweisen, der in der (zweigeschlechtlich organisierten) Sprache nicht repräsentiert ist.
60
Karen Wagels
Rede ist hier von Geschlechtszugehörigkeit: Geschlecht wird zu einem Phänomen der Darstellung und Klassifikation, das in Interaktionen permanent hervorgebracht wird. Der Begriff des doing referiert dabei auf die aktive Herstellung – beschrieben als »ein fortlaufender Prozess, eine interaktive Praxis der
Darstellung und Attribution, die ein Alltagswissen von den Strukturen der sozialen Wirklichkeit reproduziert« (Hirschauer 2001: 31). Erweitert um die »sozialen Teilungsdimensionen« Klasse und Ethnie sprechen Fenstermaker und
West (1995; 2001) später von doing difference und fokussieren Interaktionen
als Ebene, auf der individuelle und institutionelle Praxis ins Verhältnis gesetzt
werden: »Menschen erzeugen Differenz durch ein aktives ›Tun‹ ... Die Unterschiede, die eigentlich durch diesen Prozess erst erzeugt wurden, gelten nun als
grundlegende und dauerhafte Merkmale von Personen ... und die soziale Ordnung als eine vernünftige Anpassung an die angeblich ›natürlichen‹ Ungleichheiten zwischen Menschen.« (Fenstermaker/West 2001: 238) Tatsächlich wird
aus einer doing gender-Perspektive aufgezeigt, dass es die sozialen Situationen
und kulturellen Praktiken sind, die Menschen ihre Geschlechtszugehörigkeit verleihen (Kessler/McKenna 1978 sprechen in diesem Zusammenhang von »kulturellen Genitalien«). Hierzu gehören Körperstilisierungen, Kleidervorschriften
und Redeordnungen, aber auch Höflichkeitsrituale, in denen Geschlecht artikuliert wird. Als zentrale These dieser Perspektive ist festzuhalten, dass Unterschiede – und somit Ungleichheiten – in Interaktionsprozessen permanent hergestellt werden und sich zu institutionellen Arrangements in Form von klassen-,
ethnie- und geschlechtsspezifischen Erwartungen verdichten.
Diese Ebene der Interaktion wird auch in systemtheoretischen Arbeiten zur
Geschlechterdifferenz herangezogen, wenn es darum geht, das beharrliche Fortbestehen der Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern zu erklären: Denn
während hier grundsätzlich argumentiert wird, dass die Geschlechterdifferenz
im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen hin zu funktionaler Differenzierung zunehmend dysfunktional werde,3 so wird die paradoxe Persistenz – oder
das Fortbestehen – der Praxis, zwischen zwei Geschlechtern zu unterscheiden,
auf der Interaktionsebene angesiedelt. Weinbach (2003) etwa zeigt, dass »Geschlecht nur deshalb als Platzanweiser fungieren kann, weil es geschlechtlich
definierte, stereotyp und spezifisch attribuierte Erwartungen bündelt...« (165).
Sie greift hierfür auf die Stereotypenforschung zurück: Weiblichen Personen im
Erwerbsarbeitsbereich etwa werden externe Rollenverpflichtungen (auf Haus
und Familie) unterstellt – wobei auch das Nichtvorhandensein dieser Rollenübernahme mitregistriert wird. »Männlichen Personen dagegen fehlt diese spezifische Kontextualisierung, weshalb sie ein höheres Maß an Individualität (das
3
Vgl. die Diskussionen dieser These in Pasero/Weinbach (2003).
Geschlecht als politisches Terrain
61
heißt der Fähigkeit zu Selbstentwurf und Entscheidungsfindung) versinnbildlichen« (153 [Herv. d. Verf.]). Ich möchte hieran die Frage formulieren, wie in
diesen Situationen »weibliche« und »männliche« Personen identifiziert werden
– und lenke den Blick auf die Rolle des Körpers in der geschlechtlichen Selbst/
Wahrnehmung von Personen.
... doing body?
Innerhalb ethnomethodologischer Ansätze ist der Körper auf spezifische Weise
in die Zirkularität der Konstruktion eingebunden. So konzipiert etwa Hirschauer
(2001) den Körper als »embodied practice«, d.h. als ein praktisches Wissen, das
in körperlichen Routinen verankert ist: »Die Formung durch den kontinuierlichen Gebrauch von Darstellungsrepertoires spezifiziert den Körper als ein Darstellungsmedium. Er wird zu einem Nebenprodukt und Aktivposten kultureller
Reproduktion...« (34) Dabei sorgt die Bildförmigkeit des Körpers als mächtige
Visualisierung »... für eine ständige Augenfälligkeit der Realität« (Hirschauer
1996: 247). In diesem Sinne gehören »Präsenz und Aktualität ... im Alltagserleben zum Sosein der zwei Geschlechter« (ebd.: 249).
Auch in systemtheoretischen Ansätzen wird Sichtbarkeit als Kern der Unterscheidung bezeichnet: »Wo Personen sichtbar werden, treten sie als Frauen
und Männer auf. Dieser Zirkel der Sichtbarkeit zielt auf den Körper, dem keine
Chance gelassen wird, selbst kontingent zu wirken, sondern dem geschlechtstypische, ethnische oder alterstypische Bedeutung anhaftet, die kaum dementiert
werden kann. Auf diese Weise entstehen Plausibilitäten, die nicht dem Wahrgenommenen entstammen, sondern der Wahrnehmung, also immer schon auf der
Grundlage von Sozialität operieren.« (Pasero/Weinbach 2003: 11)
In beiden Konzeptionen wird das Wahrnehmen und Denken von Zweigeschlechtlichkeit als kontingent beschrieben – was soviel heißt wie: Es ist so,
könnte aber auch anders sein. Gleichzeitig erstaunt die Persistenz, in der sich
dieses Wahrnehmungsmuster fortzusetzen scheint – eine Beobachtung, die wiederum nicht unabhängig ist von der Perspektive, die Forschende auf Geschlecht
einnehmen: »Letztlich verschwindet mit der eingespielten Praxis des Blicks,
der kulturellen Selbstverständlichkeit und der materiellen Widerspruchslosigkeit des Körpers der Charakter der Konstruktivität ... die Körper sind einfach
da. Und wie man – ohne auch nur den Anflug eines Biologismus – durchaus behaupten kann, dass es das schlichte Vorkommen von Frauen und Männern als
weibliche und männliche Personen ist, das den Unterscheidungsgebrauch stabilisiert und für Ungleichheit generierende Praxen sorgt, so scheint das auch
für die Gender-Forschung zu gelten...« (Nassehi 2003: 97)
Das »schlichte Vorkommen von Frauen und Männern« steht als Indiz für
die Herstellungsmechanismen und Funktionsweisen der zweigeschlechtlichen
62
Karen Wagels
Ordnung, die sich in einer Art selbsttragenden Konstruktion ständig zu re/produzieren scheint.
Dies führte in der Geschlechterforschung der 1990er Jahre zu einer differenzierten Debatte um die Reifizierung von Geschlecht auch im wissenschaftlichen »Tun« (vgl. Hagemann-White 1993, 1994; Gildemeister/Wetterer 1995)
und ist Anlass für Problematisierungen des methodischen Zugangs wie auch
der Position der Forschenden (vgl. Althoff/Bereswill/Riegraf 2001). Wenn etwa
Gahleitner (2004) formuliert, »bei Forschenden wie Beforschten handelt es sich
stets um Menschen, die sich selbst fundamental als Frauen bzw. Männer erleben« (289), so kann diese Feststellung einerseits als Diagnose der Wirkmacht
gelesen werden, die das Konstrukt zweier sich ausschließender und gegenseitig aufeinander bezogener Geschlechter in der – auch körperlichen – Selbst/
Wahrnehmung entfaltet. Sie kann aber auch als subjektive Einschätzung einer
Forschenden verstanden werden, die von einer spezifischen gesellschaftlichen
(Geschlechter)Position aus spricht. Die Frage, die sich hieran anschließt, ist: Wie
kann es innerhalb eines konstruktivistischen Paradigmas von einer »Rekonstruktion der Verhältnisse« zu einer »Dekonstruktion« – im Sinne des Denkens einer
Veränderbarkeit – kommen? (vgl. Gottschall 1998; Wetterer 1995).
sex/gender
Das hier formulierte Problem der Reifizierung von Geschlecht kann in der
Konzeption der Kategorie gender verortet werden, wie Dietze (2006) in ihrer
kritischen Genealogie des Begriffs aufzeigt: »Die Kategorie Gender diente in
ihrem Entstehungszusammenhang bei der Intersexualitäts<korrektur> nicht –
wie später in ihrer feministischen Adaptation – der Entmaterialisierung (EntBiologisierung) von Geschlecht, sondern sie bildete im Gegenteil die Legitimation von Eingriffen in die Materie...« (55) Hierbei bezieht sie sich auf die
frühe Geschichte des Begriffs Gender und die Funktionalisierung seiner sozialkonstruktivistischen Implikationen für medizinisch-chirurgische Eingriffe an als
intersexuell und transsexuell bezeichneten Personen. Zwar zeige der GenderKonstruktivismus die Produziertheit von Gender-Attribuierungen, aber er sei
»auch eine Theorie der medizinischen Produzierbarkeit von Geschlecht und damit indirekt Agent der Geschlechtszuschneiderei« (ebd.: 61). Im Zuge dieser
»Renaturalisierungspotenz der Kategorie Gender« (ebd.: 65) problematisieren
poststrukturalistische Ansätze die sex/gender-Trennung und stellen die historisch und kulturell spezifischen Vorstellungen eines »biologischen Geschlechts«
selbst bzw. den zugrundeliegenden Begriff von Materialität ins Zentrum ihrer
Analysen (vgl. Butler 1991, 1997; Grosz 1995; Gatens 1995, 1996).
Mit diesen differenzierten theoretischen Diskussionen um sozialkonstruktivistische Ansätze hat sich auch das gesellschaftliche Feld verändert, in dem Inter-
Geschlecht als politisches Terrain
63
und Transsexualität als Phänomen erscheinen und diskutiert werden. Geschlecht
erscheint nun als umkämpftes Terrain, auf dem das Konzept heteronormativer
Zweigeschlechtlichkeit herausgefordert wird. So bezeichnet der Begriff Transgender Lebensweisen, die sich nicht eindeutig dem bei Geburt zugewiesenen
Geschlecht zuordnen – oder zuordnen lassen. Transgender-Kontexte lassen sich
dementsprechend als gesellschaftliche Räume fassen (vgl. Haase 2005; Halberstam 2005), die sich durch eine »offensive Politik der Überschreitung und der
Leidenschaft« (Herrmann 2003: Absatz 8) auszeichnen. In diesen Räumen wird
nicht nur die Sichtbarkeit eines Jenseits der zweigeschlechtlichen Ordnung erzeugt – sondern auch ein »anderes« Sichtbar-Werden, mit Betonung auf den
Prozess des »Werdens«, ermöglicht (vgl. Schirmer 2007). Aus dieser Auseinandersetzung heraus entstehen gesetzes-politische Initiativen, etwa um den gesellschaftlichen Umgang mit Inter- und Transsexualität (vgl. Neue Gesellschaft
für Bildende Kunst 2005; polymorph 2002). Die bewusste Auseinandersetzung,
Aneignung und Umarbeitung von Geschlechtlichkeit und die Schaffung kollektiver öffentlicher Räume stellen dabei einen Ausgangspunkt dar, die in sozialkonstruktivistischen Ansätzen perpetuierte »Sichtbarkeit« des Geschlechtskörpers in den Blick zu nehmen.
Wissenschaffendes Tun
Theorie generieren
Wenn ich als Aufgabe kritischer Wissenschaft formuliert habe, eigene Aussagen
auf ihre Aussagebedingungen hin zu reflektieren, so werde ich im Folgenden
das Verfahren der Grounded Theory als eine Möglichkeit wissenschaftlicher Intervention in ein Begriffsregime diskutieren. Bedeutsam ist hier das spezifische
Verhältnis von Empirie und Theoriebildung, das zunächst in den vielfältigen
Übersetzungen zum Ausdruck kommt: Die Rede ist hier von »in empirischen
Daten gegründete«, »gegenstandsbezogene« oder »datenbasierte« Theorie. Ich
folge der Beschreibung Strübings (2004), der das Verfahren und Resultat von
Grounded Theory als »aktivistische, durch Handeln, d.h. Arbeiten, hervorgebrachte Bedeutung von Objekten« (Strübing 2004: 13) konzipiert. In diesem
Sinne kann sie als »Forschungsstil zur Erarbeitung von in empirischen Daten
gegründeten Theorien« (ebd.: 13f.) bezeichnet werden. Wichtigstes Charakteristikum ist – mit Bezug auf Strauss – »die ausdrückliche Repräsentation von
Datenanalyse und Theoriebildung als praktische, interaktiv zu bewältigende Tätigkeit« (ebd.: 14). Strauss spricht auch von einer »Kunstfertigkeit im wissenschaftlichen Forschen«, womit »die Unabdingbarkeit der subjektiven Leistung
in der Forschungsarbeit insgesamt (also nicht beschränkt auf das Verstehen) he-
64
Karen Wagels
rausgestellt und zugleich die Möglichkeit einer methodischen Unterstützung
und Rahmung kreativer Prozesse behauptet [wird]« (ebd.: 17).
An dieser Stelle soll kurz auf die Ursprungserzählung des großen gemeinsamen Werks von Glaser und Strauss eingegangen werden, da sie einen zentralen Punkt in der Konzeptualisierung empirischer Forschungsarbeit benennt:
Während The Discovery of Grounded Theory auf einer »pointierten und wohlbegründeten Kritik an einer positivistisch-funktionalistischen, an den Kriterien
»objektiver« Wissenschaften orientierten Sozialforschung« (Strübing 2004: 65)
als kleinstem gemeinsamen Nenner der beiden Autoren basiert, trennen sich
die Wege in der Folge. Das Zerwürfnis bezieht sich insbesondere auf den Stellenwert von »Theorie« im Verhältnis zu »Daten«: Während Glaser von einem
»Emergenzmodell« ausgeht, dessen Ziel es ist, »Theorie aus den empirischen
Daten – und nur aus ihnen – ›ungezwungen‹ emergieren zu lassen« (ebd.: 65),
entwickelt Strauss »ein dialektisches Verhältnis von Theorie und Empirie und
kann damit die Existenz und den notwendigen Gebrauch von theoretischem
Vorwissen schlüssig in sein Verfahren integrieren« (ebd.: 72). Bezogen auf die
bislang geführte Diskussion birgt das »Emergenzmodell« nach Glaser die Gefahr eines selbstreferenziellen Systems, in dem die in den Forschungsprozess
eingehenden Prämissen gerade nicht zum Thema gemacht werden und so an
der Perpetuierung von Zweigeschlechtlichkeit mitwirken. Im Sinne kritischer
Wissenschaft ist demgegenüber davon auszugehen, »dass Konzepte und Kategorien also nicht emergieren, sondern vielmehr in einem aktiven und – hoffentlich – kreativen Prozess durch Zutun der Forschenden erzeugt wird.« (ebd.: 55
[Herv. d. Verf.])
Politische Dimensionen
Der Forschungsbeziehung kommt in diesem Prozess ein besonderer Stellenwert zu. Wird diese Beziehung als eine konzeptualisiert, in der Forschende gemeinsam auf ihren Gegenstand – Geschlecht – schauen, dann sind auch die
befragten Personen als Forschende an diesem Prozess der Wissensproduktion
beteiligt. Das theoriegenerierende Expert_innen-Interview bietet hier – in Abgrenzung zum qualitativen Interview mit einer »besonderen sozialen Gruppe«
– die Möglichkeit einer »Rekonstruktion und Analyse einer spezifischen Wissenskonfiguration« (Bogner/Menz 2005: 46).
Die Autoren benennen in ihrer Diskussion des Expert_innen-Begriffs eine
explizit politische Dimension, wenn sie konstatieren: »Nicht die Exklusivität
des Wissens macht den Experten [sic! KW] für das deutungswissenorientierte
Interview interessant, sondern seine Wirkmächtigkeit...« (ebd.: 45). Als konstitutiv wird hier bezeichnet, »dass er vermittels seines spezifischen Wissens politisch einflussreich wird.« (ebd.: 45)
Geschlecht als politisches Terrain
65
Die gemeinsame Arbeit an einem politisch bestimmten Erkenntnisinteresse
kann mittels »problemzentrierter« Interviews umgesetzt werden, die sich an
einer gesellschaftlich relevanten Fragestellung orientieren. Ein Leitfaden dient
hier als Hintergrundfolie und Orientierungsrahmen, vor dem es zu einer »systematischen Entwicklung des Problemhorizonts« (Witzel 2000: 6) kommt. Nach
dieser Methode gibt es im Idealfall Interview-Sequenzen, in denen ein Dialog
entsteht und gemeinsam an Bedeutungen von Situationen gearbeitet wird – d.h.
Ziel ist es, einen gemeinsamen Sinnhorizont in dem Interview zu entwickeln.
Eine erste Analyse oder Interpretation findet bereits im Interview – mit der interviewten Person zusammen – statt. Hier schließt Witzel (2000) unmittelbar
an Strauss an, wenn er konstatiert: »Das unvermeidbare und damit offen zu legende Vorwissen dient in der Erhebungsphase als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten.« (3) Bei
dieser Methode geht es weniger um die Generierung von »Wahrheit« als vielmehr darum, »zu einer Erfahrung zu gelangen, die eine Veränderung erlaubt ...
dort, wo wir bisher keine Probleme sahen (mit einem Wort, in unserem Verhältnis zu unserem Wissen)« (Foucault 1996: 31)4.
Interventionen in ein Begriffsregime
»The published word is not the final one, but only a pause in the never-ending
process of generating theory. «
(Glaser/Strauss 1967: 40)
Fenstermaker/West (2001) weisen in ihrer neuerlichen Betrachtung des doing
difference darauf hin, dass »gerade die Kontextabhängigkeit des Handelns die
Voraussetzungen für eine allmähliche Unterminierung oder sogar für eine bewusste Opposition gegen institutionalisierte Herrschaftssysteme« (243) schafft.
Queer-theoretische Perspektiven richten den Blick auf Prozesse der Aneignung
und Umarbeitung von Geschlecht, die als körperliche Widerstandspraxen gegen die zweigeschlechtliche Ordnung gefasst werden; zeitgleich provozieren
auf einer queer-politischen Ebene künstlerische Aktionen und Ausstellungsprojekte wie auch dezentral agierende Gruppen und Initiativen eine Auseinandersetzung um die körperliche Eindeutigkeit und Bedeutung von Geschlecht. Das
so konzipierte politische Feld fordert dazu auf, nach den Herstellungs- und Ver-
4
Ich danke Tino Plümecke für diesen Hinweis. Vgl. auch die forschungspraktische
Elaboration des Foucaultschen Erfahrungsbegriffs bei Lorenz/Kuster (2007: 204ff.).
66
Karen Wagels
änderungsprozessen von Geschlechtlichkeit zu fragen und »den Körper« in das
Zentrum des (wissenschaftlichen) Interesses zu stellen.
Die in sozialkonstruktivistischen Ansätzen angelegte Entnaturalisierung von
Geschlecht ist also weiter zu treiben – dieses Wissen kann nicht auf Dauer gestellt sein.5 Paradoxerweise ist hierzu die Ebene von Körperlichkeit oder Materialität in die Analyse von Konstruktionsprozessen einzubeziehen – ohne hinter
die Erkenntnisse der gesellschaftlichen Konstituiertheit eines Begriffs von »Natur« zurückzufallen. Wenn in Bezug auf die exemplarisch skizzierte Geschlechterforschung als Forschungsdesiderat abzuleiten ist, »... dass die Standpunkte
derer artikulierbar werden, die gezwungen sind, in den Geltungsbereichen von
Universalisierung und Standardisierungen zu leben, denen sie nicht entsprechen
und nicht entsprechen können« (Scheich 2001: 82), dann kommt dem Prozess
des »Wissenschaffens«6 auf allen gesellschaftlichen Ebenen eine aktive Bedeutung zu: Es gilt, die Bedingungen des Redens über Geschlecht nicht nur zu rekonstruieren, sondern in einem rekursiven Prozess zu rekonstituieren – d.h. das
»Denkbare« vor dem Hintergrund seines machtförmigen Gewordenseins und
seiner Veränderbarkeit zu betrachten. Grounded Theory stellt eine Option dar,
an der Transformation herrschender Begrifflichkeiten zu arbeiten.
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5
Vgl. hierzu die differenzierten Ausführungen zu Stabilisierungsprozessen feministischer Wissensproduktion bei Hark (2005).
6
Vgl. hierzu die ebenfalls im Paradigma der Grounded Theory praktizierte Wissensgenerierung bei Bauer (2007).
Geschlecht als politisches Terrain
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Tino Plümecke
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens
zur Veränderung
Widerstand, Subversion, Dissidenz, Kritik, Revolte, Revolution sind Begriffe,
deren Bedeutungen vor allem mit Bildern und Praxen linker Politik und letztlich mit der Idee einer Überwindung der bestehenden Verhältnisse verknüpft
sind. Widerstand wird in diesen politischen Denk- und Handlungsweisen in aller Regel in eben dieser Semantik vorausgesetzt oder durch die bezeichnete Aktion implizit erklärt. Widerstand ist jedoch keinesfalls als »linke Kampfvokabel« gepachtet. Begriffe wie »Nationaler Widerstand« sind durchaus geläufig
und auch das Agieren kapitalistischer Interessenverbände gegen gewerkschaftliche Forderungen wird als Widerstand bezeichnet.1 Durch den vielfältigen Gebrauch als unbestimmte Bezeichnung für allerlei individuelle und kollektive
Aktionen, aber auch für und von Institutionen wie wissenschaftliche Disziplinen, Nichtregierungsorganisationen, Soziale Bewegungen etc. verschwimmen
Begriffe wie Widerstand jedoch in ihren Bedeutungsgehalten. Dies scheint vor
allem deshalb beachtenswert, da aktuelle Regierungstechniken – die mit Autonomie, Kreativität, Flexibilität und Eigenverantwortung hantieren – subversiv
intendierte Strategien in ihre Praxen integrieren können und damit diesen Strategien ihres Widerstandspotenzials berauben.
Neben diesem weiten Gebrauch der Widerstandsvokabel, der neoliberalen
Vereinnahmung von Widerständigkeit und den damit verbundenen Unklarheiten
wird darüber hinaus eine weitere Problematisierung in diesem Beitrag vorgenommen: Der für emanzipatives Engagement so zentrale Begriff bereitet vor
dem Hintergrund poststrukturalistischen Denkens erhebliche Schwierigkeiten
und führt – in auf diesen Annahmen basierenden Analysen – zu massiven Infragestellungen von bisherigen Widerstandskonzeptionen.
Im Sinne dieser beiden Problemstellungen werden im Folgenden vor allem
Fragen aufgeworfen sowie die differenten Bedeutungsdimensionen und Ambivalenzen des Begriffs als auch seines unreflektierten Gebrauchs erörtert: Ist der
Begriff Widerstand zu einem Plastikwort mit völlig unklaren und divergierenden
Bedeutungen verkommen, sodass er der Gefahr unterliegt, seines kritischen und
auf Veränderung zielenden Gehaltes verlustig zu werden? Wie ist Widerstand
1
Vgl. Manager Magazin, 8.9.2007, »Widerstand gegen Mindestlohn«.
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
71
heute überhaupt denkbar? Was kann Widerstand sein und wie tragfähig ist diese Vokabel für politisches Handeln?
In diesem Essay geht es allerdings nicht um die Beantwortung derartiger
Fragen, sondern darum, eine Problematisierung der Begriffsverwendung zur
Debatte zu stellen. Mithin zielen die folgenden Überlegungen darauf, eine angemessene Revision von Handlungskonzepten und Strategien widerständigen
Handelns anzustoßen und zu fragen, was dies sowohl für eine kritische Wissenschaft als auch für linke Politik bedeutet. Hierfür wird neben einer Bedeutungsbestimmung mittels einer Analyse moderner Subjektpositionen eine Veranschaulichung von Begrenzungen und Schwierigkeiten von Widerstand vorgenommen,
die sich vor allem auf Ansätze des Postrukturalismus, des Dekonstruktivismus
und der Governmentality Studies beziehen.
Bedeutungsgehalte von Widerstand
Gängige Begriffsbestimmungen von Widerstand (unter Ausklammerung von
rechten, manageriellen etc. Varianten) fokussieren im Allgemeinen entweder
auf staatlich-juridische Bereiche oder auf einen mehr oder weniger klassischlinken2 subjekteuphorischen Sinngehalt. Während der juridische Bedeutungsbereich Widerstand vor allem aus einer Perspektive auf den Staat und seine Organe
umfasst, bezeichnet letzterer überdies Alltagshandlungen und Praktiken gegen
sehr verschiedene und auf unterschiedlichen Ebenen angeordnete Formen gesellschaftlichen Zwangs, Kontrolle und Regulierung. Der erste Bereich behandelt und bestimmt dabei vor allem Fragen der Legalität von Widerstand, während subjekteuphorisch hier vor allem die ontologisierende Vorstellung meint,
dass handlungsfähige Individuen aus ureigenen Beweggründen nach (mehr)
Freiheit streben und sich dementsprechend widerständig gegen die ihnen entgegengesetzten gesellschaftlich-herrschaftlichen Begrenzungen verhalten. Da
sich auch viele Alltagshandlungen wie auch Theorien und Konzeptionen linken
Widerstands (zumeist in Abgrenzung) auf staatliche Strukturen bzw. deren Institutionen und Repräsentanten beziehen, ist es sinnvoll, das juridische Verständnis darzulegen. Widerstand wird hierin bezeichnet als die »Gesamtheit aktiver
und passiver Maßnahmen einzelner Bürger oder politischer Gruppen gegen Regierende, Staatsorgane und sonstige politisch-gesellschaftliche Kräfte, welche
2
Klassisch hier im Sinne von üblich und allgemein anerkannt sowie in Bezug auf
die Bedeutung als Grundlage für einen großen Teil linker Widerstandsformen. Diese rekurrieren in aller Regel auf ein handlungsfähiges, im Sinne der Aufklärung ontologisiertes Subjekt.
72
Tino Plümecke
in verfassungswidriger Weise ihnen übertragene oder selbst angeeignete Herrschaftsrechte missbrauchen und damit eine Situation entstehen lassen, in der
die Grundordnung selbst gefährdet ist.« (Hillmann 1994: 934)
Diese Begriffsbestimmung ist dadurch gekennzeichnet, dass Widerstand lediglich für Ausnahmesituationen anwendbar ist, in denen die grundlegende
demokratische Ordnung und die Grundgesetze missachtet bzw. missbraucht
werden. Ein solcher Widerstandsbegriff ist vor dem Hintergrund historischer
Erfahrungen zu verstehen und bezeichnet vor allem den Widerstand (und die
Widerstandsbewegung) gegen den Nationalsozialismus und die faschistischen
Staaten Europas. In Auseinandersetzung mit der rechtlichen »Illegalität« dieses
Widerstands wurde im deutschen Grundgesetz und in einigen Landesverfassungen ein bürgerliches Widerstandsrecht verankert.3 Dieses Recht, auf das sich
auch linke Aktivist_innen, vor allem im umwelt- und friedenspolitischen Bereich berufen, ist folgendermaßen im Grundgesetz formuliert:
»Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [demokratischer, sozialer
Bundesstaat…] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand,
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« (GG, Artikel 20, Absatz 4)
So bedeutsam die Implementierung eines solchen Rechtes in die grundlegende Rechtsnorm der BRD erachtet werden kann, so unterliegt dieses Recht
doch engen Grenzen. Die Begrenzung, die sich aus der juridischen Formulierung des politischen Rechts ergibt, wird am Konditional-Zusatz, der die Bedingungen von Widerstand nennt, deutlich: Dieser sei nur gerechtfertigt, wenn
»andere Abhilfe nicht möglich ist« sowie wenn alle legalen und friedlichen Mittel erschöpft seien.
Eine derartig enge Begriffsbestimmung ist für fast alle Bereiche aktuellen Widerstands kaum bis überhaupt nicht praktikabel. Selbst bedeutsame Initiativen
wie die Anti-AKW-Bewegung, deren Aktionen sicherlich als Widerstand zu bezeichnen sind, werden von diesem Recht nicht geschützt, da sie nicht aufgrund
einer Bedrohung der demokratisch rechtsstaatlichen Ordnung handel(te)n.
Mit der Verortung des eigenen Handelns als Widerstand wird stattdessen in
der Regel auf eine Bedeutung rekurriert, die jenen weiteren Bereich subjekteuphorischer Konzeptionen umfasst und sich in diesem Sinne bspw. auch in der
3
Das Widerstandsrecht im Grundgesetz der Bundesrepublik wurde 1968 als Ausgleich für die Einschränkungen, die durch die Aufnahme der Notstandsgesetze vorgenommen wurden, eingefügt. Debatten über Widerstandsrechte finden sich in christlicher
Tradition, in verschiedenen Verfassungen amerikanischer Einzelstaaten und im Artikel 2
der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. In Deutschland
war seit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1900 kein Widerstandsrecht
mehr verankert und bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Parlamentarische Rat eine Aufnahme dieses Rechtes abgelehnt.
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
73
Wikipedia-Definition findet: »Als Widerstand wird die Verweigerung des Gehorsams oder das aktive oppositionelle Handeln gegenüber der Obrigkeit oder der
Regierung bezeichnet.« (http://de.wikipedia.org/wiki/Widerstand_(Politik))
Gehorsamsverweigerung und das Handeln gegen Obrigkeit bzw. Regierung
sind zwar ebenfalls »nur« Teile eines weiten Bedeutungsrahmens, können aber
auch als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Gebrauchsweisen in linker
Politik gelten, unter dem sich viele der Akteure im Spektrum linker bis linksradikaler Politik verorten. Aus poststrukturalistischer Perspektive auf diese Widerstandsbedeutung ergeben sich jedoch mehrere Ambivalenzen und Unvereinbarkeiten. Eine Beachtung dieser Infragestellungen durch poststrukturalistische
Ansätze ist insofern relevant, da mit ihnen von verschiedenen Theoretiker_innen auch Fragen nach den Möglichkeiten und der Wirksamkeit linker Politik,
Kritik und Widerstand bearbeitet wurden und werden: Aber vor allem, da ihre
Analysen bisher relativ sicher geglaubte Grundfesten linker Politik, wie das
handlungsmächtige (revolutionäre) Subjekt, Freiheit als Handlungsziel und die
Möglichkeit einer Außenposition, aus der heraus Macht und Herrschaft kritisier- und angreifbar seien, in Frage stellen.
In dieser Perspektive wird im Folgenden den marxistischen Ausarbeitungen
zur Subjektivierung und Handlungsmacht von Louis Althusser und den Entwürfen zur Subjektkonstitution und Gouvernementalität von Michel Foucault
nachgegangen. Dieser Zugang erscheint aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen, um die theoretische Basis dieser Analysen und damit deren Unvereinbarkeit mit einigen (in machtanalytischem Sinne gewissermaßen) unreflektierten
oder naiven Verständnissen von Widerstand zu verdeutlichen. Zum anderen,
um anhand dieser Basis die Inkonsistenzen, Begrenzungen aber auch Potenziale von Widerstandsbedeutungen aufzuklären.
Ideologie, Subjekte, Staatsapparate
Der französische Philosoph Louis Althusser veröffentlichte 1970 den Text »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in welchem er marxistische Staatsanalyse mit der Produktion von Subjekten verband. Seine zentrale These ist,
dass die Ideologie der warenförmigen Gesellschaft die Individuen als Subjekte
anruft (interpeller4) und damit erschafft. Die Ideologie wirke derart, »dass sie
durch eine ganz bestimmte Operation, die wir Anrufung nennen, aus der Masse
4 Der französische Begriff interpeller beinhaltet als polysemer Begriff noch die Bedeutungen von unterbrechen und überprüfen; die Anrufung, l’ interpellation, meint auch
die Anfrage, den Zwischenruf, aber auch die Festnahme.
74
Tino Plümecke
der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ oder diese Individuen in Subjekte ›verwandelt‹« (Althusser 1970: 223).
Mit der Unterscheidung zwischen den repressiven und ideologischen Staatsapparaten führt Althusser eine bedeutende Denkfigur in das strukturalistische
und schließlich poststrukturalistische Denken ein. Mittels der Analyse von Ideologie sowie der ideologischen Staatsapparate (Kirchen, Schulen, Familie, Recht,
Parteien, Gewerkschaften, Presse, Medien, Kunst…) versucht Althusser, gesellschaftliche Prozesse zu erklären, durch die und in denen die Individuen zu Handlungstragenden und -entscheidenden werden. Seine Konzeption von Ideologie
macht verstehbar, wie Individuen zu Meinungen, Glauben und willentlichen
Aktivitäten gelangen, die ihren Interessen »objektiv« widersprechen. Letztlich wollte Althusser fassbar machen, warum die revolutionären Bestrebungen
des Mai 1968 – trotz der Breite der Bewegung und der relativen Schwäche des
»zentralen Staatsapparates« – scheiterten. Sein Text gründet auf dieser bedeutsamen Auseinandersetzung und gelangt zu dem Ergebnis, dass die Macht möglicherweise nicht mehr in einem Zentrum lokalisierbar sei. Seine Argumentation
weist also analytisch eine Erweiterung von Regierungshandlungen aus, indem
sie nicht mehr souveräne Herrschaft als Regierungstechnik mittels Repression,
Verbot und Zwang in den Mittelpunkt stellt, sondern neue Formen von Macht
und Herrschaft umfasst, die auf die Identitätsbildung und Handlungsermächtigung der Individuen abzielt. Zwar verbleibt er mit seiner Staatskonzeption im
klassisch-marxistischen Diskurs, kann aber mittels einer kritischen Analyse
der Effekte moderner »ideologischer Staatsapparate« das Scheitern der proletarischen Revolutionen in den westlichen Industriestaaten erklären.
Zur Verdeutlichung der Prozesse der ideologiegeleiteten Subjektbildung (vermittelt durch gesellschaftliche Strukturen) greift Althusser zur Metapher der
Anrufung (interpellation). Diese finde immer wieder statt und expliziere sich
bspw. im Prozess des Rufs eines Polizeibeamten an eine Passantin: »He, Sie
da!« – auf die die Angerufene reagiert. Althusser versucht mittels dieses Bildes,
die ständige Formierung des Subjekts im Bereich jeglichen macht- und ideologiedurchzogenen gesellschaftlichen Lebens zu veranschaulichen. Die Angerufene wendet sich in der Regelbefolgung um, kann aber nur in Übernahme der
bestehenden Regeln reagieren und als Handelnde anerkannt werden. Die Folgen dieser Anrufung beschreibt Althusser als eine soziale Einordnung, durch
die den Angerufenen eine von Macht umgebene gesellschaftliche Position zugewiesen wird. Im Prozess dieser Anrufung vollziehe sich demnach die Subjektivierung, die die Individuen in ideologische Subjekte verwandelt. Gesellschaftliches Leben, mithin Praxis, findet laut dieser These nur in einer und vermittelt
durch eine Ideologie statt, »die bestimmte materielle … geregelte Praktiken
vorschreibt, wobei diese Praktiken wiederum in den materiellen Handlungen
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
75
eines Subjekts existieren, das mit vollem Bewusstsein seinem Glauben entsprechend agiert« (ebd.: 222). Das Spezifisch Neue ist, dass die Existenz des
Subjekts – jene für die Moderne so zentrale und mit Anerkennung und Handlungsfähigkeit verknüpfte Entität – sich laut Althusser erst in der Übernahme
der Regeln des Systems, der eigenen Eingliederung der Individuen in die Apparate des Staates herstellt.
So eindringlich Althussers Analysen zur Erklärung moderner kapitalistischer Herrschaft sind, so lassen sie gleichzeitig auch mehrere Probleme offenbar werden. Zum einen scheint nun jegliches (und somit auch widerständiges)
Handeln in die bestehenden Verhältnisse eingebunden zu sein. Demnach gibt
es kein und es kann kein Agieren außerhalb der gesellschaftlichen (und damit
von Herrschaft durchdrungenen, ideologischen) Ordnung geben, denn das handlungsmächtige Subjekt wird erst im Rahmen der bestehenden Verhältnisse geschaffen und mittels der Institutionen (Kirchen, Schule, Familie, Militär…) im
festen Griff gehalten. Ein Intervenieren in bestehende Verhältnisse setzt demnach
die Übernahme der bestehenden Regeln, mithin die Eingliederung in den Anrufungsapparat voraus. Zum anderen wird durch diese – quasi erweiterte – Sicht
auf die mittels ideologischer Staatsapparate regierten Individuen das Regieren
zu etwas, das über Repression, Jurisdiktion und Gewalt hinausgehe. Regieren
wird zu etwas Produktivem, das gleichzeitig Unterwerfung und Handlungsfähigkeit in einer gesellschaftlichen Organisation herstellt und organisiert.
Für ein linkes Widerstandsverständnis hat das offenkundig Auswirkungen
auf den vorgestellten Ausgangspunkt und Eigenstandpunkt der Kritik und somit
auf die Position, aus der heraus widerständig gehandelt wird. Die von Althusser vorgenommene Darlegung der Subjektivierung als Funktion ideologischer
Handlungsermächtigung sowie ein Denken von Praxis in einer Kategorie des
Subjekts, für das Ideologie konstitutiv ist, verunmöglicht offensichtlich eine
wichtige Sinnkonstruktion von linkem Widerstand, die ihren Ausgangspunkt
in einem im Eigensinne handlungsmächtigen und mindestens potenziell freien
Subjekt sucht. Diese Sinnkonstruktion drückt sich bspw. auch in der Weiterführung der Definition in Wikipedia aus: »Widerstand befindet sich entsprechend außerhalb der gesetzten Ordnung.« (http://de.wikipedia.org/wiki/Widerstand_(Politik))
Eine derartige Möglichkeit eines Außerhalb der bestehenden Ordnung wird
im Denkraum der Althusserschen Thesen nicht mehr umsetzbar. Seinem Ansatz folgend werden in postrukturalistischen und dekonstruktivistischen Analysen sowohl ein Außerhalb-Sein wie auch eine widerständige Handlungsermächtigung gegen Obrigkeit und Regierung entschieden in Frage gestellt oder
– wie bei Michel Foucault – auf Basis einer weiterentwickelten Subjektkritik
problematisiert.
76
Tino Plümecke
Subjekt, Regierung, Gouvernementalität
Foucault, Schüler und Freund Althussers, zeigt in seinen Arbeiten eine weitreichende gedankliche Nähe zu diesem weiten Gebrauch des Ideologie-Begriffs.5
Althussers ideologische Staatsapparate lassen sich bei Foucault als Funktionsformen des Staates, als Formen der Führung und der Regierung lesen. Und so
formuliert Foucault: »Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man Menschen lenkt, von der Verwaltung
bis zur Erziehung.« (Foucault 1980: 118) Die Verbindung der Lenkung durch
die erweiterten Staatsorgane mit der Anrufung des Subjekts, finden sich also
bei Foucault in einer gleichfalls dezentrierten Auffassung von Regierung und
der mit Machttechniken vollzogenen Subjektivierung wieder.6
Foucaults Analysen beziehen Subjektivierung auf ein Verständnis, das sich
von der lateinischen Grundform des Begriffs Subjekt (sub = unter; iacere = werfen) in zweifacher Bedeutung ableitet: »vermittels Kontrolle und Abhängigkeit
jemandem unterworfen und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.« (Foucault 1982: 246f.) Das Subjekt ist bei Foucault (und den sich auf ihn beziehenden Theorien) also keinesfalls emanzipative Chiffre der Aufklärung, wie in der Tradition Kants, sondern dieses wird im
Prozess der Subjektivierung als eben jenes erst produziert – von einer Macht,
die unterwirft und zu jemandes Subjekt macht. Foucaults Analyse der Subjektkonstituierung führt so zu einer Historisierung des Subjektwerdens als Resultat von Strukturen und Regierungstechniken in der Moderne. In dieser Sichtweise werden aber jene beliebten Formen des Widerstands verunmöglicht, die
im Namen der wahren, nicht »entfremdeten« oder voluntaristisch geglaubten
Subjektivität auf die Befreiung des Subjekts von gesellschaftlicher Unterdrückung zielen.7
5
Foucault selbst lehnt die theoretische Einbindung von Ideologietheorien in seinen
Arbeiten weitgehend ab. Seine Kritik diesbezüglich bezieht sich auf ein Denken von
Vorgängigkeit oder Essenz der Realität, die seines Erachtens in Ideologietheorien implementiert sei.
6
Die Unterschiede beider Konzeptionen finden sich darin, dass Althussers Erklärung
stärker an eine Zentralmacht gebunden ist, welche sich in ihren Wirkungen weiter auf die
Subjekte ausdehnt, demgegenüber Foucault eine allgemeine Diffusion der Macht konstatiert und sich entsprechend der Macht des Subjekts, welches gleichzeitig in einem allgemeinen Machtgefüge konstituiert ist, zuwendet.
7
Vgl. hierzu viele marxistische oder freudianische Konzepte und Ideen der 68er-Bewegung. Der Ansatz poststrukturalistischer Art ist dagegen diesbezüglich folgender: Das
Subjekt konstituierte sich in der Herausbildung der europäischen Moderne durch die Erkenntnis einer inneren Wahrheit, die zur Vorraussetzung seiner Regierbarkeit wurde. So-
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
77
Foucault untersucht darüber hinausgehend die Veränderung der Regierungsweisen, die zu einer Aufgabe souveräner Herrschaft und zur Entwicklung liberaler Regierungspraktiken geführt haben. Mit dem Begriff gouvernementalité
versucht er, diese Veränderungen begrifflich zu fassen. Zusätzlich zu den Praktiken jener Herrschaft, die vor allem über Repression, Strafe und die Ausführung
des Todes agierte, werden nun historisch neue Techniken der Disziplin, Kontrolle und der Führung des Selbst als Regierungsformen integriert. Die Einbindung der Subjekte als unmittelbare Adressaten und Träger von Herrschaftstechniken (in Form jener Führungs-, Disziplinierungs- und Kontrollhandlungen),
die das Subjekt an sich selbst vollzieht, wie die Führung der Bevölkerung mittels der Unterstützung des Lebens, der Kontrolle der Sexualität, der Gesundheit und Krankheit, der Devianz und Anormalität, bewirken letztlich eine produktivere Form der Regierung.
Diese neuen Formen des Regierens sieht Foucault mit dem Aufkommen des
Liberalismus verwirklicht. Das Spezifische der liberalen Gouvernementalität
sind die diese Regierungspraxis bestimmenden neuen Freiheiten. Freiheiten
haben sowohl in den subjekteuphorischen Widerstandskonzepten als auch in
Foucaults Analysen und Ausarbeitungen zu Widerstandsmöglichkeiten einen
wichtigen Stellenwert. Die Bedeutungen und vor allem die Relation von Freiheit mit Regierung und Herrschaft sind in beiden Modellen jedoch sehr verschieden. Ist für die einen das Streben nach Freiheit Ausgangspunkt von widerständigen Handlungen und ein mehr an Freiheit das Ziel der Handlungen,
formuliert Foucault: »Die neue gouvernementale Vernunft braucht … die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit.« (Foucault 2004: 97) Damit
ist Freiheit also konstitutiv für eine moderne, (neo)liberale Gesellschaft. Zur
Begrenzung dieses Freiheitsraumes benötigt die liberale Regierungspraxis allerdings zugleich eine gewaltige Verschärfung der Verfahren der Kontrolle und
Beschränkung, mit der der Rahmen von Freiheit umgrenzt und gehegt wird.
Das liberale Subjekt ist in dieses Ensemble eingebunden als Produkt, Ziel und
Träger von Regierungshandlungen. In diesem Sinne erst durch den liberalen
Freiraum ermöglicht, verkörpert es eine Handlungsmächtigkeit, die zwar als
Autonomie beschreibbar ist, jedoch angesichts der Strafandrohung durch das
Gefängnis, der Psychiatrie und/oder massiver Statusminderung im streng abgesteckten Rahmen liberaler Gesellschaftsformierung zu bleiben hat. Die Autonomie eines Subjekts reicht dementsprechend so weit, wie die Grenzen des
gewährten Spielraums reichen.
mit stellt sich die unaufhörliche Selbstfindung, die Suche nach sich selbst nicht als eine
Möglichkeit von mehr Freiheit, sondern einer Konstituierung im Abhängigkeitsverhältnis von Regierungspraktiken der Gouvernementalität dar.
78
Tino Plümecke
In diesem liberalen Spielraum ist auch das Verständnis Foucaults von Widerstand zu verorten. Macht und Widerstand werden von ihm in einer unlösbaren
Verbindung als ein ständiges (Inter-)Agieren von Kräften und Gegenkräften gesehen. Widerstand gibt es mithin vice versa nur innerhalb der Verhältnisse – also
innerhalb des liberalen Freiheitsraums – womit seine Äußerung »Wo es Macht
gibt, gibt es Widerstand« in diesem Sinne zu verstehen ist (Foucault 1976a: 116).
Weder Macht noch Widerstand ist dem anderen gegenüber vorgelagert: Widerstand und Macht konstituieren sich »absolut gleichzeitig« und »koextensiv«
(Foucault 1978: 195). Für aktuelle Regierungstechniken – die an der Regierung
durch die Subjekte hindurch, im Sinne einer Führung des Selbst gebunden sind
– ist es demnach notwendig, dass sie Widerstand integrieren können.
Ist eine derartige Sicht auf Macht als gleichursprünglich mit und konstitutiv
für Widerstand zunächst noch mit subjekteuphorischen Widerstandsverständnissen vereinbar, so gilt dies für die Weiterführung der These – Widerstand als
eine Komponente und als Integrativ (neo)liberaler Herrschaft – wohl nicht mehr.
Wie vermeintlich widerständiges Handeln in liberalen Formen des Regierens
integriert ist, macht Foucault vor allem in Band I von »Sexualität und Wahrheit« deutlich. Forderungen nach einer beispielsweise von Tabus und rigiden
Sexualnormen befreiten Sexualität können so als lediglich Befreiungsphantasien, die ein freies Subjekt vor Augen führen, interpretiert werden. Die auch
vom Widerstand geschürten Diskurse über »befreite Sexualität« sind mithin als
im Rahmen einer regierungstechnischen Kontrollinstanz, als Sexualitäts-Dispositiv verstehbar. Die als widerständig gedachte Sexualität erscheint so als eine
Form im Raum der biopolitischen Zugriffe auf Körper und Subjekte.8
Die Vorstellung eines dermaßen mit der Macht verbündeten Widerstands
und eines aus der Wirkung von Regierungshandlungen hervorgehenden Subjekts legt nahe, dass Befreiung im emphatischen Sinne nicht denkbar ist, da
die erlebbaren Freiheitsspielräume eben jene sind, die für die Subjektkonstituierung vom Liberalismus erst geschaffen wurden: Denn »[d]er Widerstand
8
Foucault setzt sich mit der Diskursivierung etwa von Formen der Sexualität, die sich
der strengen Ökonomie der Reproduktion nicht unterwerfen, auseinander. Mit der Erfindung der Bevölkerung und der Herausbildung moderner Formen der Regierung entstehe
gleichzeitig der Bereich des Körpers des Individuums, der zum Einflussfeld vielfältiger Praxen der Machtausübung, sei es der Arbeit, der Hygiene, der unfruchtbaren Lüste
(die zu Perversionen werden), wie auch zum Träger des Subjekts, wird. In der Untersuchung der Repressionshypothese verortet Foucault am Beispiel der Formierung der Sexualität die Hervorbringung von Individuen und fragt, wie es dazu gekommen sei, dass
Menschen glauben, »subversiv zu sein, wenn sie dem Geständniszwang gehorchen, der
uns Menschen des Abendlandes seit Jahrhunderten unterwirft, indem er uns nötigt, alles über unser Begehren zu sagen« (1976b: 90).
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
79
stützt sich stets, in Wirklichkeit, auf die Situation, die er bekämpft« (Foucault
1984: 917). Doch was heißt das konkret? Ist Widerstand damit immer nur ein
Teil von Herrschaft?
Auch neuere poststrukturalistische Analysen modernisierter, neoliberaler
Subjektivierungsformen geben auf diese Fragen keine erleichternden Antworten. Zwar konstatieren sie einige Veränderungen gegenüber den von Althusser
und Foucault beschriebenen Subjektivierungen, verorten das handlungsfähige
Individuum aber keinesfalls in einem für Widerstand offeneren Rahmen: Neue
Anrufungen an das Subjekt – nicht mehr das fordistische Disziplinarsubjekt,
sondern flexible Subjektivitätsformen bestimmen das aktuelle Leitbild – führen vor allem zur Konstituierung eines aktiven Subjekts, dessen Zielvorgaben
Selbstführung, Selbstregulierung, Partizipation und Eigenverantwortung sind.
Personen werden so nicht nur als Arbeitnehmer_innen, sondern hinsichtlich ihrer Lebensführung zu Unternehmer_innen ihrer Selbst, denen die Eigenoptimierung wie die Optimierung der Produktionsabläufe obliegt. An die Stelle der im
Fordismus so zentralen Struktur treten nun ständig neue Anforderungen, erweiterte Verantwortlichkeiten, Evaluationen, Qualitätsmanagement und Selbstkontrolle. Somit gewinnen Kompetenzen wie Kreativität, Innovations- und Teamfähigkeit an den Arbeitsplätzen an Bedeutung, die mit abgeflachten Hierarchien,
Aushandlung und Autonomie unterstützt werden. Die kreativen Potenziale von
Widerstand werden in den Verwertungsprozessen vereinnahmt sowie (es sei
an die verneinende Definition von Widerstand als das Gegen, als die Verweigerung erinnert) seine negierenden Kräfte vermittels neoliberaler Führung in
seinen produktiven Potenzialen unterstützt und somit zur Erneuerungstechnik
vernutzt: Die so emphatisch gedachte Essenz des Subjekts als Quelle von Widerstand, die das Denken der Aufklärung wie die subjekteuphorischen linken
Theorien und Politikkonzepte prägte, bewahrheitet sich als eine Produktivkraft
des neoliberalen Kapitalismus. Widerstand wird zum durchaus gewollten Korrektiv, zu einer integrativen Machttechnologie und in seinen kommodifizierbaren Formen zu einer ausbeutbaren Ressource.
Was könnte dennoch Widerstand sein?
Für eine kritische, poststrukturalistisch und gouvernementalitätsanalytisch informierte Widerstandskonzeption liegt es nahe, nach Formen von Kritik-, Subversions- und Widerstandskonzeptionen zu suchen, in der die vorgenommene
Problematisierung ernst genommen wird. Somit ist stets zu reflektieren, dass
es sich bei Widerstand im Rahmen neosozialer Umsteuerungen um eine Form
der »Regierungsintensivierung« handeln kann, die als konstitutive Elemente,
80
Tino Plümecke
als techne der Regierung in ihnen eingelassen sind. Eine Implementierung der
aufgezeigten Infragestellungen, Ambivalenzen und Verknüpfungen von Macht
und Widerstand sowie von Subjektivierung, Handlungsmächtigkeit und Regierung kann somit Ausgangspunkt für eine reflektierende kritische Theorie und
Praxis von Widerstand sein. Dazu bedarf es einer Sicht auf die Konzepte widerständiger Politik als ambivalente Potenziale: Widerstand enthält und bewirkt
emanzipative und gleichzeitig neoliberal integrierbare Potenziale. Eine Handlung, eine Strategie, eine Kampagne, mithin Politik wird nicht per deklarativer
Attribuierung als widerständig zu einer die bestehenden Verhältnisse emanzipativ verändernden (oder überwindenden) Praxis. Zur Debatte steht damit auch,
ob und wie es gelingen kann, den »Plastikbegriff« so zu besetzen, dass er eine
Distanz zu neoliberaler Vereinahmung aufbauen kann.
Foucault selber macht keine Absage in genere an Widerstandskonzeptionen. Seine Analysen lassen sich trotz der massiven Kritik an den bisherigen
linken Macht- und Widerstandskonzeptionen vielmehr auch als kritischer Ausgangspunkt und Eröffnung kritischer Interventionsmöglichkeiten verstehen.
Ausgehend von seiner Konzeption von Macht in Praktiken, also in actu, wird
Widerstand ebenso wie Macht dezentriert gedacht. Foucault spricht von Widerstandspunkten – welche in strategischer Codierung nicht in einem hermetischen Verständnis von Regierung aufgehen. Er sieht dementsprechend nicht
einen »Ort der Großen Weigerung … den Brennpunkt der Rebellion«, sondern
verortet einzelne Widerstände, die als Konstituente einer Beziehung zur Macht
existieren und deren revoltierendes Potenzial auch gegenüber neoliberaler Regierungsformen bestehe (vgl. 1976a: 117).
Doch wie überzeugend ist dieser Versuch eines Auswegs aus der vorgenommen Problematisierung von Widerstand? Wie ließe sich entscheiden, welcher
Widerstandspunkt Effekt neoliberaler Regierung ist und welcher – oder ab wann
– über revoltierendes Potenzial verfügt? Foucault hat dies wenig ausgeführt,
weshalb Antwortversuche eher in den weiterführenden Arbeiten poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze zu suchen sind. Entsprechend der
Entwürfe von Althusser und Foucault und häufig gestützt auf Ansätze des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Félix Guattari wird in dekonstruktivistischen Arbeiten jene hier dargelegte Historisierung von Subjektivierungsweisen vorgenommen und mit dieser die Frage nach Veränderung der
bestehenden Verhältnisse erneut gestellt.
Die Theoretisierung von Potenzialen des Widerstands gestaltet sich in diesen
Ansätzen vor allem in zwei Weisen: Erstens durch ein Ausloten von Möglichkeiten der Neuformierung eben anderer kontingenter Bedingungen und damit
auch veränderter Strukturen auf der Basis einer Theorie der Dekonstruierbarkeit bestehender sozialer Konstrukte, also auch der Macht- und Herrschaftsge-
Widerstand – Die Regierbarkeit des Willens zur Veränderung
81
füge. Zweitens durch das Sichtbarmachen und die Untersuchung der (mindestens parziellen) Verwerfungen, die bei der Annahme der Anrufung wie bei der
Übernahme der bestehenden Regeln in Form von geringfügigen aber nicht irrelevanten Modifikationen erfolgen. Somit bestünden in den Rahmungen, die die
Ordnung einer Gesellschaft erzeugt und in denen die Subjekte formiert werden,
unterschiedliche, sich auch widersprechende Anrufungen. So stehen sich in einer komplexen modernen Gesellschaft bspw. im Sexualitätsdispositiv Anforderungen aus einer Ordnungsfunktion zu denjenigen aus Bereichen des Marktes
entgegen oder Subjekte können sich ggf. erfolgreich mit Bezug auf die Anrufung als Konsument_innen den Disziplinar- und Kontrollinstanzen durch Diebstahl entziehen. Der jeweils strategische Einsatz derartiger Widersprüche kann
dabei als subversiv verstanden werden. Die Frage bleibt jedoch auch hier: ob
individuelle Handlungen widerständig sein können oder ob es kollektiver Umsetzungen bedarf, um Veränderungen – im Sinne von »nicht dermaßen regiert
zu werden« (Foucault 1992: 12) – bewirken zu können.
Offen bleibt somit in der hier beschriebenen Kritik als auch in den Entwürfen einer Suche nach neuen Formen von Widerstand nach wie vor, wie mit der
Frage nach den noch bleibenden Möglichkeiten von Widerständig-Sein im Sinne
eines Umbruchs der Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1976: 385),
zu verfahren ist. Wie tragfähig kann ein poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch inspirierter Begriff von Widerstand überhaupt sein? Wenn Macht in
actu, in den einzelnen Handlungen verortet wird, wird Widerstand dann zu etwas, dass außerhalb einer Subjektontologie nur noch als kleine Widerständigkeiten denkbar ist? Wie kann sich ein Umgang mit einer Subjekt-, Macht- und
Identitätskritik gestalten, wenn keine Strategie widerständigen Handelns außerhalb der bestehenden Ordnung mehr denkbar scheint? Wie weit können Ansätze tragen, die z.B. mittels taktischer Anerkennung der bestehenden Regeln
(wie bspw. Pierre Bourdieu vorschlägt) das Feld (also die sozialen Strukturen
und Praxen) zu verändern hoffen oder mit strategischen Wendungen der Regeln
die Strukturen selber zu destabilisieren wünschen, wenn die jeweiligen Akteure
sich in der prekären Bindung an eben dieses Feld befinden? Und schließlich,
welche Auswege bieten sich, um die aufgeworfenen Probleme nicht mit Resignation, Fatalismus oder Relativismus zu beantworten? Nach mittlerweile mehreren Jahrzehnten postrukturalistischer Theorie und Kritik stellt sich darüber
hinaus auch die Frage, welche Weiterentwicklungen diese Ansätze in linker Theorie und Praxis bewirkt haben. So überzeugend die Kritik an bisherigen Widerstandskonzeptionen ist, so unzureichend scheinen bisweilen die Möglichkeiten
dieser Kritik zur Entwicklung neuer, tragfähigerer Widerstandskonzepte. Somit
gelte es neben der Wahrnehmung jener in der Kritik benannten Begrenzungen
82
Tino Plümecke
der Widerstandkonzeptionen auch die (bisherigen) Begrenzungen postrukturalistischer Theorie zu reflektieren. Statt eines selbstgewissen Sich-für-widerständig-Haltens sollten also die unzulängliche Konkretisierung von Widerstand,
die Potenziale, aber auch die Limitierungen und Ausschließungen, die sich mit
poststrukturalistischer Kritik ergeben, in den Blick genommen werden. Für
eine Wiederaneignung des Widerstandsbegriffs als Praktik, die die unsuspendierbaren Ambivalenzen der eigenen Begriffe und Konzepte integriert, scheint
somit sowohl die selbst-kritische Reflexion als auch die Weiterentwicklung der
bestehenden theoretischen Basis geboten.
Literatur
Althusser, Louis (1995): Sur la reproduction: Paris: Presses Universitaires de France
(dt. 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate. In: Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg: VSA).
Foucault, Michel (1976a): Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/Main: Suhrkamp (dt. 1983).
Foucault, Michel (1976b): Mikrophysik der Macht: Über Strafjustiz, Psychiatrie
und Medizin. Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und
Wahrheit. Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1980): Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Gespräch mit Ducio
Trombadori. Frankfurt/Main: Suhrkamp (dt. 1996).
Foucault, Michel (1982): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik.
Frankfurt/Main: Athenäum, 1987, S. 243ff.
Foucault, Michel (1984): Sex, Macht und die Politik der Identität. In: Schriften. Bd.
4, Frankfurt/Main: Suhrkamp (dt. 2005).
Foucault, Michel 1992: Was ist Kritik? Berlin: Merve
Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der
Biopolitik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Hillmann, Karl-Heinz (Hrsg.) (1994): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Kröner.
Marx, Karl (1976): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung In:
MEW Bd. 1, Berlin: Dietz.
Wikipedia: Widerstand. http://de.wikipedia.org/wiki/Widerstand_(Politik), letzter
Zugriff: 13.9.2007.
Astrid Henning
Migration als politisches Konzept
des Widerstandes ohne Wurzeln1
»Protest ist, wenn ich sage, das oder das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn
ich dafür sorge, dass das was mir nicht passt, nicht länger geschieht.«
(Ulrike Meinhof)
Ein Subjekt ohne Widerstand – Widerstand ohne Subjekt?
Ich möchte mit diesem Artikel die Debatte um Widerstand um eine Lesart ergänzen, bei der das handelnde Subjekt und seine Widerstandspraxis in den Fokus politischer Arbeit tritt: Protagonistinnen2, die zu Opfern gemacht werden
und die gerade durch ihren Opferstatus weiter unterdrückt werden können. Ich
möchte den Blick lenken auf Protagonistinnen, die in ihren Lebens- und Arbeitsräumen allein dadurch den sie unterdrückenden Plot verändern, indem sie als
»Illegalisierte« permanent bei rot über die Ampeln laufen müssen, die ihnen der
Staat und seine Institutionen setzen. Mein Beitrag gilt daher der Darstellung des
Konzeptes von der »Autonomie der Migration« – als eine Metapher für linken
Widerstand und seine Akteurinnen – sozusagen als seine Referenzstruktur.3
Die modernen Migrationsbewegungen zeigen zum einen, wie Staat und Wirtschaft die Sesshaften sichern und ihre Bereitschaft am Staat und seinen Institutionen festzuhalten festigen, indem in der Figur des Anderen – der Migrantin
– eine permanente Bedrohung und permanente staatliche Protektion des bürgerlichen Subjektes manifestiert wird. Zum anderen zeigen die Migrationsbe1
Ein Text wird bekanntlich nie von der Autorin alleine geschrieben. Für ihre Fragen,
Anmerkungen, ihr Verständnis und Unverständnis ob der Inhalte und Formulierungen
danke ich aber besonders Insa Breyer, Albert Zecheru und Berit Schröder.
2
Ich verwende für eine bessere Lesbarkeit ausschließlich das grammatikalische Femininum. Männer und Transgender sind mitgemeint.
3
Ich möchte dabei nicht hinter die Vorwürfe Franz Fanons zurückfallen und die
Emanzipationsbewegungen der »Dritten Welt« für die weißen mittelständischen Angehörigen der »Ersten Welt« missbrauchen. Ich behaupte stattdessen, dass im neoliberalen
Projekt des Kapitalismus sich auch die konkret rassistische Unterteilung schwarz-weiß
nicht mehr 1:1 aufrechterhalten lässt, sondern die Biopolitik der globalisierten Herrschaft, quasi als Münze mit zwei Seiten, prekarisierte Angehörige der »Ersten« und der
»Dritten Welt« ähnlich betrifft.
84
Astrid Henning
wegungen aber auch die Möglichkeit des permanenten Unterlaufens von Staat
und Kapital als alleinige Kumulationspunkte gesellschaftlicher Macht.
Die Beiträge zum Konzept der Autonomie der Migration stammen vor allem aus der italienischen und französischen Linken, wie beispielsweise Moulier Boutang oder in der Bundesrepublik Deutschland durch das MigrantInnenNetzwerk Kanak Attak. Im Gegensatz zum hegemonialen Blick auf Migration
als ökonomische Angelegenheit, den Blick stets auf die Ressource Arbeitskraft
gerichtet, als Debatte von Integration oder Nicht-Integration, subjektivieren die
Beiträge um die Autonomie der Migration den Blickwinkel und fokussieren damit auf die Handlungsweisen der Akteurinnen. Die Praxis der Migrations-Kontrolle wird mit dieser Perspektive zur Reaktion statt zur Aktion – die Positionen der Akteurinnen verschieben sich. Der Staat wird zum Hase, während der
Igel stets schon ruft: »Ick bin all hier«.
Ich möchte keineswegs die politische Auseinandersetzung über Migration
von ihrer Verknüpfung mit dem kapitalistischen Prinzip entkoppeln. Die Flucht
vor politischer Verfolgung und der Misere im Herkunftsland und die Suche nach
Möglichkeiten, die eigenen Lebensverhältnisse zu verbessern, sind nach wie vor
der hauptsächliche Grund zu migrieren. Die Migrantinnen entwickeln dabei jedoch widerständige Praxen, sie bilden eigene politische und soziale Netzwerke
und unterlaufen damit das kapitalistische Prinzip, welches die Identität der Individuen mit dem Besitz oder der Abwesenheit von Arbeit eng verknüpft. Das
Überschreiten von Räumen, Grenzen und Nationalitäten wird damit zur Referenzstruktur für ein Leben, welches die kapitalistischen und staatlichen Prinzipien der Regierung unterläuft. Regina Römhild bezeichnet die Migrantinnen
als die neuen Hoffnungsträgerinnen der neuen Kosmopolismen, die kein »das
Andere« mehr kennen und von den unterschiedlichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit den globalen Machtverhältnissen zeugen.
»Dabei spielt Migration und generell Mobilität eine zentrale Rolle, denn
sie bringt Bewegung in diese Verhältnisse, in die Beziehung der Menschen zu
Räumen, Gesellschaften und Kulturen. Migration, Mobilität wird zur – jedenfalls imaginierbaren – Option gerade für die Unterprivilegierten, die Randständigen der globalen Hegemonie, sich einen besseren Platz auf der Welt zu suchen.« (Römhild 2007: 215)
Ihre alltäglichen Kämpfe zeigen eine postnationale Selbstbestimmung, in der
sich entrechtlichte Individuen und Kollektive die Rechte nehmen, die ihnen offiziell vorenthalten bleiben; »ohne den Umweg eine nationale Zugehörigkeit zu
einem der EU-Staaten für sich beanspruchen zu können, machen sie sich selbst
zu (heimlichen) Bürgern Europas« (Römhild 2007: 221).
Der Blick auf Migration, bei dem »aus Menschenhändlern Transportunternehmer, aus armen Flüchtlingen Menschen mit Plänen und Strategien und
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
85
aus allmächtigen Behörden Institutionen der Improvisation, die dem Geschehen gleichsam hinterher rennen« (Turbulente Ränder 2007, Klappentext) werden, offenbart, dass Migrationsprozesse und ihre Subjekte ebenso wenig nur
von ökonomischen Strukturen und ihrer staatlichen Protektion abhängig sind,
wie alle anderen Subjekte, die der Entrechtlichung des Neoliberalismus unterliegen. Ihr Widerstand gehorcht nicht nur kapitalistischen Verwertungskriterien
– die subjektiven Aneignungsprozesse von Migrantinnen haben darüber hinaus
subversives und emanzipatorisches Potenzial. Das Fordern und Nehmen von
Rechten kann bedeuten, dass Gesetze in Frage gestellt oder neu verfasst werden, und kann der Praxis und den Erfahrungen, in denen diese Rechte gelebt
werden, eine Artikulation geben.
Das Konzept der Autonomie ist dieser Lesart zufolge konkrete Praxis und
diskursive Metapher. Es ist konkret, wo es die staatlichen Regierungs- und Managementkonzepte ebenso versucht, in ihre Schranken zu verweisen, wie die
institutionalisierte Opposition; wo Migration das Moment der (Wieder-)Aneignung in sich trägt; wo die weltweit dominierenden »ökonomischen« Migrantinnen entgegen dem Ausbeutungsgefälle ihre Lebensmittelpunkte verlagern
und (oftmals ohne politische Artikulation) ihr Recht auf Einkommen und Lebensgarantien einfordern. Es ist Metapher, wo Migration als politischer Diskurs verstanden wird, wo migrare (sich bewegen) als Kampfbegriff einer weltweiten Sozialbewegung verstanden wird, welche den Anlass, seine Wurzeln zu
verlassen, als Chance begreift, den eigenen Protest und Widerstand zu formulieren – als Chance, das »Andere« im Jetzt zu denken.
Ich werde im Folgenden kurz eine Theorie von neuen politischen Akteurinnen
skizzieren und mich dabei auf Deleuze beziehen, welcher Foucaults Konzeption des Widerständischen in den Technologien des Selbst weiterentwickelt. Anschließend möchte ich das als politisch wahrgenommene Subjekt4 Migrantin und
seine Widerstands- und Verweigerungspraxen bezüglich seiner Referenzstruktur für eine neue Sozialbewegung darstellen, bevor ich auf die Besonderheit der
neoliberalen Reaktionen auf eben diese Politik des Widerstands eingehe.
Ich möchte mit diesem Beitrag darauf verweisen, dass Widerstand im Kapitalismus (will er diesen emanzipatorisch überwinden) nicht einheitlich in neuen
Identitätsangeboten aufgehen kann und im Kampf selbst auf die Vorstellung von
einheitlichen Identitäten (selbst innerhalb eines Subjekts) verzichten muss.
4
Ich möchte im Übrigen das Subjekt nach Foucault nicht wiederbeleben, auch hier
gehe ich davon aus, dass selbiges weder autonom noch kohärent ist. Ich möchte es aber
in seiner ideologischen Verfasstheit dennoch (und darin glaube ich auch dem späten Foucault zu folgen) als handelndes Wesen wahrnehmen, als etwas, dass zwar durch Macht
konzipiert ist – aber eben »niemals im vollen Umfang« (Michel Foucault).
86
Astrid Henning
Metapher und konkrete Politik: eine neue Sozialbewegung
und ein neues politisches Subjekt
Macht und Herrschaft treffen nicht auf homogene Individuen, die gleichermaßen den Machtverhältnissen ausgesetzt sind, weder in den industrialisierten,
noch in den arm-gemachten Ländern. Menschen, die in pauperisierten Staaten
leben, sind den Konsequenzen des neoliberalen politischen Konzeptes auf andere Art ausgesetzt, als Staatsbürgerinnen in West- und Mitteleuropa und Nordamerika. Die globale neoliberale Politik bedeutet aber für alle in unterschiedlicher Vehemenz den Verlust oder die Verweigerung von bürgerlichen Rechten
und eines guten Lebens. Denn die Verengung des Staates auf den polizeilichen
Schutz des Wohlstandsversprechens des Kapitals und seiner ideologischen Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die den Wohlstand mehren sollen, bedeutet die Verlagerung von Schutz und Solidarität auf ein Individuum, das die eigenen Lebensverhältnisse der Kategorie des Ökonomischen unterordnen soll
und es auch tut. Diese Neuordnung »trifft« aber die Bewohnerinnen der Akkumulationszentren anders, als jene in der »Peripherie«. Denn die Vorstellung der
westlichen Staatsbürgerinnen, dass das kapitalistische Regierungskonzept das
einzige sei, welches ihnen Wohlstand sichern könne, ist nur um den Preis der
erhöhten Ausbeutung von Menschen und ihren Umwelten außerhalb der Akkumulationszentren zu haben.
Die bisherigen und bestehenden Konzeptionen und Utopien von einem besseren Leben außerhalb des Kapitalismus sind stets Grundlage einer neuen Ideologie, einer Ideologie des Seins, in welcher Herrschaft immer neu legitimiert
wird. Die ideologiekritischen poststrukturalistischen Theorien sind jedoch ihrerseits immer wieder dafür kritisiert worden, dass ihr Blick auf die Strukturen
des Denkens und Handelns konkreten Widerstand unmöglich erscheinen lassen. Aus diesem Grund hat Deleuze die Konzeption des Werdens der des Seins
entgegengesetzt: Den politischen Konzepten und Vorstellungen sich auf eine
Wurzel seiner selbst zu berufen – sei es der wesenhafte Bezug aufs Frausein
oder die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Ethnie – und dem Bewahren dieser Wurzel als politischem Prinzip (dem Sein) setzt er eine prozesshafte Politik
der Vielfältigkeiten gegenüber – (das Werden). Keine neue Ideologie soll die
alte ablösen und im neuen Identitätsangebot die verschiedenen Sehnsüchte und
Vorstellungen egalisieren. Das politische Subjekt brauche sich nicht mehr an
seinen (vorgestellten) Wurzeln als Angehörige einer Klasse, Nation oder eines
Geschlechts zu orientieren und damit die gegebenen hierarchischen Unterscheidungen zu wiederholen. Stattdessen werfe es all die Wurzeln, alle Herkünfte
über Bord, die seine Politik auf das Ziel ausrichten, sich neuen Identitäten beugen zu müssen und eröffne sich damit die Möglichkeit, sich selbst nicht immer
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
87
wieder einer unterdrückenden Ideologie beugen zu müssen. »Bildet Rhizome
und keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger!
Seit weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten! Zieht Linien, setzt nie
einen Punkt! Geschwindigkeit macht den Punkt zur Linie! ... Lasst keinen General in euch aufkommen! Ihr braucht keine richtigen Ideen zu haben, nur habt
eine Idee.« (Deleuze/Guattari 1992 : 41)
Deleuze und Guattari haben in der Erweiterung des Subjektbegriffs Foucaults
eine politisch-theoretische Grundlage für politischen Widerstand im Neoliberalismus geliefert. Es ist ein Widerstand, der darauf verzichtet, neue Subjekte mit
neuen Identitäten zu konzipieren, der die Egalisierung von Sehnsüchten und Widerständen leugnet und dennoch strukturelle Bedingungen benennt. Diese Widerstandskonzeption macht das Subjekt zur Akteurin und nicht die identitätskonstruierende Ideologie, deren willfährig ausführendes Organ das Subjekt sei.
Widerstand findet statt in den alltäglichen Lebens- und Arbeitspraxen, verzichtet
auf eine erneute Ideologie, die wieder neue »Generäle« (Deleuze) kreiert und
die uns aufs Neue regieren. Deleuze folgt einem postmarxistischen Ideologiebegriff, bei welchem es kein außerhalb von Ideologie mehr gibt. Das heißt, statt
auf den »General«, der sich außerhalb von Ideologie wähnt nach dem Motto
»ideologisch sind immer die anderen«, setzt Deleuze auf eine Kampfpraxis um
die Hegemonie innerhalb der ideologischen Auseinandersetzung. Aus der Unmöglichkeit vom Ende der Macht entsteht somit die Möglichkeit einer Beendigung von Herrschaft, die sich allerdings nur daraus ergibt, a) sich seiner ideologischen Verhaftung bewusst zu sein und b) in dieser ideologischen wurzelhaften
Verhaftung die »Sprache des Feindes« zu entdecken, also die Verwurzelung seiner Ideologien im widerständigen Handeln der anderen.
Schauen wir uns nun vor dem Hintergrund des Ansatzes nach Deleuze genauer an, inwieweit die Migrantin und die Lesart ihrer Migration als Autonomie tatsächlich ein Referenzpunkt für das postmoderne, nomadische politische Subjekt ist.
Referenzstruktur des neuen politischen Subjektes – die Migrantin?
Seitdem die isolierte Betrachtung auf das Individuum in fordistischen Lebensund Arbeitsverhältnissen weg gebrochen ist, setzen sich vor allem Migrantinnenorganisationen und Theoretikerinnen der französischen und italienischen Linken mit Migrationssubjekten auseinander, deren Entrechtungen nicht einheitlich
und deren Widerstände nicht gleichartig sind. Ihre politischen Aktionen verlassen dabei jene offiziellen Politiken und Forderungen (von Parteien oder Gewerkschaften), die sich noch immer an der Idee des fordistischen Gastarbeiters ori-
88
Astrid Henning
entieren und eine Identitätsumwandlung von der einen Herkunftsidentität zur
anderen integrativen Identität des Ankommens zum politischen Ziel erheben.
Stattdessen werden in ihrer Migrationsarbeit die Flüchtenden sowohl als Individuen als auch als Teil einer »Meute«5 (Deleuze) wahrgenommen, welche weder
mit einer einheitlichen Herkunfts-, noch mit einer einheitlichen Ankunftsidentität konfrontiert werden können. Als Individuen unterlaufen sie durch die Migration selbst alle molekularen Kräfte, wie Familie, Beruf und Eheleben, welche
identitätskonstruierend wirken. Schutzehen sind längst Teilaspekt von Migrantinnenarbeit, ebenso wie Kampagnen zum doppelten Schutz von illegal in der
Hausarbeit Tätigen (Schutz vor dem Staat und Schutz vor Ausbeutung im Arbeitsverhältnis). Dadurch werden sowohl Ehe als auch Arbeit aus ihren bisherigen Bedeutungskontexten gelöst. Die Bewegung der Migrantinnen »deterritorialisiert« (Deleuze) damit grundlegende Identitäten, die zur Reproduktion der
bestehenden Herrschaftsverhältnisse notwendig sind: Bedeutungen und Ausgestaltung von Beruf und Ehe ändern sich entlang der individuellen Bedürfnisse
derer, die sich in diesen institutionalisierten Praxisräumen befinden und nicht
nur entlang tradierter, staatstragender Vorstellungen.
Die migrantischen Netzwerke und ihre Mobilität bilden somit in zunehmenden
Maße die Referenzstruktur der alltäglichen Lebensführung der »prekarisierten
Sesshaften«: Von ökonomischen und politischen Aktivitäten bis hin zu biografischen Lebensentwürfen, Arbeits- und Reproduktionsweisen verweisen sie auf
die Art der Regierung, welcher Migrantinnen und prekarisierte Sesshafte ungleich und gleichermaßen ausgesetzt sind und unterschiedlich reagieren: Die
Kämpfe und Kampagnen gegen ihre Entrechtlichung und Ausgrenzung im Namen des Humanismus sind in Zusammenhang mit den staatlichen Fragen nach
einer kapitalistischen Verwertbarkeit zu sehen (so lautet die Frage nicht, ob
Migrantinnen nach Deutschland kommen dürfen, sondern welche verwertbaren
Qualifikationen ihren Zuzug ermöglichten; ebenso wie die Frage nach der Absicherung von Menschen ohne Arbeit nicht als ob diskutiert wird, sondern unter der Fragestellung wie ihre Arbeitslosigkeit dem Unternehmen zum Nutzen
sein kann). »Die Situation der migrantischen illegalisierten Arbeit nimmt vorweg was sich als verallgemeinernde Tendenz der Prekarisierung entwickelt und
auf alle gesellschaftlichen Bereiche übergreift.« (Interface 2005: 74)
Sie verweisen aber auch auf die Möglichkeit des permanenten Unterlaufens
von nationaler, geschlechtlicher oder beruflicher Identitätszuschreibung, wel5
Die Metapher der Meute unterscheidet sich von der der Gruppe dadurch, dass ihre
Angehörigen nicht die gleichen Wurzeln und Ziele haben, dass es keine festen Standorte
(außerhalb, innerhalb, in der Mitte, am Rand etc.) gibt und sie dennoch überschneidende
Gemeinsamkeiten haben, die in der Praxis variieren und unterschiedlich hervortreten.
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
89
che ihrerseits die Regierung der Individuen ermöglichte. Illegale Arbeit, illegalisierter Aufenthalt, Schutzehen, Lohnkampagnen ohne gewerkschaftliche Vertretung – im Leben in eigenen Netzwerken und Räumen entwickeln Migrantinnen
widerständige Praxen und entziehen sich dadurch der staatlichen Kontrollpolitik. Migration ist also nicht nur ein Produkt von Strukturen, sondern auch eine
Form des Widerstandes – dem Widerstand miserabler Lebensbedingungen zu
entfliehen, nach besseren Bedingungen zu suchen und mit widerständigen Praxen politische und vor allem soziale Rechte einzufordern, ohne einen Bezug zur
sesshaften Staatsbürgerschaft zu haben – und dies alles entgegen der herrschenden Politik der Regulierung und Kontrolle. Der Verlust des Bezugs zur Staatsbürgerschaft erklärt sich dabei einmal aus der Bewegungspraxis selbst, die ja
eben nicht mehr in »Losgehen – Ankommen« unterteilt werden kann, sondern
oftmals eine permanente Bewegung in verschiedenen Ländern ist und er erklärt
sich in Zeiten der Prekarisierung aus der Notwendigkeit, sich Rechte zu nehmen,
von denen man annahm, dass sie nur mit dem Papier der Staatsangehörigkeit
erreicht werden können. Letztendlich läuft diese Praxis auf eine Politik hinaus,
die Menschenrechte bedeutsamer werden lässt als Staatsbürgerrechte und die
Menschenrechte wiederum um weitere soziale Rechte erweitert.
Die Widerstandspolitik, die aus den kollektiven und individuellen Erfahrungen der Migrierenden entsteht, kann dabei nicht länger auf einer moralischen
oder humanistischen Grundlage erfolgen, sondern vielmehr auf einer, die mit
der Forderung nach Legalisierung von migrantischen Lebens- und Arbeitsverhältnissen versucht, die alltäglichen Kämpfe in den Mittelpunkt zu stellen. Sie
kann jedoch nicht auf der Grundlage eines neuen revolutionären Subjekts erfolgen, das eine einheitliche geglättete Identität vorweist und sich damit zum
neuen »General« aufschwingt, welcher über allen Ideologien stünde. Migration
mit all ihren antikapitalistischen und antirassistischen Kämpfen findet statt, ob
das christlich-humane Subjekt es ihnen »gestattet« oder nicht. Sie kann sich aufgrund ihrer Situation gar nicht permanent an der Normalität des weißen, mittelständischen Mannes orientieren, sondern muss diese Normalität permanent
unterlaufen. Statt Migration als humanen Akt zu betrachten (in dessen Namen
im Übrigen auch Lager gebaut oder Kriege geführt werden können), muss ihr
selbstverständliches Stattfinden, müssen die sich aus ihrer Entrechtlichung ergebenen Kämpfe und Widerstände, Grundlage für eine Politik sein, in der artikulierte Rechte den Beginn einer Desavouierung von Gesetzen des Lebens und
Arbeitens, des Bleibens und des Gehens Aller darstellen. Das politische Subjekt (und als seine paradigmatische Referenzstruktur betrachte ich die Migrationen) autonomisiert sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse
und seiner Grenzpolitiken – es ist nicht länger das Subjekt, welches sein Wohlbefinden in seiner Verknüpfung mit Kapital, Arbeit und staatlichen Institutio-
90
Astrid Henning
nen erfährt – es ist ein Subjekt, das sich im Sinne Foucaults von seinem Subjektstatus verabschiedet hat, der das Individuum an seiner Position zur Norm
misst. Indem es sich aus der Orientierung an der Norm des sesshaften, weißen,
mittelständischen arbeitenden Mannes verabschiedet, verliert es peu a peu die
Möglichkeit in einer Mischung aus »Disziplinarmacht und Technologien des
Selbst« (Foucault) regierbar zu sein.
Das neue politische Subjekt ist jedoch nur im idealen Fall autonom. Auch
wenn es den Staat, die kapitalistischen Institutionen oder nationale Grenzen permanent unterläuft, so bewegt es sich vielmehr in einem Netzwerk an den Institutionen seiner Entrechtlichung und Unterdrückung vorbei. Die staatlichen
Reaktionen auf das migrantische Subjekt stehen damit auch ihrerseits als Referenzstruktur für die Entrechtlichung aller prekarisierten Menschen in einem
Staat, der sich nur scheinbar aus der Verwaltung und Bevormundung seiner
Bevölkerung zurückzieht. (In Italien, wo wenigstens die legalisierten Migrantinnen keinem Arbeitsverbot unterliegen ist diese Erfahrung längst Teil der politischen Arbeit der Linken: Antikapitalistische Kampagnen und Politiken sind
enger mit antirassistischen und migrationspolitischen Forderungen verbunden
und umgekehrt, als das dass in der Bundesrepublik der Fall ist).
Flucht – ein politisches Konzept des Widerstandes.
Ihr »Management« – ein politisches Konzept des Regierens
Die Autonomie der neuen politischen Subjekte ist entstanden aus ihrer kapitalistischen Regierung. Auch das kapitalistische Regierungsprinzip reagiert dialektisch auf diese Autonomie. In dieser Reaktion des erstarkenden Sicherheitsstaats finden sich systematische Wissens-Macht-Praktiken, die Sicherheit und
ihre staatliche »Gewähr« als selbstverständlich und unverzichtbar erscheinen
lassen. Es ist eine Bereitschaft, die verweigert werden kann und sie wird von
Migrantinnen verweigert. Der Staat reagiert darauf, indem er sich der Figur des
Ausländers bedient, um die binäre Figur des Rechts und des Lebens des Staatsbürgers entlang von rassistischen Theoremen zu konzipieren (Georgio Agamben). Die Regierung der eigenen Bevölkerung wird (verstärkt nach dem 11.
September 2001) verquickt mit Wissens- und Machtdispositiven des Rassistischen. In der Untergrabung der modernen souveränen Regierungsweise und der
daraus entstehenden Neuinszenierungen der Nationalstaaten, werden alte Ethnisierungs- und Rassifizierungstechnologien reaktiviert, in der eine weltweite
(sic!) Bedrohung des christlichen Abendlandes und seiner Werte beschworen
wird. Dabei kommt es zu einer staatlichen Konzeption des »Fremden«, der nicht
nur überwacht und kontrolliert wird, sondern auch die Handlungsvorgabe er-
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
91
hält, »anders« zu sein und sich zu integrieren. Will die Migrantin staatsbürgerliche Rechte erwerben, so muss sie zwar den neoliberalen und systemaffirmativen Werten der Souveräne zustimmen, aber auch gleichzeitig ihre Ethnizität
als Marktanlage in die Waagschale werfen (in der Sexarbeit, in der Hausarbeit,
aber auch in wissenschaftlichen Berufen – etwa als kulturelle Vermittlerin zwischen ihrem Herkunftsland und ihrem jetzigen Wohnort).
Gleichzeitig bedeutet die Reaktion des Staates auf Migration auch eine Ausdehnung der nationalen und institutionellen Grenzen der Führung und Kontrolle
aller Bürgerinnen. Wir erleben eine Ausweitung und nicht einen Rückzug des
Staates. Diese Ausweitung ist nicht nur räumlicher Art (Deutschland wird am
Hindukusch verteidigt), sondern auch eine Ausweitung der Sicherheitsdispositive oder der Arbeitskorrektive. Im letzteren kann mittels Verweis auf die Besetzung ganzer Wirtschaftszweige durch migrantische Arbeiterinnen (Haus-,
Sex- oder Landwirtschaftsarbeit) finanzieller Druck und Arbeitszwang auf alle
ausgeweitet werden. Im leitenden Sicherheitsdispositiv des Migrationsmanagements im Schengener Abkommen wird Migration vor allem in Begriffen der organisierten (männlichen) Kriminalität kodiert und Normalisierungen dabei in
hierarchischen dualistischen Begriffen (Täter – Opfer/Frau – Mann) angegeben. Die mediale Verarbeitung der Migration kodiert eine permanente Widerholung von Bildern mit Migrantinnen als Opfer. Dabei wird ein Humanismus
erzählt, der »fordert die Migration abzuhalten, um menschliche Tragödien zu
vermeiden. Die Logik des neuen Humanismus beinhaltet darüber hinaus einen
Imperativ zum Aktionismus – einem Notstandsregime gleich –, der es den europäischen Grenzregime-Strategen ermöglicht, Veränderungen durchzusetzen
und Gesetze zu umgehen, die in ›Friedenszeiten‹ nicht möglich waren.« (Hess/
Tsianos 2007: 35)
Die migrantischen Subjekte dekonstruieren somit einerseits durch Migration
den modernen Souverän und seine Anrufungs- und Regierungsweise und »ernten« andererseits ein Verharren in einer kolonialen Tradition der europäischen,
souveränen Nationalstaaten, die immer neue staatliche Praktiken der Kontrolle
und Überwachung im Hinblick auf die Figur des Flüchtlings praktizieren. In
diesen Praxen wird das Handeln und Denken der Menschen strukturiert – der
Staat ruft das Andere an, um die Migrantin und die (prekarisierte) Staatsbürgerin unterschiedlich aber mit den gleichen Praxen weiterhin regieren zu können.
Dem sprechenden bürgerlichen Subjekt mitsamt seinen Freiheitskonzeptionen
und dem Versprechen einer Unantastbarkeit seiner Würde steht die permanente
Verletzung dieses Versprechens gegenüber – einmal als staatliche Erzählung,
dass »der Ausländer« die Freiheit und die Arbeitsgarantie der Staatsbürgerin verletze. Und ein weiteres Mal als Verletzung der Rechte der Migrantin als Grundlage für die Aufrechterhaltung bürgerlicher und sozialer Rechte der Staatsbür-
92
Astrid Henning
gerin. Die Normalisierung des bürgerlichen Subjektes, seine Konstruktion und
Aufrechterhaltung als Subjekt mit sozialen und bürgerlichen Rechten verlaufen
auf dem System einer Unterteilung von Rechtssubjekten und rechtlosen Subjekten. Rechtlose Subjekte sind dabei a) immer die anderen und b) verlaufen sie
entlang einer rassistischen Trennungslinie. Deshalb endet auch jeder Humanismus in einer Politik erneuter Ausgrenzung, die nur rechtsphilosophisch aufzulösen ist, wenn Rechte eben nicht mehr an Normierungen und an Staatlichkeit
gebunden, sondern generell werden – und sich somit selbst auflösen.
Aber jene überwachenden und handlungsstrukturierenden Felder, die nur mit
Hilfe des Freiheits- und Würdeversprechens einzulösen sind, sind keine einseitige Herrschaftsvorgabe. Die Aussage der Menschenrechte, neoliberal ausgelegt
dazu gebraucht, um Lager aufzustellen,6 welche die Einreise verhindern sollen
oder den Willen zur Migration bereits im Herkunftsland zu unterbinden versuchen, ist ihrerseits eine Aussage, auf die sich die Flüchtenden in den Lagern
aber auch in ihren Ankunftsländern berufen können, ebenso wie die NGOs, die
in ihrem Namen arbeiten. Die Debatte um Einwanderungspolitik ist nicht ausschließlich Regierung und Wirtschaft vorbehalten, sondern wird auch durch die
Kampagnen für Legalisierung diskursiv bearbeitet. Das eigene oder kollektive
Wissen um bessere und schlechtere Grenzübertritte, Bestechungsmöglichkeiten,
Anlaufstellen um Unterkunft und Arbeit unterlaufen die Kontrollmacht des Nationalstaates ständig. Sex- und Hausarbeit oder Schlepperpersonen sind nicht
einfach, in ein Gut-Böse-Schema zu pressen, sie dienen ebenso als Sprungbrett,
in einem Land anzukommen, um dort zu leben und zu arbeiten. Das Leben und
Arbeiten ohne Papiere ist eine postfordistische Art der Migration, die sowohl
die Bedingungen ändert, unter denen Migration stattfindet, wie auch die Bedingungen, unter denen gearbeitet und gelebt wird. »Die Vielfalt der Leute korrespondiert mit einer Vielfalt von alltäglichen, kaum Kämpfe zu nennenden kleinen und großen Taktiken, mit denen entlang der vom Ausländergesetz diktierten
Unverschämtheiten Spielräume erkämpft werden. Man verschafft sich Jobs, einen Krankenversicherungsausweis, heiratet oder organisiert die richtigen Kontakte.« (www.rechtauflegalisierung.de/text/par.html – aktuell 3.5.2007.)
Um nicht in Gefahr einer sozialromantischen Verklärung von Migration zu
geraten, möchte ich aber ergänzen, dass die Kämpfe in den Lebens- und Arbeitsräumen Bedingungen unterliegen können, die für die Betroffenen in einem per-
6
So z.B. von Otto Schily, wenn er von der Errichtung solcher Lager im Zusammenhang mit Bootsflüchtlingen spricht, die auf der Flucht umkommen und nun um ihrer
Selbst willen, quasi als humaner Akt, in Auffanglager vor Europa untergebracht werden sollen.
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
93
manentem Balanceakt zwischen physischer Bedrohung und Abwesenheit von
jeglicher Sicherheit münden.
»Man sollte diese alltäglichen, nahezu banalen Selbstverständlichkeiten nicht
zu einem Widerstandsmythos hochstilisieren. Gerade in ihrer Banalität liegt ihre
Wahrheit. Ähnlich wie Krankfeiern, Absentismus und lange Kaffeepausen kein
Ausdruck eines revolutionären Arbeiter- und Angestelltenkampfes sind, verweisen diese Taktiken dennoch auf die Tatsache, dass die rassistische Unterschichtung der Gesellschaft nicht ohne den Widerstand – und sei er noch so klein – zu
haben ist.« (www.rechtauflegalisierung.de/text/par.html – aktuell 3.5.2007)
Diese Ergänzung ist indes keine Negation einer neuen Autonomie. Vielmehr
verweist sie auf die politische Praxis und den Umstand, dass es nicht ein bewusstes autonomes Subjekt dieser Widerstandspraktiken braucht, sondern das der
Verweigerungsaspekt selbst, und ist er noch so klein, eine Praxis ist, sich den
angerufenen und plazierten dichotomischen Dispositiven zu beugen.
Zusammenfassung – Die Souveränität des subjectless objects
Regierung und Widerstand der neuen politischen Subjekte stehen also in enger
Verbindung mit hierarchisch-dichotomischen Identitätszuweisungen. Das ist eigentlich seit Derrida und Foucault eine Binsenweisheit. Dennoch sind die modernen gouvernementalen Regierungsversuche stärker denn je darum bemüht,
diese Identitäten als Wurzeln in den Individuen zu verankern, um ihre Regierung zu sichern. Emanzipativer Widerstand kann daher nur im Unterlaufen, im
Hintergehen dieser nationalen, geschlechtlichen, lebenspraktischen Wurzeln geschehen. Dieser Widerstand findet dabei nicht in einer klassischen Bewegung mit
einheitlichen Zielen und Identitäten statt, er braucht kein neues Subjekt, sondern
existiert in einer permanenten Verweigerung der Anerkennung alleiniger staatlicher Macht. Aus diesem Grund sind die Migrations-Bewegungen auch Reflektionspunkt für die Sesshaften, die in ihrer Politik eher auf den Erhalt des Staates, auf seinen Ausbau und seine Schutzfunktion setzen. In der Forderung nach
der Protektion durch den Staat und seine Institutionen versandet jeder Widerstand und jeder Protest in einer neuen Produktion des Anderen, vor denen der
Staat schützen soll und in einer erneuten Anrufung unserer eigenen Regierung
durch die Staatsapparate. Das Leben als sans papier ist hingegen an sich protestartig, da es sich gegen permanente diskriminierende und entrechtlichende
Aktionen wehren muss, es kann kein Anderes produzieren, weil es selbst das
Andere ist und durch seinen Kampf um Rechte den staatlichen Protektionismus vor den Anderen ad absurdum führt. Das Leben der sans papiers wird widerständig, wenn es will, dass diese Entrechtlichung generell abgeschafft wird
94
Astrid Henning
und wenn ihre Kämpfe prozesshaft bleiben. Dadurch schaffen sie keine Vereinheitlichung, denn Kämpfe um Rechte sind ebenso vielfältig wie die Migrantinnen selbst und sie sind prozesshaft, weil sie Bestandteil des täglichen (prozesshaften) Lebens sind. Dies macht die Kämpfe der Migrantinnen auch zur
Referenzstruktur für das Leben als neues Subjekt – im Nehmen von kollektiven
Rechten, im Überfahren der roten Ampel, im prozesshaften Kampf, der nicht
vereinheitlicht ist und den Protektionismus des Staates ablehnt, da dieser nicht
in der Lage ist, allgemeine Rechte zu schaffen und die zugebilligten, dazu benötigten Besitzerinnen von Rechten zu regieren.
Migrationsbewegungen und ihre täglichen Lebens-, Arbeits- und Bewegungspraxen dienen deshalb m.E. als Beispiel und als Kumulationspunkt für die politischen Widerstandskämpfe der Gegenwart. Und das keineswegs deshalb, weil
sie sozialromantisch sind, sondern weil sich in ihnen am deutlichsten das Sowohl-als-auch der modernen politischen Subjekte zeigt. Angesprochen und eingeordnet in ein System ihrer eigenen Unterdrückung sind sie doch ständig auch
diejenigen, die in der Zwangsläufigkeit ihrer Verweigerungen das Neue im Alten denken und leben. Sie entledigen sich ihrer Wurzeln, weil ökonomische
Zwänge dazu führen, und die ideologische Grundlage der permanenten Reproduktion ihrer eigenen Unterdrückung waren.
Globalisierung und Kapitalismus haben Subjekte geschaffen, die in ihrer
Anrufung als Subjekte regierbar waren. Aber das Subjekt muss in seiner Regierung auch agieren und sich verweigern, wenn es überleben will. In der metaphorischen und konkreten Migration protestiert es gegen seine eigene Unterdrückung und kann (im Sinne der Widerstandsdefinition von Ulrike Meinhof)
aus dem Protest Widerstand entwickeln, wenn es sich darauf besinnt, dass alle
Identitäten der Geschichte Masken waren und erst der Verlust der Wurzeln auch
die Reproduktion der Unterdrückung in Eigenregie überwindet.
Literatur
Agamben, Georgio (2002): Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben.
Frankfurt/Main: Suhrkamp
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve
Hess, Sabine/Tsianos, Vassilis (2007): Europinizing Transnationalism! Provincializing Europe! Konturen eines neuen Grenzregimes. In: Turbulente Ränder:
Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript,
S. 23-38.
Interface (Hrsg.) (2005): WiderstandsBewegungen: Antirassismus zwischen Alltag
& Aktion. Berlin/Hamburg: Assoziation A
Migration als politisches Konzept des Widerstandes ohne Wurzeln
95
Römhild, Regina (2007): Alte Träume, neue Praktiken. In: Turbulente Ränder:
Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript,
S. 211-222
Internetquellen:
Bojadzijev, Manuela/Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassili: Papers and Roses. Aus: Wir
sind unter euch: www.rechtauflegalisierung.de/text/par.html – aktuell 3.5.2007.
2. Lokale Praxis im globalen Kontext
Nikola Siller
Die Bedeutung des zapatistischen
Politikverständnisses für die
Altermundistabewegung
Die Internationale der Hoffnung
»Gegen die Internationale des Schreckens, die der Neoliberalismus darstellt,
müssen wir die Internationale der Hoffnung erheben. Die Einheit jenseits der
Grenzen, Sprachen, Hautfarben, Kulturen, Geschlechter, Strategien und Gedanken, all derer, denen eine lebende Menschheit lieber ist.« (EZLN 1996a: 120)
Die weltweite Vernetzung von sozialen Kämpfen ist kein neues, aber ein neu
belebtes Projekt, das durch die zapatistische Bewegung Mitte der 1990er Jahre
einen relevanten Anstoß bekam und das sich seitdem mit einer spezifischen Dynamik fortentwickelt. Auf dem Ersten Intergalaktischen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus, zu dem die EZLN1 1996 alle Widerstände
der Welt in ihr Aufstandsgebiet nach Südmexiko eingeladen hatte, erklärten
rund 3000 TeilnehmerInnen aus 48 Ländern, »daß wir ein kollektives Netz aller unserer spezifischen Kämpfe und Widerständigkeiten schaffen werden. (…)
Dieses interkontinentale Netz strebt danach, mit anderen Widerständigkeiten
aus aller Welt zusammenzukommen, indem es Unterschiede anerkennt und Gemeinsamkeiten erkennt.« (EZLN 1996b: 138)
Entstehung und Entwicklung der Altermundistabewegung2 sind eng mit dem
zapatistischen Aufstand in Chiapas verwoben. Mit dem entschlossenen »Ya
1
Ejército Zapatista de Liberación Nacionál (Zapatistische Armee der nationalen
Befreiung) – benannt nach dem mexikanischen Revolutionsgeneral Emiliano Zapata
(1883-1919).
2
Im deutschsprachigen akademischen Milieu hat sich die Bezeichnung »globalisierungskritische Bewegung« weitgehend durchgesetzt. Ich meine, dass dieser Begriff
nicht geeignet ist, den Charakter der globalen Widerstandsbewegung zu beschreiben.
Der Großteil der AkteurInnen ist nicht nur kritisch gegenüber Globalisierungsprozessen eingestellt, sondern tritt in Aktion, leistet Widerstand, formuliert und lebt Alternativen. Nicht wenige kämpfen unter Einsatz ihres Lebens für eine andere, bessere Welt.
Der mittlerweile international gebräuchliche Begriff der Altermundistabewegung zielt
auf eben jene Charakteristika ab und bleibt dabei bewusst offen: Er umfasst all jene, die
sich auf den Weg machen, eine andere Welt aufzubauen.
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
99
Basta!«, das die EZLN am 1.1.1994 der mexikanischen Regierung und den Eliten der kapitalistischen Welt entgegenhielt und das ihren mit »Feuer und Wort
bewaffneten Kampf« (Muñoz Ramírez 2003) einleitete, wurden nicht nur in
Mexiko sondern weltweit viele Menschen wachgerüttelt. Für einen großen Teil
der Linken, der sich angesichts des Niedergangs der staatssozialistischen Systemalternative und des vermeintlichen Siegeszugs des Kapitalismus in einem
politischen Koma der Rat- und Perspektivlosigkeit befand, markierte die Zapatistische Rebellion den Anbruch einer neuen Zeit der Hoffnung.
Der Zapatismus ist die Sache aller
Die Zapatistas betonen, dass »der Zapatismus« nicht nur ausschließlich ein Projekt der EZLN ist, sondern »etwas, was nicht mehr uns gehört, das nicht mehr
dem Ejército Zapatista de Liberación Nacionál gehört und natürlich noch viel
weniger Marcos. Aber auch nicht den mexikanischen Zapatistas. Es ist das Symptom für etwas Größeres, das sich auf der ganzen Welt entwickelt (...). Es ist die
Sache aller, dieses Neue zu bestimmen und ihm eine Ausrichtung zu geben.«
(EZLN 1996c: 9) »Der Zapatismus gehört niemandem und deshalb gehört er
allen.« (Subcomandante Marcos 1996: 4) Vor diesem Hintergrund wird das der
zapatistischen Organisierung in Chiapas zugrunde liegende Politikverständnis
vom Lokalen entkontextualisiert und vielfach in den Kontext anderer Kämpfe
und der Altermundistabewegung übertragen, als dem Raum einer kollektiven
Auseinandersetzung und theoretischen wie praktischen Weiterentwicklung. Dies
ist nicht nur Wunsch und Hoffnung sondern findet in der Altermundistabewegung tatsächlich statt (Klein 2003; Notes from Nowhere 2007 u.a.).
Im Folgenden werde ich anhand von fünf Begriffen, die für das zapatistische Politikverständnis von zentraler Bedeutung sind, darstellen, wie dieses Politikverständnis innerhalb der Altermundistabewegung zum Ausdruck kommt:
Würde, Anti-Macht, Revolution, Kollektivität und Autonomie. Die allgemeinen
Ausführungen illustriere und konkretisiere ich exemplarisch an ausgewählten
Aspekten der Mobilisierung und Aktivitäten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Sommer 2007.
Würde
In der Zapatistischen Bewegung spielt der Begriff der Würde eine Schlüsselrolle. Mit ihm beschreiben die Zapatistas eine rebellische Grundhaltung, die
durch den »Blick auf sich selbst« hervorgebracht wird und Ausgangsort dissi-
100
Nikola Siller
denten Denkens und Handelns ist: »Die Würde ergibt sich nicht! Die Würde
leistet Widerstand!« (EZLN 1994) Die Mexiko-Gruppe im Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) hat »Würde« sehr passend
bezeichnet als »Weigerung, die tagtägliche Verachtung, Abwertung, die Nichtanerkennung des Anders-Seins, die Entfremdung, die Demütigung als Frau, die
Unerträglichkeit des Alltags« zu akzeptieren (Mexiko-Gruppe im FDCL 2002:
18). Mit der Bezugnahme auf den Begriff der Würde wird der Fokus auf den
Aufbau eines rebellischen individuellen wie kollektiven Selbstbewusstseins gelenkt, das sich dem (ab-)wertenden und (ver-)urteilenden Blick einer äußeren
Macht widersetzt.
Das bei den Protesten in Heiligendamm formulierte und praktisch zum Ausdruck gebrachte »Nein!«, die grundsätzliche Ablehnung und Entlarvung der
G8 als antidemokratische Struktur sowie die entschlossene, gemeinsame Weigerung, die neoliberale Umstrukturierung der Welt und die zu diesem Zweck
geführten globalen Kriege zu akzeptieren, weist Parallelen zum zapatistischen
Verständnis von Würde auf. Mit Blick auf die »Protest-Bilanzen« von Heiligendamm eröffnet der »Blick auf sich selbst« eine Perspektive, die Erfolge und
Misserfolge der Bewegung nicht am Grad ihres Wahrgenommen-Seins durch
die Machthabenden und deren Bezugnahmen auf die Proteste und deren Deutung bemisst. Das eigene Tätigsein wird zum Ausgangs- und Referenzrahmen
für Reflektion, Selbstkritik und Perspektiven.
Das Konzept der Würde ist als eine offene Einladung zu verstehen, ein Bewusstsein für die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Notwendigkeiten zu entwickeln, widerständig an den Orten zu sein, an denen selbstbestimmtes Leben
negiert oder angegriffen wird, und es ist eine Einladung, aus den zugedachten
und zugeschriebenen Rollen auszubrechen.
Zugleich trägt der Begriff der Würde ein universalistisches Moment in sich:
Er geht von der Existenz eines allgemeinen Rechts auf die Unversehrtheit der
Menschenwürde aus. Dieses Recht gilt es allerorten gegen die permanenten Angriffe auf die Selbstbestimmung des eigenen Lebens zu verteidigen. Das Konzept
der Würde kann die verbrieften Rechte, wie etwa die universellen Menschenrechte, nicht ersetzen, weist aber insofern darüber hinaus, als auch der Individualität und Subjektivität, die Grundlage von Selbstbestimmung sind, Rechnung
getragen wird. Das zapatistische Verständnis von Würde verweigert sich demnach trotz seines universalistischen Charakters einer allgemeingültigen Definition. Mit ihm wird die Benennungsmacht der Subjekte gegenüber hegemonialen
Auslegungen von kodifiziertem Recht gestärkt. So hat etwa der Kampf einer
Sexarbeiterin für die Anerkennung ihrer Rechte die gleiche Berechtigung und
ist ebenso wichtig wie der Kampf für die Aneignung von Produktionsmitteln,
der Kampf gegen die Privatisierung von Wasser, der Kampf einer Frau für die
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
101
freie Wahl des Partners und der Kinderzahl, oder der Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in einer Weltmarkt-Fabrik. Die spezifischen Kämpfe
und Ziele werden über den Begriff der Würde miteinander in Beziehung gesetzt,
ohne sie dabei zu hierarchisieren. Es geht um nichts weniger als um die Selbstbestimmung über das eigene Leben, um eine Autonomie, um die immer wieder
und immer wieder neu an vielen Fronten gekämpft werden muss.
Anti-Macht
Die Zapatistas beabsichtigen weder, die Staatsmacht zu erobern noch sich in
eine Partei zu transformieren: »Wir wollen kein Amt, keinen Gemeindevorsitz,
keinen Gouverneurssitz, keine Ministerposten, keine Botschaft und auch nicht
die Führung der Republik. Warum sollen wir also eine politische Partei werden? Es gibt schon genug politische Parteien. Warum soll es noch mehr geben?
Das wollen wir nicht.« (Subcomandante Marcos 1994: 76) »Es ist nicht notwendig, die Welt zu erobern, es reicht, sie neu zu schaffen, durch uns. Heute.«
(Subcomandante Marcos 1996: 3)
Den Kampf um die Macht, verstanden als »Macht über« (Holloway 2002),
sehen die Zapatistas als wesentlichen Bestandteil jener Welt, gegen die sie kämpfen. Sie stellen eine Welt grundsätzlich infrage, die auf dieser Basis organisiert
ist (Ceceña 2000: 32f.). Anstatt auf die Macht von oben zu setzen, bauen die Zapatistas auf die gesellschaftliche Macht von unten, auf die kreative »Macht zu
tun« (Holloway). Sie lehnen die »Professionalisierung« von Politik ab, das Politische soll vielmehr kollektiv angeeignet und in den sozialen Raum zurückgeholt werden. Um möglichst viele Menschen in politische Prozesse einzubinden
und zu beteiligen und um Machtkonzentration und -missbrauch einzuschränken, arbeiten die Zapatistas gezielt mit der Weitergabe von Wissen, Fähigkeiten
und Zuständigkeiten. Deutlich wird das z.B. an dem strikten Rotationsprinzip
innerhalb der Selbstverwaltungsräte, oder am System der Schulung von MultiplikatorInnen in den Bereichen Gesundheit, Bildung etc.
Mit Blick auf das heutige Lateinamerika markiert die Zapatistische Bewegung eine Gegenströmung zur Staatsorientierung vieler Linken. Sie bindet ihre
Hoffnungen auf Veränderung nicht an Chávez & Co, sondern delegitimiert mit
ihrer Praxis und ihrem Diskurs die Institutionen der Macht selbst. So solidarisiert sich die EZLN in der Sechsten Erklärung vom Juni 2005 mit den aufständischen Bevölkerungen in Venezuela, Brasilien, Cuba etc., nicht jedoch mit
Chávez, Lula oder Castro. Diese populären Helden werden in dem Papier nicht
etwa angegriffen, sondern sie werden schlichtweg nicht erwähnt. Denn es geht
nicht um sie. Es geht um uns und unser Tun.
102
Nikola Siller
Die ablehnende Haltung zur »Macht über« bezieht sich nicht nur auf die
Ebene der Parteien und Institutionen, sondern berührt auch die Sphäre der konkreten sozialen Beziehungen. Die zapatistische »Politik des Zuhörens« ist ein
Ausdruck für einen horizontalen und nichthierarchischen Umgang miteinander.3
Die strukturell von Macht durchzogene egozentrische Gewinnmaximierung auch
im Sinne des Gewinnens von Positionen in politischen (Entscheidungs-)Prozessen und Diskussionen wird abgelehnt, da sie dem zapatistischen Prinzip der
Konsensfindung diametral entgegensteht. Die Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, der Respekt vor der Verschiedenheit und Andersartigkeit wird auch auf
der Diskursebene und im Zwischenmenschlichen als die Grundlage dissidenten
Handelns gesehen. Konsequenterweise lehnen die Zapatistas auch die traditionelle Konzeption einer Avantgarde ab – auch wenn ihnen nicht selten eine avantgardistische Rolle zugeschrieben wird: »Dies ist der Moment, um euch allen
mitzuteilen, dass wir den Platz nicht einnehmen wollen und nicht können, von
dem sich einige erhoffen, dass wir ihn einnehmen; den Platz von dem aus alle
Meinungen, alle Wege, alle Antworten, alle Wahrheiten ausgehen. Das werden
wir nicht machen.« (EZLN 1994, zitiert nach Ceceña 2000: 33)
Bereits in der frühen Phase der Mobilisierung zu den Protesten gegen den
G8-Gipfel 2007 verständigte sich die überwältigende Mehrheit der organisierenden und aufrufenden Gruppen und Bündnisse auf die grundsätzliche Ablehnung der G8 als selbsternannte Institution zur weltweiten Durchsetzung neoliberaler Politik. Auch viele große NGOs stellten sich weitgehend hinter die
Haltung, die G8 zu delegitimieren, d.h. keine Forderungen an die G8 zu stellen
und auch keine Vorschläge zu machen, wie die Politik der G8 verbessert werden
könnte, sondern klarzustellen, dass eben diese Form antidemokratischer Politik
3
In einem Interview aus dem Jahr 1995 bezeichnet Subcomandante Marcos die Fähigkeit des Zuhörens als »die wichtigste Lektion«, die die indigenen Gemeinden der
EZLN erteilten: »Die ursprüngliche EZLN, diejenige, die sich 1983 gründete, ist eine
politische Organisation, in der man spricht, und was man sagt, muß befolgt werden. Die
indigenen Dörfer bringen ihr bei, zuzuhören, und das ist das, was wir lernten. Die wichtigste Lektion, die wir von den Indígenas lernen, ist, daß wir lernen müssen zu hören,
zuzuhören.« (Zitiert nach Holloway 2000: 114)
Holloway weist darauf hin, dass die revolutionäre Tradition des Sprechens ihre lang
etablierte Grundlage in den Konzepten des Marxismus-Leninismus habe. Die Tradition
des Sprechens leite sich von der Idee ab, dass eine fertige Theorie, etwa über das Klassenbewusstsein, durch eine Avantgarde, üblicherweise eine Partei, zu den Massen gebracht werden muss. Der Ansatz des Zuhörens hingegen bedeute, dem Dogmatismus
abzuschwören, sich auf neue Blickrichtungen einzulassen und die Bereitschaft zu haben, neue Konzepte in die Theorie einzubauen – oder ggf. sogar das bisherige theoretische Gerüst zu verwerfen, wenn es sich, gemessen an der konkreten Wirklichkeit, als
nicht tragfähig erwiesen hat (Holloway 2000: 114ff.).
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
103
von nicht legitimierten Machtzirkeln Teil und Ursprung jener Welt ist, die bekämpft wird. Auch die Form der Organisierung und Entscheidungsfindung war
sowohl in der Mobilisierungsphase als auch während der Protesttage von weitgehender Horizontalität und Offenheit geprägt. Auch wenn die Anti-G8-Bündnis-Politik nicht frei von Macht- und Kompetenzgerangel und Führungsansprüchen verlief (Holm 2007), so ist dennoch bemerkenswert, dass es von Beginn
der Mobilisierungen an den Versuch und die erklärte Absicht gab, sich entlang
basisdemokratischer und horizontaler Kriterien zu organisieren und die Aktivitäten spektrenübergreifend und gemeinsam abzustimmen.
Den Verschiedenheiten innerhalb der Bewegung gerecht zu werden, heißt im
zapatistischen Politikverständnis jedoch nicht, die Erfahrungs- und Kompetenzunterschiede zu negieren oder ungenutzt zu lassen. Die strukturelle Ablehnung
von Hierarchien und einer Avantgardekonzeption schließt keineswegs aus, dass
temporär Leitungs- und Führungsrollen und auch Wissenshierarchien gebilligt
werden, wo das für die Organisierung bzw. für konkrete Aktionen (z.B. im Fall
der Notwendigkeit einer Geheimhaltung von Blockade-Strategien o.ä.) wichtig ist. Diese Funktionen und Positionen sind aber nur solange gebilligt und erwünscht, wie sie tatsächlich im Dienst und im Sinne der Bewegung und zu deren Vorteil sind. Das Prinzip »mandar obedeciendo« (gehorchend führen), das
dem militärischen Arm der EZLN und der Selbstverwaltung in Chiapas zugrunde liegt, impliziert die Möglichkeit der sofortigen Abberufung einer Person im Fall des Missbrauchs einer geliehenen Machtstellung.
Revolution
Besonders in den ersten Jahren des zapatistischen Aufstandes wurde die Frage,
ob die EZLN reformistisch oder revolutionär sei, in intellektuellen Kreisen
kontrovers diskutiert (Kerkeling 2003: 252ff.). Der Begriff der Revolution war
für die orthodoxe Linke unzertrennlich mit der Eroberung der Staatsmacht und
der nachfolgenden »Diktatur des Proletariats« verbunden. Tatsächlich brach
die EZLN mit diesem traditionellen Revolutionsverständnis. Dabei gab sie das
Konzept Revolution keineswegs auf, sondern entwickelte es weiter, indem sie
bei den Erfahrungen vorangegangener Revolutionen und ihren Erfolgen, Irrtümern und Fehlern ansetzte und aus diesen lernte. »Die Revolution ist von einer Antwort in eine Frage umdefiniert worden: revolution ist ›revolution mit
kleinem r‹ eher als Revolution mit großem R. Sie bezieht sich auf die kreative
und einfallsreiche Artikulation der Würde im Hier und Jetzt und nicht auf ein
zukünftiges Ereignis, auf die Ankunft in einem vordefinierten, versprochenen
Land.« (Holloway 2006: 51) Revolution wird verstanden als Prozess einer ra-
104
Nikola Siller
dikalen Transformation von Gesellschaft, der gegenwärtig und alltäglich und
allerorten stattfindet und dessen Verlauf und Ende offenbleibt: »Es genügt zu
verstehen, daß im Kampf der Anfang und das Ende eine Falle sind, wenn sie
einzeln gesucht werden. So denken wir. Einige nennen das Dummheit. Wir nennen es Hoffnung. (...) Willkommen in dem, was keinen Anfang hat und nie enden wird. Willkommen im ewigen Kampf darum, besser zu werden.« (EZLN
1996, zitiert nach Poniatowska 1997: 9)
Mit dem Fokus auf dem »ewigen Kampf darum, besser zu werden«, wird
die Revolution nicht zuletzt auch zu einer subjektiven und nach Innen gerichteten Herausforderung. Die eigene Person, die eigenen sozialen Beziehungen,
die internen Organisationsstrukturen werden unweigerlich in den revolutionären Prozess eingebunden und zu einer wichtigen Achse für gesellschaftliche
Veränderung.
Das zapatistische Revolutionsverständnis ist mit einer Praxis radikaler Basisdemokratie in Chiapas verknüpft, die sich mit einer horizontalen Struktur
der Entscheidungsfindung im Konsens und dem Prinzip des »mandar obedeciendo« im konkreten Kontext der Autonomie äußert. Dass solche radikaldemokratischen Prozesse viel Zeit brauchen, ist den Zapatistas bewusst. Das nehmen
sie nicht nur in Kauf, sondern sie setzen bewusst auf eine »Politik der Langsamkeit«: No corremos, porque vamos lejos (Wir rennen nicht, weil wir einen
weiten Weg haben), lautet eine zapatistische Botschaft (Holloway 2004: 71).
Damit wollen sie zum einen verhindern, dass die Kräfte auf halbem Weg nachlassen, und zum anderen bewirken, dass alle im revolutionären Prozess mitkommen können und nicht etwa aufgrund eines langsameren Tempos oder besser:
anderen Rhythmus’ im Denken und Handeln zurückbleiben, wie ein weiterer
Leitspruch der Zapatistas verdeutlicht: Vamos al paso del mas lento (Wir gehen im Tempo des Langsamsten).
Die Angebotspalette von Aktions- und Blockadeformen war während der
Protestwoche sehr breit, sodass sich auch für nicht organisiert Angereiste viele
Möglichkeiten ergaben, sich entsprechend ihrer Vorlieben, Möglichkeiten und
Risikobereitschaft anzuschließen und einzubringen. Die Fünf-Finger-Strategie
der gewaltfreien Block-G8-Massenblockaden war nicht zuletzt auch deshalb
erfolgreich, weil sie offen und einladend war, die unterschiedlichen Tempi der
TeilnehmerInnen berücksichtigte und die Verschiedenheiten auch taktisch einzubinden wusste.4 Deutlich wurde auch, dass die Massenblockaden nur deshalb
erfolgreich sein konnten, weil es parallel andere Aktivitäten, wie z.B. die de4
Es war erklärtes Programm von Block-G8, dass jedeR BlockiererIn ohne sozialen
Druck so zurückhaltend sein kann, wie er oder sie will: auf der Straße stehen, bis die
Polizei zum Weggehen auffordert, sich sitzend wegtragen lassen oder der Sitzblockade
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
105
zentral und autonom organisierten Blockaden mit dem gemeinsamen konzeptionellen Bezugsrahmen P.A.U.L.A.5 gab und weil die Infrastruktur durch die
Protestcamps bereitstand und gut funktionierte.
Ohne die Perspektive, Teil eines revolutionären Prozesses zu sein, hätten
sich wohl kaum zehntausende Menschen auf den Weg nach Heiligendamm gemacht, um sich der G8 massenhaft in den Weg zu stellen. Die Analysen und
Mobilisierungsschriften haben im Vorfeld deutlich gemacht, dass es bei den
Protesten nicht um eine Reform der G8 geht, sondern »ums Ganze«. Der Gipfelwoche war eine zweijährige Vorbereitungs- und Mobilisierungsphase vorangegangen, deren vornehmliches Ziel es war, möglichst viele Menschen aufzuklären, zu informieren und zu motivieren, sich den Protesten anzuschließen
sowie neue Kontakte zu knüpfen, bestehende Netzwerke zu intensivieren und
Bündnisse zu schließen. Den OrganisatorInnen und Mitwirkenden der InfoTouren und Karawanen quer durch Deutschland und Europa ging es bei ihren
hunderten Veranstaltungen weniger um das konkrete Ereignis G8, als vielmehr
um den Prozess der Vernetzung und Organisierung, der weit über den einwöchigen G8-Event hinaus von nachhaltiger Bedeutung ist. Das Gipfeltreffen in
Deutschland bot sich an, aktuelle Weltwirtschaftsprozesse zu erklären und eine
kritische Auseinandersetzung mit der kapitalistische Globalisierung sowie ein
rebellisches Bewusstsein und eine Organisierung von Widerstand anzustoßen,
d.h. zu politisieren.
Kollektivität – das Wir und die Differenz
Die Begriffe Kollektivität, Gemeinsam und Wir sind das Rückgrad der zapatistischen Bewegung. Auf die Problematik der »Wir-Formation« im Sinne eines
identitären Kollektivsubjekts ist bereits mehrfach hingewiesen worden (Kastner
2006: 21ff.). Die Zapatistas bauen auf eine Einheit, die die Differenzen nicht negiert, sondern auf Grundlage derselben errichtet ist, ein Wir, das sich aus dem
Different-Sein formiert: »Die Einheit, die wir brauchen, ist nicht diejenige, an
die wir gewöhnt sind. Eine Einheit, die nach Hegemonie und Homogenität dürstet, ist zum Scheitern verurteilt.« (Subcomandante Marcos 2005: I, Abs. 18) Die
zapatistische Losung »Für eine Welt, in die viele Welten passen« bringt den Zusammenhang von Gemeinsamkeit und Differenzen auf den Punkt.
durch gegenseitiges Einhaken Nachdruck verleihen, was im Zweifelsfall vor Gericht als
»Widerstand gegen die Staatsgewalt« ausgelegt werden kann.
5
P.A.U.L.A. steht für Überregionales Plenum-antiautoritär-unversöhnlich-libertärautonom (PAULAs Manifest 2007)
106
Nikola Siller
Der Kampf der zapatistischen Bewegung gegen Neoliberalismus ist auch
ein Kämpfen gegen die Individualisierung im Sinne der Vereinzelung der Menschen und eine Gegenbewegung zur systematischen Zersetzung des Sozialen
und sämtlicher solidarisch-kollektiver Strukturen.6
Auf dieser Grundlage von Gemeinsamkeit und Differenz gestaltet und entfaltet sich die Altermundistabewegung sowohl als ideeller Bezugsraum als auch
als konkretes, horizontales Netzwerk. Die AkteurInnen, die sich mit ihren spezifischen Kämpfen der Altermundistabewegung zugehörig fühlen, gehen bewusst
eine Beziehung miteinander ein, nehmen solidarisch aufeinander Bezug, ohne
sich gegenseitig zu bewerten und zu hierarchisieren (Klein 2003; Notes from
nowhere 2007). Das Festhalten an dieser offenen, antidefinitorischen Struktur
(die oft auf Kosten einer kurzfristig effektiveren Organisierung und Schlagkraft
geht) ist insofern wesentlich, als die dynamische Konstruktion der Altermundistabewegung selbst ein permanenter Kampf gegen Deutungshoheiten und Definitionsmacht ist. Daher schließt es sich auch konzeptionell aus, dass es RepräsentantInnen der Altermundistabewegung gibt, die für alle gleichermaßen
sprechen, bewerten und urteilen könnten. In der Praxis, vor allem bei gemeinsamen, rituellen Auftritten und Wahrnehmungskämpfen, wie etwa der Demonstration in Rostock am 2. Juni 2007, ist das schwer einzuhalten und zeigt ein
Dilemma, aber auch eine Herausforderung auf. In Rostock hatten sich SprecherInnen, teilweise selbsternannt, teilweise von einem Vorbereitungsbündnis beauftragt, von militanten Aktionsformen und aktiver Verteidigung gegen Angriffe
der Polizei distanziert. Die Problematik, die sich hier offen zeigte, war, dass die
SprecherInnen (nicht nur im Eifer des Gefechts, sondern auch im Nachhinein)
nicht nur explizit sich und ggf. ihre Gruppe von Aktionsformen eines Teils der
Bewegung distanzierten (was ja durchaus legitim ist), sondern sich aus einer
exponierten Sprechposition heraus ermächtigt sahen, grundsätzlich über Militanz als Aktionsform für die ganze Protestbewegung zu urteilten und diese hiermit zu disqualifizieren, was zu erheblichem Unmut in großen Teilen der Bewegung führte und führen musste. Dass es – zumindest in der Reflektion – auch
ganz anders geht, zeigen John Holloway und Vittorio Sergi (2007) in dem Gespräch »Von Steinen und Blumen«. Der Dialog zeichnet sich durch ein Annähern zwischen sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen und Positionen aus,
durch ein gegenseitiges Verstehen-wollen, durch Respekt und Akzeptanz des
Anderen mit seinen spezifischen Formen des Protests und Widerstands. Hier
geht es nicht um das Gewinnen von Positionen, nicht ums »Recht haben«, we6
Bourdieu erkennt im Neoliberalismus »ein Programm zur Zerstörung kollektiver
Strukturen, die noch in der Lage sind, der Logik des reinen Marktes zu widerstehen.«
(1998)
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
107
der um Deutungshoheiten, noch um Vormachtstellungen innerhalb der Bewegung, sondern um das gemeinsame Vorankommen trotz und mit der Verschiedenheit der Mittel und Wege.
Autonomie
Die Zapatistas erklären ihr Politikverständnis, ihre Vorstellungen von revolutionärem Kampf, von radikaler Basisdemokratie, von Selbstbestimmung und
Würde nicht zu abstrakten Zielen, sondern sie setzen sie bereits in den von ihnen für autonom erklärten Gebieten gegenwärtig und in ihrem Alltag um und
modifizieren und entwickeln sie dabei permanent fort: »Antworten auf Fragen
über den Zapatismus sind nicht in unseren theoretischen Reflexionen und Analysen zu finden, sondern in unseren Handlungsweisen. (…) Die theoretische Reflexion über die Theorie heißt ›Metatheorie‹. Die Metatheorie der Zapatisten ist
unsere Praxis.« (Subcomandante Marcos 2003: I, Abs. 12 und 17).
Um eine gesellschaftlich relevante Selbstverwaltung parallel und jenseits des
Staates aufbauen zu können, muss gekämpft werden. In Chiapas bedeutete dies
nach einer langen Phase erfolglos gebliebener gewaltfreier Proteste schließlich, zu den Waffen zu greifen, GroßgrundbesitzerInnen zu verjagen, Eigentumstitel zu vernichten und Land zu besetzen. Die konkreten Mittel und Wege
für den Aufbau einer Autonomie sind an den jeweiligen Kontext gebunden und
lassen sich nur bedingt übertragen. »Revolution ist einfach der ständige unnachgiebige Kampf für etwas, was unter dem Kapitalismus nicht erreicht werden kann: Würde, Kontrolle über unser eigenes Leben. (...) Die Revolution ist
(...) die völlige Umkehrung des in der Gegenwart herrschenden Verhältnisses
zwischen Würde und Erniedrigung, die zunehmende Selbstbestimmung über
unser eigenes Leben, die fortschreitende Errichtung von Autonomie.« (Holloway 2000: 131)
Die Widerstandscamps, die rund um Heiligendamm errichtet wurden, waren temporäre autonome Räume. Allein in Reddelich, einem der drei großen
Camps, haben in der Gipfelwoche zwischen vier- und siebentausend Menschen
täglich auf engem Raum gelebt, gut gegessen, geduscht, geschlafen, Entscheidungen zusammen getroffen, sich um die Sicherheit des Camps, um interne und
externe Kommunikation und umeinander gekümmert, Blockadetechniken trainiert, Konzerte und Feste gefeiert, Aktionen geplant und vorbereitet und Strategien für die Zeiten nach dem Gipfel entwickelt. Es war einer von den vielen selbstorganisierten Räumen, in denen sich die Bewegung von ihrer Stärke
und Größe überzeugen konnte. In den Camps wurde ein Gegenmodell sichtbar, eine andere, bunte Welt der kreativen Diversität auf der anderen Seite des
108
Nikola Siller
Zauns. Der eigentliche Erfolg der Proteste war die positive Überraschung, dass
die eigenen Strukturen gut funktionierten und dass die andere Welt, die wir uns
wünschen und brauchen bereits in den Rissen und Brüchen und mit allen Widersprüchen, die das impliziert, konkret erfahrbar ist. In Heiligendamm wurden alte und neue Strategien erprobt und mit eigenen, aus den Erfahrungen mit
anderen Widerständen und Kämpfen entwickelte Strukturen, wie z.B. mit dem
traumasupport out of action, der antisexist awareness group oder der Organisierung in barrios und Bezugsgruppen u.v.a.m. experimentiert. Wochen zuvor
angereiste, rebellisch-organisierte HandwerkerInnen zimmerten eine funktionale und ökologisch innovative Infrastruktur für mehrere tausend AktivistInnen. GewerkschafterInnen waren nicht nur präsent, sondern hatten auch an
genügend Megafone gedacht, SanitäterInnen waren mit Notdecken und Medikamenten gekommen, diejenigen, die gut organisieren können, haben gut organisiert. Kritische JournalistInnen und MedienaktivistInnen machten während
der Proteste und bereits im Vorfeld wichtige Pressearbeit. Die Zusammenarbeit
von JuristInnen, ÄrztInnen, GewerkschafterInnen, PsychologInnen, KöchInnen,
HandwerkerInnen, AntiFas, Antisexistischen Praktikerinnen, KonzertorganisatorInnen, TechnikerInnen, KünstlerInnen usw. war bemerkenswert. Jede Gruppe
hat gemäß ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Gelingen der Proteste beigetragen. Selbstverständlich war der temporäre autonome Raum nicht frei von
Schwierigkeiten, Konflikten und Widersprüchen. Auch hier war nicht der »neue
Mensch« am Werk, sondern wir, die ganz normalen Leute – mit allen Unzulänglichkeiten und Verrücktheiten.
Unser Ort, unsere Zeit?
Heiligendamm war wie zuvor Seattle, Genua, das Intergalaktische Treffen in
Chiapas oder die Sozialforen ein Kristallisationspunkt der Altermundistabewegung. In diesen Räumen des kollektiven Protests nimmt die Bewegung sich
selbst, ihre Größe und Bedeutung wahr. Sie sind für die Erfahrung, nicht allein, sondern viele zu sein, sehr wichtig: »Unser Ort, unsere Zeit, unsere Musik, unser Tanz. In diesem Moment sind wir das Zentrum der Welt. Lasst es
uns genießen!« (Holloway 2007) Es ist aber nicht verkehrt, vor einer Mythisierung und Mystifizierung von Heiligendamm zu warnen, wie es etwa Gregor
Samsa (2007) in seiner kritischen Auseinandersetzung tut, wenn er anmahnt,
dass »Schwärmereien (…) den Blick auf tatsächliche Herausforderungen (verstellen)«. Aber es wäre fatal und selbstmörderisch für die Bewegung, den Blick
auf die Defizite, die Repression und die Kosten zu reduzieren und die Perspektive »auf uns selbst« auszublenden. Die vielschichtigen, in ihrer Gänze nicht
Das zapatistische Politikverständnis und die Altermundistabewegung
109
zu erfassenden Erfolge von Heiligendamm als nebensächlich oder rein atmosphärisch abzutun bedeutet letztlich, uns selbst als RebellInnen und AktivistInnen mit unseren Prozessen der Politisierung und Organisierung nicht wahr
und ernst zu nehmen.
Die Fragen einer politischen Organisierung für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und damit die Frage nach neuen Handlungs- und Organisierungsstrategien müssen wir uns jedoch vor allem aus der Perspektive unserer
in der Regel eher graueren Alltagspraxen stellen und an diesen messen. Hierbei
werden wir unumgänglich auf sehr unterschiedliche Fragestellungen, Antworten und Strategien stoßen. Das zapatistische Politikverständnis und die hiervon
inspirierte Perspektive auf und Deutung von Protest und Widerstand können
bei der Suche und Entwicklung derselben eine Anregung sein. In großen Teilen
der Altermundistabewegung ist diese Anregung aufgegriffen worden und prägt
nicht nur ihren theoretischen Diskurs, sondern auch ihre Praxis, zum Beispiel
bei den Protesten um Heiligendamm.
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Februar 2008.
Christoph Haug
Die »Politik der Armen« als Beitrag zu
einer Theorie demokratischer Gerechtigkeit
im Kontext »globaler Apartheid«
Dass die Prozesse der Globalisierung die Steuerungsmacht von Nationalstaaten untergraben, ist inzwischen zur Binsenweisheit geworden. Doch was bedeutet dies für unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit und letztlich für eine Theorie von Gerechtigkeit? Zur Beantwortung dieser Frage greife ich zwei neuere
Überlegungen von Nancy Fraser auf, die sich kritisch mit bisherigen Konzeptionen von Gerechtigkeit (inklusive ihrer eigenen) auseinandersetzen: Zum einen
geht es darum, Gerechtigkeit jenseits des nationalstaatlichen Rahmens zu denken; zum anderen geht es um die Akteure, die an diesem Prozess der Theoriebildung beteiligt sind. Fraser zeigt, dass in einer globalisierten Welt eine Theorie der Gerechtigkeit nicht mehr ohne Selbstwidersprüche monologisch von
PhilosophInnen entworfen werden kann, sondern nur im Dialog mit dem Demos. Sie spricht daher von einem Paradigmenwechsel hin zu Theorien demokratischer Gerechtigkeit.
In Abschnitt 1 werden zunächst Frasers Überlegungen zu ihrer »noch
unvollständig[en]« (Fraser 2005: 103) Theorie demokratischer Gerechtigkeit
kurz dargestellt.
In Abschnitt 2 wird dann gezeigt, dass sich – in Übereinstimmung mit Frasers These von einer historischen Erweiterung des Denkrahmens – die Menschenrechtsdiskurse der (gleichwohl transnationalen) Antiapartheidbewegung
noch maßgeblich im nationalen Rahmen bewegten, während in den heutigen
globalisierungskritischen Bewegungen deutliche Tendenzen erkennbar sind, die
Menschenrechte global zu denken.
Allerdings kann nicht von einer linearen Entwicklung »der« Menschenrechte
ausgegangen werden. Vielmehr gilt es, in der historischen Entwicklung der Menschenrechte auch die Spannungen zwischen sozialen und liberalen Menschenrechten1 zu berücksichtigen, die dazu führten, dass im Menschenrechtsdiskurs
– je nach politischen Kräfteverhältnissen mal die eine und mal die andere Seite
1
Vgl. hierzu die Unterscheidung von Internationalem Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte und Internationalem Pakt über Bürgerliche und Politische
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
113
stärker betont wurde. Dies zeigt insbesondere der Blick auf die Spätphase der
Antiapartheidsbewegung und die Zunahme sozialer Ungleichheit in der PostApartheid-Ära in Südafrika (Abschnitt 3). Das Beispiel Südafrika zeigt besonders deutlich dass der Paradigmenwechsel in der Gerechtigkeitstheorie sich
nicht lediglich aus »der Globalisierung« ergibt, sondern aus der neoliberalen
Globalisierung und der damit verbundenen neoliberalen Diskurshoheit im Menschenrechtsdiskurs.
Es überrascht daher nicht, dass in diesem Land, das von Akteuren einer nationalen Befreiungsbewegung regiert wird und von der neoliberalen Globalisierung besonders hart getroffen wurde, Bewegungen entstanden, die die sozialen Menschenrechte wieder in den Mittelpunkt stellen, und dass die größte
dieser Bewegungen zudem eine Politikform praktiziert, die den nationalstaatlichen Rahmen konsequent transzendiert und damit ein Potenzial für die Weiterentwicklung der Theorie demokratischer Gerechtigkeit darstellt. Diese »Politik der Armen« wird in Abschnitt 4 dargestellt.
1. Gerechtigkeit in der globalisierten Welt
Der Diskurs über Gerechtigkeit in der »Ersten Welt« blieb in der Vergangenheit
maßgeblich innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens. Sowohl Forderungen
nach materieller Umverteilung als auch nach rechtlicher und kultureller Anerkennung richteten sich an den Nationalstaat. Gerechtigkeit war stets die Gerechtigkeit unter StaatsbürgerInnen (Fraser 2005: 85). Dies funktionierte als Prinzip recht gut, solange Gesellschaften national bzw. territorial integriert waren,
sodass die (potenzielle) Betroffenheit von ausländischen Mächten vernachlässigbar erschien oder durch Staatsmänner (manchmal auch -frauen) auf dem internationalen Parkett (und Schlachtfeld) bewältigt werden konnte. Selbst die »internationale Solidarität« der Arbeiterbewegung lebte nicht so »hoch«, als dass
sie den nationalstaatlichen Rahmen wirklich überflügelt hätte.
Nancy Fraser (2005: 85) nennt diesen im Diskurs über Gerechtigkeit dominanten Rahmen den »›Keynesianisch-Westfälischen‹ Rahmen« und weist auf
die Konsequenzen hin, die mit der zunehmenden Infragestellung dieses Rahmens verbunden sind: Wurden in bisherigen Gerechtigkeitstheorien (inklusive
ihrer eigenen) »lediglich« Fragen erster Ordnung, nämlich nach dem »Was«
von Gerechtigkeit, behandelt, stellt sich nun in zunehmendem Maße die Frage
nach dem »Wer« als Gerechtigkeitsfrage zweiter Ordnung. Wenn nämlich immer
Rechte innerhalb der International Bill of Human Rights, die 1966 von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde.
114
Christoph Haug
mehr Menschen von Entscheidungen betroffen sind, die jenseits nationalstaatlicher Grenzen getroffen werden (etwa von supranationalen Institutionen oder
multinationalen Konzernen), so muss neu geklärt werden, wer eigentlich zu der
Gruppe derer gehört, unter denen Gerechtigkeit herzustellen ist, denn das bisherige Kriterium der Staatsbürgerschaft greift dann in vielen Fragen zu kurz.
Dadurch wird eine weitere Gerechtigkeitsdimension sichtbar, die des »Wie«.
Indem die Bewegungen »ein Mitspracherecht in einem post-westfälischen Prozess des Rahmensetzens« (ebd.: 101f.) beanspruchen, verweisen sie zugleich auf
eine Ungerechtigkeit dritter Ordnung, die Fraser als »meta-politische Fehlrepräsentation« bezeichnet: »Zur meta-politischen Fehlrepräsentation kommt es,
wenn Staaten und transnationale Eliten den Vorgang des Rahmensetzens monopolisieren, denjenigen die Stimme verweigern, die dabei zu Schaden kommen
können und die Schaffung demokratischer Arenen blockieren, in denen deren
Forderungen überprüft und befriedigt werden können. Sie hat zur Folge, dass
die überwiegende Mehrheit der Menschen von der Teilnahme an jenen MetaDiskursen ausgeschlossen sind, welche die verbindliche Aufteilung des politischen Raumes festlegen.« (ebd.: 101)
Durch die Forderung nach politischer Teilhabe jenseits des Nationalstaats
wird also die Frage virulent, wie eine solche Teilhabe zu organisieren sei. Wie
und durch welche Institutionen und Prozeduren kann Gerechtigkeit dritter Ordnung (als Voraussetzung für Gerechtigkeit zweiter und erster Ordnung) hergestellt werden? Dieses Problem ist bislang noch ungelöst. Fraser (2005) zeigt
aber, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen Gerechtigkeit nur noch unter Einschluss der Dimension politischer Repräsentation gedacht werden kann.
Sie begründet außerdem, wie eine entsprechende Theorie demokratischer Gerechtigkeit zu entwickeln sei, nämlich nicht wie bisher »monologisch« durch
GerechtigkeitstheoretikerInnen allein, sondern im Dialog zwischen TheoretikerInnen und Demos (ebd.: 102-104).
Damit erhält die Gerechtigkeitstheorie einen geografischen Ort, nämlich jenen des Demos, der an ihrer Entwicklung beteiligt ist. Man kann sagen, wer
nun über Gerechtigkeit reden will, muss angeben, mit wem und wo dieser Dialog geführt werden soll.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die sozialen Bewegungen in Südafrika
ein guter Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Theorie demokratischer Gerechtigkeit nach diesem Maßstab darstellen.
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
115
2 . Antiapartheid und Globalisierungskritik
Frasers Behauptung, dass der keynesianisch-westfälische Rahmen für westliche Debatten über Gerechtigkeit prägend war, »auch dann noch, als die Anfänge eines post-westfälischen Menschenrechtsregimes zutage traten« (2005:
86, FN 2), kann durch den Vergleich zweier Bewegungen belegt und illustriert
werden: der Antiapartheidsbewegung (Thörn 2006) (fortan: AAB), »einer der
erfolgreichsten transnationalen Kampagnen« (Keck/Sikkink 1998: 28) und der
heutigen Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung (Andretta et al. 2002;
Della Porta 2007).
Beide Bewegungen sind2 politisch sehr heterogene Bewegungen, die von
der Mitte der Gesellschaft bis ins linksradikale Spektrum reichen. Ihre Mobilisierungen sind häufig transnational koordiniert, sodass sie maßgeblich zur
Herausbildung transnationaler Öffentlichkeiten und Diskurse beigetragen haben (Thörn 2007). Und beide Bewegungen wenden sich gegen die systematische Produktion von sozialer Ungleichheit und den Ausschluss vieler Menschen
von gesellschaftlicher Teilhabe: gegen die rassistisch motivierte Ungleichheit
der Apartheid und gegen die neoliberal motivierte Ungleichheit des Washington Consensus.3 Zwar gibt es große Unterschiede zwischen den Politiken von
Apartheid und Neoliberalismus – nicht zuletzt schreibt die Apartheid die Ungleichheit der Menschen nach ihrer Hautfarbe fest, während der Neoliberalismus
die Gleichheit aller auf dem Markt postuliert –, doch auch der Neoliberalismus
verfolgt »Ungleichheit als Projekt« (Kaindl, im Ersch.), wenn er existierende
Ungleichheiten durch sein Gleichheitspostulat reproduziert und verstärkt (vgl.
hierzu auch Demirović 2006).
Beide Bewegungen sind an der Produktion von Menschenrechtsdiskursen
beteiligt, doch im Gegensatz zur AAB gelingt es der globalisierungskritischen
2
Ich verwende der Einfachheit halber für beide Bewegungen den Präsens, auch wenn
die Antiapartheidsbewegung, die über vier Jahrzehnte andauerte, mit dem Ende des Apartheidsregimes als abgeschlossen betrachtet werden kann.
3
Der Terminus Washington Consensus wurde 1989 von John Williamson eingeführt,
um zehn politische Grundsätze zu bezeichnen, von denen er annahm, dass »so ziemlich jeder in Washington sagen würde, dass man die so ziemlich überall in Lateinamerika brauche« (Williamson 2004: 1, eig. Übers.) und die als Hintergrundkonsens für eine
Konferenz dienen sollten. Später wurden diese Punkte zum Inbegriff neoliberaler Weltpolitik. Sie umfassen: 1. Haushaltsdisziplin; 2. Neuordnung der Prioritäten in öffentlichen Haushalten zugunsten von Bildung, Gesundheit und Infrastruktur; 3. Steuerreform
zur Senkung der Steuersätze; 4. Freigabe der Zinssätze; 5. kompetitive Wechselkurse; 6.
Liberalisierung der Handelspolitik; 7. Liberalisierung von Direktinvestitionen; 8. Privatisierung; 9. Deregulierung; 10. Schutz des Privateigentums.
116
Christoph Haug
Bewegung zunehmend, den keynesianisch-westfälischen Rahmen zu transzendieren. Der elaborierteste Ausdruck dessen sind die aktuellen Diskussionen
über Globale Soziale Rechte (siehe z.B. Klautke/Oehrlein 2008). Hier werden
Menschenrechte als individuelles Recht auf gesellschaftliche Teilhabe formuliert, einschließlich der Wahl, an welcher Gesellschaft man teilhaben möchte
(unabhängig von nationalen und anderen Zugehörigkeitskonstruktionen). Mit
der zentralen Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit lassen sich diese Diskurse nicht mehr auf den nationalstaatlichen Rahmen ein, stellen zugleich die
soziale Dimension der Menschenrechte in den Mittelpunkt und thematisieren
damit eben jene Grenzen, die heute der Mehrheit der Menschheit angemessene
gesellschaftliche Teilhabe verwehren: territoriale und soziale.
Die von der AAB skandalisierten Grenzen waren dagegen rechtlicher Natur. Während es heute um die »emanzipatorische Aneignung universeller Menschenrechte« (ebd.) geht, war der Antiapartheidskampf noch mit der Institutionalisierung dieser Menschenrechte befasst. »Was Apartheid zu einem so klaren
Angriffsziel gemacht hat, war die Verweigerung der grundlegendsten Aspekte
von Chancengleichheit. Orte, wo rassische Schichtung fast genauso schwerwiegend ist wie in Südafrika, wo diese Schichtung jedoch nicht rechtlich vorgesehen war, wie etwa in Brasilien oder manchen Städten in den USA, haben keine
solche Betroffenheit ausgelöst.« (Keck/Sikkink 1998: 28; eig. Übers.)
Indem die AAB sich transnational koordinierte und sich in ihrer Kritik am
Apartheidsstaat auf die Universalität der Menschenrechte berief, verschafften
ihre Mobilisierungen dem Menschenrechtsdiskurs die maximale Geltung, die
innerhalb einer nationalstaatlich organisierten Weltordnung überhaupt denkbar war, transzendierte diese jedoch nicht. Mit ihren Boykottaufrufen und ihren
Aufforderungen an diverse nationale Regierungen, sich in die internen Angelegenheiten Südafrikas einzumischen, stellte die Bewegung die nationalstaatliche Souveränität infrage. Doch das Infragestellen blieb auf den Apartheidsstaat beschränkt, da Alternativen zum keynesianisch-westfälischen Rahmen
kaum denkbar waren. Die Abschaffung der Apartheid als einem staatlichen
Herrschaftssystem konnte offenbar nur durch die Übernahme der Staatsmacht
erreicht werden.
3. Die Dominanz liberaler Menschenrechtsdiskurse
Je näher das Ende des Apartheidsstaates rückte, umso mehr wandelte sich der
Antiapartheidsdiskurs von einem sozialen (oder gar sozialistischen), gegen Klassenunterschiede gewandten, zu einem liberalen Menschenrechtsdiskurs, der die
Freiheit des Unternehmertums auch für Schwarze forderte. Robinson (1996:
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
117
327) beschreibt, wie bereits nach dem Aufstand von Soweto 1976 transnationale Kapitalinteressen begannen, sich für einen »Übergang von rassischem zu
nicht-rassischem Kapitalismus« einzusetzen. Die US-amerikanische Entwicklungshilfeorganisation USAID begann im Rahmen ihrer »Programme für Demokratieförderung«, moderate Antiapartheidskräfte zu unterstützen und von
sozialistisch orientierten Akteuren zu isolieren (ebd.: 331). Diese Politik der
Schwächung des Gegners durch Stärkung seiner Feinde und Kritiker wurde in
der Übergangsphase4 fortgesetzt, da es wegen der immensen weltweiten Unterstützung für Nelson Mandela kaum möglich war, die Umverteilungspolitik des
ANC offen anzugreifen (ebd.: 329f.). Stattdessen wurde Mangosuthu Buthelezi
und seine Inkatha Freedom Party unterstützt, der betonte: Der »Sozialismus (...)
ist jämmerlich gescheitet. Das System freien Unternehmertums bleibt das einzige System, in dem Wohlstand auf eine Weise erzeugt werden kann, dass die
für Wachstum und Stabilität notwendigen Arbeitsplätze und Infrastruktur bereitgestellt werden« (Buthelezi zitiert nach ebd.: 330; eig. Übers.).
1985 rief der ANC dazu auf, das Land unregierbar zu machen. Es gab weitere Aufstände, über die weltweit berichtet wurde. Mehrere ausländische Banken beschlossen daraufhin, keine Kredite mehr an Südafrika zu vergeben (Padayachee 1988: 372f.) und südafrikanische Geschäftsleute suchten nun das
Gespräch mit dem ANC (Thörn 2006: 176). Schließlich ließ sich auch die
Apartheidsregierung auf bedingungslose Verhandlungen ein. Nach der »verhandelten Revolution« wurde aus den Köpfen der Antiapartheidsbewegung die
Post-Apartheid-Regierung, die 1994 ihre historische Mission zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit antrat.
Verschärfung der Ungleichheit und die Hegemonie des ANC
Doch der Siegeszug der (neo-)liberalen Lesart der Menschenrechte war noch
nicht beendet. Zwar gilt die 1996 verabschiedete südafrikanische Verfassung
mit den darin verankerten sozialen Rechten als eine der weltweit progressivsten, doch was vielversprechend begann, endete spätestens 1996 mit der neoliberalen Wende5 der ANC-Regierung in einer Politik, die wenige Jahre später
zu massenhaften Protesten und einer »Wiedererfindung sozialer Bewegungen
in post-apartheid Südafrika« (Ballard et al. 2006c: 14) führte. Der Gini-Koeffizient als gängiges Maß für die Ungleichverteilung von Einkommen stieg von
4
Gemeint ist die Zeit zwischen der Freilassung Nelson Mandelas am 11. Februar
1990 und den ersten freien Wahlen am 14. April 1994.
5
Das am Washington Consensus orientierte Growth, Employment and Redistribution
Programm (GEAR) löste 1996 das keynesianisch orientierte und bis dato maßgebliche
Reconstruction and Developement Programme (RDP) ab.
118
Christoph Haug
0,596 in 1995 auf 0,635 in 2001 (UNDP 2003: 43). Die offizielle (!) Arbeitslosigkeit stieg von 23,9% in 1996 auf 41,6% in 2003 (ebd.: 144). Weiterhin leben
knapp 50% unter der (absoluten) nationalen Armutsgrenze bei gleichzeitigem
leichten Anstieg des Bevölkerunganteils, der mit weniger als einem US-Dollar
am Tag auskommen muss (ebd.: 41). Die Zahl der Bewohner informeller Siedlungen (Slums) stieg von 1,4 auf 2,4 Millionen (Pithouse 2006b: 18, FN 38).
Kurz: Die Bevölkerung eines Landes, das bereits lange zu den ungleichsten
der Welt gehört hatte (und dadurch eine globale Bewegung motivierte), wurde
von der neoliberalen Globalisierung und einer am Washington Consensus orientierten nationalen Politik besonders hart getroffen.
Da der ANC aber trotz aller Probleme weiterhin beansprucht, alleiniger Vertreter der Befreiungsbewegung zu sein, ist er zunehmend in Opposition zu zivilgesellschaftlichen Akteuren geraten, die ihn zuvor treu unterstützten (Khan
2006: 75). Mit seiner Orientierung auf die Begriffe »Arbeit« und »Nation« (Barchiesi 2004) vertritt er eine »affirmative Rahmungspolitik« (Fraser 2005: 96)
innerhalb der keynesianisch-westfälischen Ordnung, die von Teilen der neuen
örtlichen Protestbewegungen ebenso wie von den globalisierungskritischen
Bewegungen infrage gestellt wird. Es ist diese Konstellation der direkten Konfrontation und gleichzeitigen Verwebung von alten und neuen Menschenrechtsdiskursen und -akteuren, die den Fall Südafrika zum Brennglas globaler Verhältnisse werden lässt, die Booker & Minter (2001) als »globale Apartheid«
bezeichnet haben.6
4 . Die »Politik der Armen« und globale Gerechtigkeit
Unter den in den letzten Jahren zunehmenden Protestbewegungen in Südafrika
(Ballard et al. 2006b; Gibson 2006) ist die Bewegung der Hüttenbewohner (shack
dwellers), den Abahlali baseMjondolo7 in Durban nicht nur die zahlenmäßig
6
Die Aufteilung des globalen Raums und der damit verbundene »differentielle Zugang zu Menschenrechten« (Booker & Minter 2001) ist homolog mit der Segregation
innerhalb des Apartheidsstaates, die sich nach Ende der rassisch kodierten Apartheid in
einer »Klassenapartheid« (Bond 2004) fortgesetzt hat. Booker & Minter (2001) schlagen deshalb vor, den Begriff der »globalen Apartheid« als Mobilisierungsbegriff in den
Vordergrund zu rücken. Allerdings darf m.E. globale Apartheid nicht bloß als globale
Segregation zwischen Nord und Süd verstanden werden, sondern muss zugleich auch
die Ungleichheit und deren räumliche Organisiertheit innerhalb einzelner Gesellschaften einbeziehen (vgl. hierzu Milanovic 2005).
7
Wörtlich: »die Leute, die in den Hütten/Bretterbuden wohnen« (Bryant 2006: 50
FN 5), eig. Übers.
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
119
größte Bewegung,8 sie nimmt in der Bewegungslandschaft auch eine besondere
Position ein, denn sie weigert sich, sich an der nationalen Koordination unter
dem Dach der Social Movements Indaba9 zu beteiligen und gegen die ANC-Regierung oder gar den globalen Neoliberalismus im Allgemeinen zu mobilisieren.10 Ihnen geht es um die Durchsetzung konkreter Forderungen vor Ort: Wasser, Strom, sanitäre Anlagen, richtige Wohnungen oder auch nur das Recht, in
der jetzigen Hüttensiedlung wohnen zu bleiben.11 Zwar haben auch viele der
anderen neueren südafrikanischen Bewegungen einen lokalen Fokus und sehr
konkrete Forderungen zur Sicherstellung der Daseinsfürsorge, doch mit Ausnahme der Abahlali (und der Western Cape Anti Eviction Campaign) sehen zumindest die Köpfe dieser Bewegungen die Notwendigkeit, auch auf nationaler
Ebene aktiv zu sein: Die Globalisierung dürfe keine Entschuldigung dafür sein,
»dem Kampf mit der eigenen nationalen Bourgeoisie aus dem Weg zu gehen«
(Ngwane 2003: 55; eig. Übers.; siehe auch Barchiesi 2004: 30f.).
Worum es in Bezug auf Frasers Theorie demokratischer Gerechtigkeit geht,
ist die konsequente Umsetzung des Alle-Betroffenen-Prinzips12 in der »Politik
der Armen«, wie sie von den Abahlali praktiziert wird. Zugleich deutet die Entstehungsgeschichte dieser Bewegung auf eine Neuinterpretation des Verhältnisses von liberalen Bürgerrechten und sozialen Menschenrechten hin. In ihrer Interpretation der Menschenwürde orientiert sich die »Politik der Armen«
eher an konkreten, situativen Bedürfnissen. Sie widersetzt sich einer allgemeinen Kodifizierung und rückt stattdessen die Definitionsmacht der betroffenen
Subjekte ins Zentrum. Der Diskurs über die »Politik der Armen« geht damit –
8
Zählt man alle 13 Siedlungen und 25 Ablegergruppen zusammen (Stand: März
2007), ergibt sich eine Stärke von 30.000 Mitgliedern. Zur größten Demonstration kamen etwa 20.000 Menschen. Zur Jahreshauptversammlung kamen 300 Delegierte und
schätzungsweise 200 tragen durch ihren kontinuierlichen Einsatz die Struktur der Bewegung (Pithouse & Butler 2007: 25).
9
Ein Netzwerk, das 2002 aus dem Civil Society Indaba (CSI) hervorging, als regierungsnahe NGOs im CSI eine Radikalisierung der Proteste verhindern wollten
(Hlatshwayo 2006: 5).
10
Nach anfänglicher Offenheit für eine Kooperation verließen die Abahlali das SMI
Ende 2006 unter Protest, weil sie ihre lokalen Kämpfe dort nicht repräsentiert und ernst
genommen sahen.
11
Das Thema der Zwangsumsiedlungen erhält aktuelle Brisanz durch die Ausrichtung der FIFA-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika und der damit verbundenen slum
clearance Politik.
12
Nach dem Betroffenenprinzip soll jedeR, der/die von einer Entscheidung betroffen ist, auch an dieser Entscheidung partizipieren können (siehe genauer bei Fraser
2005: 98).
120
Christoph Haug
ähnlich wie der oben erwähnte Diskurs über Globale Soziale Rechte – über den
bisherigen Menschenrechtsdiskurs hinaus.13
Kriminalisierung der Armen
Die Bewegung der Abahlali hat ihren Ausgangspunkt nicht – wie man vielleicht
annehmen würde – in der extremen Armut der BewohnerInnen der informellen
Siedlungen in Durban, sondern in der kollektiven Erkenntnis einer politischen
Fehlrepräsentation im Fraserschen Sinne.
Als am 18. März 2005 Bulldozer anfingen, das Gelände entlang der Elf Road
im Stadtteil Clare Estate umzugraben, glaubten die 6.000 BewohnerInnen der
benachbarten informellen Siedlung Kennedy Road, dies sei das Resultat ihrer
jahrelangen Geduld und ihrer Gespräche mit dem Stadtrat ihres Bezirks, der ihnen wenige Wochen zuvor zugesichert hatte, das Gelände sei für sie reserviert
und es sei nur eine Frage der Zeit, dass dort für sie Wohnungen gebaut würden.
Doch die Bauarbeiter sagten ihnen, dort würde eine Fabrik errichtet und keine
Wohnungen. Die Bewohner von Kennedy Road luden ihren Stadtrat zum Gespräch. Er sollte ihnen erklären, was vor sich ginge. Als er erschien, bezeichnete er sie als »Kriminelle« und forderte ihre Festnahme. Daraufhin besetzten die Enttäuschten am nächsten Morgen die nahe gelegene Schnellstraße für
mehrere Stunden. 14 Personen wurden festgenommen und erst nach zehn Tagen freigelassen. Monate später wurde die Anklage fallengelassen. Es war diese
(bis heute andauernde) Kriminalisierung, die die Formierung der Bewegung der
Abahlali auslöste (Pithouse/Butler 2007: 24).14
Die BewohnerInnen von Kennedy Road erkannten, dass sie nur gehört werden würden, wenn sie für sich selbst sprechen. Ihren gewählten Stadtrat erklärten sie für »tot« und beschlossen, ab sofort ihre Angelegenheiten selbst in die
Hand zu nehmen (Pithouse 2006a). Gegenüber dem ANC erklärten sie, die zuvor geschlossen ANC gewählt hatten (ebd.: 171), dass sie erst wieder zur Wahl
gehen würden, wenn ihre Forderungen erfüllt seien: »No Land, No House, No
Vote«. Solange sie kein Land und keine Wohnungen haben, werden sie niemanden wählen, sondern sich selbst vertreten. Parteipolitik ist auf ihren Treffen unerwünscht (Patel 2006: 87f.). Zugleich wird betont, dass man sich nicht
gegen die ganze Regierung wende, sondern gegen diejenigen in der Stadtver13
In Deutschland scheint mir die Gruppe Zahltag! in Köln einen ähnlichen Politikansatz zu verfolgen. Dass diese Gruppe weit von einer Massenbewegung entfernt ist,
mag auch darauf zurückzuführen sein, dass in Deutschland kein vergleichbarer Gerechtigkeits- und Befreiungsdiskurs existiert wie in Südafrika.
14
Patel (2006) arbeitet mit Bezug auf die Philosophie Alain Badious die konstitutive
Bedeutung dieses Ereignisses für die Bewegung der Abahlali heraus.
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
121
waltung, die nicht in ihrem Sinne arbeiten (Bryant 2006: 58, 75). Viele der Hüttenbewohner verehren nach wie vor Nelson Mandela und die Ideale, für die der
ANC gekämpft hat. Sie betonen, dass die Errungenschaften des Antiapartheidskampfes die Grundlage bilden, ohne die ihre jetzigen Kämpfe nicht möglich wären und nennen in diesem Kontext das Demonstrationsrecht und das Recht auf
faire Gerichtsverfahren, aber auch die Verankerung von sozio-ökonomischen
Rechten in der Verfassung, für die sie jetzt kämpfen (ebd.: 75).
Die soziale Frage als demokratische Frage: »Talk to us, not for us«
In der Parole der Abahlali »No Land, No House, No Vote« spiegelt und bestätigt
sich jene von Fraser: »Keine Umverteilung oder Anerkennung ohne Repräsentation.« (2005: 95) Da »die Armen« weder innerhalb der bestehenden politischen
Institutionen noch innerhalb zivilgesellschaftlicher Arenen repräsentiert oder
ernst genommen werden, verweigern sie sich einer Politik, die sich an diesem,
meist nationalstaatlich ausgerichteten Rahmen bindet. Sie beanspruchen, sich
selbst zu vertreten, da nur so Aussicht auf Gerechtigkeit (im Sinne von Umverteilung und Anerkennung) und Würde besteht. Entscheidend ist hier, dass die
Abahlali das Betroffenenprinzip zum konstituierenden Moment ihrer Bewegung machen und damit nicht nur die Gerechtigkeitsfrage als Verteilungsfrage,
sondern primär als Beteiligungsfrage, d.h. als Frage politischer Partizipation,
stellen. Die Frage nach Gerechtigkeit wird bei ihnen zur Frage nach Demokratie (Pithouse 2006b: 28) und spiegelt damit »die zentrale Gerechtigkeitsfrage
in einer globalisierten Welt« (Fraser 2005: 104) wider.
Die Demokratisierung, die sie einfordern, setzen sie dabei auch in den Siedlungen um, die sich der Bewegung anschließen: Alle Beobachter berichten von
der demokratischen Diskussions- und Entscheidungskultur der Abahlali (Bryant
2006: 60-63; Pithouse/Butler 2007: 23-29), wobei gemeinsame Entscheidungen
im Konsens gefällt und Repräsentanten formal gewählt werden. Es wird sogar
darauf geachtet, dass die Sprecher in den Medien rotieren (Patel 2006: 85) und
gewählte VertreterInnen stets die letzten sein müssen, die in den Genuss von
neuen Wohnungen kommen. Außerdem gilt das Prinzip, dass einzelne Gruppen oder Siedlungen »nie für eine angegliederte Siedlung oder einen Ableger
ohne deren Bitte um Unterstützung [sprechen oder handeln], und dann, wenn
sie eine solche Bitte erreicht, versuchen sie eher mit als für die dortige community zu kämpfen« (Pithouse/Butler 2007: 34).
Dialogische Theoriebildung
Auch der von Fraser angemahnte Dialog zwischen Intellektuellen und Demos
findet bei den Abahlali statt und zwar als ein »Dialog wechselseitiger Transformierung« (Pithouse 2006c: 271, eig. Übers.), also des gegenseitigen Zuhörens,
122
Christoph Haug
Lernens und der gemeinsamen Theorieproduktion, die sich aus den gelebten
Erfahrungen der Armen speist. Die Politik der Abahlali zeichnet sich aus durch
ihre konsequente Weigerung, intellektuelle Führerschaft – etwa durch NGOs, bewegungsfreundliche AkademikerInnen oder die Köpfe anderer südafrikanischer
Bewegungen – anzuerkennen (Pithouse/Butler 2007: 24, 51).15 Stattdessen organisieren sie Workshops mit einigen Intellektuellen, denen sie vertrauen, die
Bewegung nicht für ihre Zwecke zu missbrauchen.16 Diese Workshops sind der
Ort, wo Perspektiven und Positionen entwickelt werden, die über den lokalen
Tellerrand hinausgehen, die aber gleichwohl in den täglichen Kämpfen und dem
Leiden der Armen verwurzelt bleiben: »Eine Praxis des Dialogs wechselseitiger
Transformierung mag die ideologische Entwicklung verlangsamen. Doch langsameres Vorankommen mit mehr Leuten ist weit besser als ohne eine Basis voranzupreschen.« (Pithouse 2006c: 274, eig. Übers.)
Damit lösen die Abahlali zwar noch nicht Frasers Problem, wie (d.h. durch
welche Institutionen und Verfahren) das Alle-Betroffenen-Prinzip weltweit angewendet werden kann. Doch durch die konsequente Umsetzung von Frasers
Parole »Keine Umverteilung oder Anerkennung ohne Repräsentation« (2005:
95) in ihrer lokalen Praxis und deren langsame demokratisch-dialogische Erweiterung auf andere Ebenen stellt sich diese »Politik der Armen« außerhalb
der zwei gängigen Paradigmen legitimer Politik – Parteipolitik und Governance
– und könnte so auch in größerem Rahmen zu einer Theorie demokratischer
Gerechtigkeit beitragen.17
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15
Dies ist umso beachtenswerter, da für ressourcenschwache Bewegungen in Afrika
die Zusammenarbeit mit NGOs und verschiedenen Entwicklungshilfeakteuren aus dem
Norden einen besonderen materiellen Anreiz hat.
16
Wie weit reichend dieses Problem auch unter »linken« AkademikerInnen ist, hat
Ashwin Desai in seiner Harold Wolpe Memorial Lecture am 28. Juli 2006 in Durban
auf engagierte Weise ausgeführt (Desai 2006).
17
Kurz vor Drucklegung dieses Beitrags erschien Heft 1/2008 des Journals of Asian
and African Studies, in dem in mehreren Beiträgen auf ähnliche Weise die Relevanz der
»Politik der Armen« herausgearbeitet wird.
»Politik der Armen« und Theorie demokratischer Gerechtigkeit
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Dorothea Härlin
Intellektuelle in Bewegung?
Der Aufruf von Bamako und die Raum-Akteur-Debatte
auf dem Weltsozialforum
In ihrem »Aufruf von Bamako«1 formulieren die Initiatoren Francois Houtard und Samir Amin keine geringeren Ziele als »die Festlegung anderer Entwicklungsziele (...) die Errichtung eines Gleichgewichts innerhalb der Gesellschaften durch die Abschaffung der Ausbeutung (...) den Aufbau eines neuen
Kräfteverhältnisses zwischen Süd und Nord. (...) Der Aufruf versteht sich als
ein Beitrag zum Entstehen eines neuen historischen Subjekts. (...) Damit ein
neues historisches Subjekt entsteht – von den Volksmassen getragen, vielfältig, multipolar müssen Alternativen erarbeitet werden. (...) Ihr Ziel ist eine radikale Umgestaltung des kapitalistischen Systems« (Aufruf von Bamako: 4).
Der Text wurde im Januar 2006, einen Tag vor dem Weltsozialforum (im Folgenden: WSF) in Mali, mit dem Ziel veröffentlicht, ihn während des Forums
mit VertreterInnen verschiedener NGOs und Bewegungen zu diskutieren und
ihre Unterstützung zu gewinnen.
Im Folgenden möchte ich den Anspruch der Initiatoren, auf elf Seiten die
Welt in Form von acht Grundsätzen zu erklären und daraus zehn Lösungsvorschläge für die gesamte Menschheit abzuleiten (Aufruf: 4) ebenso hinterfragen,
wie ihren globalen Ansatz, mit dem sie davon ausgehen, einzelne könnten von
außen, mit Adleraugen sozusagen, diesen Planeten betrachten und den darauf
Lebenden Ratschläge geben, was sie zu tun hätten.
An vielen Punkten des Textes ließen sich kontroverse inhaltliche Diskussionen entfachen, doch in diesem Beitrag möchte ich die in diesem Aufruf vertretene Politikform analysieren und dem Grundgedanken der Sozialforen als Diskussionsraum gegenüberstellen. Meine Zweifel an dieser – nicht nur von den
Autoren und UnterzeichnerInnen des Aufrufs vertretenen Politikform – werde
ich in Abschnitt 3 erläutern, indem ich nach den Akteuren frage, die für eine andere, bessere Welt kämpfen. Daran anknüpfend wende ich in Abschnitt 4 den
Blick vom Text auf die Autoren selbst und Frage nach der Rolle, die intellektuelle Eliten gegenwärtig für oder in den Kämpfen um gesellschaftliche Teil1
Als Textgrundlage dient die im Literaturverzeichnis aufgeführte deutsche Übersetzung.
Intellektuelle in Bewegung? Aufruf von Bamako und Weltsozialforum
127
habe spielen könn(t)en. Beginnen möchte ich mit einem kurzen Blick auf die
siebenjährige Geschichte des WSF (Abschnitt 1) und die zunehmend kontrovers geführte Debatte um dessen Zukunft (Abschnitt 2).
1. Sieben Jahre Weltsozialforum
Als 2001 kritische, widerständige Menschen aus aller Welt zum ersten WSF im
brasilianischen Porto Alegre zusammenkamen, schien alles klar. Der Aufschrei
gegen das jährlich stattfindende mafiöse Treffen der ProtagonistInnen der Globalisierung aus Politik und Wirtschaft beim Weltwirtschaftsforum in Davos kulminierte in dem gemeinsamen Motto: Eine andere Welt ist möglich! Doch welche andere Welt man gemeinsam schaffen will, sollte nicht von vornherein als
Zielpunkt festgelegt sein, sondern im Diskussionsprozess selbst nach und nach
entstehen: »Das Weltsozialforum ist ein offener Raum zur Reflexion, zur demokratischen Diskussion über Ideen, zur Formulierung von Vorschlägen, zum
freien Erfahrungsaustausch und zur Zusammenarbeit bei der Vorbereitung wirkungsvoller Aktionen«, so Artikel 1 der Charta der Prinzipien des WSF (Whitaker 2007: 21).
Was ist an dem Sozialforumsprozess neu? Alle Foren – inzwischen gibt es
einen bunten Strauß von kontinentalen, nationalen, lokalen und thematischen
Foren – sind Räume des Austauschs zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen2 sozialen, politischen, ideologischen und kulturellen Hintergründen. Sie
kommen aus kirchlichen Kreisen, aus NGOs, Gewerkschaften, Soli- bis Graswurzelbewegungen, außerdem sind darunter Indigene, Dalits genauso wie Großstädter, LandbesetzerInnen, BewohnerInnen von Landkommunen, FabrikbesetzerInnen und dann nicht zu vergessen all die jungen Menschen auf der Suche
nach Alternativen, das »Ya Basta« (»Es reicht«) im Kopf. Diese gelebte Vielfalt und der gegenseitige Respekt vor dem und der Anderen ist tatsächlich eine
neue Qualität, jenseits vom Sich-Durchsetzenmüssen gegenüber anderen, wie
es lange auch innerhalb linker Bewegungen an der Tagesordnung war. Die Idee
des WSF ist ein fragendes Voranschreiten, ein »preguntando caminamos« mit
den Worten der Zapatisten. Das WSF ist damit zu einer kritischen Utopie geworden. Seine Stärke liegt in der kollektiven Negation dieses Kapitalismus in
seiner globalisierenden Phase, der immer schneller uns und den Planeten Erde
zu zerstören droht. Das »Fehlen« einer gemeinsamen positiven Vision wie es
2
Bei aller Pluralität muss freilich angemerkt werden, dass die Opposition zur neoliberalen Globalisierung laut Charta der Prinzipien den Grundkonsens aller Beteiligten bildet.
128
Dorothea Härlin
für viele Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert etwa »der Sozialismus« war,
wird dabei von Boaventura de Sousa Santos, einem der Mitbegründer des WSF,
eher als Stärke denn als Manko gesehen: »In einem Umfeld, in dem die konservative Utopie absolut dominiert, ist es besser zu behaupten, dass Alternativen möglich sind, als diese auszuformulieren. Die utopische Dimension des
WSF besteht darin, die Möglichkeit einer gegen-hegemonialen Globalisierung
zu bejahen. Mit anderen Worten: Die Utopie des WSF macht sich eher in der
Negation geltend (...) Das WSF ist die erste kritische Utopie des 21. Jahrhunderts und zielt darauf ab, mit der Tradition der kritischen Utopien westlicher
Moderne zu brechen, von denen sich viele in konservative Ideologien verkehrt
haben.« (Santos 2006: 139)3 Dass Millionen Menschen weltweit von diesem
Gedanken angezogen sind und nach den ruhigen 1990er Jahren wieder verstärkt
Bewegungen entstanden, bezeichnet den Erfolg der Sozialforen.
2. Die aktuelle Kontroverse: Das WSF – Akteur oder offener Raum?
Seit 2003 läuft im Internationalen Rat (IR), dem koordinierenden Gremium
des Forums, in dem heute 160 Organisationen vertreten sind, eine zunehmend
kontroverse Diskussion darüber, ob das WSF nicht doch stärker zum kollektiven Akteur werden sollte. Dies wäre notwendig verbunden mit einem gewissen Grad an Vereinheitlichung der innerhalb des Forums bzw. durch das Forum
selbst vertretenen Positionen. Einige der Protagonisten im IR, darunter auch Mitbegründer des WSF, wie z.B. Ignacio Ramonet von Le Monde Diplomatique,
meinen, die Phase des Redens, das sie für unverbindlich halten, sei zu beenden,
andernfalls würde das WSF entpolitisiert und »folklorisiert« (Ramonet 2006).
Walden Bello von Focus on the Global South, ebenfalls einer der Protagonisten der ersten Stunde des WSF, stellte nach dem letzten WSF in Nairobi 2007
sogar die Frage, ob man nicht gar die Tore des WSF schließen und neue Wege
gehen solle (Bello 2007).
Im Hintergrund dieser Einschätzung steht auch, dass viele AktivistInnen
nach dem Linksrutsch bei verschiedenen lateinamerikanischen Präsidentschaftswahlen die Frage nach der Beziehung zwischen dem WSF und Regierungen neu
aufwerfen. Sie propagieren ein WSF als politischen Akteur mit klaren Positionen, das Orientierung schaffen und sich einmischen soll. Stellvertretend für
sie kommt z.B. Emir Sadar, ein einflussreicher brasilianischer Linksintellektu3
Zwei Übersetzungen des gleichen Textes wurden parallel veröffentlicht. Wegen
der größeren Präzision beziehe ich mich auf die Übersetzung von Ingo Bultmann (Santos 2006).
Intellektuelle in Bewegung? Aufruf von Bamako und Weltsozialforum
129
eller zu dem Schluss, Alternativen würden heute von den progressiven Regierungen und nicht vom WSF formuliert (Thimmel 2006).
Dagegen setzen andere wie z.B. Chico Whitaker, Träger des alternativen
Nobelpreises und Mitbegründer des WSF: »Es ist Fakt, dass Bewegungen und
Räume völlig verschiedene Dinge sind: Sie sind entweder das eine oder das andere. (...) Sie schließen sich nicht aus. (...) Sie sind auch keine Gegensätze. (...)
Aber man kann nicht beides gleichzeitig sein, auch nicht ein bisschen von jedem – das würde darauf hinauslaufen, das eine oder das andere zu beschädigen.
(...) Für mich gibt es keinen Zweifel, dass es unerlässlich ist, die Kontinuität des
Forums als Raum zu gewährleisten und nicht der Versuchung nachzugeben, es
jetzt oder später in eine Bewegung umzuwandeln.« (Whitaker 2007: 150f.)
Bewegungen versteht er hier als politische Akteure, die versuchen, AktivistInnen zu politischem, kollektivem Handeln anzuleiten und auf ein klares Ziel
hin definiert zu organisieren. Dies führt für ihn notwendigerweise zu einer Hierarchisierung von Themen, wie früher im Marxismus die Unterscheidung von
Haupt- und Nebenwiderspruch. Daraus resultieren dann auch wieder hierarchische Strukturen und die bekannten Kämpfe um Machtpositionen innerhalb
dieser Hierarchien (ebd: 151). Whitaker und andere VertreterInnen des »Open
Space« betonen die Bedeutung eines offenen Raumes ohne AnführerInnen,
der allen gehört: einem Marktplatz als Raum für Begegnungen, Erfahrungsaustausch und Absprachen, ein Platz, wo sich jeder holt, was er braucht, eine
Ideen-Fabrik oder ein Brutkasten für konkrete Aktionen, die immer lokal, d.h.
dezentral ausgetragen werden müssen (ebd: 151f.). Gemeinsame Aktionen erfolgen demzufolge aufgrund von Affinitäten, sie werden nicht von außen aufgebaut und/oder von oben organisiert.
3. Denken, lenken, handeln? Einige exemplarische Kritikpunkte
am Aufruf von Bamako
Die Veröffentlichung des Aufrufs von Bamako im Januar 2006 erfolgte im Kontext dieses Diskussionsprozesses. Zwei Jahre später ist es um den Aufruf ruhig geworden, auch wenn ihn zu Anfang 21 Organisationen und 121 Einzelpersonen unterzeichneten (Sen et al. 2007: 176-180). Auf dem Forum in Bamako
selbst blieb das Dokument weitgehend unerwähnt. So würde ich mich der Einschätzung einiger TeilnehmerInnen eines Workshops zu dem Thema in Durban/Südafrika im Juli 2006 anschließen: »Es zeigt uns erneut, dass Papiere wie
der Aufruf von Bamako sich letztendlich als völlig irrelevant und unwesentlich
für die Kämpfe der communities in Südafrika und anderswo« erweisen (Barchiesi et al. 2007: 251; eigene Übers.). Und dennoch scheint mir eine kritische
130
Dorothea Härlin
Auseinandersetzung mit diesem Dokument wichtig, denn es finden sich darin
viele Begriffe und Denkmuster, die in linken Debatten nach wie vor eine große
Rolle spielen. Sie knüpfen weitgehend an den Revolutionstheorien des 20. Jahrhunderts an, als seien die realsozialistischen Regierungen und damit ihr Revolutionskonzept, das auf der bloßen Übernahme traditioneller Machtstrukturen
basierte, nicht gescheitert; als hätten sich viele Befreiungsbewegungen in Ländern des Südens nach ihrer Machtübernahme nicht in autoritäre, oft diktatorische Regime verwandelt.
Internationale der sozialen Bewegungen?
Der Entstehungsprozess des Aufrufs von Bamako selbst wirft Zweifel auf, inwieweit es den Autoren um einen dem WSF entsprechenden offenen Diskussionsprozess geht: Eine Gruppe bekannter, betagter, westlich orientierter Intellektueller veröffentlicht am Vorabend eines Forums, das zum ersten Mal auf dem
afrikanischen Kontinent stattfand, eine Gesamtsicht auf diese Welt mit zehn
Vorschlägen zur weltweiten Problemlösung. Ausschließlich Männer schrieben
den Text, kein Wunder, dass sie der Genderproblematik zwar ein Kapitel widmeten, doch die darin gewonnenen Erkenntnisse im gesamten übrigen Papier
keinen Niederschlag fanden (Aufruf: 11), und das, obwohl die Autoren doch
ein Konzept für alle auf diesem Planeten Lebenden entwerfen wollten. Reicht
dazu eine rein maskuline Sichtweise tatsächlich aus? Und wo bliebt die Partizipation, nicht nur der Frauen, auch vieler anderer natürlich? Das alles erinnert
fatal an den Versuch, eine Art »Internationale der sozialen Bewegungen« zu initiieren, ein Unterfangen, das wohl kaum in Einklang gebracht werden kann mit
einem auf Vielfalt basierenden Konzept eines WSF, in dem nach neuen Formen
der Partizipation und Horizontalität gesucht wird und dessen Motto sich inzwischen in Anlehnung an die Zapatisten verändert hat: »Eine andere Welt ist möglich, in der viele Welten Platz finden«.
Doch was zunächst nur aus dem Kontext des Aufrufs von Bamako vermutet werden konnte, ist spätestens seit einer Podiumsdiskussion am 26.1.2008,
dem ersten dezentralen WSF, in Form einer Global Action zur Gewissheit geworden. Auf einem Kolloquium in Paris mit dem Titel »Altermondialisten und
Postaltermondialisten«, organisiert von den Gruppen Utopie critique und Mémoire des Luttes, diskutierten u.a. Bernard Cassen, Ignacio Ramonet, François
Houtard, Walden Bello und Samir Amin ihre Vorstellungen, die in Richtung einer 5. Internationale gehen, die sich offenbar zum ersten Mal Mitte Mai 2008
in Lima (Peru) im Rahmen eines Alternativgipfels treffen soll.4
4
Eine Dokumentation der Veranstaltung gibt es unter www.memoiredesluttes.org/index.php?action=article&numero=20. Siehe auch Amin (2008).
Intellektuelle in Bewegung? Aufruf von Bamako und Weltsozialforum
131
Akademische Avantgarde?
Die Autoren entschuldigen relativierend ihre »veraltete Wortwahl« (Aufruf:
3), doch insbesondere aus dem Munde hochgebildeter Intellektueller erscheint
es unglaubwürdig, dass sie mit ihrer Terminologie nicht das meinen, was Jahrzehnte lang damit gemeint war. Und selbst wenn sie wirklich mangels zeitgemäßer Begriffe hilflos nach den alten greifen, so funktioniert das nicht: So
einfach lassen sich Worte nicht von ihrer Geschichte befreien. Wörter stehen
für Begriffe und die im Aufruf verwendeten sind in theoretische Konzepte der
1950er bis 80er Jahre einzuordnen. Sowohl die Wortwahl als auch der Entstehungsprozess und die Art der Veröffentlichung (vor dem Forum als Wegweiser sozusagen) erscheinen wie ein großer Schritt zurück zur Avantgarderolle
einiger Akademiker.
Auf diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Autoren in Kapital II »Für
eine Reorganisation des Weltwirtschaftssystems« (Aufruf: 6) als wesentliche
Stützen der Veränderungen Arbeitsgruppen von »spezialisierten Forschern«
(Punkt c) nennen und vom »Studium der Kapitalverhältnisse« (d) und von »Fortbildung für Journalisten« (e) sprechen, während AktivistInnen dagegen nur in
Punkt (f) im Zusammenhang mit dem Erarbeiten von Internetseiten für progressive Wirtschaftswissenschaftler eine Erwähnung finden. Ich will die Bedeutung
all dieser Intellektuellen nicht in Abrede stellen, aber gab es auf den Foren nicht
noch andere Menschen?
Ein Subjekt?
Diese Frage führt zu einem zentralen Kritikpunkt: Wer sind die AkteurInnen für
eine andere Welt, von der wir alle träumen? Im Aufruf finden wir dazu »Volksmassen«, »werktätige Klassen« und ein »neues historisches Subjekt« (Aufruf:
4ff.). Selbst die von Negri und Hardt eingeführte »Multitude« (Hardt & Negri
2000) geht in ihren Wortschatz nicht ein. Auch wenn ich selbst diesen Begriff
nicht favorisiere, hat er in der Sprache der Bewegungen doch einen wichtigen
Platz eingenommen und steht geradezu für neue Begrifflichkeiten als Ausdruck
für deren Veränderung.
Wenn sie sich für eine Reorganisierung einer »weltweiten Arbeiterklasse«
(Aufruf: 9) einsetzen, bezweifle ich, dass die Autoren zu diesen »werktätigen
Klassen« auch all die Prekarisierten, Arbeitslosen, im informellen Sektor Arbeitenden – also die Mehrzahl der Menschheit – zählen. Vor allem aber fehlen all
die AkteurInnen, die sich auf den Foren treffen und um die es geht, auch wenn
sie teilweise zu oft stellvertretend durch Mitglieder aus Gewerkschaften, Kirchen und NGOs repräsentiert werden. Ich meine damit all die Menschen aus
sozialen Bewegungen, welche die Eigentumsfrage längst praktisch stellen und
durch verschiedene Formen der Wiederaneignung beantworten, wie z.B. die
132
Dorothea Härlin
argentinische Piqueteros/as, FabrikbesetzerInnnen, LandbesetzerInnen, AktivistInnen einer bereits vielfältigen solidarischen Ökonomie, Widerständische
gegen Genmanipulation, gegen die Privatisierung öffentlicher Güter (z.B. Energie, Wasser, Bildung, Gesundheit, Bahn), gegen zerstörerische Großprojekte
wie etwa Staudämme, gegen Umweltzerstörung wie das Abholzen der Tropenwälder und vieles mehr (s. auch Barchiesi et al.: 249).
Völker als Akteure?
Die Autoren stellen ihren Aufruf in die Tradition von Bandung, einer 1955 zweifelsohne bedeutenden Konferenz von vornehmlich Regierungs- und Parteiangehörigen. Da aber gerade diese Akteure nach den Grundsätzen des WSF von
der Teilnahme ausgeschlossen sind (Whitaker 2007: 23), scheint sich der Aufruf gar nicht so sehr an die TeilnehmerInnen des WSF zu richten. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir in dem Kontext immer wieder von »Nationen und
Völkern« lesen, wie z.B. in Kapitel II: »Unsere Epoche wird von der Durchsetzung der Konkurrenz zwischen Arbeitnehmern (sic!), Nationen und Völkern beherrscht.« (Aufruf: 5) Und wenig später: »Die neoliberale Politik (...) verneint
auch die Selbstbestimmung der Nationen und Völker, die u.a. zur Korrektur
der Ungleichheiten notwendig sind (...) Die im Laufe der Geschichte entstandene Vielfalt der Nationen und Völker erfordert eine Bejahung ihrer Selbstbestimmung.« (Aufruf: 5) Der Nationalstaatsbegriff wird verwendet als habe die
Debatte über die Veränderung des traditionellen Nationalstaats im Kapitalismus in seiner globalisierenden Phase noch gar nicht begonnen. Die Autoren
erwähnen nicht, dass die Kapitalseite längst nationale Grenzen negiert, wo immer es ihr opportun erscheint. Erinnert sei hier an das gescheiterte Multilaterale Investitionsabkommen (MAI)5 und die der gleichen Logik folgenden bilateralen Freihandelsabkommen wie z.B. die European Partnership Agreements
(EPAs).6 Das hat zur Folge, dass dem Staat zunehmend eine bürokratisch-technische Rolle im Interesse der Kapitalverwertung zukommt, und dass Regierungen durch den Ausverkauf öffentlicher Güter und die daraus folgende Privatisierung der elementaren Daseinsvorsorge alles dazu beitragen, um sich als
politische Akteure selbst auszuschalten (Lewkowicz 2004). Dementsprechend
sind es nicht »Völker« und »Nationen«, die dem widerstehen, sondern die von
5
»Multilateral Agreement on Investment«, ein multilaterales Investitionsabkommen,
geplantes Instrument der Vereinheitlichung von Investitionsgrundlagen weltweit mit merkantilen Rechten für Investoren, die über nationale Gesetzgebung hinausgehen sollten.
Es wurde aufgrund internationaler Proteste zurückgenommen.
6
Freihandelsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten, zuletzt verhandelt, in Lissabon 7./8.12.2007.
Intellektuelle in Bewegung? Aufruf von Bamako und Weltsozialforum
133
dieser Politik direkt Betroffenen, die sich über Grenzen hinweg zu Netzwerken zusammenschließen, und gerade für diesen Prozess der Netzwerkbildung
unter Betroffenen sind die WSFs als offener Raum extrem wichtig, da es oftmals nötig ist, die Art und Weise der gemeinsamen Betroffenheit im Diskussionsprozess überhaupt erst zu erkennen.
Im Aufruf von Bamako dagegen spielen »Staaten« und »Völker« eine tragende Rolle bei der Veränderung dieser Welt. Die Kapitalverwertungslogik, die
Betroffenheit quer zu nationalen Grenzen erzeugt, bleibt unerwähnt. Es wird
nicht beachtet, dass das globalisierte Kapital selbst bei unterstellter Gutwilligkeit von Regierungen diese daran hindert, die vielen von den Autoren zusammengetragenen Vorschläge in Form von Gesetzen zu verabschieden und umzusetzen.
Nur ein Beispiel: In Kapitel 5 (Aufruf: 8) zur bäuerlichen Landwirtschaft findet sich keine Erklärung, warum der brasilianische Präsident Lula trotz unterstelltem bestem Willen die Situation der Landlosen und den extremen Hunger in
Brasilien kaum verbessern konnte, während er die Interessen der brasilianischen
Agroindustrie auf dem Weltmarkt zunehmend gut vertritt. Gerade deshalb sind
Treffen wie z.B. die der Landlosen oder Via Campesina auf den WSFs so wichtig, da sie dieser staatsorientierten Politik den eigenen Widerstand entgegensetzen und sich mit Gleichgesinnten und ähnlich Betroffenen vernetzen.
Ordnungspolitik oder Widerstand?
Wie soll dem Aufruf zufolge die »andere Welt« verwirklicht werden? Im 1. Kapitel der Lösungsvorschläge (Aufruf: 6) häufen sich viele harmlose Formulierungen wie z.B.: »müssen wir zurückweisen«, »können wir nicht mehr dulden«,
»gebührenden Platz einräumen«, »müssen die Bewegungen einsehen bzw. sensibilisiert werden«, »sie sollen aufhören«, »verbieten«, »muss beendet werden«,
»sollten wir fördern«, »müssten sie umsetzen« oder »die Staaten müssen (...) garantieren«. Die Autoren sprechen auffallend viel von Gesetzen, staatlichen und
supranationalen Regulierungen bzw. Organisationen und kommen so gut wie
gar nicht auf Aktionen, auf AktivistInnen, auf widerständiges Tun zu sprechen.
Wo bleiben die bolivianischen Indigenas im Kampf ums Wasser, ein José Bové
und seine FreundInnen mit ihren feurigen Methoden gegen die Verbreitung von
genmanipuliertem Saatgut, die indischen Bauern im Widerstand gegen die Patentierung und Zerstörung ihrer Umwelt und all die unzählbaren Menschen auf
der Suche nach einem Leben in Würde? – All jene sind allerdings dann zu vernachlässigen, wenn wir der Logik der Autoren des Bamako-Aufrufs folgend an
einen idealisierten »guten« Nationalstaat appellieren, unsere Forderungen an ihn
delegieren, anstatt uns selbst als verändernde Subjekte zu begreifen.
134
Dorothea Härlin
5. »Ich weiß nicht« – Ohnmacht oder neue Qualität einer horizontalen
Kommunikation?
Der Aufruf von Bamako klingt, als hätten die Autoren an den Foren nicht teilgenommen. Ihr Text hätte an jedem anderen Ort der Welt geschrieben werden
können, am wenigsten jedoch in Mali, sind die Ausführungen zu Afrika doch
ausgesprochen dürftig (Aufruf: 7). Es spiegelt sich hier ein Selbstverständnis
westlich orientierter Wissenschaftler wider, das mir seit längerem Magengrimmen bereitet. Ich machte mich deshalb auf die Suche nach einer alternativen
Herangehensweise.7
Ersten Spuren durfte ich 1996 bei einem Besuch in einem zapatistischen Dorf
nachgehen. An westlichem Lebensstandard gewohnt stellte ich mir die Frage,
was ich diesen ca. 300 BewohnerInnen, die an zwei offenen Feuerstellen, einem
öffentlichen Wasserhahn, einer Latrine im Busch gemeinsam um ein Leben in
Würde kämpfen, sagen könnte. So gut wie nichts. Aber ich konnte ihnen zuhören und viel Neues sehen. So lernte ich in San Andres eine mir bis dato unbekannte direkte Demokratie kennen, mittels derer die Zapatistas ihre Positionen
bei den damals noch laufenden Verhandlungen mit der mexikanischen Regierung bestimmten.
Diese Eindrücke prägen seitdem mein Denken und politisches Handeln.
Und ich konnte dieses Wissen z.B. über zehn Jahre später bei meinem Besuch in kleinen ländlichen Frauengruppen in Kenia einbringen. Dort fühlte ich
mich als weiße Intellektuelle ähnlich beschränkt wie in Chiapas, als ich nach
dem WSF in Nairobi im Januar 2008 von lokalen Frauengruppen am Fuß des
Mount Kenia eingeladen wurde. Die meisten Frauen, auf dem Boden um mich
herumsitzend, während ich den einzigen angebotenen Stuhl nicht ausschlagen
durfte, hatten nach eigenen Aussagen noch nie direkt mit einer Weißen gesprochen. Ich hoffe, ich habe ihre hohen Erwartungen nicht enttäuscht, als ich ihnen von Menschen erzählte, die unter ähnlichen Bedingungen versuchen, ein
Leben in Würde gemeinsam zu gestalten. Mal berichtete ich von meinen Beobachtungen in Chiapas, mal aus der seit 30 Jahren existierenden Kooperative
Cecosesola in Venezuela, mal von den Erwerbsloseninitiativen Movimiento de
tabajadors desocupados (MTD) am Rande von Buenos Aires. Und ich spürte,
dass eigentlich Menschen aus diesen Initiativen an meiner Stelle hätten sitzen
und für sich selber sprechen sollten.
So entstand der Gedanke, sie im Rahmen der G8-Protestcamps im Juni 2007
Rostock zusammenzubringen, sie zu einem Erfahrungsaustausch einzuladen,
7
Auch wenn ich als Studienrätin nicht zur akademischen Spitze gehöre, betätige ich
mich doch weitgehend als Intellektuelle.
Intellektuelle in Bewegung? Aufruf von Bamako und Weltsozialforum
135
gemeinsam mit John Holloway, dessen Buch »Die Welt verändern, ohne die
Macht zu übernehmen« (Holloway 2002) aufgrund hoher Abstraktion nicht immer leicht zu lesen ist, in dem er sich aber auf diese Menschen als handelnde
Subjekte bezieht und wo immer möglich den Austausch mit ihnen sucht.
Der Versuch, Theorie und Praxis dort zusammenzubringen, gelang nur partiell, da vier der Eingeladenen aus den Slums in Kenia kein Visum erhielten und
ein Mexikaner schon in Madrid wieder abgeschoben wurde. Auch ist die Kluft
zwischen »KopfarbeiterInnen« und »LebenskünstlerInnen« nicht immer leicht
zu überwinden und eine ständige Herauforderung. Doch ich bin sicher, Wangui
aus Nairobi und Neka und Silvia aus Buenos Aires werden den im Zelt von Rostock begonnenen Austausch fortsetzen, so wie viele andere BesucherInnen dieses
ganztägigen Workshops aus über 20 Ländern (Reader 2007: 12 und 14).
Die weltweiten Foren wie das WSF bieten dazu andere, vielfältige Anknüpfungspunkte und Chancen des Kennenlernens, vorausgesetzt, dass wir aus dem
Norden uns um finanzielle Mittel bemühen für Menschen aus Slums, Marginalisierte oder MigrantInnen, und auch vorausgesetzt, dass wir die Kunst des Zuhörens beherrschen bzw. wieder erlernen, und ferner vorausgesetzt, dass wir
bereit sind, unseren eigenen wissenschaftlichen Ansatz kritisch zu hinterfragen,
wie z.B. Boaventura de Sousa Santos in seinen Reflexionen zum WSF (Santos
2006). Er kritisiert das »westliche Wissen« als Monokultur, die auf Effektivität und Exaktheit basiert, auf einer linearen Zeitauffassung, auf Klassifizierung,
den Blick immer auf das Universelle gerichtet.
Es ist ein Wissen, das sich verschließt vor dem Zurkenntnisnehmen all dessen, was nicht in jene wissenschaftlichen Analysen passt, die keine Asymmetrie kennen und damit alles Andere als rückständig, unterentwickelt, überflüssig oder gar nicht existent abqualifizieren. Santos setzt dagegen die »Soziologie
des Verschwiegenen« (Santos 2006: 144), die Begrenzungen aufbricht, andere
Logiken zulässt und den Prozesscharakter in die Erkenntnistheorie mit einbezieht. Santos’ Soziologie entfernt sich damit von objektivierenden Analysen,
erkennt uns als agierende Subjekte, die sich der wild sprießenden Realität zu
nähern versuchen: »Die Aufgabe der Soziologie des Verschwiegenen ist es somit, unmögliche Objekte in mögliche und nicht sichtbare in sichtbare zu verwandeln.« (Santos 2006: 144)
Es ist keine leichte Aufgabe, die uns vertrauten Pfade zu verlassen und so jene
Erwartungen zu enttäuschen, die an linke AkademikerInnen häufig gestellt werden, nämlich das Aufzeigen neuer Wege oder gar Lösungen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Basis gesellschaftlicher Veränderung aktives, verändertes
Handeln von Menschen ist, also weit mehr als intelligente Analysen, progressive Parteiprogramme und motivierende politische Fensterreden, wäre es dann
nicht die Aufgabe derjenigen, die den Luxus genießen für das Nachdenken be-
136
Dorothea Härlin
zahlt zu werden, genauer hinzusehen und das Erfahrungswissen der Handelnden überhaupt erst mal (systematisch) zur Kenntnis zu nehmen?
Das Eingeständnis unseres »Nicht Wissens« um die Zukunft, gerade auch
aus dem Mund von Intellektuellen, würde meiner Meinung nach den Weg öffnen zur gemeinsamen Suche nach einer schon existierenden anderen Welt mit
einer neuen Vielfalt von Methoden und Erkenntnissen.
Jede neue Gesellschaft entsteht in den Zwischenräumen der alten. Aufgabe
auch von Akademikern wäre es meines Erachtens deshalb, Widerstände wahrzunehmen und sichtbar zu machen, andere schon existierende Welten aus ihrer angeblichen Nicht-Existenz zu reißen, Austausch untereinander zu ermöglichen und damit uns allen Mut zu machen, schon jetzt und heute etwas zu
verändern.
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3. Institutionalisierung
und Professionalisierung
Dario Azzellini
Von der repressiven zur partizipativen
und protagonistischen Demokratie
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
Die repressive Demokratie
Bis zum »Caracazo«, dem Aufstand gegen die neoliberale Strukturpolitik 1989,
wurde Venezuela als eine der Vorzeigedemokratien Lateinamerikas gehandelt.
Die Kriterien, die in liberalen Analysen als Indikatoren für stabile Demokratien
gelten – regelmäßige Wahlen, möglicher Wechsel der Parteien an der Macht,
Respektierung gewisser Bürgerrechte usw. – wurden als erfüllt angesehen (Ellner 2003: 19). Tatsächlich handelte es sich um ein »populistisches System der
Elitenversöhnung« (Rey 1991: 532), in dem sich zwei Parteien – die formal sozialdemokratische Acción Democrática (AD) und die christlich-soziale Copei
(Comité de organización política electoral independiente) – die Macht aufteilten. Sie okkupierten den gesamten institutionellen Raum der Interaktion mit
dem Staat und das gesellschaftliche Leben bis zur Machtübernahme von Hugo
Chávez 1999 (García-Guadilla 2003: 231; Medina 2001: 63).
Kurz vor dem Sturz der Diktatur von Marcos Pérez Jímenez im Januar 1958
unterzeichneten die drei bürgerlichen Parteien AD, Copei und die liberale Unión
Republicana Democrática, URD (die Anfang der 1960er Jahre den Pakt aufkündigte und bald in der Bedeutungslosigkeit versank), den »Pakt von Punto Fijo«
als Übereinkunft zur Herstellung der Gouvernabilität im Rahmen einer repräsentativen Demokratie und zusätzlich ein gemeinsames Minimalprogramm. Die
Linke, die eine bedeutende Rolle im Kampf gegen die Diktatur gespielt hatte,
wurde marginalisiert. In den folgenden Jahren wurde daraus ein System informeller und institutionalisierter Absprachen, die neben AD und Copei auch vier
weitere zentrale gesellschaftliche Akteure vereinten: Unternehmer, Militärführung, der von AD kontrollierte Gewerkschaftsdachverband und Kirche – die
Kräfte, die ein formaldemokratisches System im Dienste der US-Interessen,
der transnationalen Konzerne (vor allem Erdöl) und der venezolanischen Bourgeoisie garantierten (Bonilla-Molina/El Troudi 2004: 34ff.).
Allen sich unterordnenden Kräften wurde Zugang zu Ressourcen und Anerkennung zugestanden, alle anderen wurden davon ausgeschlossen. Für die Kanalisierung jeglicher Forderungen jedweder Art war das dichte Netz an korpo-
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
141
rativen und klientelistischen Strukturen zuständig. Protest auf der Straße wurde
bis 1998 mit brutaler Repression begegnet, die immer wieder zahlreiche Tote
forderte (López Maya 2003: 217).
Der Niedergang des Punto-Fijo-Systems begann spätestens Anfang der 1980er
Jahre. Die Legitimationskrise drückte sich zunächst in wachsender Wahlenthaltung aus1 und ab 1993 im Zerfall von AD und Copei. Sich ihrer schwindenden
Macht bewusst, versuchten diese ab den frühen 1980er Jahren, ihre Basis auszuweiten, indem sie Teile der europäischstämmigen und der neu aufgestiegenen
Mittelschicht in die klientelistischen Beziehungen integrierten, was als »Öffnung zur Zivilgesellschaft« bezeichnet wurde. Mit dieser Festschreibung der
Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit wuchs der Legitimitätsverlust des
Staates. Daher forderten die armen Schichten (etwa 80% der Bevölkerung) direkten Protagonismus und »konstituierende Macht«, also selbst die schöpfende
und gestaltende Kraft zu sein (Denis 2001: 64ff.).
1988 wurde Carlos Andrés Pérez von AD, der einen neuen Wirtschaftsboom
versprach, zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Während seiner Amtseinführung kündigte er ein drastisches Strukturanpassungsprogramm nach IWFVorgaben an. Die Maßnahmen ließen die Inflation auf über 80% hochschnellen
und führten zu einem Minuswachstum des BIP von 8,3% (Bonilla-Molina/El
Troudi 2006: 92ff.).
Die antineoliberale Revolte Caracazo
Inflation, Versorgungsengpässe und eine hohe Teuerungsrate hatten seit Ende
1988 zu einer rapiden Verschlechterung der Lebensumstände der Bevölkerungsmehrheit geführt. Am 16. Februar 1989 kündigte Carlos Andrés Pérez an, Subventionen und Preiskontrollen für zahlreiche öffentliche Dienstleistungen und
Waren aufzuheben. Aufgrund einer drastischen Preiserhöhung beim Personentransport kam es am 27. Februar zu spontanen Aufständen in Caracas, hunderttausende Menschen zogen aus den Armenvierteln plündernd in die Innenstadt.
Einen Tag später weitete sich die Revolte auf viele weitere Städte des Landes
1
Bei den Präsidentschaftswahlen – die traditionell stets eine Wahlbeteiligung aufweisen, die bis zu dreimal so hoch ist wie bei anderen Wahlen – betrug die Wahlenthaltung 1973 noch 3,48%; 1978 und 1983 respektive 12,45 und 12,25%; 1988 18,08%
und 1993 39,84%, bei den Regional- und Kommunalwahlen betrug die Wahlenthaltung
1979 27,1%; 1984 40,7%; 1989 54,9; 1992 50,7%; zusätzlich ist anzumerken, dass mit
den Jahren auch der Anteil der ins Wahlregister eingeschriebenen Bevölkerung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung stetig sank; CNE 2006.
142
Dario Azzellini
aus. Am Nachmittag des 28. Februars wurde der Notstand ausgerufen und eine
Ausgangssperre verhängt. In den folgenden Tagen schlug die Armee und Nationalgarde den Aufstand nieder. Dabei wurden offiziell 380 Menschen getötet,
Menschenrechtsorganisationen und nicht-staatliche Quellen sprechen von 3.000
bis 10.000 Toten (Bonilla-Molina/El Troudi 2006: 103; Denis 2001: 16).
Der Caracazo war eine »Hungerrevolte« gegen die vom Neoliberalismus
durchgesetzten Lebensbedingungen. So spiegelten sich in ihm auch die neosozialdarwinistischen Prinzipien wider, die vom neoliberalen Paradigma auf soziokultureller Ebene propagiert werden. Die Plünderungen und Ausschreitungen
hatten zunächst keine konkrete Form und schienen ziellos (López Maya 2003:
213). Doch in ihrem Verlauf wurde die Revolte zunehmend organisierter und
entwickelte kollektive und solidarische Vorgehensweisen. Es entstand ein Bewusstsein in der Bevölkerung über die eigene transformatorische Kraft. Daher gilt der Caracazo als konstituierend für die Bewegungen, die im Bolivarianischen Prozess münden.
In großer Übereinstimmung nehmen die Bevölkerung Venezuelas und zahlreiche AutorInnen das Jahr 1989 als eine Bruchstelle in der Geschichte Venezuelas wahr (Ellner 2003: 19). Mit Bezug auf Foucaults Konzept der »effektiven Geschichte« erklärt Reinaldo Iturriza (2007: 5): »Wenn der 27F (27.
Februar) in irgendeinem Verwandtschaftsverhältnis mit dem Juni 1848, der Pariser Kommune, dem französischen Mai oder dem argentinischen Cordobazo
steht, ist es im Sinne von Ereignissen, die dadurch, dass sie die existierenden
Kräfteverhältnisse drastisch verändert haben, den Lauf der geschichtlichen Ereignisse änderten.«
Die klandestine linke Organisierung innerhalb der Armee erhielt durch den
Caracazo einen großen Schub und die Anfang der 1980er um Chávez und anderen entstandene »Revolutionäre Bolivarianische Bewegung 200« avancierte zur
stärksten Organisation innerhalb der Armee. Der eigentlich für das Jahr 2000
geplante zivilmilitärische Putsch wurde angesichts der sich verschärfenden Repression und Krise auf 1992 vorgezogen. Am 4. Februar 1992 scheiterten Chávez
und seine Genossen zwar militärisch, ebenso wie bei einem weiteren Umsturzversuch mit noch stärkerer ziviler Beteiligung im November 1992, doch Chàvez
wurde – mit einer Rede im Fernsehen – zu einem Hoffnungsträger, zum Symbol
für den Wunsch nach Veränderung. Soziale Bewegungen, Proteste, auch gewaltsame, nahmen im Verlauf der 1990er Jahre weiter zu. Nach der Amnestierung
1994 widmeten sich Chávez und die anderen Angehörigen der MBR-200 dem
Aufbau von MBR als in Zirkeln organisierte Massenorganisation, die zunächst
die Beteilung an Wahlen als Mechanismus des politischen Wachstums ablehnte.
1997 wurde schließlich beschlossen, an den Wahlen teilzunehmen.
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
143
Der Bolivarianismus: die historische Strömung für den Wechsel
Präsident Hugo Chávez bezieht sich in Reden auf Einflüsse, die von Jesus über
Simón Bolívar, Antonio Gramsci, Leo Trotzki und Mao Zedong bis zum italienischen Philosophen Antonio Negri reichen. Was wie ein wirrer ideologischer
Mix erscheint, ist die Vielfalt politischer, sozialer, kultureller und religiöser
Ansätze, aus denen sich der Bolivarianismus speist. Dieser hat keinen klar definierten theoretischen Rahmen oder ein Programm, sondern ist vielmehr ein
»work in progress«. Bonilla-Molina und El Troudi bezeichnen die Kräfte des
Bolivarianischen Prozesses daher insgesamt als »historische Strömung für den
Wechsel« (2004: 104). Zu ihr gehören verschiedenste linke und emanzipatorische Ansätze der vergangenen Jahrzehnte. Ab 2005 ist – in Abgrenzung zum
Staatssozialismus sowjetischen Typs – vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts
die Rede, der »demokratisch und partizipativ« sein müsse.
Die Grundidee des Bolivarianismus liegt in der Kritik an der simplen Übertragung revolutionärer Erfahrungen aus anderen Ländern sowie am Autoritarismus der Kommunistischen Parteien und im Anknüpfen an die lokalen, regionalen, nationalen und kontinentalen Erfahrungen emanzipatorischer Kämpfe.
Zentral sind der Bezug auf Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora sowie auf die Widerstandserfahrungen der indigenen und afrovenezolanischen Bevölkerung.2 Dieser Bezug mit revolutionärer Auslegung wurde erstmals 1965 von der Guerilla Partido Revolucionario Venezolano (PRV) vertreten,
einer Abspaltung von der venezolanischen KP. Nach und nach wurde das Konzept auch von sozialen Bewegungen und politischen Organisationen sowie von
den progressiven Strömungen innerhalb der Armee aufgenommen. Von verschiedenen klandestinen Organisationen im Militär setzte sich im Laufe der 1980er
Jahre das von Chávez und anderen 1982 gegründete Movimiento Bolivariano
Revolucionario 200 (MBR-200) durch.
Das MBR-200 entwickelte ausführliche ideologische und programmatische
Grundlagen sowie organisatorische, taktische und strategische Orientierungen
(López Maya 1996: 145). MBR-200 war von Anfang an als zivil-militärische
Organisation konzipiert, militärisches Sektierertum wurde stets abgelehnt und
2
Simón Rodríguez (1769-1854), Philosoph, Frühsozialist und Lehrer Simón Bolívars
steht für die Bedeutung der Volksbildung und die Suche nach eigenen sozialen und politischen Organisationsformen. Simón Bolívar (1783-1830) steht für die Unabhängigkeit
und Souveränität sowie für das Projekt der kontinentalen Befreiung und Integration. Und
Ezequiel Zamora (1817-1860), Bauerngeneral aus dem Föderationskrieg, steht für die
Wichtigkeit des Kampfes – über die Unabhängigkeit hinaus – für eine gerechte und demokratische Gesellschaft. Er führte diverse Bauernaufstände unter den Losungen »Freies
Land und freie Menschen« und »Horror der Oligarchie« an (López Maya 1996: 146).
144
Dario Azzellini
der demokratische Charakter der Bewegung unterstrichen. Die sozialen Bewegungen und verschiedenen Basisorganisationen wurden als unabhängige Kräfte
angesehen, die gemeinsam mit MBR-200 eine große »Bolivarianische Front«
bilden sollten (Bonilla-Molina/El Troudi 2004: 78). Entsprechend waren zivile
Organisationen an den beiden Militärrebellionen im Februar und November
1992 beteiligt. Beide scheiterten, doch Chávez, der die erste anführte und die
Verantwortung für ihr Scheitern übernahm, wurde zur Symbolfigur.
Das MBR-200 lehnte die Stärkung und Konsolidierung der eigenen Organisation mittels Wahlen und institutioneller Mitarbeit ab. Die Ablehnung war
aber nicht grundsätzlich, vielmehr will das MBR-200 »im richtigen Moment
die Welle reiten«, um die Regierungsmacht auf einmal zu übernehmen und Änderungen durchzuführen (López Maya 1996: 146-151).
Eine systematisierte Darstellung der Einflüsse auf den Bolivarianismus findet sich bei Denis (2007). Dieser teilt sie in drei grobe Kategorien:
»1. Zweig der historisch-sozialen Strömungen:
■ Strömungen des kritischen Marxismus: Unter uns theoretisch entwickelt durch
den Guevarismus, Mariateguismus, der europäischen Rätebewegung, Historizismus und Autonomiebewegung (Pannekoek-Gramsci-Negri, etc.) und der
Entstehung der autonomen Basisbewegung auf Arbeiter- und Volksebene.
■ Strömungen der Befreiungstheologie: Von Gustavo Gutiérrez, Frei Beto als
ursprüngliche Theoretiker, bis zur Entwicklung aller christlichen Basisbewegungen und -kollektive, Integration mit Guerillabewegungen.
■ Strömungen des revolutionären Nationalismus: konzentriert auf die Wiedergeburt des national-populären-revolutionären Denkens, vornehmlich inspiriert durch Bolívar und Martí, die kubanische und sandinistische Revolution
sowie die nationalen Befreiungsbewegungen.
■ Strömungen des indigenen Widerstandes: Die älteste davon beginnt ab den
sechziger Jahren ihren Platz zu haben; Bedeutung der ›antizivilisatorischen‹
Autoren wie Darcy Ribeiro, indigene Aufstandsbewegungen – vor allem in
Kolumbien –, Entstehung der großen Organisationen des indigenen Widerstandes (Ecuador, Chile, Mexiko, Bolivien).
■ Strömungen des schwarzen Widerstandes: Zu Beginn breiten sie sich in den
USA aus, später dehnen sie sich auf Brasilien und die Karibik aus und finden bürgerrechtlichen und gewalttätigen Ausdruck; theoretische Inspirationen durch Autoren wie den aus Martinique stammenden Aimé Cesaire.
2. Der Zweig des Aufstandes
■ Studentische Rebellion von 1987, Volksaufstand vom 27. Februar 1989: In
Venezuela entsteht die gesellschaftliche antisystemische und antineoliberale
Subversion.
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
145
■
Rebellion des 4. Februar und 7. November 1992: Die bolivarianische militärische Aufstandsbewegung tritt an die Öffentlichkeit; erste Erscheinungen
der zivil-militärischen Integration für den Aufstand.
3. Der prophetische Zweig (nach Walter Benjamin sind es die gesellschaftspolitischen Ereignisse, die die dominante Geschichte brechen und zugleich geschichtliche Prozesse der Befreiung vorzeichnen)
■ Aufstands- und Guerillabewegung der 60er und 70er Jahre: Einziger auf dem
gesamten nationalen Territorium generalisierter revolutionärer Krieg des 20.
Jahrhunderts.
■ Kulturkongress von Cabimas 1973: Es eröffnet sich der Blick auf kulturelle
Widerstandsformen als integraler Bestandteil eines jeden revolutionären Prozesses.
■ Erste Ausdrücke von Arbeiterräten und revolutionärer Gewerkschaftsarbeit,
Streik in der Textilproduktion in den 80er Jahren, erste Versuche in Sidor
und Alcasa, Arbeiterräte zu bilden, revolutionärer Syndikalismus in Aragua
und Carabobo u.a.
■ Nationaler Studierendenkongress (Mérida 1985): Grundlagentreffen für die
studentische Rebellion der 80er Jahre.
■ Wiedergeburt der bäuerlichen Bewegungen: Landbesetzungen in Yaracuy
1987.
■ Stadtteilversammlung (Caracas) 1991-1993: Beginn der Volksversammlungspraxis und Verbreitung der Prinzipien der Demokratie der Straße.
■ Pädagogische Bewegung: Entstehung im Land einer libertären Pädagogik
auf der Grundlage der Wissensdemokratie, 90er Jahre; Höhepunkt: Konstituierender Bildungskongress (2000-2001).
■ Konstituierender Basisprozess: Konstitutive Entwicklung der Volksmacht
und der konstituierenden Kräfte der Basis (1995-...).
■ Wahlkampagne und -sieg von Hugo Chávez (1998): Der historische Faden
von Punto Fijo wird durchschnitten.
■ Verfassungsgebende Versammlung: Erste konstitutionelle Konkretisierung
einer partizipativen und protagonistischen Demokratie (1999), Entstehung
der V. Republik.«
Die bolivarianische Verfassung und die neue Sozialpolitik
Ein breites Bündnis aus linken Parteien und Basisorganisationen unterstützte
die Präsidentschaftskandidatur von Hugo Chávez, auf den im Dezember 1998
bei 36,54% Wahlenthaltung 56,2% der Stimmen entfielen (CNE 2006). Während der ersten zwei Amtsjahre gab es für die Armen materiell kaum Gründe,
146
Dario Azzellini
ihn weiter zu unterstützen. Entscheidend war aber das Gefühl der Armen und
Marginalisierten, als Personen anerkannt zu werden. Dafür war vor allem der
Diskurs von Chávez entscheidend, der ein ständiges Empowerment der Armen vornahm. Er definierte immer wieder öffentlich die soziale Absicherung
als Pflicht des Staates und die Verpflichtung der Institutionen, für die Bevölkerung da zu sein, erläuterte in öffentlichen Ansprachen die Rechte, die den Menschen zustehen und definierte die Probleme der sozial benachteiligten Bevölkerung als zentral zu lösende Aufgabe. Zugleich drückte er immer wieder sein
Vertrauen in die Bevölkerung aus. Dem folgten auch politische Umsetzungen
dieser Ansätze.
Das in Unterdrückungsverhältnissen häufig vorhandene Gefühl der eigenen
Minderwertigkeit und Unfähigkeit wurde umgekehrt. »Die Bolivarianische Revolution hat es vielen Leuten erlaubt zu sehen, dass es möglich ist, den Prozess,
mittels dessen das Opfer des Ausschlusses selbst zur Reproduktion des Stigmas
tendiert, umzukehren.« (Medina 2001: 48f.)
Eine zentrale konstituierende Rolle spielte hierbei die Ausarbeitung einer
neuen Verfassung. Durch den Vertrauensverlust der Parteien sahen soziale wie
auch politische Akteure die sozialen Organisationen als »privilegiertes Subjekt
und Raum« (García-Guadilla 2003: 240), um eine neue Verfassung zu erarbeiten. NGOs und soziale Organisationen nahmen über Workshops, Kommissionen und runde Tische direkt an der Arbeit der gewählten verfassungsgebenden
Versammlung Teil, diskutierten und reichten Vorschläge ein. Die runden Tische
waren von großer Heterogenität, an ihnen nahmen Menschenrechts-, FrauenUmwelt-, Indigena-, Basis-, Stadtteilorganisationen und viele andere teil. Die
Hälfte der 624 Vorschläge, die sie machten, wurde in die neue Verfassung aufgenommen (ebd.: 240).
Die Verfassung legt soziale Bürgerrechte (social citizenship) und die soziale Gleichheit als Ziele der Gesellschaftsordnung fest und definiert den Staat
als Garanten dieser Rechte. Über den Ausbau von Sozialmaßnahmen, kostenlose Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Kleinkreditwesen, Landumverteilung u.a. soll eine egalitärere soziale und ökonomische Partizipation der
marginalisierten Schichten ausgeweitet werden (RBV 1999).
Das Fundament der neuen bolivarianischen Verfassung ist – in Abgrenzung
zur repräsentativen Demokratie – die partizipative und protagonistische Demokratie. Der Staat wird als partizipativer Raum verstanden, in dem die Bevölkerung mittels diverser Instrumente das öffentliche Leben mitgestaltet und seine
Institutionen kontrolliert. Dank des neuen Verhältnisses zwischen Staat und sozialen Bewegungen und Organisationen, das die Verfassung formulierte, konnten
letztere in den vergangenen Jahren zahlreiche Projekte präsentieren und durchführen und an den öffentlichen Debatten über gesellschaftliche Veränderungen
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
147
teilnehmen. Sie verwandelten sich so von sozialen in sozial-politische Akteure
(García-Guadilla 2003: 233).
Im Dezember 1999 wurde die neue Verfassung in einem Referendum mit
71,78% der abgegebenen Stimmen angenommen. In Wahlen gemäß der neuen
Verfassung wurde Chávez 2000 mit 59,76% erneut zum Präsidenten gewählt
(CNE 2006). Mit Verabschiedung der ersten Gesetze zur Umsetzung der Verfassung 2001 begann die massive Mobilisierung der Opposition, um die Regierung zu stürzen und die Errungenschaften rückgängig zu machen. Sowohl beim
Putsch vom 11. April 2002 wie auch im Falle des »Streiks« der Unternehmer,
verbunden mit Arbeitsniederlegungen und Sabotageakten vornehmlich höherer
Angestellter im staatlichen Erdölunternehmen (der wichtigsten Einnahmequelle
des Landes) im Dezember 2002/Januar 2003, konnte nur die massive Eigenmobilisierung der Bevölkerung in Verbindung mit loyalen Militärs das Zurückdrehen des Rads der Geschichte verhindern.
Ab Mitte 2003 begannen die Sozialprogramme (»Missionen«). Sie entstanden als eigenständige Institutionen und versuchen, auch die Selbstorganisation
der Bevölkerung und die Partizipation zu fördern. Die ersten »misiones« sind in
den Bereichen größter Dringlichkeit angesiedelt: Gesundheit, Bildung, Ernährung und Wohnraum. Es wurde ein allgemeines und kostenloses Gesundheitssystem aufgebaut. Die »Misión Robinson I« alphabetisierte 2004-2005 fast 1,5
Millionen Menschen, weitere »misiones« decken alle schulischen Etappen ab
und auch ein neues Hochschulsystem wurde geschaffen, in dem der Zugang zu
universitärer Bildung für aktuell 350.000 Studierende in fast dem ganzen Land
ermöglicht wurde (das gesamte alte öffentliche Hochschulsystem hat 440.000
Studierende) (Azzellini 2007b: 125-175).
Die Kommunalen Räte
Die Präsidentschaftswahlen am 3. Dezember 2006 gewann Chávez mit 62,84%
(bei 74,69% Wahlbeteiligung) gegen 36,9% für seinen Kontrahenten Manuel Rosales (CNE 2007). Mit Beginn der neuen Amtszeit wurden Partizipationsmöglichkeiten und Rätestrukturen gestärkt, ausgeweitet und neu eingeführt. Zentral
und am weitesten fortgeschritten sind die Kommunalen Räte (Consejos Comunales, CC). Viel unternommen wurde auch zur Demokratisierung der Produktion, ein Prozess, der keinesfalls harmonisch verläuft. Zusammenfassend lässt
sich feststellen, dass eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen umgesetzt wurde,
um strukturelle Veränderungen in der Ökonomie sowie die Demokratisierung
der Besitz-, Arbeits- und Produktionsverhältnisse voranzutreiben. Einige davon
zielten auch auf die Überwindung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse
148
Dario Azzellini
und die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, andere hingegen
auf eine bloße Demokratisierung kapitalistischer Arbeitsverhältnisse (Azzellini
2007a). Die Rätestrukturen in verschiedenen Gesellschaftssektoren sollen die
Grundlage des venezolanischen Sozialismus bilden, sie sollen zusammenarbeiten und auf höherer Ebene konföderieren, um so den bürgerlichen Staat durch
einen »kommunalen Staat« abzulösen.3
Der Aufbau der Kommunalen Räte begann ab Mitte 2005, ein entsprechendes
Gesetz wurde im April 2006 verabschiedet. »Der Kommunale Rat ist die fortgeschrittenste Organisationsform, die sich die Nachbarn einer gewissen Gemeinde geben können, um die wirkliche Ausübung der Volksmacht zu übernehmen, also um die Entscheidungen der Gemeinschaft in die Praxis umzusetzen.
Darüber hinaus ist es die grundlegende Instanz der Planung, in der das Volk die
öffentlichen Politiken formuliert, ausführt, kontrolliert und evaluiert. So umfasst er die unterschiedlichen organisierten Ausdrücke der Basisbewegungen.«
(Gobierno de Venezuela 2006)
Die CC werden in urbanen Gebieten in Einzugsbereichen von 200 bis 400,
in ländlichen Gegenden von 20 und in indigenen Regionen von zehn Familien
gebildet. Die Basis des CC und das Organ, in dem die Entscheidungen getroffen werden, ist die Bürger- und Bürgerinnenversammlung. In das Exekutivorgan werden ein Sprecher oder eine Sprecherin aus jeder Arbeitsgruppe bzw. jedem Komitee vor Ort gewählt. Gewählt werden zudem auch fünf Mitglieder
für eine Finanzkommission (Unidad de Gestión Financiera) und fünf der Kontrollkommission (Unidad de Contraloría Social), die nicht gleichzeitig SprecherInnen anderer Kommissionen sein dürfen. Sie alle können keine Entscheidungen treffen, bleiben zwei Jahre im Amt, können wiedergewählt, aber auch
jederzeit abgewählt werden. Sie nehmen sich der Planung und Gestaltung der
organisierten Partizipation der Gemeinde an. Das Finanzkomitee verwaltet die
Ressourcen (und die Kommunalbank, mittels derer die Versammlung Kredite
3
Im Rahmen der Verfassungsreform, die in einem Referendum am 2. Dezember 2007
mit knapper Mehrheit und nur 55% Wahlbeteiligung abgelehnt wurde, war vorgesehen,
die verschiedenen »Räte der Volksmacht« (Kommunale Räte, Arbeiter- und Arbeiterinnenräte, Studierendenräte, Bauern- und Bäuerinnenräte, Frauenräte u.v.m.), die demokratische Verwaltung durch Arbeiter und Arbeiterinnen jedweder Unternehmen direkten oder indirekten gesellschaftlichen Eigentums und zahlreiche andere kommunale und
kollektive Institutionen als Partizipationsinstrumente im Artikel 70 zu verankern und
die Entscheidungen der »Bürger- und Bürgerinnenversammlung« in ihrem Territorium
als verbindlich festzulegen, solange sie nicht der Verfassung und den geltenden Gesetze
widersprechen. Die »Räte der Volksmacht« sollten gemäß Artikel 136 die »Gemeinden,
Bezirke und Städte in Selbstverwaltung übernehmen« (AN 2007).
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
149
zu günstigen Konditionen für Projekte vor Ort vergeben kann). Die Contraloría
Social überprüft die Finanzen.
Die Arbeit in den CC ist auf allen Ebenen ehrenamtlich. Welche Komitees
dem Rat angehören, was je nach lokalen Bedürfnissen unterschiedlich sein
kann, entscheidet die Versammlung. Dazu gehören z.B. das Gesundheitskomitee, die Wasserkomitees (die mit den Wasserwerken die Trink- und Abwasserversorgung planen), die urbanen Landkomitees, Komitees für Umwelt, Kultur,
Sport, Jugend, Großeltern, Basisökonomie, Bildung, soziale Entwicklung und
Ernährung, Wohnung, Infrastruktur und Habitat, Konfliktlösung (Friedensrichter), Sicherheit und Verteidigung oder andere.
Als erster Schritt organisiert ein freiwilliges Promotoren-Team mit Unterstützung der Präsidentschaftskommission für Volksmacht (Comisión Presidencial del Poder Popular, die über eine nationale un regionale Kommission verfügt) eine Bürger- und Bürgerinnenversammlung, auf der das Territorium der
Community festgelegt und die offizielle Promotorenkommission und die Wahlkommission gewählt werden. Die Promotorenkommission informiert die Basis
über Sinn und Ziele der CC. Die Wahlkommission organisiert die Wahl der Organe des CC. Die Mindestwahlbeteiligung muss 20% der Gemeindemitglieder
über 15 Jahre betragen. Die indigenen Gemeinden wählen gemäß ihrer Sitten,
Gebräuche und Traditionen.
Die Nationale Präsidentschaftskommission für Volksmacht wird vom Präsidenten ernannt und soll die Entwicklung der CC auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene orientieren, koordinieren und evaluieren, den Impuls der Volksmacht im Rahmen der partizipativen und protagonistischen Demokratie und die
endogene Entwicklung stärken, die Projekte der CC sammeln und die zu ihrer
Umsetzung notwendige technische, finanzielle und nicht-finanzielle Unterstützung gemäß der im Nationalen Fond für die CC vorhandenen Ressourcen kanalisieren. Sie ernennt zudem die regionalen Präsidentschaftskommissionen, die
sich alle mit der Sonderkommission der Nationalversammlung zur Evaluierung
des Aufbaus und der Arbeitsweise der CC koordinieren.
Sobald der CC konstituiert wurde, beginnt er mit einer sozioökonomischen
Analyse des Territoriums, um Prioritäten auszumachen und mit allen Komitees
einen gemeinsamen Arbeitsplan mit den kommunalen Projekten zu definieren,
der von der Versammlung genehmigt werden muss.
Die CC bekommen ihre Ressourcen direkt von verschiedenen Institutionen:
vom Zentralstaat, den Bundesstaaten und den Bezirken, über den Interregierungsfonds für Dezentralisierung (FIDES) und infolge des »Gesetzes für ökonomische Sonderzuteilungen, aus den Minen und fossilen Brennstoffen« (LAEE)
und aus der Verwaltung der Öffentlichen Dienste. Alle Finanzentscheidungen
müssen von der Versammlung genehmigt werden. Die Kontrollkommission und
150
Dario Azzellini
die Mitglieder der Gemeinde müssen jederzeit Zugang zu allen Finanzunterlagen haben. Nach Angaben des Ministeriums für Partizipation und Soziale Entwicklung (Minpades) bestanden Ende 2007 über 30.000 kommunale Räte im
Land, die Projekte im Gesamtwert von sechs Billionen Bolívar (ca. 2,5 Milliarden Dollar zum offiziellen Umtauschkurs) ausführen.
Angesichts der unterschiedlichen historischen Erfahrungen sowie dem unterschiedlichen Grad an Aktivismus, Bildung und Zugang zu Informationen,
unterscheiden sich die CC. Vor allem am Anfang bildeten sich zahlreiche CC
ohne eine breite Beteiligung der Community. Dies veränderte sich mit der
Zeit. Der Großteil der Erfahrungen scheint sehr positiv zu sein. Neben der effektiven Wahrnehmung der eigenen Interessen durch die Basis sind vor allem
zwei Punkte hervorzuheben:
1. Speziell in stark marginalisierten Gegenden ist die Mehrheit der Aktiven
weiblich und nahezu alle verfügen über keine soziale oder politische Organisierungserfahrung vor 1998 (meist sogar bis zum Putsch von 2002) und hatten
vorher nicht einmal an Wahlen teilgenommen.
2. In den CC ist eine Partizipation der so genannten Ni-Ni’s (so werden die
genannt, die sich weder – »ni« – bei Chávez noch bei der Opposition verorten)
zu beobachten, die nicht an anderen Organisierungsansätzen teilnahmen, wie
den bolivarianischen Zirkeln u.a., deren Orientierung die Unterstützung des bolivarianischen Prozesses war. Nach meiner Beobachtung werden diese z.T. auch
als Sprecher gewählt (selbst dort, wo Chávez 55-70% der Stimmen erhält). Auch
in Mittelschichtsgebieten werden CC konstituiert. Die Beteiligung von eisernen
Oppositionellen ist jedoch fast inexistent, was aber nicht überrascht. Da sie gegen Volksmacht sind, ist es nur logisch, dass sie sich nicht an ihrem Aufbau beteiligen. Vereinzelt gibt es jedoch auch mehrheitlich oppositionelle CC.
Widersprüchlich ist allerdings die Präsidentschaftskommission, deren Ernennung offensichtlich weder demokratisch ist noch von der Basis ausgeht. Dennoch hat sie fraglos Räume für die Basis geöffnet und möglich gemacht, was
mit den CLPPs nicht geschafft wurde und was auf anderem Wege wohl in den
bürokratischen Netzen parteilicher und institutioneller Interessen verfangen
wäre. Die Zusammensetzung der Kommission aber erscheint problematisch,
bisher stammt nur eines der etwa zehn Mitglieder aus den CC.
Es ist auch nicht klar, ob und von wem Projekte der CC abgelehnt werden
können. Das Statut der Präsidentschaftskommission erteilt ihr dieses Recht nicht
und bisher war auch nichts von Ablehnungen zu erfahren.
Die abgelehnte Verfassungsreform sah zudem die Möglichkeit vor, dass sich
mehrere CC zu einer »Comuna« (Kommune) zusammenschließen und sobald
in einem Bezirk CC und Comunas entstanden sind und die kommunale Selbstverwaltung ausgeübt wird, erklärt der Präsident in Absprache mit dem Minis-
Der bolivarianische Prozess in Venezuela
151
terrat diesen zur »kommunalen Stadt« (Asamblea Nacional 2007). Andererseits kam in einigen CC und Begleitstrukturen der Vorschlag auf, auch kleinere
Einheiten zu schaffen, in denen die Themen der Versammlungen vordiskutiert
werden, um so die Partizipation zu fördern.
Nach der Ablehnung der Verfassungsreform kündigte die Regierung an, die
entsprechenden Regelungen bezüglich der Räte per Gesetz einzuführen. Es bleibt
abzuwarten, wie diese tatsächlich ausfallen und dann gesellschaftliche Realität
werden. Grundsätzlich bleibt es historisch offen, ob es möglich ist, den bürgerlichen Staat zu überwinden und ihn durch einen kommunalen Staat zu ersetzen.
Sicher ist allein, dass wir bis heute kein Beispiel kennen, bei dem der bürgerliche Staat im revolutionären Sinne von innen demontiert wurde, ebenso wenig
wie es historische Beispiele dafür gibt, dass es von außen gelungen wäre.
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Dario Azzellini
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Wolfgang Graf
Vom Nein zum Ja – Von der
Boykottbewegung zum Fairen Handel
Einleitung
Der Handel bietet ein vielfältiges Angebot an fair gehandelten Waren an. Vom
Klassiker Kaffee über Tee, Kakao, Honig etc. bis hin zu Fußbällen und Eiscreme. Zielgruppe sind KonsumentInnen mit ethisch-moralischen Ansprüchen.
FairTrade-Organisationen wollen den Konsum nutzen, um Einfluss auf die Produktionsweisen unterschiedlicher Produkte zu nehmen. Kriterien sind hier vor
allem die Arbeitsbedingungen der ProduzentInnen, zurzeit fast ausschließlich
im Trikont.1 Zunehmend wird auch der Einfluss umweltverträglicher und somit
weltweiter nachhaltiger Produktion beachtet. Der Anteil von Bio-Produkten im
Marktsegment FairTrade wächst stetig, was am zunehmenden Bedürfnis nach
exotischen Produkten in Bio-Qualität liegt. Dazu kommt die stagnierende BioProduktion in der BRD bei stark gestiegener Nachfrage. Der »bewusste Verbraucher« bevorzugt bei Importwaren dann doch lieber FairTrade-Produkte.
Diese Art des Konsums soll die Welt verbessern und »Gutes tun« lässt sich mit
dem zunehmenden egoistischem Streben nach Wellness und Gesundheit wunderbar verbinden. Kurz gesagt: Ethischer Konsum verbindet das »Gute für sich
tun« mit dem »Gutes für andere tun« und nimmt dem Konsum somit seine negativen Eigenschaften.
Das war nicht immer so. Neben meist kirchlichen Initiativen mit entwicklungspolitischem Anspruch entstand aus dem Aufbruch der 68er-Bewegung
auch eine linksradikale Boykottbewegung. Boykottiert wurden vorwiegend Produkte aus Staaten mit diktatorischen Systemen, die sich in aktuellen Konflikten
mit linken Oppositionsbewegungen und/oder nationalen Befreiungsorganisationen befanden. Auch multinationale, vorwiegend US-amerikanische Konzerne
wie Coca Cola sind (z.B. die aktuelle Kampagne gegen die Ermordung von Gewerkschaftern in kolumbianischen Produktionsstätten) und waren (z.B. United
Fruit, Dole, der Boykott südafrikanischer Früchte während des Apartheid-Regimes) Ziele von Boykotten. Der Zweck dieser Boykotte war die Verweigerung
1
Bezeichnet die Länder des Südens in den Kontinenten Südamerika, Afrika und
Asien.
154
Wolfgang Graf
des Profits für Unternehmen, die für ihre Gewinne Ungerechtigkeiten produzierten oder über Leichen gingen. Da in rechtsgerichteten Diktaturen die wirtschaftlichen Eliten fast immer mit der jeweiligen Junta eng verbunden oder gar
identisch sind, richtete sich der Boykott gegen die gesamte Volkswirtschaft.
Während die Boykottbewegung mit einem entschiedenen Nein operierte, betont der faire Handel deutlich das Ja. Im Folgenden werden Überlegungen angestellt, die sich in einem weiteren Sinne mit der Frage auseinandersetzen, ob
in der heutigen Zeit eher das Nein oder eher das Ja zu einer umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe der Menschen im Trikont führt und somit zu mehr Gerechtigkeit in der Welt.
Die Boykottbewegung in der BRD seit 1968
Boykottieren, also verweigern, kann man vieles. Hier soll es um den Konsumentenboykott gehen, dem gezielten Verweigern bestimmter Waren aus politisch-moralischen Beweggründen. Der Boykott an sich ist keine Erfindung unserer Zeit, sondern bereits wesentlich älter. Ein erster überlieferter Boykott aus
politischen Gründen ist der Boykott britischer Waren im US-amerikanischen
Unabhängigkeitskampf gegen den 1767 eingeführten Tee-Zoll, der als Akt zivilen Ungehorsams im Jahr 1773 in der »Boston Tea-Party« mündete. Die Bezeichnung Boykott geht auf die Niederlage des englischen Grundstücksverwalters Kapitän Charles Cunningham Boycott gegenüber der irischen Landliga im
Rahmen des irischen Freiheitskampfes im Jahr 1880 zurück (Wikipedia 2007).
Beides sind Beispiele für erfolgreiche Boykotte: Die USA wurden 1776 und
der größte Teil Irlands 1921 unabhängig.
Aus dem Internationalismus der 68er entstand nicht nur die internationale
Solidarität, sondern auch ein »Internationalistisches Nein« zum Konsum von
Waren aus Ländern, deren Regime abgelehnt wurden. Neben dem »privaten
Boykott« gab es auch breit angelegte politische Kampagnen, die öffentlich zu
Boykotten aufriefen. Die erstere Form war vor allem moralisch motiviert und
diente der Beruhigung des eigenen Gewissens. Die politischen Kampagnen hingegen dienten auch dazu, die Öffentlichkeit über die politischen Verhältnisse
im Trikont aufzuklären.
Dies war jedoch nicht frei von Widersprüchen und Problemen, wie das folgende Beispiel aus einem meiner politischen Zusammenhänge zu Anfang der
1980er Jahre anschaulich zeigt und in dem es um den Import von Südfrüchten
ging. Die Frage war: Welche Orangen darf man noch kaufen? Da in Deutschland keine Orangen wachsen, müssen sie importiert werden. Es wurden also
die Exportländer auf deren Politik abgeklopft. Das europäische Hauptanbau-
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
155
land Spanien schied wegen der francistischen Zentralstaatspolitik2, die auch in
der Post-Franco-Ära fortdauerte, aus. Solidarisch erklärte sich die Bewegung
vor allem mit der baskischen Bevölkerung und dem Kampf der ETA in Euskadi.
Die spanische Kolonie Westsahara wurde nach dem Tode Francos von Marokko,
einem weiteren wichtigen Orangenexporteur, besetzt und die Frente Polisario3
nahm den Kampf dagegen auf. Des Weiteren bestehen große Produktionsflächen in Florida und Kalifornien, die wegen des weltweit agierenden US-Imperialismus selbstverständlich ausschieden. Aufgrund von Bevorzugungen bei
den Einfuhrzöllen hatten Jaffa-Orangen aus Israel einen bedeutenden Marktanteil, auch diese schieden wegen der zionistischen Besatzung Palästinas aus,
zumal es bereits vor Beginn der Intifada eine große Solidaritätsbewegung mit
den kämpfenden linken Bewegungen Palästinas gab. Übrig blieben schließlich
Griechenland und Italien, beide Länder hatten damals allerdings nur eine geringe Marktbedeutung. Der »notorische Nörgler« wies jedoch auch auf dortige
Missstände und dagegen kämpfende Bewegungen hin und es war klar, dass die
Wirtschaftssysteme dieser Staaten nicht mit dem eigenen Geld unterstützt werden sollten. Aus heutiger Sicht ist hierzu anzumerken, dass in den 1970er und
80er Jahren alle nationalen Befreiungsbewegungen im Trikont und in Europa,
soweit sie nicht explizit faschistisch waren, als emanzipatorisch und somit unterstützenswürdig erschienen.
Drei Möglichkeiten ergaben sich hieraus: Auf Orangen zu verzichten, sich
das Exportland mit dem am wenigsten »schweinischen« System auszusuchen
oder aber auf die Moral zu »scheißen« und das zu konsumieren, was da ist und
noch dazu am billigsten angeboten wurde. Die Folgen der drei Möglichkeiten
im eigenen politischen Zusammenhang: Alle drei Formen traten auf.
Als eine große und bedeutende Boykottkampagne der radikalen Linken soll
hier der Israel-Boykott anfang der 1980er Jahre erwähnt werden. Diese Kampagne entstand als Reaktion auf den israelischen Einmarsch in den Libanon,
der in den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und
Shatilla seinen Höhepunkt fand sowie als Unterstützung der ersten Intifada.
2
Der spanische Staat setzt sich aus einer Vielzahl von ethnischen Gruppen mit eigenständigen Sprachen zusammen. Neben den Basken sind dies die Katalanen, Galizier etc.
Zu Zeiten der spanischen Republik genossen diese Gruppen eine weitreichende Autonomie. Nach dem Sieg des faschistischen Putschgenerals Franco hatte es nur noch Spanier zu geben und Spanisch war die einzig erlaubte Sprache. Eine staatstragende Klammer spielte der Katholizismus als Staatsreligion.
3
Ursprünglich kommunistisch orientierte Befreiungsfront des sahaurischen Volkes,
gegründet zum Kampf gegen den spanischen Kolonialismus. Der Kampf um Unabhängigkeit von Marokko als Demokratische Arabische Republik Sahara dauert trotz Waffenstillstand an.
156
Wolfgang Graf
Abb.1: Plakat der
antiimperialistisch-autonomen
»Boykottiert
Israel«-Kampagne,
Mitte der 1980er
Jahre (Quelle:
Haunss et al.
1999)
Es gab eine breite, von der autonomen und antiimperialistischen Linken getragene Bewegung, die sich vorwiegend auf die PLO (Palestinian Liberation Organisation) und im Besonderen auf die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) bezog. Laut Boykottaufruf sollte neben der Verweigerung von Geld für
Waren und Urlaub sowie der »Solidaritätsarbeit« in Kibbuzimen ein klares politisches Zeichen gesetzt werden, wie es sich durch viele große und machtvolle
Demonstrationen auch zeigte (siehe Abb. 1). Dem antiimperialistischen Kampf
in Palästina wurde eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Imperialismus, Kapitalismus und Faschismus zugesprochen. Da die BRD massive militärische und
finanzielle Unterstützung für Israel leistete und leistet, richtete sich diese Initiative auch gegen die BRD als Teil des imperialistischen Nordens, stets einge-
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
157
Abb. 2: Plakat der
Nicaragua-Solidaritäts-Kampagne
(Quelle: Haunss et
al. 1999)
bunden in die These, den Kampf im Herz der Bestie zu führen. Demosprüche
dieser Zeit lauteten folglich: »Ob Polen, Mittlerer Osten, Nicaragua, bei jeder
Schweinerei ist die BRD mit dabei« oder »Deutsche Waffen, deutsches Geld,
morden mit in aller Welt«.
Eine weitere bedeutende Kampagne der 1980er Jahre war der Boykott des
Apartheidregimes in Südafrika. Dieser wurde stärker von bürgerlich ausgerichteten Menschenrechtsgruppen getragen, allerdings auch unter starker Teilnahme der radikalen Linken. Boykottiert wurden vor allem Früchte der Konzerne United Brands, Dole u.a. Auch die Konzerne Shell und Daimler-Benz
wurden wegen ihres Engagements im Apartheids-Staat boykottiert und angegriffen. Daimler-Benz unterhielt beispielsweise ein Werk in Südafrika, in dem
158
Wolfgang Graf
auch Fahrzeuge produziert wurden, die direkt zur militärischen Unterdrückung
eingesetzt wurden. Die Dresdener Bank gewährte zudem großzügige Kredite.
Der Boykott wurde in der Folge mit der Forderung nach der Freilassung von
Nelson Mandela verknüpft.
In den 1990er Jahren folgte ein Aufruf zum Boykott des Tourismus in der
Türkei mit der Absicht, der türkischen Tourismusindustrie massiven Schaden
zuzufügen. Dieser Aufruf hatte zwei Ziele: erstens die Türkei für den Völkermord in Kurdistan abzustrafen und zweitens, zumindest teilweise, um Solidarität mit der PKK (Kurdische Arbeiter Partei) auszudrücken. 1995 erfolgte ein
weiterer Boykottaufruf gegen den Ölkonzern Shell, der von der Umweltbewegung getragen war. Er richtete sich gegen die Absicht des Unternehmens, eine
ausgemusterte Ölplattform in der Nordsee zu versenken. Dieser Boykottaufruf
fand breite Resonanz in der bürgerlichen Öffentlichkeit und verursachte kurzeitige Umsatzeinbußen bis zu 50% an den Tankstellen von Shell in der BRD,
woraufhin der Konzern auf die Versenkung verzichtete und die Plattform in
Norwegen abgewrackt wurde.
Der Weg vom Boykott zur Verbreiterung des Fairen Handels
Mit der Unterstützung der sandinistischen Revolution in Nicaragua begann aus
diesem Nein ein Ja zu werden. Auch in der radikalen Linken wuchs die Erkenntnis, dass mit einem Nein zu Produkten des Aggressors USA nichts gewonnen
wird. Zudem war das revolutionäre sandinistische Nicaragua ein politisches
Modell, das als unterstützenswert erachtet wurde. Die vom US-Imperialismus
finanziell und militärisch massiv unterstützten »Contras« (die alte, gerade abgesetzte nicaraguanische Machtelite) bedrohten den Aufbau dieses sozialistischen Staates. In der westeuropäischen Linken bestand die berechtigte Hoffnung, dass sich Nicaragua in eine andere Richtung entwickelt, als die nicht
besonders beliebten realsozialistischen Staaten des RGW4. Die Sandinisten galten damals als Hoffnungsträger, in etwa vergleichbar mit der EZLN im Süden
Mexikos Ende der 1990er Jahre. Es wurden Arbeits- und Gesundheitsbrigaden
gebildet, die vorwiegend in Kaffeeplantagen eingesetzt wurden (Kaffee bildet
nach wie vor das Hauptexportprodukt), um die Bevölkerung direkt zu unterstützen. Überdies wurden damit auch Arbeitskräfte ersetzt, die als Soldaten gegen die US-Aggression benötigt wurden. Durch den Kauf und den Vertrieb des
4
Damaliger Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, gebildet von den sozialistischen
Staaten Osteuropas, Kubas, der Mongolei sowie einigen sozialistischen Staaten Afrikas
unter Führung der UdSSR.
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
159
Kaffees der Marke »Sandino Dröhnung« durch Infoläden und Basisgruppen
zum Solipreis sollten die Sandinisten finanziell unterstützt werden. Nun ging
es nicht mehr nur um ein Nein, sondern um ein Ja, was die entscheidende Änderung darstellte. Gruppen, die ihr Handeln hauptsächlich aus dem Nein zu den
herrschenden Verhältnissen hergeleitet hatten, praktizierten nun aktiv dieses Ja.
Aus der Parole »Macht kaputt, was euch kaputt macht« wurde nun: »Bau auf,
bau auf«. Die Bejahung eines Produktes war in der radikalen Linken neu. Kaffee als Produkt war dafür ideal, denn fast jeder konsumierte es und der Anteil
an den Lebensmittel-Gesamtkosten war (und ist) relativ gering. Dass das Solidaritätsprodukt »Sandino Dröhnung« zwei bis drei mal teurer war als Discounter-Kaffee spielte keine besondere Rolle, war aber einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren für die Soli-Arbeit für Nicaragua.
Eine andere Zielrichtung hatte die kirchliche Entwicklungspolitik. Hier ging
es nie um ein Nein, sondern stets um das Ja, nämlich um eine Unterstützung der
Armen in den Entwicklungsländern, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse in
der Welt grundlegend in Frage zu stellen. Ende der 1960er Jahre bildeten sich
kirchliche Basisgruppen, teilweise mit Sympathien für die in Lateinamerika
verbreitete Befreiungstheologie. Die bestehende Weltwirtschaftsordnung wurde
zwar kritisiert, aber nicht grundsätzlich abgelehnt. Beispielhaft für eine aus dem
kirchlichen Umfeld stammende, fairen Handel betreibende Organisation, sei hier
die Geschichte der »Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt GmbH«, kurz »gepa« genannt, stichpunktartig dargestellt.
Im Jahr 1970 führten die kirchlichen Jugendverbände Hungermärsche durch,
die im darauf folgenden Jahr zur Gründung der »Aktion Dritte Welt Handel«
und »Lernen durch Handel« führte. Die Gründung der gepa als »wirtschaftlicher Arm« der Bewegung erfolgte 1975. Die Aktion »Jute statt Plastik« im
Jahr 1978 stellte einen großen Werbeerfolg dar und im Jahr 1985 gab es bereits
200 Weltläden mit 15-16 Mio. DM Umsatz bei 39 hauptamtlich Beschäftigten.
Der erste faire Biokaffee wurde 1986 auf den hiesigen Markt gebracht. Mit der
Einführung des Siegels »TRANSFAIR« im Jahr 1992 wurde der Grundstein
des heutigen Erfolges gelegt.
1994/95 wurde ein Umsatz von 55 Mio. DM erzielt. 1998 wurde die »Fair
Pay – Fair Play«-Kampagne ins Leben gerufen, die für den Kauf von Fußbällen
warb, die in Pakistan nachweislich ohne Kinderarbeit produziert worden waren.
Der Umsatz der gepa stieg 2002/03 weiter auf 35,7 Mio. Euro. 2003 konnten
Karstadt, Tengelmann, Citti-Markt und Otto als gepa-Kunden gewonnen werden. 2004/05 erhöhte sich der Umsatz weiter auf 45 Mio. Euro, wobei annähernd die eine Hälfte auf den Verkauf von Kaffee, die zweite Hälfte auf andere
Lebensmittel entfiel. Nur knapp acht Prozent des Umsatzes entfielen auf NonFood-Produkte (GEPA 2007).
160
Wolfgang Graf
Der gemeinnützige Verein TransFair e.V., der das gleichnamige Siegel vergibt, gründete sich, um benachteiligte Produzentenfamilien in Afrika, Asien und
Lateinamerika zu unterstützen. Ihr Anliegen ist »die Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen, vor allem durch garantierte, faire Preise und langfristige Liefervereinbarungen. TransFair handelt nicht selbst mit Waren, sondern
vergibt sein Siegel an Produkte, die die Bedingungen des gerechten Handels
(FairTrade) erfüllen« (TransFair e.V. 2007d). TransFair e.V. erfüllt somit die
Funktion einer Zertifizierungsorganisation.
Heute sind die Unterschiede zwischen den Solidaritätsprodukten der Linken und den Fairen Produkten der Weltläden nicht mehr deutlich erkennbar.
Solidaritätskaffee ist in den Weltläden erhältlich und linke Infoläden verkaufen gepa-Produkte.
Boykottbewegung und Fairer Handel heute
Von einer Boykottbewegung mit weitergehendem politischem Anspruch kann
heute nicht mehr gesprochen werden. Einzelne kleinere politische Boykottaufrufe sind zwar auch heute noch immer wieder zu verzeichnen, allerdings hat auch
der individuell praktizierte moralische Boykott stark abgenommen. Ethisch-moralisches Handeln wird heute fast ausschließlich über das Ja zum fairen Handel
ausgedrückt und nicht mehr durch das Nein zu unfairen politischen Regimes.
Der faire Handel verzeichnet seit den 1990er Jahren einen exorbitanten Zuwachs. Die Schwelle vom Nischenprodukt zum normalen Handelsartikel ist
überschritten. FairTraide verzeichnete 2006 in der BRD 16 Mio. Kunden der
Gruppe »Otto Normalverbraucher«. Aktuell stammen zehn Prozent der Waren aus Afrika, allein der Kaffeeumsatz konnte um 20% gesteigert werden. Zur
Steigerung des Umsatzes und der Verbreiterung des Kundenspektrums wurde
2006 eine Kooperation mit dem Discounter Lidl begonnen. Der Bananenverkauf konnte um 100% auf 18.000 Tonnen gesteigert werden (TransFair e.V.
2007c). Produkte mit dem FairTrade-Siegel sind zurzeit in rund 27.000 Supermärkten und Warenhäusern erhältlich, so z.B. bei Metro (mit real, extra, Kaufhof), Rewe (mit Globus, HL, Minimal, Rewe-Supermärkten, Stüssgen, Toom),
Edeka, Spar/EuroSpar, Karstadt, Lidl und so weiter und so fort. Zusätzlich gibt
es diese Produkte nach wie vor in Naturkostläden, Reformhäusern und Weltläden (TransFair e.V. 2007e).
Die Marketing-Organisation TransFair e.V. hat bewusst die Vermarktungsschiene über Discounter wie Lidl gewählt. Deutlich erklärtes Ziel ist es, jeden
Kunden in jeder Vermarktungsform zu erreichen und einen großen Schritt aus
der Nische der bewussten Konsumenten hin zum »Jedermann« zu gehen. Aus
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
161
folgendem Zitat wird deutlich, dass die Steigerung des Umsatzes und die Gewinnung von Neukunden an erster Stelle stehen und sich der politische Anspruch
ausschließlich auf die Produktion erstreckt: »Für über 42 Prozent steht Einkauf
im Supermarkt an erster Stelle. 16,8 Prozent der Neukunden kaufen bei Lidl.
Dieses Ergebnis muss als eine eindeutige Bestätigung der Marketingstrategie
verstanden werden, die Kooperation mit Lidl einzugehen – unabhängig von der
politischen Dimension der Entscheidung. Wie auch von der VERBRAUCHER
INITIATIVE [Herv. i. O.] schon häufiger betont wurde, stellt die mangelnde
Distributionsdichte in Deutschland den entscheidenden ›Flaschenhals‹ für die
Ausweitung des Fairen Handels dar und jede Handelskette, die in das System
einsteigt, trägt zur Lösung dieses Problems bei.« («fair feels good« 2007a)
TransFair e.V. preist die gute Zusammenarbeit mit bedeutenden Fruchtimporteuren. Die Firmeninhaber werden als positive Beispiele, als Menschen, die
Gutes tun, abgebildet. So z.B. die Firma Darboven, ein Hamburger Traditionsunternehmen aus dem Jahr 1866. »Aus dem Hamburger Traditionshaus wurde
in den letzten Jahren ein international anerkannter Globalplayer.« (TransFair
e.V. 2007b) Die Kaffeerösterei Darboven vertreibt den mit dem Trans-Fair-Siegel zertifizierten Kaffee INTENCIÓN. Doch diese Firma ist schon vor der Einführung von Fair Trade ein Globalplayer gewesen und der Faire Kaffee dient
letztlich dem Imagegewinn und der Erweiterung des Marktsortiments. Darboven ist durch den Handel mit klassischen Kolonialprodukten noch vor Gründung des Deutschen Reiches groß und reich geworden. Diese große Zeit des
»hanseatischen Kolonialismus« war bestimmt von Ausbeutungsstrukturen, die
von Unternehmen zusammen mit abhängigen lokalen Eliten organisiert wurden
und denen vor allem in Afrika abertausende Menschen zum Opfer fielen. Zusammengefasst: Die Ausbeutung wird privat organisiert und bei Bedarf werden
staatliche Mächte als Schutz der eigenen Interessen instrumentalisiert (Möhle
1999). Heute finden wir ähnliche Strukturen z.B. im internationalen Blumenhandel (Graf 2007). Dies ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel für einen bedeutsamen Wandel, bei dem es nicht mehr um eigenes aktives politisches Handeln, sondern um profanen Konsum geht, der keinen bitteren Nachgeschmack
hinterlässt. Ein besonders markantes Beispiel hierfür liefert die Firma Greenpeace-Energy e.G., hervorgegangen aus dem internationalen Umweltschutzkonzern Greenpeace. Hier wird nicht nur das Gewissen beruhigender Ökostrom angeboten, sondern direkt damit geworben, dass mit dem Konsum dieses Stroms
politischer Einfluss verbunden ist. »Politischer Einfluss wird messbar. In Kilowatt.« (Greenpeace-Energy e.G. 2007b) Darüber hinaus suggeriert die Werbung
für diesen Ökostrom anschaulich, dass das Demonstrieren gegen Atomkraft (das
Nein) von gestern ist und der Konsum von Greenpeace-Energy (das Ja) die Zukunft darstellt – und natürlich die vermeintlich viel bessere Alternative ist.
162
Wolfgang Graf
Abb. 3 und 4: Links ein Plakat zum Shellboykott als bildliche Darstellung des Neins.
Rechts das alles platt lächelnde Ja als Bild der überglücklichen Konsumentin mit
ihrem fairen Konsumprodukt. (Quellen: Abb. 3: Haunss et al. [1999], Abb. 4: Syma
Sees, Flickr).
Auch Kinder geraten dabei bereits in den Fokus speziell auf sie zugeschnittener Werbemaßnahmen: »NACHWUCHS [Herv. i. O.]: Im Juni geht unter der
Schirmherrschaft des ›Löwenzahn‹-Moderators Peter Lustig die Greenpeace
energy-Kinderhomepage www.kabelsalat.tv online.« (Greenpeace-Energy e.G.
2007a) In allen Internetpublikationen und Werbeseiten des fairen Handels findet
sich die Darstellung von fast schon penetranter, lächelnder Glücklichkeit (siehe
Abb.4). Alle sind stets glücklich: ProduzentInnen, Kinder, Tiere, Pflanzen und
natürlich die überglückliche KonsumentIn. Die einzigen, die auch mal unglücklich sein dürfen, sind die, die noch nicht für FairTraide produzieren.
Schlussfolgerungen
Ein Blick in die Supermarktregale zeigt es deutlich: Es gibt ein vielfältiges Angebot an fairen Waren von Kaffee und Schokolade über Trockenfrüchte bis hin
zu Rosen. Längst hat sich das Ziel beim Kauf spezieller Waren von der Unterstützung linker Bewegungen hin zum Konsum mit ruhigem Gewissen gewan-
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
163
delt. Aus einer Widerstandshandlung ist eine bestimmte Form des Konsums geworden, moralisch kontrolliert und somit nicht bedingungslos, aber eben doch
Konsum. Die ProtagonistInnen des fairen Handels beschreiben dies selbst so:
»Die Kampagne wirbt mit dem Slogan ›Konsum gegen Armut‹? Wie kann Konsum dazu beitragen, Armut zu lindern? [Herv. i. O.] Das Einkaufsverhalten beeinflusst massiv die Lebensumstände der ProduzentInnen in den Entwicklungsländern. Je nachdem, was die KonsumentInnen hier zu Lande einkaufen, schaffen
sie für die ProduzentInnen einen Absatzmarkt. Wenn die Produzenten in diesem Markt gut bezahlt werden, können sie von ihrer eigenen Arbeit leben. Dann
müssen sie nicht in die Städte abwandern, sondern können Perspektiven entwickeln, sich eine eigene Zukunft aufbauen.« («fair feels good.« 2007b)
Was heißt das nun für diejenigen, die sich nicht mit der bloßen Linderung
von Armut zufrieden geben wollen, sondern deren Ziel nach wie vor eine bessere, weil andere Welt ist? Was sind die Alternativen? Ein wichtiger Punkt ist
die Förderung von Selbstversorgungswirtschaften statt Fairen Cash Crops.5 Diese bringen zwar Einkommen, aber nachhaltiger kann eine Wirtschafts- und
Produktionsweise sein, die zuerst die Grundbedürfnisse der Kleinbauern, Genossenschaftsbauern oder Beschäftigten in der Produktion befriedigt. Die Exportprodukte können zur Erzielung von zusätzlichen Einnahmen dienen. Ein
Kernziel der nachhaltigen ländlichen Entwicklung muss die Schaffung von lebensfähigen lokalen Strukturen sein.
Diese Strukturen müssen nicht unbedingt eine Nahrungsmittelautarkie beinhalten, sollten aber die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit allen lebensnotwendigen Produkten gewährleisten. Diese muss unbedingt unabhängig von
schwankenden Weltmarktpreisen und Nachfragesituationen sein. Die aktuelle
Verteuerung von Mais in Mexiko, verursacht durch die gestiegene Nachfrage
nach Biosprit in den USA, ist ein gutes Beispiel, wie sich Weltmarktabhängigkeit negativ auswirken kann. Funktionsfähige regionale Selbstversorgungsstrukturen können hier gegensteuern. Wenn dann der Weltmarktpreis für fairen
Kaffee, Tee oder Orangen fällt, bedingt dies Einnahmeausfälle, aber keine Gefährdung der Existenz. Auch wenn diese Gefahr bei fairen Cash Crops gering
ist, so kann eine einseitige Ausrichtung der Produktion die Anfälligkeit gegenüber Witterungseinflüssen und Schädlingsepidemien verstärken. Um eine solche Verbesserung zu erreichen, sind nachhaltige Veränderungen vor Ort nötig,
auch in den lokalen politischen Strukturen. Gute Preise für gute faire Produkte
reichen da leider nicht. Hier sind grundlegende Veränderungen in der Verteilung von Landbesitz und gesellschaftlicher Entscheidungsfindung nötig. Dies
5
Engl. für Marktfrüchte, landwirtschaftliche Erzeugnisse, die zur Vermarktung auf
nationalen und hier insbesondere internationalen Märkten produziert werden.
164
Wolfgang Graf
könnte von einer internationalen Entwicklungspolitik gefördert werden, für die
sich jeder Verbraucher einsetzen könnte. Eine andere Möglichkeit, vor allem
für Verbraucher in den wohlhabenden Ländern des Nordens, wäre die direkte
finanzielle Unterstützung von entsprechenden Basisprojekten im Trikont. Das
Faire am fairen Handel bezieht sich fast ausschließlich auf die Wirkung vor Ort
im Trikont und blendet die Bedingungen in der Transportkette und dem Handel in den Konsumentenländern völlig aus. Bei einigen Produkten, vor allem
bei Schnittblumen, konkurrieren die fairen Produkte direkt mit gleichwertigen
aus heimischer Produktion (Graf 2007). Vor diesem Hintergrund ergeben sich
zahlreiche nach wie vor offene Fragen, die hier zur weiteren Diskussion gestellt werden:
Ist fairer Rohr-Zucker aus Brasilien fairer als Rüben-Zucker aus Niedersachsen?
Gerade in den Produktlinien Süß- und Backwaren sowie bei Eiscreme ist das Produkt Rübenzucker nicht vom Rohrzucker zu unterscheiden. Sind also die Produktionsbedingungen in der niedersächsischen Zuckerindustrie nicht vielleicht sogar
fairer als die in den Zuckerfabriken Brasiliens? Muss Zucker, der in der EU im
Überfluss produziert wird, wirklich um die halbe Welt transportiert werden?
Ist es fair, fairen Honig aus Mexiko zu kaufen, während der Imkerei in Brandenburg die wirtschaftliche Grundlage entzogen wird?
Importhonig ist bedingt durch die deutlich geringeren Produktionskosten im
Trikont deutlich günstiger als der aus heimischer Imkerei, auch wenn diese im
Nebenerwerb ohne große Gewinnabsicht geführt wird. Der Imkerei fehlt mittlerweile der Nachwuchs, da sie kaum noch kostendeckend betrieben werden
kann. Zur Sicherung der Bestäubung von landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Kulturen sind Bestäubungsprämien nötig. Wenn es nicht mehr genügend
Imker gibt, oder aus Kostengründen, werden heute schon in einigen Regionen
im Obstbau speziell zu diesem Zweck gezüchtete Hummeln eingesetzt.
Ist es fair, die globale Emission von CO2 durch den Kauf von fairen Rosen oder
Früchten aus Afrika oder Südamerika zu erhöhen?
Nach aktuellen Prognosen für den Klimawandel wird von einer stärkeren Auswirkung des Klimawandels auf die Länder des Trikonts ausgegangen. Einer der
Hauptemissionsfaktoren für Kohlendioxid ist der interkontinentale Transport.
Ohne diesen würde aber der faire Handel nicht funktionieren, er profitiert also
direkt von den geringen Transportkosten, die die Umweltfolgekosten nicht beinhalten. Ist es fair, die unfairen Klimafolgen den FairTrade Produzenten aufzubürden?
Vom Nein zum Ja – Von der Boykottbewegung zum Fairen Handel
165
Ist es fair, faire Blumen aus Afrika zu kaufen, wenn immer mehr Tarifarbeitsplätze im europäischen Produktionsgartenbau abgebaut werden?
Der seit den 1980er Jahren stark zunehmende Import von Schnittblumen aus Südamerika und Afrika hat zu einer drastischen Reduzierung der Schnittblumenproduktion in der BRD geführt. Der Frankfurter Flughafen ist der bedeutendste
Handelsplatz für Importschnittrosen in der BRD und in der Folge sind im Großraum Frankfurt fast keine Produktionsbetriebe für Schnittrosen mehr zu finden.
Sind die Arbeitsbedingungen auf fairen Blumenfarmen in Kenia fairer als in den
Gewächshausbetrieben am Niederrhein? Ist es fair, dass der Kostendruck auf
den Gartenbau in der BRD zur Ersetzung von ordentlichen Tarifarbeitsplätzen
durch billigere Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa führt? Ist es fair, dass die faire
Importrose wesentlich billiger ist als die aus heimischer Produktion?
Ist Eiscreme mit fairer Vanille fairer als Eiscreme mit Vanillearoma aus Bioreaktoren?
Es ist unbestritten, dass natürlich produzierte Vanille ein besseres Aroma besitzt als Vanillin aus Bioreaktoren, aber ist dies auch fairer?
Sind faire Produkte bei Lidl noch fair?
Im Rahmen der Lidl-Kampagnen von ver.di und Attac sind die nicht-fairen Arbeitsbedingungen bei diesem Discounter öffentlich thematisiert worden. Eine
Grundbedingung in den Richtlinien des fairen Handels ist die Koalitionsfreiheit
der Beschäftigten. Gerade dies verweigert der Discounter seiner Belegschaft.
Selbst rentable Filialen werden geschlossen und die Beschäftigten entlassen,
wenn sie die Gründung eines Betriebsrates anmelden. Wie beschrieben fördert
TransFair e.V. die Vermarktung über Lidl, ist aber gleichzeitig Zertifizierungsorganisation für das FairTrade-Siegel. In der Vermarktungsschiene werden also
Bedingungen akzeptiert, die für die Produktion im Trikont abgelehnt werden.
Diese Liste ließe sich beliebig ergänzen. Festzustellen bleibt, dass ein eindimensionaler Blick auf einzelne Ungerechtigkeiten in dieser leider globalisierten Welt uns nicht weiterhilft. »Fair« muss nicht nur für die Menschen im Trikont gelten, sondern auch für die Menschen in den wohlhabenden Ländern des
Nordens. Der Konsum von fair gehandelten Produkten ist nicht grundsätzlich
abzulehnen, aber er darf auch nicht überbewertet werden. Mit dem Erwerb dieser Produkte können für einige Menschen die Lebensbedingungen teilweise
erheblich und nachhaltig verbessert werden, aber eben nicht für alle und auch
nicht weltweit. Wenn die Ausweitung der Produktion des fairen Handels den
nationalen oder lokalen Eliten nicht passt, weil z.B. deren Macht- oder Profitinteressen gefährdet sein könnten, werden diese ihre Macht einsetzen, um ihre
166
Wolfgang Graf
kapitalistischen Pfründe zu sichern. Beide Handlungsformen, der Boykott und
der faire Konsum, sind daher alleine nicht geeignet, die Welt grundsätzlich gerechter zu gestalten. Sowohl der Boykott als auch der »faire« Konsum dienen
in erste Linie dazu, nicht gegen eigene Moralvorstellungen zu verstoßen. Hieraus können natürlich weitere Handlungen humanitärer und revolutionärer Art
entstehen, dies ist aber keine zwingende Konsequenz.
Literatur
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de/fairer-handel.php/cat/49/title/Marktforschung, aufgerufen am 7.9.2007.
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GEPA (2007): Die Gepa – von der Aktionsidee zum Fair Handelshaus. www.gepa.
de/download/gepa_Geschichte.pdf, aufgerufen am 7.9.2007.
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internationalen Blumenhandels. In: Figatowski, Bartholomäus/Gabriel, Kokebe
Haile/Meyer, Malte (Hrsg.): The Making of Migration: Repräsentationen – Erfahrungen – Analysen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 70-83.
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Haunss, Sebastian/Mohr, Markus/Viehmann, Klaus. hks 13 (1999): hoch die kampf
dem: 20 Jahre Plakate autonomer Bewegungen. Hamburg: Verlag Libertäre
Assoziation.
Möhle, Heiko (1999): Branntwein, Bibeln und Bananen: Der Deutsche Kolonialismus in Afrika. Eine Spurensuche in Hamburg. Hamburg: Verlag Libertäre
Assoziation.
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aufgerufen am 7.9.2007.
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html, aufgerufen am 7.9.2007.
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Wikipedia (2007): Boykott. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Boykott&ol
did=39318787, aufgerufen am 15.12.2007.
Christian Schütte-Bäumner
(De-)Konstruktion der Kategorie »Experte«
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
1. Wer spricht?
Zu Beginn einer wissenschaftlichen Abhandlung findet sich häufig bereits der
Verweis auf den Gebrauch geschlechtsspezifischer Artikulation. Gemeinhin fällt
die Entscheidung auf die männliche Ausdrucksweise, sicherlich regelmäßig mit
dem Einschub, dass immer auch das »andere Geschlecht« mitgemeint sei. Es
ist diese implizite Selbstverständlichkeit, mit der Normen und Ordnungen über
sprachliche Kodes konstruiert, wiederholt und auf diese Weise aufrechterhalten
und zementiert werden. Geschlechtsspezifische Benennungen verwende ich bewusst »chaotisch« in der Absicht, damit das übliche, heteronormative Sprachschema als sexuierte Regularität in wissenschaftlichen Texten zu sabotieren.
Anders ausgedrückt nutze ich eine veruneindeutigende, queer-theoretische Dimension, um deutlich zu machen, dass Namensgebungen im Sinne von Zuschreibungen oder auch Etikettierungen nicht außerhalb komplexer Machtverhältnisse zu denken sind. Vielmehr geht es aus einer kritischen Perspektive, so
wie ich sie verstehe, darum, die Produktivität von Diskursen im Prozess der
Subjektwerdung zu berücksichtigen.1
2. Einführung
Wissenschaftliche Forschungspraxen führen komplexe Formationen des Wissens mit sich. Am Anfang steht dabei für gewöhnlich ein mehr oder weniger spezifisches Forschungsinteresse, weil etwas noch nicht gewusst wird, es
aber notwendig erscheint, diese Wissenslücke zu schließen. Bei meinem Forschungsvorhaben stellte ich mir beispielsweise die Frage nach dem beruflichen
Selbstverständnis von Sozialarbeiter/innen, die in den AIDS-Hilfen tätig sind.
Interessant erscheint mir dieser Aspekt vor dem Hintergrund eines »Wandels
1
Ich danke Karen Wagels (vgl. Beitrag in diesem Band) und Catrin Heite an dieser
Stelle für instruktive Gespräche.
168
Christian Schütte-Bäumner
von AIDS«:2 Die unmittelbare Todesdrohung, die noch bis vor wenigen Jahren
mit der Diagnose HIV-Infektion oder AIDS-Krankheit verbunden war, verliert
an Bedeutung. In dieser Situation zeichnet sich ein Chronifizierungsprozess einer behandelbaren aber noch nicht heilbaren Erkrankung ab. Es schließt sich
die Frage an, welchen Einfluss Deutungsmuster der professionellen Akteure auf
Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in den AIDS-Hilfen haben?
Das Feld empirischer Untersuchungen wird zur Bearbeitung dieser Frage in
unterschiedliche Bereiche aufgeteilt. Auf der einen Seite positionieren sich die
wissenschaftlichen Beobachter/innen, Interviewerinnen, Frager und Protokollant_innen, die sich um eine systematische Erhebung, Aufbereitung und Interpretation von sozialen Daten kümmern. Auf der anderen Seite finden sich jene
Akteure, die den »Gegenstand der Forschung« repräsentieren, weil man in ihrer Alltagswelt spezifische Bewältigungsroutinen vermutet.
Aus einer reflexiven Perspektive interessiere ich mich für die Haltungen, Argumentationen und Überzeugungen der Experten in den AIDS-Hilfen. Dabei
geht es mir nicht um Eigenschaften von Individuen, sondern vielmehr um eine
systematische Inblicknahme und Rekonstruktion von Situationen und diskursiven Verstrickungen. Denktraditionen und -konventionen werden danach befragt, wie sich ihre gesellschaftliche Legitimität konzeptualisiert und wie ihnen
der Status allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten zuerkannt wird. Das Gewöhnliche, das in diesem Zusammenhang kaum auffällt, weil es den Interaktanten als
»normal« anmutet, interessiert im Forschungsprozess besonders.
Wenn sich das Interesse auf spezifische, thematisch und kulturell einigermaßen begrenzte Fragestellungen bezieht, und zudem der sonst sehr aufwendige
Beobachtungsprozess, wie er in ethnographischen Studien zu leisten ist, verkürzt werden soll, greifen Forscher/innen gerne auf die Methode des Expert_innen-Interviews zurück, um Orientierungswissen themenzentriert und fokussiert
zu generieren. Dies trifft auch für mein Erkenntnisinteresse im Kontext der Expertinnen in den AIDS-Hilfen zu: Wie gestaltet sich ihr Umgang mit sexueller
Identität, Coming-Out und sozialer Ausschließung? Gehören diese Erfahrungen
gewissermaßen zum Expertenstatus in den AIDS-Hilfen dazu, oder sind sie aus
professionstheoretischer Perspektive überhaupt unzulässig, weil so eine notwendig distanzierte Haltung schlechterdings unrealisierbar erscheint?
Jene Erfahrungen der Experten rangieren mithin als »Kristallisationspunkt
praktischen Insiderwissens« (Bogner/Menz 2002: 7), und sie suggerieren zu2
Ich gehe von einem alten und neuen »AIDS-Bild« aus. Dieser Veränderungsprozess
wird von dem Soziologen und Sexualwissenschaftler Martin Dannecker (vgl. 2003) ausführlich thematisiert. Seine Überlegungen zum Bedeutungswandel und zur Genese eines anderen AIDS übernehme ich für diesen Artikel.
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
169
gleich eine verlässliche Antwort auf Fragen nach subkulturellen Erfahrungen,
die wiederum Einblicke in teilweise sehr spezielle, teilweise auch recht typische
Handlungsmuster versprechen. Die Kategorie »Experte« lässt sich demgemäß
als Konstruktion verstehen, die sich nicht im luftleeren Raum herausbildet, sondern durch spezifische (wissenschaftliche) Eigeninteressen geleitet, in Aushandlungsprozessen zwischen Forscherinnen und den Fachkräften im Feld, hervorgebracht wird. Das Etikett »Expertenwissen in den AIDS-Hilfen« entspricht
also einer Definition, deren Wirkmächtigkeit ich im Folgenden nachgehen und
sie zur Diskussion stellen möchte.
3. Erfahrungswissen und Identitäts-Konstruktionen
Aus Sicht der Forscherin basiert die Befragung von Expertinnen auf einer binären Vorstellung von ein Wissen »haben« und ein Wissen systematisch abgesichert erheben, archivieren und einsetzen. Den Akteuren, hier also den Experten der AIDS-Hilfen, deren Wissen im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht,
wird ein typischer, möglicherweise auch effektiver Umgang mit »ihren Problemen« und Aufgabenstellungen unterstellt, weil sie in aller Regel auf ein Spezialwissen zurückgreifen können. Ihre Deutungsmuster avancieren auf diese
Weise zum zentralen Topos in der qualitativen Sozialforschung. Einerseits können Expert_innen auf relativ geordnete und funktionale Wissensbestände zurückgreifen. Bezogen beispielsweise auf den Bereich Gesundheitswesen entscheiden sie darüber, wann die Etiketten »gesund« oder »krank« Anwendung
finden respektive wann und vor allem wie entsprechende Methoden der Heilung zum Einsatz kommen. Andererseits machen sie Erfahrungen, entwickeln
Kenntnisse und haben Informationen über die Hintergründe der sozialen Handlungszusammenhänge in der Praxis. Dieser Praxisbezug ist charakteristisch für
das Expertenhandeln. Heute sehen wir, dass die Expert_innen in den AIDS-Hilfen im Verlauf von mittlerweile über zwanzig Jahren, wirksame Präventionsmaßnahmen erfolgreich entwickeln und konsolidieren konnten. Offensichtlich
gelingt es den Akteuren, »eine neue Form der politischen Organisierbarkeit …,
eine Bereitschaft zu mehr oder weniger punktuellen politischen Aktionen, eine
schnelle Mobilisierbarkeit« (Steinert 1985b: 77) in Zeiten der »AIDS-Panik« zu
aktivieren und diese »freischwebende Solidarität« (ebd.) für eine Professionalisierung des klassischen Selbsthilfeansatzes zu nutzen. Der Public-Health-Forscher Michael T. Wright vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
fordert in diesem Zusammenhang, dass sich die Arbeit der AIDS-Hilfen einer
kontinuierlichen Evaluation unterziehen müsse, damit Konzepte sichtbar und
vergleichbar gemacht werden können. Er argumentiert: »Es herrscht ein Man-
170
Christian Schütte-Bäumner
gel an klar definierten Theorien und Methoden für die Evaluation dieser spezifischen Arbeit für AIDS-Kranke bzw. für von AIDS Bedrohte.« (Wright 2003:
16) Dennoch: Das Interesse am niedrigschwelligen LebensweisenakzeptanzKonzept der AIDS-Hilfen ist groß, weil sich hier ein geeigneter Zugang zu den
Adressat_innen sowie ein Konzept professioneller Gesundheitsförderung entwickeln konnte. Lebensweisenakzeptanz führt eine »identitätsstiftende Funktion« (DAH 1998: 24, Hervorh. d.V.) mit sich und repräsentiert ein partizipatives Modell, das die Teilhabe-Teilnahme-Verhältnisse AIDS-kranker Menschen
vermittels Hilfe zur Selbsthilfe-Strategien als Strukturproblematiken auf das je
konkrete Betreuungshandeln bezieht.
Hierfür gelten Identitäten als unhintergehbare Voraussetzung, um anerkannt
und gesellschaftlich legitimiert am Leben teilnehmen zu können. Experten- und
auch Wissenschaftlerinnen-Identitäten sind eingebunden innerhalb einer diskursiven Matrix von Deutungen und Zuschreibungen. Ein Außerhalb ist unmöglich, will man verstanden und anerkannt werden. Es existieren demzufolge zwei
Bereiche: ein Drinnen und ein Draußen. Entweder sind Expert_innen als Fachkräfte und Anwenderinnen von Spezialwissen anerkannt, oder aber sie fallen
schlicht aus dem Rahmen gesellschaftlicher Kategorisierungen heraus und werden nicht gehört. Identitäten, ob es sich nun um die Bereiche Forschung/Wissenschaft oder die soziale Praxis in spezifischen Arbeitsfeldern handelt, entstehen
an der Schnittstelle dieser Trennungslinie, indem sie ihre ganze Kraft dafür aufwenden, als stabile, erkennbare, unterscheidbare und vor allem eindeutige Persönlichkeiten aufzutreten. Vor diesem Hintergrund nun möchte ich meine bisherigen theoretischen Überlegungen zur Genese des Expertenbegriffs im Sinne
einer diskursiv determinierten Statuspassage (Expertenstatus) an einem Beispiel
aus meiner Forschungspraxis weiterführen, um so späterhin das Oszillieren zwischen Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung zu verdeutlichen.
4. AIDS-Hilfen als Orte identitärer Selbstvergewisserung
Im Rahmen der Gespräche, die ich mit Sozialarbeiter/innen in den AIDS-Hilfen geführt habe, war mir wichtig, dass sie sich sowohl zu ihren Arbeitskontexten äußern konnten, wie auch zu ihren persönlichen Einstellungen, Vorstellungen und Haltungen im Berufsfeld der AIDS-Hilfe-Arbeit.
Im Kontext der sozialen Dienstleistungen der AIDS-Hilfen, handelt es sich
auf Seite der Experten zunächst um gemachte Erfahrungen, deren Konstitutionsprozess ich Erfahrungspraxis nennen möchte. Diese Erfahrungspraxis entwickelt sich vor dem Hintergrund wirkmächtiger, gesamtgesellschaftlicher
»Bilder von AIDS«, so wie sich z.B. das alte AIDS-Bild der 1980er Jahre als
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
171
»Schwulenseuche« und »Pest der Homosexuellen«3 verletzend und diskriminierend im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft mit einer gewissen Haltbarkeit einschreiben konnte. Später wurden Modifikationen in Richtung eines
neuen AIDS-Bildes möglich. Sie zeichnen sich durch einen Normalisierungsprozess von AIDS in Richtung einer chronischen Krankheit aus. In Zeiten der
AIDS-Panik in den 1980er Jahren schlossen sich viele »betroffene Akteure«
zusammen, um auf der Basis der mit Aktionen gemachten Erfahrungen etwas
Neues zu entwerfen. Zu Beginn der 1980er Jahre ging es in den Anfängen der
AIDS-Hilfe-Bewegung in der BRD zunächst um so etwas wie eine naive, im
Sinne einer (noch) nicht-professionellen Kumulation von Erfahrung und Wissen, die nach dem Motto »Einige wissen was, andere brauchen was« zum Einsatz gebracht werden. Und so entwickelte sich ein kollektiver Austausch über
soziale Hilfen und wechselseitige Pflegeleistungen, die in und durch die Netzwerke der Community organisiert wurden. Jene Konzeptualisierung und stetige
Professionalisierung »kollektiver (Für-)Sorge« hatte also sehr viel mit den Erfahrungen der Akteure zu tun und insofern wurde die eigene »Betroffenheit«
als Ressource genutzt, nicht immer, aber manchmal überaus findig und weitreichend. Die gemeinsamen Erfahrungen, der »natürlich … ganz persönliche(n)
Hintergrund« (Schütte-Bäumner 2007: 88) führten allmählich zur Institutionalisierung der Sozialen AIDS-Hilfe-Bewegung. Damit konsolidierte sich ein
spezifisches Wissen im Umgang mit AIDS, sowohl hinsichtlich medizinischpflegerischer Fragestellungen, wie auch in Bezug auf ein emanzipatives, schwulenpolitisches Engagement. Traditionelle Etiketten des (erfahrenen) Experten
und des (hilfsbedürftigen) Adressaten der AIDS-Hilfen verschwimmen, da hier
u.a. Experten arbeiten, die durch ihre »direkte Betroffenheit« (ebd.: 86) von
AIDS sowie von teilweise traumatischen Verletzungen während des ComingOut als schwuler Mann, zu Experten wurden. Sozialarbeiter_innen, die sich als
Teil der AIDS-Hilfe-Gemeinschaft verstehen, haben daher ein großes Interesse,
ihren »persönlichen Hintergrund« zusammen mit beruflichem Faktenwissen
gleichermaßen in das professionelle Fürsorgekonzept der AIDS-Hilfen einzubringen. Angesichts dieser dialektischen Beziehung zwischen »Betroffenheit«
und »Expertenwissen« kommt den Bewältigungsgeschichten der Akteure eine
besondere Bedeutung zu, denn sie wissen offenbar, eben aus »eigener Betroffenheit«, wie sich die schwierigen Situationen im Feld darstellen und entsprechend auch, was zu tun ist.
3
Vgl. für beide Etiketten zum einen Der SPIEGEL: »AIDS: Hürde zu den Heteros
übersprungen«, S. 120, 22.2.1988, zum andern Der SPIEGEL: »Tödliche Seuche AIDS.
Die rätselhafte Krankheit«, S. 144, 6.6.1983.
172
Christian Schütte-Bäumner
Was passiert aber nun, wenn Sozialarbeiter/innen im (Beratungs-)Gespräch
auf denselben Erfahrungshintergrund zurückgreifen (können) wie ihr Gegenüber? In welche Situationen geraten SozialarbeiterInnen, wenn sie als Experten selbst auch Klienten sein könnten, wenn ihre berufliche Identität durch eine
Doppelrolle gekennzeichnet ist? Idealtypische Bezugspunkte zum Aspekt des
Involviertseins lassen sich im Interview mit Clemens Wagner, einem 44 Jahre
alten Diplom-Sozialpädagogen in einer großen Metropolen-AIDS-Hilfe, finden.
Seit 1986 hat er Kontakt zu dieser Einrichtung, ist dort bis 1990 ehrenamtlich
und später hauptamtlich beschäftigt. Clemens Wagner argumentiert:
»Das Spannende war einfach, in einem Arbeitsfeld tätig zu sein, was mit mir
was zu tun hat. Also einmal eben weil ich selbst positiv bin, weil ich schwul bin.
Ich kann offen sein, ich kann da ganz frei sein. Ich muss kein Versteck spielen,
was ich woanders hätte vielleicht tun müssen. Es ist einfach was anderes, in so
einem schwulen Zusammenhang zu arbeiten. … Also ich weiß gar nicht, ob ich
im Moment Sozialarbeit in einem anderen Bereich [als der AIDS-Hilfe], bei
einem anderen Träger machen könnte, wollte, ich glaube, dann würde ich lieber etwas ganz anderes machen. In einer Boutique arbeiten und Hosen verkaufen (lacht) oder irgend so was, keine Ahnung. Also ich kenne auch viele Leute,
die in anderen Bereichen der Sozialarbeit tätig sind, und unterhalte mich mit
denen, und das wäre es einfach nicht.«
Offenbar erfüllen die AIDS-Hilfen ganz bestimmte Voraussetzungen, die
ausschlaggebend sind, diesen Job und eben keinen anderen zu ergreifen. Der
Interviewpartner steigert das Zusammenspiel zwischen seiner »direkten Betroffenheit« und dem beruflichen Verlaufsbogen, indem er Sozialarbeit in der
AIDS-Hilfe als den für ihn einzig denkbaren Praxisort definiert. Das Arbeitsfeld
ist so eng mit den individuellen Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen
verschmolzen, dass andere Bereiche der Sozialarbeit gänzlich ausgeschlossen
werden. Die Kategorie »direkte Betroffenheit« ließe sich im Kontext sozialarbeiterischer Professionalisierungsprozesse als »involvierte Expertise« übersetzen. Auch in anderen Textpassagen wird regelmäßig von der Offenheit der Einrichtung sowie dem Entstehungskontext aus einer »Selbsthilfe der Schwulen«
heraus berichtet, um zu dokumentieren, dass AIDS-Arbeit eine ganz besondere
Tätigkeit im Berufsfeld Soziale Arbeit und Gesundheit darstellt.
Die Erfahrungspraxis des Interviewpartners, als schwuler Mann mit Sozialarbeiterdiplom in der AIDS-Hilfe offener und freier sein und handeln zu können, oszilliert mit dem Wissen, das er sich als Profi im Studium sowie im Berufsfeld der AIDS-Hilfe angeeignet hat. Dieses Feld der beruflichen Fertigkeiten
und Kompetenzen, bezeichne ich als Praxiserfahrung. Hier sind die beruflichen
Routinen, Bearbeitung von Arbeitsaufträgen, Methoden und institutionellen
Selbstverständlichkeiten angesprochen, die im Berufsalltag gemacht werden.
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
173
Meinem Verständnis nach sind Erfahrungspraxis, als eine Form direkter Beteiligung im Kampf gegen Stigmatisierungen im Zeichen der AIDS-Panik, und
Praxiserfahrung im Sinne ihrer institutionalisierten und damit professionellen
Variante zusammen als eine hybride Architektur von Bewältigungswissen und
zugleich Bewältigungskompetenz zu verstehen. In Situationen der »Betroffenheit« können sich demzufolge durchaus brauchbare Strategien »emanzipatorischer Lebensbewältigung« (Koch-Burghardt 1997: 60) herausbilden. Als
»Betroffenheitskompetenz« formuliert, erachte ich diese als eine durchaus diskussionswürdige und zu reflektierende Kategorie, wenn hieraus eine am Bedürfnis der Adressaten orientierte Methode der Sozialen Arbeit formuliert wird. Die
Frage nach dem Für und Wider der Leistungsfähigkeit »betroffener Experten«
greife ich im Folgenden weiter auf: Für jene Adressaten der AIDS-Hilfen, die
explizit nach den gemeinsam gemachten Erfahrungen innerhalb einer Hilfebeziehung suchen und sogar »Betroffenheit« als zentrale Verbindungsstelle in der
Beziehung zum Experten schätzen, erwarten und einfordern, repräsentiert ein
Beratungsangebot durch involvierte Expertinnen in den AIDS-Hilfen das zentrale und entscheidende Kriterium, soziale Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Die Milieukenntnisse Sozialer Arbeit, die sie sich durch Zugehörigkeit zu
einer »Randgruppe« erworben hat, zeichnet sich an dieser Stelle als Vertrauen
fördernde Kompetenz aus. Sozialarbeiter_innen, die selbst Stigmatisierungs-Erfahrungen aufgrund ihres Schwul-Seins oder ihrer HIV-Infektion/AIDS-Erkrankung gemacht haben, können im Hilfeprozess auf dieses Wissen zurückgreifen. »Betroffenheit« avanciert auf diese Weise zur unverwechselbaren Qualität
durch Erfahrung.4 Zugleich aber kann jenes unverwechselbare Insiderwissen
als deprofessionalisierendes Element durch die »Selbstbetroffenheit« der Akteure wirken, wenn gewissermaßen der »Bock zum Gärtner gemacht« (Ferranti
1999: 191) wird. Aus dieser Perspektive könnte »Betroffenheit« systematisch
»blinde Flecken« erzeugen, die es schwierig machen, zwischen den erwarteten
Rollen, »Experte« und »Adressatin« eindeutig zu differenzieren. »Zudem birgt
Betroffenheit hier auch das Risiko einer Rollenkonfusion, wenn der Helfer als
Kumpel oder Freund und nicht als professioneller Sozialarbeiter wahrgenommen wird« (ebd.: 194). Für den Zusammenhang zwischen Selbst- und AIDS4
In einem Aufsatz zum Professionalisierungsvermögen des Sozialstaats durch ein
stärkeres Einbeziehen der Potenzialität sozialer Selbsthilfebewegung argumentiert Oskar Klemmert (2001) mit einem Votum für die »Experte(n) aus Betroffenheit«. In dieser
personalisierten Variante von Erfahrungspraxis sehe ich schlechterdings die Gefahr einer
Selbstverdinglichung, die Etikettierungen bestätigt, statt danach zu fragen, wie auf (infra-)
struktureller Ebene auch das Wissen der »betroffenen Experten« für die Erwiderung auf
den disziplinären Zugriff durch staatliche Institutionen eingesetzt werden kann.
174
Christian Schütte-Bäumner
Hilfe konstatiert Mario Ferranti, nun positiv gewendet, ein »Sichzurechtfinden
in veränderten Lebenssituationen« (ebd.: 193) als ausgewiesenen Vorteil, den
Experten nutzen können, um das Vertrauen ihrer Adressaten zu gewinnen.
Meiner Untersuchung zufolge wird den AIDS-Hilfen seitens der interviewten Sozialarbeiterinnen nach wie vor die Funktion des Schutzraums gegenüber
Diskriminierung sowie die des Heimathafens für schwules Alltagsleben zugeschrieben. Das Bild verdichtet sich, dass AIDS-Hilfe als Institution in bestimmten Situationen einen bestimmten Expertentypus anzieht wie ein Magnet. Dieser
Magnetismus entfaltet seine performative Wirkung »nicht als ein vereinzelter
oder absichtsvoller »Akt«« (Butler 1997: 22), sondern als die »ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt,
die er benennt« (ebd.). Zugleich aber beginnt ein Prozess der Neutralisierung
politischer und gesellschaftskritischer Überzeugungen durch die »Normalisierung von AIDS« und die medizinische Behandelbarkeit der AIDS-Krankheit.
Der Verlust einer gemeinsamen Streit- und Diskussionskultur wird von den Akteuren gelegentlich mit der Tendenz einer allzu professionalisierten Vergrößerung und konzeptuellen Ausweitung beschrieben und mit dem label Entschwulung auf den Begriff gebracht.
Wie spielt nun der Konflikt einer »involvierten Experten-Identität« am Beispiel der Institution AIDS-Hilfe in die Forschungspraxis hinein? Wie lassen
sich professionelle Praxen in den AIDS-Hilfen, deren Selbstvergewisserungsarbeit stets eng verknüpft ist mit spezifischen Identitätspolitiken, kritisch-reflexiv in den Blick nehmen, sodass das Prinzip einer additiven Reihung »gesellschaftlich anerkannter (legitimer) Identitätsanteile« unterbrochen und irritiert
werden kann?
5. Wie »Anders Forschen«?
Es scheint für Forscherinnen vor allem komplizierter zu sein, als einfach von
den Experten auszugehen, um diese zu befragen, wenn Wissenschaftler/innen
zuvor die Notwendigkeit bestimmt haben, in diesen subkulturellen Räumen
»Erfahrungen zu sammeln« und im Anschluss zu verwerten. Denn wir haben
es stets mit relativ festen Meinungen, Bedürfnissen, Interessenslagen und Intentionen zu tun, die als »ordnendes Vorwissen« Prozesse der ethnographischen
Beobachtung wie auch des Experteninterviews beeinflussen. Das bedeutet, dass
Forschungsfragen immer auch Etikettierungen in das Forschungsfeld hineintragen. Forschungspraxis entspricht gleichsam einer politischen Praxis, wenn Politik gedacht wird als Wille zur Durchsetzung von Überzeugungen und Standpunkten in der Gesellschaft.
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
175
Ich frage mich nun, wie eine nicht verdinglichende Forschung, die sich für
das Wissen der Experten interessiert, vor dem Hintergrund der Situation in den
AIDS-Hilfen denkbar wäre. Wie kann es gehen mit dem »Anders forschen«,
wenn sich bereits im Prozess des Expert_inneninterviews die komplexe Konstruktion »der Expertin« offenbart? Der Soziologe Heinz Steinert (1998) gibt uns
den Rat, genau hinzusehen, geduldig nachzudenken und sich nicht dumm machen zu lassen (vgl. ebd). Vielleicht lässt sich ja tatsächlich die Gefahr von Absetzbewegungen der Wissensarbeiter von den sozialen Verhältnissen der Leute,
durch Infragestellungen der Praktiken, die offensichtlich oder weniger offensichtlich zum Einsatz kommen, feststellen. Mich interessieren daher Möglichkeiten selbst-reflexiver Wissensproduktion im Feld sozialwissenschaftlicher
Forschung, denn eine reflexive Sozialwissenschaft partizipiert nicht an Kategorisierungen und Verfahren der Zuschreibung, sie arbeitet aber über sie. Es bereitet mir Unbehagen, wenn Welt- und Selbstverhältnisse für selbstverständlich
genommen werden und insofern kritische Nach-Fragen ins Abseits geraten, ja
schlicht herausfallen, ungehört bleiben. Der Verlust der selbstreflexiven Dimension in der Beziehung zwischen forschenden Akteuren und den so genannten
Forschungsgegenständen unterstützt den affirmativen Umgang mit dem Referenzrahmen des Denkens und Argumentierens. Schließlich stabilisiert sich auf
diese Weise die Gefahr performativen Selbstwiderspruchs, wenn also das Tun
und das Sprechen auseinanderfallen.
Wie bereits angedeutet sind sowohl die Bedingungen und Verhältnisse wissenschaftlicher Praxis als auch Handlungsspielräume von Interesse. Mit diesem Fokus beziehe ich mich auf interaktive Praxen, die nicht mehr notwendigerweise Erfahrungspraxis von Praxiserfahrung abtrennen, vielmehr aber das
Vokabular von Zuschreibungen, die Routinen des Pathologisierens und deren
Verwaltung in Institutionen bedenken. »Diese Perspektive ist reflexiv und kritisch, insofern sie sich nicht mit den Einrichtungen verbündet, die die Kategorisierungen verwalten, wie es eine traditionelle Kriminologie, Psychiatrie,
Pädagogik, Psychologie ungebrochen getan hatte. Es ist also sicher nicht die
Sichtweise dessen, dem selbstverständlich ist, was ein »Krimineller«, ein »Verrückter«, ein »Verwahrloster«, ein »Behinderter«, ein »schlechter Schüler« (oder
ein »engagierter Homosexueller, CSB) ist. »Aber wessen gesellschaftliche Perspektive ist es genau, auf welchen sozialen Erfahrungen beruht sie?« (Steinert
1985a: 30). Oder anders gefragt: Wie sind Möglichkeiten denkbar, mit den gesellschaftlichen Zumutungen umzugehen, diese zu bewältigen und das soziale
Leben zu arrangieren?
An dieser Stelle ließe sich über Formen des Widerstands diskutieren, die Judith Butler beispielsweise immer innerhalb der Diskurse und niemals außerhalb
sieht. Strategischer Ansatzpunkt wäre nun, genau jene Bezeichnungsverfahren,
176
Christian Schütte-Bäumner
die ein vergesellschaftetes Individuum regulieren, zu dekonstruieren. Dekonstruktion stellt sich nicht außerhalb wirkmächtiger Diskurse. Als kritischreflexive Dimension liegt ihr Schwerpunkt auf den politischen Möglichkeiten, etablierte, normative Kategorien zu unterwandern und so deren soziale Architektur,
ihr Gewordensein zu betonen. Identitätsarbeit involvierter Expert_innen in den
AIDS-Hilfen ist in komplexe Machtverhältnisse eingebunden. Entweder repräsentieren sie sich als gut ausgebildet, neutral und unvoreingenommen, oder sie
sind mit den Problemen ihrer Klienten selbst derart verwoben, dass sie in professionstheoretischer Definition eigentlich keine Experten sein können.
Im Entweder-Oder-Dogma stabilisiert sich eine berufliche Identität, die ihre
eigene Genealogie unhinterfragt für gegeben annimmt. Um dieses Dogma zu
hinterfragen, kommt eine identitätskritische und insofern für die Sozialwissenschaft bedeutsame, reflexive Variante ins Spiel, die jedwede Identitätskategorie nach ihrer Deutungsmacht befragt. Einführend habe ich den Gebrauch geschlechtsspezifischer Artikulation problematisiert und späterhin beschrieben,
welche Tücken die Verwendung des eindimensionalen Expertenbegriffs im Forschungsprozess birgt.
Am Beispiel der Rekonstruktion des »AIDS-Hilfe-Experten« und des Interesses, das die Sozialforschung an ihm hat, ist auf die diskursiven Verstrickungen dieser Kategorie aufmerksam gemacht worden. AIDS-Hilfe-Arbeiter repräsentieren hybrides Erfahrungswissen, das private Bewältigungsstrategien des
Schwulwerdens mit professionellem Know-How zusammenführt. Sozialpolitisch wird diese Sonderform der kollektiven Selbstsorge instrumentalisiert, indem die professionelle Praxis der Sozialarbeiter/innen in den AIDS-Hilfen als
»interaktives, subkulturelles Kompetenzprofil« etikettiert wird. AIDS-Hilfe-Experten nehmen die Anfrage der Gesundheitsbehörde Mitte der 1980er Jahre dankbar entgegen, selbst für Ordnung in ihren eigenen Reihen, in den sonderbaren
Räumen sexueller Devianz zu sorgen. Immerhin gelten sie eben als Experten
»ihrer spezifischen sexuellen Vorlieben« jenseits eines »normalen Sexualverhaltens«. Auf diese Weise schließt sich Ghetto-Politik mit Wohlfahrtsprogrammatik zusammen.
Wir haben es in der Welt der Experten, der Wissenschaft oder auch der sozialen Bewegungen mit paradoxen Inszenierungen zu tun, denn: Jene ambivalente
Gleichzeitigkeit von Fügsamkeit und Opposition im Prozess der Subjektwerdung, oder wie Volker Woltersdorff für die Etappen des Coming-Outs analysiert, zwischen »Auflehnung und Anpassung« (Woltersdorff 2005: 177) kann
zugleich auch als Analysemodus und produktives Unbehagen genutzt werden.
Damit sind Möglichkeiten angedeutet, soziale Techniken der Zuschreibung,
Etikettierung sowie Konventionen durch Gegendiskurse zu stören, mit anderen
Worten Sand ins Getriebe zu geben.
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
177
Soziale Arbeit in den AIDS-Hilfen ist ein gutes Beispiel dafür, dass ganz unterschiedliche Diskurse zusammenlaufen und ihre je historische Konstitution als
Projektionsfläche für neue Bedeutungskonstruktionen bereithalten. Die Qualitätsdebatte im Sozial- wie auch im Gesundheitsbereich steht hierfür exemplarisch. Versteht sich die Diskussion um Expert_innen in den AIDS-Hilfen sowie
ihre spezifische Identität demzufolge als ein Diskurs, der eine bestimmte Denkweise vorgibt, so kommen aus einer kritischen Perspektive Identitätspolitiken in
den Blick, die nicht einschränken und isolieren, sondern Mehrdeutigkeiten zulassen können. »Identitätskonstruktionen an sich« können nicht abgestreift oder
ausgelöscht werden. Der Zwang zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht von Normalität und Abweichung sowie die Aporie, etwas repräsentieren zu müssen, können hingegen reflektiert werden. Obgleich die produktiven Effekte der Macht,
ihre Disziplinierung und Generierung »fügsamer Körper«, aber auch ihre Selbstkontrolle und ihr Vermögen, aus Individuen Spezies zu formen5, als Grundlage
für eine gesellschaftsfähige Selbstidentifikation angenommen werden, so gibt
es dennoch Risse und Lücken im Netz diskursiver Vereinbarungen. Innerhalb
dieser Spalten lassen sich Bedeutungsverschiebungen einbringen, die vom starren Binären professionell oder unprofessionell abweichen. Umdeutungsmöglichkeiten setzen das Zulassen von Mehrdeutigkeiten voraus und besprechen
die eigene Qualität involvierter Expertise neu und anders.
Involvierte Expert_innen müssen nicht per se ein Beispiel für unprofessionelles Handeln sein. Rahmenbedingungen, Strukturen und berufliche Selbstverständnismuster sind sehr komplexe Zusammenhänge, die zunächst einmal empirisch »sichtbar« gemacht werden müssen, bevor ein Nutzen näher bestimmt
werden kann. So gesehen bieten sich immer auch Gelegenheiten, mit Etikettierungen und Selbstkategorisierungen umzugehen und ihre vermeintliche Festigkeit zu irritieren und Bedeutungsverschiebungen einzusetzen. Mit Butler (1993)
könnte man formulieren, dass die Praxis wie auch die Wissenschaft »die Expert_innen« braucht, beide aber nicht wissen müssen, »wer« sie sind.6 Abzulehnen ist hingegen eine objektivierende, verdinglichende Kategorie des Experten
als eine Identität an sich, die Wahrheiten festlegt. Vielmehr bedarf es einer In5
Michel Foucault gibt hier den Hinweis darauf, dass der Sodomit im 18. Jahrhundert
im Duktus des Sünders verhandelt wurde, der Homosexuelle hingegen bereits eine spezifische Identität angenommen habe, die sich einzig durch Abgrenzung vom Normalen
konstituieren konnte. »Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine
Spezies.« (Foucault 1983: 47)
6
Diese Formulierung entlehne ich dem Artikel Judith Butler in der Frankfurter Rundschau vom 27. Juli 1993. Hier argumentiert sie: »Der Feminismus braucht ›die Frauen‹,
aber er muss nicht wissen, ›wer‹ sie sind« (Butler 1993). Demgemäß fordert sie Orte
der politischen Neuverhandlung.
178
Christian Schütte-Bäumner
blicknahme der paradoxen Situation, dass in der Kritik und Dekonstruktion der
Expertenidentität Etikettierungen widersprochen wird, durch die die Akteure in
den AIDS-Hilfen selbst konstituiert werden (ebd.).
Meines Erachtens ist in diesem Zusammenhang entscheidend, ob »Wissenschaft machen« als Perspektive verstanden werden kann. Auf diese Weise bliebe
eine wissenschaftliche Befragung von Experten offen für komplexe Relationen,
die explizit auch die Position des Interpreten sowie die Verhältnisse, in denen
Forschung betrieben wird, berücksichtigt.
Literatur
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die modernisierungstheoretische und die methodische Debatte um die Experten:
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»die Frauen«, aber er muss nicht wissen, »wer« sie sind. In: Frankfurter Rundschau, 27. Juli, S. 10.
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Heite, Catrin (2006): Professionalisierungsstrategien der Sozialen Arbeit, in: Neue
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Tür zu einer alternativen Professionalität aufgestoßen? In: Archiv für Wissenschaft
Erfahrungspraxis und Praxiserfahrung in den AIDS-Hilfen
179
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Zeitschriften
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120.
Der Spiegel (1983): Tödliche Seuche AIDS. Die rätselhafte Krankheit, 6.6.1983,
S. 144.
4. Gewerkschaftliches Umdenken
im Post-Fordismus
Hae-Lin Choi
Know your enemy
Strategische Unternehmensrecherche als wesentliches
Element gewerkschaftlicher Organizingkampagnen in den USA
Organizing, als innovativer Ansatz der gewerkschaftlichen Mitgliedergewinnung und im weiteren Sinne Erneuerungsmotor der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, prägt derzeit die Diskussion um gewerkschaftliche
Revitalisierungsstrategien weltweit.1 Auch in Deutschland erprobt ver.di Organizing-inspirierte Projekte, wie z.B. die jüngst beendete Organisierungskampagne
im Hamburger Sicherheitsgewerbe oder die LIDL-Kampagne (Bremme et al.
2007). Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem wesentlichen Element von Organizing-Kampagnen, das bislang in der allgemeinen Debatte, die eher um den
Prozess der Mitgliedergewinnung kreiste, unterbeleuchtet war: Die strategische
Unternehmensrecherche und ihre Rolle in gewerkschaftlichen Kampagnen.
Changing to Organize, Organizing to Change
Organizing geriet in den Fokus der gewerkschaftlichen Revitalisierungsbemühungen als deutlich wurde: Es geht um das gewerkschaftliche Überleben.2 In den
USA zeigte sich dies zum einen am drastischen Rückgang des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades durch Verlagerungen, Deregulierung und Flexibilisierung von über 30% in den 1960er Jahren auf derzeit um die 12% bzw. 7,4% in
der Privatwirtschaft (Hirsch/McPherson 2008) und zum anderen an der Zunahme
von aggressiven Unternehmensstrategien zur systematischen Zerschlagung von
Gewerkschaften – union busting (Milkman/Voss 2004; Logan 2006).
1
Die derzeitig stetig zunehmende Literatur umfasst unter anderem: Bronfenbrenner
et al. 1998; Fairbrother/Yates 2003; Fantasia/Voss 2004; Hälker/Vellay 2007; Milkman/
Voss 2004; Turner et al. 2001; Turner/Cornfield 2007, Überblick im deutschsprachigen
Raum: Brinkmann et al. 2008.
2
Gemeinhin wird die Wahl John Sweeneys 1995 zum Präsidenten des Dachverbands
American Federation of Labor – Congress of Industrial Organizations AFL-CIO als
Wendepunkt angesehen, da er mit einem expliziten Erneuerungsprogramm angetreten
war und nach seiner Wahl tiefgreifende Reformen zur verstärkten Mitgliedergewinnung
einleitete (Milkman/Voss 2004; Tuner et al. 2001).
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
183
Einige Gewerkschaften, v.a. die Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union SEIU, um die es im Folgenden gehen soll,3 erklärten die Mitgliedergewinnung (New Organizing4) zur obersten Priorität und
propagierten eine Abkehr vom bisherigen Modell, dem service-orientierten
Business Unionism, der Gewerkschaften zu reinen Dienstleistern für die organisierte Mitgliedschaft reduziert. Dieser Wandel hin zu einem stärker auf Organisierung, Mobilisierung und Aktivierung orientierten Organisationsmodell
bedeutete eine massive Ressourcenverlagerung zur Finanzierung von Organisierungskampagnen und hatte eine radikale innerorganisatorische Umstrukturierung der SEIU zur Folge (Choi 2008).
Das Organizing Modell umfasst eine Reihe von kreativen Techniken und
Praktiken der gewerkschaftlichen Mitgliedergewinnung und basiert auf einer
hohen Einbeziehung der Beschäftigten in den Organisierungsprozess. Dieser
findet in der Regel im Rahmen von strategischen Kampagnen statt, in denen die
Beschäftigten und die Gewerkschaft, oftmals gemeinsam mit Gemeindeorganisationen oder Kirchen, den Arbeitgeber anhand diverser Aktionsformen unter
Druck setzen, um gewerkschaftliche Anerkennung zu erreichen und Tarifverträge abschließen zu können (Bronfenbrenner et al. 1998). Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf den Fachbereich Gebäudedienstleistungen (Property Services) der SEIU, der mit 250.000 Mitgliedern größten
Gewerkschaft im Bereich Gebäudedienstleistungen in den USA.
Veränderte Branchenbedingungen und eine diversifizierte Belegschaft, die
sich zunehmend aus niedrig-qualifizierten, oftmals illegalisierten MigrantInnen
aus Lateinamerika zusammensetzte, machten die Entwicklung von neuen Organisierungsstrategien und gewerkschaftlichen Handlungsformen notwendig
(Dribbusch 1998). Der verschärfte Wettbewerb unter den nun oftmals outgesourcten Serviceunternehmen um die Auftragsvergabe von Großkunden führte
zu einem rapiden Absturz der Arbeits- und Lohnverhältnisse in dieser Branche
und Unternehmen mit Tarifvertrag wurden zunehmend aus dem Markt gedrängt.
Die Ursache dafür war der Umstand, dass die ausgelagerten Reinigungsfirmen
formell die Arbeitgeber der Reinigungskräfte waren und damit Verhandlungspartner der Gewerkschaften, tatsächlich aber die Auftraggeber der Reinigungsfirmen – Immobilienunternehmen oder deren Kunden – die Preise der Dienst3
Die SEIU organisiert den Gesundheitssektor, den öffentlichen Dienst und gebäudenahe Dienstleistungen und ist mit über 1,9 Mio. Mitgliedern die größte Gewerkschaft
in den USA.
4
New Organizing bezeichnet die Organisierung und Gewerkschaftsbildung in bislang
gänzlich unerschlossenen Branchen und Betrieben, was in Deutschland als »Schließung
weißer Flecken« bezeichnet wird.
184
Hae-Lin Choi
leistungen (und damit die Löhne) für Gebäudereinigung diktierten. In den USA
sind Gewerkschaften auf Betriebsebene organisiert, übergreifende Vereinbarungen wie Flächentarifverträge existieren nicht. Das bedeutet: Wenn die Gewerkschaft die Beschäftigten einer Reinigungsfirma organisiert und Lohnerhöhungen aushandelt, hat das Unternehmen einen eindeutigen Wettbewerbsnachteil
gegen nicht-gewerkschaftliche Konkurrenten – und genau das passierte in den
1990er Jahren.
Auch wenn das System der industriellen Beziehungen in Deutschland sich
ziemlich vom US-amerikanischen unterscheidet, sind Auslagerungen und Unterbietungskonkurrenz von Subunternehmen doch Probleme, mit denen auch deutsche Gewerkschaften zu kämpfen haben. Die SEIU entwickelte daraufhin eine
Strategie, die zum Ziel hatte, regionale Abkommen mit marktführenden Auftrags- und Arbeitgebern (Masteragreements and contracts) abzuschließen, die
die Auftraggeber dazu verpflichten, nur gewerkschaftliche Unternehmen zu engagieren, um die Löhne aus dem Wettbewerb zu nehmen – Justice for Janitors5
(Dribbusch 1998). Justice for Janitors (JfJ) gilt als Prototyp einer umfassenden
Kampagne (Comprehensive Campaign), die Druck auf Unternehmen ausübt,
um diese zur Unterzeichnung von Verträgen zu bringen. Diese Kampagnen sind
insofern umfassend, als sie die Zielunternehmen aus mehreren Richtungen angreifen und auf mehreren Ebenen konfrontieren: ökonomisch (Streik, Boykott,
Geschäftsschädigung), politisch (mithilfe von politischen Verbündeten), finanziell (bei Investoren und Anteilseignern), regional (in der community) und kulturell (Image) – und nicht immer geht es vordergründig um die Beschäftigten.6
Diese Taktik der multidirektionalen Angriffe resultiert unter anderem aus der
unzureichenden Arbeiter- und Organisationsmacht, die die Beschäftigten, die
die SEIU organisiert, aufbringen können. Streiks von illegalisierten, niedrig
qualifizierten Reinigungskräften haben bei Weitem nicht dieselbe Wirkung wie
Streiks in anderen Sektoren, weil die Belegschaften umgehend ersetzt werden
können, oder Subunternehmen einfach den Auftrag verlieren können. Aber das
Fundament für den Kampagnenplan, für diverse Aktionen und Handlungsfelder
der Kampagnen legt die strategische Unternehmensrecherche.
5 Zu Deutsch: Gerechtigkeit für Reinigungskräfte.
6
Fallstudien und Ausführungen über umfassende Kampagnen: Dribbusch 1998; Lopez 2004; Milkman/Voss 2004.
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
185
Das Unternehmen und wie es die Welt sieht
Unternehmensrecherche an sich ist keine Neuerfindung der Gewerkschaften,
ebenso wenig wie strategische Unternehmenskampagnen. Der Ursprung von
Unternehmensrecherche liegt bei unternehmenskritischen NGOs, Bürgerrechts-,
Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in den 1980er Jahren und hat mit dem
Bedeutungsgewinn von multinationalen Unternehmen in den letzten Dekaden
noch mal deutlich zugenommen (Klein 2001; CorpWatch 2007). Unter Gewerkschaften ist diese Methode relativ jung und unmittelbar zusammenhängend mit
ökonomischen Restrukturierungsprozessen entstanden. Neu ist in diesem Zusammenhang also eher die Tatsache, dass Gewerkschaften diese Methode anwenden und wie sie es tun. Im Folgenden werde ich die Recherchemethoden
und die dahinter liegenden Ideen eingehender vorstellen.7
Zunächst wird anhand von regionalen Untersuchungen (so genannten Marktanalysen) analysiert, welche Region, Branche oder Unternehmen aus welchen
strategischen Gründen zu organisieren ist. Die Kriterien können sein: Erhöhung des Organisationsgrads, Bedrohung von erkämpften Standards durch Unterbietungskonkurrenz, verstärkte Anfragen von Beschäftigten, aber auch geostrategisch wichtige Positionen für zukünftige Organisierungen. Ist ein Ziel,
eine Region ermittelt, beginnt die eigentliche Recherche. Die folgenden Elemente müssen nicht unbedingt chronologisch aufeinander folgen und hängen
auch immer stark vom jeweiligen Kontext ab, können aber dennoch als wesentliche Mittel ausgemacht werden: (1) Marktanalyse, (2) Unternehmensrecherche, (3) Analyse des sozialen Netzwerks und Mapping der Machtstrukturen der
Region, (4) Machbarkeitsanalyse. Die dabei zugrunde liegende Idee ist: »Verstehe die Welt aus der Sicht des Bosses.« (Chu 1993: 42)8
Im Rahmen einer gewerkschaftlichen Kampagne hat die Recherche verschiedene Aufgaben in unterschiedlichen Phasen der Kampagne. In einem Trainingshandbuch dazu heißt es: »Strategische Recherche erfüllt zwei wichtige Zwecke. Es hilft der Gewerkschaft 1. den Markt zu verstehen, Schlüsselgruppen
und -akteure zu identifizieren und Ziele, die strategisch wichtig und gewinnbar sind, auszuwählen und 2. effektive Wege zu entwickeln, die Kampagne mit
7
Dabei beziehe ich mich überwiegend auf SEIU-Trainingsmaterialien zum Reinigungsgewerbe, da es bislang kaum andere Quellen dazu gibt, und auf qualitative Interviews, die ich mit ResearcherInnen der SEIU Local 32BJ im September 2007 in New
York durchgeführt habe. Die Methode an sich lässt sich jedoch auch auf andere Branchen und Strukturen übersetzen und wird auch von anderen Gewerkschaften und NGOs
verwendet.
8
Alle Übersetzungen durch die Verfasserin.
186
Hae-Lin Choi
legalen top-down Taktiken auszuweiten (...)« (Grabelsky et al. 2000: 49) Ein
Großteil der Recherche erfolgt also vor der Entscheidung für eine Organisierungskampagne.
1. Die Marktanalyse
In einer Marktanalyse wird zunächst ermittelt, wie die regionale Branche aufgestellt ist, um Organisierungsziele zu identifizieren: Welche Unternehmen erhalten welche Aufträge von welchen Unternehmen und wie viele Unternehmen
müssen gleichzeitig organisiert werden, damit ein kritischer Marktanteil abgedeckt ist? Es geht also darum, möglichst große Teile der Beschäftigten zu erfassen und relevante Arbeitgeber, mittlerweile oftmals nationale oder globale
Serviceunternehmen, einzubeziehen – wobei die Gewerkschaften auch das Interesse haben, möglichst viele Mitglieder zu gewinnen.9 Dazu wird im Fall der
Gebäudereinigungsbranche die Region nach ihrer Gebäudestruktur untersucht
und analysiert, und es wird eine Datenbank mit zentralen Gebäuden und ihren
Eigentümern angelegt. Dann wird in einem weiteren Schritt ermittelt, welche
Auftragnehmer für die Gebäude verantwortlich sind und wie viel Beschäftigte
jeweils tätig sind. Bei großen Unternehmen und Auftragnehmern sind diese
Informationen meist öffentlich vermerkt. Bei kleinen, unbekannten Unternehmen werden dafür oftmals OrganizerInnen10 eingesetzt, die die Beschäftigten
in den Gebäuden aufsuchen und befragen. Auch diese Informationen werden
sorgfältig abgelegt.
Anhand dieser Daten werden nun die Schlüsselunternehmen ermittelt und berechnet, wie viele Unternehmen organisiert werden müssen, damit eine Mehrheit für einen stadtweiten Vertrag erreicht werden kann.11 Diese Unternehmen
werden dann die Hauptziele der Kampagne. Im Vorfeld von größer angelegten
Organisierungskampagnen in gänzlich unerschlossenen Regionen oder Bran9
In etwa 50% der US-amerikanischen Bundesstaaten gilt das union shop-Prinzip
der gewerkschaftlichen Pflichtmitgliedschaft, sobald ein Betrieb eine Gewerkschaft anerkannt hat. Verständlicherweise organisieren Gewerkschaften überwiegend in diesen
Unternehmen.
10
OrganizerInnen sind ausgebildete OrganisiererInnen, die werben, agitieren und mobilisieren. Nicht nur Gewerkschaften beschäftigen OrganizerInnen, auch soziale Bewegungen, Gemeindegruppen und andere NGOs. Gewerkschaftliche OrganizerInnen haben im New Organizing verstärkt einen aktivistischen Hintergrund oder stammen aus
der Mitgliedschaft selber.
11
Dieses Verfahren wird trigger effect (dt. Anreiz) genannt. Vertragsverhandlungen
finden erst statt, wenn eine Mehrheit der örtlichen Unternehmen organisiert ist, damit
diese einen Anreiz zur Unterzeichnung haben und die Sicherheit besteht, dass sie keinen Wettbewerbsnachteil erleiden werden.
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
187
chen kann die Analyse einige Jahre in Anspruch nehmen. Generell gehört die
Marktanalyse mittlerweile zu den Standardaufgaben von gewerkschaftlichen
Rechercheabteilungen, nicht nur um Organisierungsperspektiven zu ermitteln,
sondern auch um den Überblick über die sich ständig wandelnde Zusammensetzung von lokalen Subunternehmen zu behalten.
2. Unternehmensprofil und Unternehmensnetzwerk
Alle Unternehmen müssen sorgfältig recherchiert werden, und zwar so präzise, detailliert und umfassend wie möglich. Diese Informationen werden aus
vielfältigen Quellen ermittelt,12 angefangen von den Auskünften der Unternehmen selber, über Artikel in der Wirtschaftspresse, Bibliotheken, Datenbanken,
Internetrecherche u.v.m. Folgende zehn Elemente sind hierbei wesentlich: (1)
Geschichte und Geschäftspläne: Schlüsselprodukte, Geschäftsfelder, Unternehmensstrategie, Zulieferer und Konkurrenten; (2) Besitz: Wie ist das Unternehmen aufgestellt, Tochterunternehmen, Anlagen, Standorte und Filialen; (3)
»Folge dem Geld«: Gewinne, Trends, Kerngeschäft, Zielgruppe, Marktposition; (4) »Folge den Finanzen«: Investoren, Investitionen, Geldgeber, Banken,
Subventionen und andere Zuschüsse; (5) Schlüsselverbündete: Anwälte, Beratungsfirmen, PR, Versicherungen, Arbeitgeber-, Unternehmensverbände, politische Kontakte; (6) Entscheidungsträger: Eigentümer, Manager, Vorstände (individuelle Persönlichkeitsprofile); (7) Arbeitsverhältnisse: Löhne, Lohnkosten,
Arbeitsverhältnisse, Existenz von Gewerkschaften an anderen Standorten, vergangene Organisierungsversuche, Managementstrategien; (8) Rolle in der Gemeinde, Stadt, Region; (9) steuerliche Situation; (10) Rechtsstreitigkeiten, Klagen und Prozesse. Diese Informationen werden dann zueinander ins Verhältnis
gesetzt und zu einem Netzwerk zusammengestellt. Alle Knotenpunkte und Verbindungslinien werden dabei nach verschiedenen Kategorien bewertet: Stärken/Schwächen, welche Interessen stehen hinter welchen Verbindungen, welche Verbindungen sind wichtig, welche sind im Aufbau begriffen und welche
Verbindungen bestehen zur Gewerkschaft oder deren Bündnispartnern (siehe
Abb. 1). Das Ziel ist es, das Unternehmen so gut wie möglich zu kennen und
die Hoffnung ist, sensible, angreifbare Punkte zu finden, die gegen das Unternehmen verwendet werden können. Wenn also in Ken Loachs Film Bread and
Roses der Gewerkschafter die Namen von Schlüsselpersonen kennt und über deren Geschäfte bestens informiert ist, so ist das nicht die Dramaturgie des Drehbuchautors, sondern entspricht der tatsächlichen Recherchepraxis (in diesem
Fall der Justice for Janitors-Kampagne).
12
Meist wird dabei auch auf das berüchtigte »dumpster diving« zurückgegriffen, d.h.
es werden Müllcontainer nach brauchbaren Informationen durchsucht.
188
Abbildung 1: Grafische Darstellung eines Unternehmensnetzwerks
nach Tom Juravich
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Urhebers)
Hae-Lin Choi
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
189
Eine Reihe von unternehmenskritischen Kampagnen wie etwa die Wal-MartKampagne (Zajak 2007) und zuletzt die LIDL-Kampagne von ver.di haben vorgemacht (Haman/Giese 2004), wie sensibel Unternehmen auf öffentliche Kritik
reagieren können, was deren Wirkung zwar nicht überschätzen soll, aber darauf hindeutet, dass es eine von mehreren Möglichkeiten ist, ein Unternehmen
unter Druck zu setzen.
3. Mapping der Machtstrukturen der Region
In einem weiteren Schritt wird ermittelt, wer die Beschäftigten sind und wie ihre
Arbeitssituation ist. Dazu wird ein sozial-demografisches Profil der Beschäftigtenstruktur angelegt, was Angaben zu Geschlecht, Herkunft, Religion, Ausbildung usw. beinhaltet. Diese Informationen werden meist von OrganizerInnen
ermittelt, und zwar in persönlichen Gesprächen. Ebenfalls wichtig sind Informationen zum sozialen Umfeld, wie die communities aufgestellt sind, welche
Geschichten sie haben und welche Themen sie beschäftigen. Besonders wichtig
ist, zu ermitteln, ob es »organische« oder moralische AnführerInnen oder Autoritäten einer Gemeinde gibt. Oftmals erfüllen Geistliche diese Funktion. Beim
Aufbau von Bündnissen und sozialen Netzwerken, die die Kampagne mittragen sollen, kann die Unterstützung dieser Person von zentraler Bedeutung sein.
Diese Informationen spielen eine wesentliche Rolle im Organisierungsprozess,
da die Erfahrung gezeigt hat, dass der Organisierungserfolg umso höher ist, je
stärker die demografischen Merkmale der OrganizerInnen und der zu Organisierenden übereinstimmen.
Die gesammelten Angaben werden zu einer sozio-kulturellen Landkarte zusammengestellt; ein Prozess, der als Mapping oder Kartographieren bezeichnet
wird. Mapping beschreibt eine Technik, die demografische Struktur einer Region zu einer sozialen Landkarte zusammenzustellen. Diese soziale Landkarte
wird dann um Informationen über die zentralen Machtstrukturen der Stadt ergänzt, was die politische Machtverteilung, die Verflechtungen von Politik, Wirtschaft, Kultur und Schlüsselfiguren herauskristallisiert, um zu verstehen, was
die Stadt bewegt und wo die Kampagne ansetzen sollte.
Bündnisse von Gewerkschaften mit anderen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen oder Bewegungen stellen eine Erneuerung für US-Gewerkschaften dar,
die eindeutig mit dem Organisationswandel ab Mitte der 1990er Jahre zusammenhängt und ist mit einigem Konfliktpotenzial verbunden. Frege et al. (2004)
unterscheiden drei Arten von gewerkschaftlichen Bündnissen: (1) Bündnisse,
in denen der Bündnispartner eine untergeordnete Rolle spielt und die Ziele der
Gewerkschaft unterstützt (Vanguard Coalitions); (2) Bündnisse, in denen beide
oder alle Bündnispartner eigene Ziele verfolgen, die sich aber ergänzen und
gemeinsam angesprochen werden können (Common-cause Coalitions); (3) in-
190
Hae-Lin Choi
tegrative Bündnisse, in denen die Gewerkschaft sich den Zielen der Bündnispartner unterordnet (Integrative Coalitions). Typische Bündnispartner sind z.B.
Stadtteilgruppen, migrantische communities, Fraueninitiativen, Kirchen, Medien
oder auch lokale Politiker (Needleman 1998). Die SEIU ist im Vergleich mit
anderen Gewerkschaften eine äußerst bündnisfreudige Gewerkschaft, doch in
der Vergangenheit hat die zunehmende Berechenbarkeit, mit der sie Bündnisse
im Stile von Vanguard Coalitions eingegangen ist, teilweise unter der Vortäuschung von Common-cause Coalitions, verstärkt zur Kritik geführt, sie hätte
lediglich ein instrumentelles Verhältnis zu ihren Bündnispartnern.
4. Machbarkeitsanalyse
Anhand dieser Informationen erfolgt eine Einschätzung über die Machbarkeit
und Erfolgschancen einer Organisierungskampagne. Folgende Fragen sollten
hierbei beantwortet sein, bevor eine eindeutige Entscheidung getroffen wird: Ist
eine Organisierung möglich? Was spricht dafür, was dagegen? Wie ist die Stimmung unter den Beschäftigten? Welche Zeitpunkte sind günstig? Wie viel Zeit,
finanzielle und personelle Ressourcen werden benötigt und was könnten Zwischenziele, Forderungen sein? Auf der Basis der Einschätzung wird ein Strategie- und Kampagnenplan erstellt, und die Kampagne nimmt ihren Lauf.
Die Einrichtung von gewerkschaftlichen Rechercheabteilungen
Bislang gibt es kaum wissenschaftliche Analysen zur Rolle von strategischer
Unternehmensrecherche in gewerkschaftlichen Kampagnen, in der allgemeinen
gewerkschaftlichen Politik und ihr Einfluss auf den Revitalisierungsprozess. Es
ist jedoch festzustellen, dass die Recherche nicht nur im Rahmen von Kampagnen eine große Rolle spielt, sondern mittlerweile auch fester Bestandteil in der
allgemeinen, kontinuierlichen Arbeit der Gewerkschaften ist. Für die SEIU hat
die Auslagerung der Gebäudedienstleistungen und das Entstehen eines völlig
neuen Subunternehmermarktes die verstärkte Aufnahme von Recherchetätigkeiten notwendig gemacht. Anfangs übernahmen OrganizerInnen diese Funktion, doch mit der Zeit wurde dieser Bereich zunehmend bedeutungsvoller, da
das umfassende JfJ-Kampagnenmodell weit verzweigte Recherchen erforderte.
So entstand in den 1980er Jahren mit »strategischer Recherche« (Strategic Research) eine neue Abteilung innerhalb der SEIU. Die Aufgabenverteilung zwischen Organizing und Research beschreibt die ehemalige Organizing Direktorin
der SEIU Local 32BJ, Lenore Friedlaender, folgendermaßen: »OrganizerInnen
haben die Aufgabe, die ArbeiterInnen zu verstehen, quasi die Welt aus ihren
Augen zu sehen, um zu verstehen, was sie bewegt. ResearcherInnen haben die
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
191
Aufgabe, die Unternehmen zu verstehen, um zu verstehen, was ihnen wichtig
ist und was sie antreibt.«
Eine qualifizierte Ausbildung zum/r Union ResearcherIn gibt es erst seit
wenigen Jahren und auch nur an zwei Universitäten in den USA. 2001 richtete die School for Industrial and Labor Relations der Cornell University in enger Zusammenarbeit mit dem AFL-CIO einen Sommerkurs zu Strategic Corporate Research ein (Cornell University 2007), und auch die Universität von
Massachusetts, Amherst bietet einen Corporate-Research-Kurs an (University
of Massachusetts 2007). Beide Kurse werben mit der Aussicht auf zukünftige
Positionen bei Gewerkschaften, noch haben allerdings eher eine Minderheit
der gewerkschaftlichen ResearcherInnen diese Kurse besucht. Es gibt regelmäßig Fortbildungen, gerade zu Beginn von neuen Kampagnen oder Expansionsbestrebungen der Gewerkschaften, die von AbteilungsleiterInnen oder anderen
führenden GewerkschaftsfunktionärInnen gehalten werden.
Seit einigen Jahren werden verstärkt Wirtschafts-, Journalismus- und JuraabsolventInnen als ResearcherInnen rekrutiert und eingestellt, da ihr spezialisiertes Wissen benötigt wird. Diese Entwicklung birgt eine interessante Veränderung, die noch gänzlich unerforscht ist.13 Oftmals handelt es sich hierbei
um ResearcherInnen, die nicht unbedingt einen gewerkschaftlichen Hintergrund oder eine große Affinität zu Gewerkschaften haben und es kann vermutet werden, dass dies einen erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung der
gewerkschaftlichen Beschäftigten ausübt – und dadurch auch auf die Ausrichtung von Kampagnen. Der allgemein entpolitisierende Trend, das Organisationswachstum über alles zu stellen und mit allen Mitteln zu effektivieren (Choi
2008), kann dadurch noch verstärkt werden, da politische oder normative Orientierungen im Zuge der Professionalisierung der Arbeit in den Rechercheabteilungen in den Hintergrund treten, während strategische Überlegungen in
den Vordergrund treten. Rechercheabteilungen sind oftmals die einzigen Abteilungen, die eng mit allen anderen Abteilungen der Gewerkschaften zusammenarbeiten: Organizing, Kommunikation und Politische Grundsatzabteilung.
Oftmals tragen ihre Markt- und Industrieanalysen maßgeblich zur Entschei-
13
Es existieren generell wenig empirische Untersuchungen über Gewerkschaftsangestellte in den USA, die im Zuge der gewerkschaftlichen Erneuerung seit Mitte der 1990er
Jahre angestellt wurden. Eine Ausnahme bildet der Sammelband »Rebuilding Labor: Organizing and Organizers in the New Union Movement«, herausgegeben von Ruth Milkman und Kim Voss, in dem Rooks (2004) die hohe Fluktuation von Organizern und Ganz
et al. (2004) die Karrieren von GewerkschaftsführerInnen untersuchen.
192
Hae-Lin Choi
dung über neue Organisierungsfelder mit bei.14 Es kann also festgehalten werden, dass ihr Einfluss nicht zu unterschätzen ist.
Weiterhin ist zu beobachten, dass ihr Einflussbereich sich vergrößert, da die
größten Hindernisse im Organisierungsprozess weniger die Gewinnung und
Organisierung von Beschäftigten ist als vielmehr der wachsende Unternehmenswiderstand. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die hohe Fluktuation unter Gewerkschaftsangestellten (Ganz et al. 2004; Rooks 2004), wäre es
von großem Interesse zu untersuchen, wohin sie gehen und was mit dem sensiblen Wissen, das die Researcher angesammelt haben, passiert. Dass GewerkschafterInnen abgeworben werden, die »Seite wechseln« und fortan für Unternehmen arbeiten, ist keine Seltenheit. Es kann vermutet werden, dass sich
dieses Risiko verstärkt, wenn die Beschäftigten in den Rechercheabteilungen
von vornherein wenig Gewerkschaftsanbindung mitbringen. Allerdings ist die
Reichweite des Schadens, der durch die Weiterleitung und Offenlegung von
Strategien und Taktiken erzeugt werden kann, sehr begrenzt. Es existieren bereits einige Informationsbroschüren über strategische Gewerkschaftskampagnen von Union-Busting-Unternehmen (Manheim 2005; Ryan 2007), sodass die
grundlegenden Strategien und Taktiken ohnehin weitgehend bekannt sind. Sensibler ist das Wissen, dass im Verlauf von aktuellen Kampagnen gesammelt und
weitgehend konspirativ behandelt wird.
Übertragbarkeit
Abschließend möchte ich kurz auf die Frage der Übertragbarkeit auf deutsche
Verhältnisse eingehen. Die Länderkontexte und industriellen Beziehungen in
den USA und Deutschland sind zweifellos sehr unterschiedlich. Dennoch denke
ich, dass eine relativ einfache Übersetzung bzw. ein Strategietransfer ohne Weiteres möglich ist. Unternehmensrecherche wird auch in Deutschland schon seit
längerer Zeit, vor allem im Rahmen der Auseinandersetzung um verantwortliches Unternehmenshandeln, betrieben.
In den Problemlagen und in den Handlungsmöglichkeiten sind ebenfalls
Parallelen zu beobachten. Auch deutsche Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, dringend Mitglieder organisieren zu müssen, insbesondere im
schwer organisierbaren, aber wachsenden Bereich der prekären Beschäftigung
im Niedriglohnsektor, der noch gänzlich unerschlossen ist und in dem die Ge14
Die SEIU trifft Entscheidungen über neue Organisierungsfelder strikt nach strategischen Kriterien und vermeidet »Hot Shop«-Organizing – also wenn die Beschäftigten
von sich aus bereit sind, sich zu organisieren, wenn es strategisch nicht dienlich ist.
Unternehmensrecherche in US-Organizingkampagnen
193
werkschaften kaum Erfahrungen haben. In diesen mitbestimmungsfreien Zonen gibt es kaum Informationen über die Unternehmen, ihre Strukturen und ihre
Beschäftigten, fehlende Betriebsratsstrukturen verwehren den Zugang zu diesen Daten und hier könnte eine ausgebaute Unternehmensrecherche eine wichtige Funktion einnehmen. Dies würde allerdings implizieren, dass deutsche Gewerkschaften sich weiterhin und erheblich verbindlicher neuen Konzepten von
Organizing und Kampagnen öffnen müssten und inwieweit hier tatsächlich Erneuerungswille besteht, ist abzuwarten. Es bleibt zu hoffen, dass deutsche Gewerkschaften nicht so tief wie die amerikanischen Gewerkschaften sinken müssen, um eine Wende einzuläuten.
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Torsten Bewernitz
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
Aspekte gewerkschaftlichen Widerstands
im globalen Kapitalismus
Streiks, so ließ uns das damalige IG Metall-Vorstandsmitglied Hans Matthöfer
bereits 1971 wissen, sind »offene oder verdeckte Kampfhandlungen mehrerer
Arbeitnehmer, die der Interessendurchsetzung im Arbeitsprozess und in der Gesellschaft dienen« (Matthöfer 1971: 166). Seiner (vom Autor geteilten) damaligen Einschätzung nach sind sie »Ausdruck der betrieblichen und gesellschaftlichen Machtstruktur, die der Arbeitnehmer der Wirklichkeit entsprechend als
in zwei Klassen, ein ›oben‹ und ein ›unten‹ geteilt erfährt« (ebd.). Der zweite
Aspekt dieser Aussage wird in Zeiten neoliberaler Globalisierung in publizistischen und wissenschaftlichen Kreisen bezweifelt oder ignoriert.
Der vorliegende Beitrag wird sich mit Fragen der Zukunftsfähigkeit des Konzepts Streik auseinandersetzen und Thesen formulieren, die auf einer kursorischen Untersuchung der Medienberichterstattung und Dokumentationen von
bedeutsamen Streiks der letzten Jahre beruhen,1 da der Streik eine Erfahrung
ist, in der diese Klassenteilung intensiv formuliert wird. Er nimmt für sich nicht
in Anspruch, Forschungsergebnis zu sein, sondern soll als Grundlage einer zukünftigen, noch zu leistenden Forschung verstanden werden. Darüber hinaus erhebt er nicht den Anspruch, eine Theorie des Streiks zu formulieren, denn »[d]ie
Theorien des Streiks sind häufig Interpretationen von Streiks durch Theoretiker, deren Interesse dem (...) Interesse der Arbeiterklasse nicht ohne weiteres
entsprechen muss (...). Die Arbeiterklasse hat gestreikt, als es ihre Theoretiker
1
Folgende Streiks wurden untersucht: »Ost-Streik« der IG Metall 2003, Opel Bochum
2004, Gate Gourmet Düsseldorf 2005/2006, Docker-Proteste gegen die EU-Richtlinie
Port Package II 2005, der Ärzte-Streik des Marburger Bundes und der gleichzeitige Streik
von ver.di im Öffentlichen Dienst 2006, der Streik gegen die Schließung des Baumaschinenherstellers Case New Holland (CNH) 2005/2006 und des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks (BSH) in Berlin 2006, die Flüchtlingsstreiks in den Lagern Blankenburg und
Bramsche 2006, der Telekom-Streik 2007, der Streik der GDL bei der Deutschen Bahn,
die Besetzung und selbstverwaltete Produktion bei Bike Systems Nordhausen (Thüringen) sowie der Streik bei Hermes Warehousing Solutions (HWS) 2007. Ergänzend sei
angemerkt, dass diese somit lediglich das Streikgeschehen in der BRD und teilweise
auf europäischer Ebene spiegeln.
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
197
für unmöglich hielten, und oft nicht gestreikt, als die Theoretiker von der Notwendigkeit eines Streiks überzeugt waren« (Weick 1971: 98).2
Mit 429.000 Streiktagen im Jahr 2006 wurde seit 1993 in der BRD ein Höchststand erreicht, der schon im ersten Halbjahr 2007 übertroffen wurde (530.000
Tage). Gleichzeitig finden wir das Thema »Streik« zunehmend nicht nur in der
Tagespresse, sondern auch vermehrt in der Wissenschaft wieder: Wahrnehmung
von und Interesse an Streiks steigen offensichtlich.
Im Folgenden werde ich zunächst auf bedeutsame Veränderungen im Streikgeschehen unter den Vorzeichen der »Bewegungen des Kapitalismus« eingehen, um anschließend die unterschiedlichen Akteure heutiger Streiks hierzu in
Beziehung zu setzen. Abschließend werden die Bedingungen und Probleme aktueller gewerkschaftlicher Strategien auf ihr Potenzial dahingehend befragt, ob
diese ein Konzept mit Zukunft darstellen.
Rahmenbedingungen: Die Bewegungen des Kapitalismus
Mein Verständnis von »Streik« resultiert aus der Definition von struktureller
ArbeiterInnenmacht, wie Beverly J. Silver (2005) sie definiert. Der Kern des
ökonomischen Streiks ist demnach die Verweigerung der Arbeitskraft in der
Produktion durch die ArbeitnehmerInnen. Diese sind, nach Marx, formal freie
BesitzerInnen ihrer Arbeit, mit deren Verweigerung sie Druck ausüben können.3
Allerdings ändert sich mit den Änderungen des Kapitalismus auch die ArbeiterInnenmacht. Die Veränderungen des kapitalistischen Systems beschreibt Silver
konkret als »fixes« (»Fluchtbewegungen«) auf vier Ebenen: Neben räumlichen
(»Kapitalflucht«) und organisatorischen Veränderungen (Übergang vom Keynesianismus zum Neoliberalismus) analysiert sie die Orientierung auf andere Produkte (»product fix«) sowie einen sich verändernden Kapitalmarkt (»financial
fix«). Es ist diesen »fixes« immanent, dass die ArbeiterInnenmacht sich mit ihnen verändert. Anzuschließen ist die Frage, ob die ArbeiterInnenmacht wan2
Dass der homogenisierende Begriff einer »ArbeiterInnenklasse« dabei durchaus
problematisch ist, ist mir bewusst, dennoch halte ich seine Verwendung für notwendig
(vgl. Bewernitz 2006). Es ist jedoch problematisch, die – keineswegs neue (vgl. Roth
1977) – Fragmentierung der ArbeiterInnenklasse im neoliberalen Duktus mit »UnternehmerInnen der eigenen Arbeitskraft« zu erklären. Vgl. die Ausführungen zum Begriff der Klassenzusammensetzung in Wright 2007; zur Klassenfragmentierung Diettrich 1999; Kohlmorgen 2004.
3
Beverly J. Silver differenziert zwischen struktureller und Organisationsmacht. Vgl.
auch Hälker/Vellay 2007: 52. Für die folgenden Ausführungen ist nur die strukturelle
ArbeiterInnenmacht von Bedeutung.
198
Torsten Bewernitz
dert oder sinkt. Dies ist erheblich für das Folgende, denn eine Wanderung der
ArbeiterInnenmacht würde andere Strategien an anderen (betrieblichen) Orten adäquat erschienen lassen als ein Rückgang. Silver zeigt, dass die ArbeiterInnenmacht offensichtlich räumlich von den Staaten des Zentrums in die Peripherie wandert.
Die ArbeiterInnen des Zentrums werden im Zuge globaler Standortkonkurrenz mit der Arbeitskraft der Peripherie konfrontiert und unter Druck gesetzt.
Darüber hinaus entsteht durch die »Globalisierung« eine globale »Reservearmee« (MEW 23: 502), die personell größer und billiger ist als die traditionelle
nationalökonomische Reservearmee. Diese Entwicklung hat ein globales Sinken der ArbeiterInnenmacht zur Folge, denn je mehr Arbeitskraft auf dem globalen »freien Arbeitsmarkt« zur Verfügung steht, desto fragmentierter werden
die Arbeitskämpfe: Zwar ist der Bedarf an Arbeit gleich hoch geblieben, im »financial fix« ist aber auch die Regulation der Arbeitszeiten inbegriffen: Man lässt
weniger Menschen mehr arbeiten. Diese haben zwar eine strukturell höhere ArbeiterInnenmacht, werden aber auch stärkerer Repression ausgesetzt und implizieren eine Masse von Menschen ohne diese Macht – jene, die rein mengenmäßig auf dem Arbeitsmarkt »überzählig« (MEW 23: 680) sind.
Variationen des Streikgeschehens: Das Streikklientel und die Streikziele
Das streikende Klientel
Die internationale Streikforschung interessiert sich bereits seit geraumer Zeit
für die Rolle spezifischer kollektiver AkteurInnen im Geschehen des Arbeitskampfes und konstatiert teilweise aus zweierlei Gründen einen bedeutsamen
Wandel der streikenden Klientel. Zum einen ist die traditionelle Arbeiterklasse
heute weitgehend strukturell »migrantisiert« und feminisiert. Dass der Fokus
von Journalismus und Forschung insbesondere auf Frauen und MigrantInnen
liegt, hat seinen plausiblen Grund darin, dass diese im Streikgeschehen der letzten Jahrzehnte scheinbar immer die effektiveren Akteure waren.4 Migrantisierung und Feminisierung meint jedoch keineswegs, dass nur noch Frauen und
MigrantInnen arbeiten. Der Begriff der »migrantischen Arbeit« ist ein Vorschlag
des Frassanito-Netzwerks, der bewusst als Gegenbegriff zum »Prekariat« anzeigen soll, dass Prekarisierung einen rassistisch und sexistisch konnotierten
Angleich »nach unten« bedeutet.
4
Ich danke Christian Kaindl für diesen Hinweis. Die These ist durchaus zu überprüfen, Hinweise in diese Richtung gibt insbesondere Roth 1977.
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
199
Arbeitsverhältnisse, bedenkt man vor allem die Zunahme von Dienstleistungen verglichen mit der Industriearbeit – und damit auch die ArbeiterInnen in
diesen Branchen und ihre Macht – sind »zunehmend durch Mobilität und Vielgestaltigkeit« (wildcat 78: 24; vgl. auch Frassanito-Netzwerk 2005) bestimmt.
Ebenso wie »heutige Ausbeutungsformen« allgemein »immer mehr denen der
MigrantInnen ähneln« (ebd.), so ähneln sie auch immer mehr den Ausbeutungsformen der Frauen.5 Ökonomischer Widerstand von Frauen und MigrantInnen
erscheint als zukunftsweisend, weil er sich gegen Probleme wendet, mit denen
in Zukunft alle Arbeitenden zu rechnen haben. Die Welle so genannter Ausländerstreiks in den 1970er Jahren zeigt bereits, in welcher Form Streiks der Zukunft verlaufen könnten.6
Heutige Streiks, wie etwa jene bei Gate Gourmet7 im Jahr 2007 oder 2006 bei
BSH (Bosch-Siemens-Hausgerätewerk), finden vermehrt unter Einbeziehung
von MigrantInnen und Frauen statt, was nicht folgenlos bleibt: MigrantInnen
bringen andere, oftmals radikalere Streikmethoden mit, da sie z.B. kein Gewerkschaftssystem wie jenes in der BRD kennen oder aber aufgrund einer geringeren Anerkennung von Gewerkschaften härtere Kampfmethoden gewohnt sind.
Sie handeln aufgrund eines anderen Erfahrungshintergrundes. Gleiches gilt für
Frauen, deren Arbeit bis heute oftmals gering geschätzt wird. Diese Veränderungen gilt es angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt genauer in den
Blick zu nehmen. Zu vermuten ist, dass MigrantInnen und Frauen zukünftig eine
noch bedeutsamere Rolle in den Arbeitskämpfen der Zukunft spielen werden.
Streikziele
Nicht nur die Akteure haben sich geändert, auch die Streikziele sind andere.
Nicht für Verbesserungen, sondern für möglichst geringe Verschlechterungen
der Arbeitsbedingungen oder im besten Falle für eine Aufrechterhaltung des
Status quo wird gestreikt. Dies folgt unmittelbar aus dem oben gesagten: Das
»traditionelle« (Industrie-)Proletariat kämpft für möglichst geringe Verschlech5
Beide Begriffe sind nicht essenzialistisch zu lesen, nach dem Motto: MigrantInnen
bzw. Frauen waren immer so und alle müssen sich jetzt an diesem Vorbild orientieren,
sondern vielmehr werden diese Zuschreibungen aufgeweicht, weil sie zumindest im Arbeitsregime Allgemeingültigkeit erhalten. Festzuhalten ist aber, dass »prekäre« Arbeitsverhältnisse zuerst für MigrantInnen und Frauen in bestimmten Bereichen galten (vgl.
Anderson 2006, van der Linden 1994: 88) und nun eine Verallgemeinerung erfahren.
6
Vgl. zu dem Streik bei Pierburg und den weiteren »AusländerInnenstreiks« der frühen 1970er Jahre: Hildebrandt/Olle 1975; Redaktionskollektiv express 1974; Braeg 1998,
Rapp/von Osten 2006; Birke 2005; Birke 2007; Hüppauff 1971.
7
Vom 7. Oktober 2005 bis 7. April 2006 streikten die Mitarbeiter der Niederlassung
von Gate Gourmet, einem Airline Caterer am Flughafen Düsseldorf.
200
Torsten Bewernitz
terungen (gegen Migrantisierung und Feminisierung), das (neue) migrantische
und feminisierte Proletariat kämpft für den Erhalt des Status quo.8 Der Wandel
von Klassenzusammensetzung und ArbeiterInnenmacht beeinflusst die Zielrichtung von Streiks aber auch dahin, dass es nicht mehr nur Arbeitgeber, sondern
auch politische Institutionen sind, gegen die gestreikt wird. Als Beispiel hierfür können die europaweiten Streiks gegen die geplante EU-Richtlinie »Port
Package II«9 gelten.
Dieses Beispiel ist jedoch aus mehreren Gründen ambivalent: Es weist einerseits auf eine dringend notwendige Globalisierung gewerkschaftlichen Widerstands hin und zeigt das gemeinsame Interesse an politischer Globalisierungskritik und Gewerkschaftsarbeit, andererseits wird darin deutlich, dass in den
Zentren der Weltgesellschaft die gesetzlichen Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln neu geschaffen werden müssen. Schließlich zeigt es, dass
Erfolge möglich sind, denn Port Package II wurde durch die Betroffenen verhindert. Andererseits war dieser Protest auch ein Zeichen fehlender ArbeiterInnenmacht, was sich darin äußert, dass der Ausstand mit Einverständnis der Arbeitgeber in den europäischen Häfen stattfinden musste (wildcat 78: 18). Der
Streik war folglich Bestandteil einer politischen Kampagne, nicht einer betrieblichen Auseinandersetzung. Die Befürworter von Port Package II beriefen sich
in ihrer Argumentation darauf, dass dieser Streik als ein politischer Streik eigentlich illegal sei. 10
8
In diesem Punkt unterscheidet sich der Streik bei Pierburg maßgeblich vom aktuellen Streikgeschehen! Wir haben ähnliche Akteure, aber grundverschiedene Ziele: Bei
Pierburg wurde noch um einen Angleich nach oben gekämpft. Nichtsdestotrotz ist das
Streikgeschehen der 1970er Jahre, als Begleitmusik für die beginnende ökonomische
Krise, die Ouvertüre für die heutige Ökonomie inkl. dem Streikgeschehen.
9
Port Package ist der (Spitz-)Name eines teilweise nicht umgesetzten Gesetzgebungspakets bestehend aus einer EU-Richtlinie und einer Mitteilung. Der Richtlinienentwurf
sollte zu mehr Wettbewerb in und zwischen den europäischen Seehäfen führen.
10
Sinnvoll erscheint es entsprechend, den Fokus zukünftiger internationaler Streikforschung wie auch gewerkschaftlichen Engagements in diese Richtung zu setzen: Warum streikt der/die einzelne ArbeiterIn? Streiks wurden immer auch zu Hause am Küchentisch entschieden.
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
201
Die Akteure heutiger Streiks
Im Folgenden sollen die vier zentralen Akteursgruppen heutigen Streikgeschehens dargestellt werden: Die Beschäftigten, die Gewerkschaften, die Gegner von
Streiks sowie die Streik-UnterstützerInnen außerhalb der Arbeitswelt.11
Die streikende Basis
Der Streik bei Gate Gourmet war, auch wenn er lediglich Defensivforderungen
beinhaltete, ein Erfolg, und dies vor allem deswegen, weil die Streikenden dort
ihre Sache in die eigene Hand nahmen. Ähnliches gilt für den »wilden Streik«
bei Opel Bochum 2004 und den Streik bei BSH. Obwohl diese Streiks sehr unterschiedliche Auslöser hatten, gingen sie auf die eine oder andere Weise von
der Basis der Arbeitenden in den Betrieben aus. Während die Streiks bei Opel
und BSH durchaus davon geprägt waren, dass sie den Plänen des Betriebsrats
oder der Gewerkschaft zuwiderliefen, war es bei Gate Gourmet der Betriebsrat,
der von maßgeblichem Nutzen für den Streik war: Dieser ging sehr genau auf
die Bedürfnisse der Arbeitenden ein und konnte daher eine Streikbereitschaft
sehr genau evaluieren. Positiv fiel der Betriebsrat weiterhin dadurch auf, dass
er »Kungelei« verweigerte und die Streikenden über die Diskussionen mit der
Arbeitgeberseite stets über alles informiert wurden. Die Pressearbeit erledigten
die Streikenden selber, was zum einen die Funktionäre der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) maßgeblich entlastete, zum anderen weitgehende inhaltliche Autonomie garantierte. Festzuhalten ist, dass Arbeitskämpfe
oft nur um die Aufrechterhaltung eines Status quo, etwa den Erhalt des Arbeitsplatzes, evtl. auch unter schlechteren Bedingungen, geführt werden, zum anderen aber auch, dass die Methoden der Streikführung militanter werden, was
sich durch wilde Streiks oder aber die Einbeziehung inhaltlich radikalerer UnterstützerInnen (s.u.) wie im Fall Gate Gourmet zeigt.
Die organisierten Gewerkschaften
Für die etablierten Gewerkschaften sind Streiks heutzutage oftmals nicht mehr
als ein Ritual. Das hat verschiedene Gründe: Zum ersten liegt dies an der Institutionalisierung und juristischen Form des Streiks, zum zweiten an der traditionellen Klientel des DGB (einem weißen und männlichen Industrieproletariat), das die traditionelle ArbeiterInnenmacht nicht mehr (alleinig) besitzt. Die
organisatorische Macht der Gewerkschaften beruht nicht auf der strukturellen
ArbeiterInnenmacht in einem Betrieb, sondern auf institutioneller, finanzieller
11
Diese Darstellung ist unvollständig: Zumindest die Rolle der institutionellen Politik
und der Medien verdienen eine genauere Untersuchung, die hier nicht zu leisten ist.
202
Torsten Bewernitz
und medialer Basis. Das wird in Pressemitteilungen, Infoständen, Protestbriefen etc. deutlich (und ist natürlich auch sinnvoll). Diese Gewerkschaftsmacht
beruht aber auch auf Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft: Politische
Partner und Medien dürfen nicht verschreckt werden. Dass bei schwindender
struktureller ArbeiterInnenmacht die Organisationsmacht der Gewerkschaften
wichtiger wird, ist einleuchtend. Allein: Diese beiden Akteursmächte sind zwar
voneinander verschieden, aber durch Kultur und politischen Überbau auf das
engste miteinander verknüpft. Das Gewerkschaftsbashing in der Medienlandschaft sowie institutionelle Veränderungen schwächen auch die organisatorische
Macht der Gewerkschaften: Dies ist die Krise des Unionismus.12 Der Veränderung der Arbeitsgesellschaft, insbesondere die Verschiebung vom Industriein den Dienstleistungsbereich und der damit einhergehenden Migrantisierung
und Feminisierung – wobei 40% aller Dienstleistungen Auslagerungen der verarbeitenden Industrie sind – ist die momentane Organisationsform der DGBGewerkschaften nicht adäquat. Viele Dienstleistungsbetriebe haben keine Gewerkschaftsangehörigen. Es werden daher teilweise (wie etwa in der Zeitarbeit)
Tarifverträge ausgehandelt, obwohl es keine personelle Basis gibt oder aber die
GewerkschafterInnen in der Minderheit sind.
Sichtbar wird die Krise des Unionismus an einem Wiederaufkommen ständischer Gewerkschaften wie cockpit, dem Marburger Bund oder auch der GDL.
Fatalerweise haben genau diese Gewerkschaften derzeit die ArbeiterInnenmacht
– nicht zufällig handelt es sich bei cockpit und der GDL um TransportarbeiterInnen und auch die alltägliche Gesundheitsversorgung lässt sich nur begrenzt
verlagern. Neben diesen ständischen Gewerkschaften präsentieren sich darüber hinaus vermehrt Gewerkschaften mit erhöhter Kompromissbereitschaft oder
so genannte gelbe Gewerkschaften wie der CGB, Komba oder die AUB.13 Der
strukturellen Machtabnahme folgt auch die Abnahme organisatorischer Macht,
da sich die Unternehmer andere Verhandlungspartner für Tarifverträge suchen
und juristisch vermehrt kleine Gewerkschaften, seien sie ständisch, seien sie
12
Wissenschaftlich wird unter Unionismus, in Abgrenzung zum Syndikalismus, das
Modell der IWW verstanden, sich nicht nach Branchen, sondern nach Betrieben zu organisieren, gemeinsam aber »one big union« (eine große Gewerkschaft) zu bilden. Die
Schlagworte wären also »Ein Betrieb – eine Gewerkschaft« und »Ein Staat – eine Gewerkschaft« bzw. auch eine Weltgewerkschaft. Der DGB ist insofern nicht unionistisch,
da er in Branchen organisiert ist. Hier meint Unionismus aber die Einheitsgewerkschaft,
ein Modell, das es so nur in wenigen Staaten gibt oder gab.
13
CGB = Christlicher Gewerkschaftsbund, Komba = Kommunalgewerkschaft für
Beamte und Arbeitnehmer. Die AUB (Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger) bei Siemens ist das Paradebeispiel einer gelben Gewerkschaft, die von Siemens im Betrieb implementiert wurde.
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
203
gelb, anerkannt werden. Eine Gewerkschaftsbewegung, die gesellschaftlich relevant bleiben möchte, muss sich dieser »Dienstleistisierung« stellen.
Die Gegner
Der Wandel des Kapitalismus impliziert nicht nur eine Veränderung der ArbeiterInnenmacht, sondern auch einen Wandel der Gegnerschaft. Zum einen sind
dies die Institutionen der Globalisierung (WTO, IWF, Weltbank oder auch die
EU), die andere gesetzliche Grundlagen des Arbeitskampfes schaffen, zum anderen die konkreten Arbeitgeber. Im Falle Gate Gourmets war dies die Texas
Pacific Group (TPG), eine der berüchtigten »Heuschrecken«.14 Die TPG, oder
im Falle des Fahrradherstellers Bike Systems in Nordhausen15 der dortige Investor »Lone Star«, repräsentieren den von Silver genannten »financial fix«, d.h.
sie erwerben Firmen oder Unternehmen nicht, um die Arbeit oder die Produktion weiterzuführen, sondern allein, um sie gewinnbringend wieder zu verkaufen. Diese Form der Kapitalakkumulation ist kein »schlimmerer« oder »besserer« Kapitalismus. Im Zuge technologischer und ökonomischer Entwicklungen
wird diese keineswegs neue Form des Kapitalismus zum hegemonialen Modell.
Die sich dadurch verringernde Anbindung an den Produktionsprozess führt zu
einem geringeren Bewusstsein über den Akkumulationsprozess: Wie sich der
spezifische Reichtum vermehrt, erscheint politisch egal. Dies wird dann anderen
überlassen, im Falle Gate Gourmets etwa der Unternehmensberatung McKinsey. McKinsey hat noch weniger Anbindung an den spezifischen Betrieb. Was
nach der kurzfristigen Gewinnabschöpfung mit diesem und den ArbeiterInnen
geschieht, ist auch dieser Beraterfirma egal. Im globalen Kapitalismus wird das
Unternehmertum ebenso migrantisch wie die ArbeiterInnenmacht.16
Die UnterstützerInnen
Aktive Streikunterstützung von außen wächst zwar nicht quantitativ, wird aber
aufgrund der sinkenden ArbeiterInnenmacht von der Basis der Streikenden relevanter und erwünschter (Flying Pickets 2007: 225-240).17 Streikunterstütze14
Ich benenne sie (ohne jede Wertung) so, weil es sich bei der TPG tatsächlich um
jenes Unternehmen handelt, das Franz Müntefering meinte, als er die Bezeichnung in
die Debatte einführte.
15
Am 10. Juli 2007 besetzten 135 Noch-Beschäftigte die Fahrradfabrik Bike Systems
in Nordhausen (Thüringen) angesichts der Schließung des Werkes.
16
Dass sich dabei das Unternehmertum auf der Flucht vor Arbeiterunruhen befindet, ist einer der zentralen Punkte in den Ausführungen Beverly Silvers (2005), der sich
durch das gesamte Buch zieht.
17
Diese These beruht auf eigenen Besuchen von Streikposten und (dokumentierten)
Interviews. Sie zeigt sich auch in dem Bemühen, eine eigenständige Medien- und Öf-
204
Torsten Bewernitz
rInnen kommen zumeist aus politisch-ideologischen Zusammenhängen, oftmals
sind es Studierende, vermehrt aber auch Erwerbslose. Waren StreikunterstützerInnen in den 1970er und 1980er Jahren oftmals Mitglieder kommunistischer
Kleinstgrüppchen, die dem Streik ideologisch ihren Stempel aufdrücken wollten,
wollen sie heute am Ereignis teilhaben und ihre eigenen Erfahrungen einbringen. Positive Aspekte liegen auf der Hand: Die UnterstützerInnen haben Zeit,
sie sind weder dem Arbeitgeber noch der Gewerkschaft verbunden und daher
bereit zu Aktionen, die die Streikenden sich nicht zutrauen bzw. ihnen verboten sind. Politische AktivistInnen unter den UnterstützerInnen können oftmals
mit organisatorischer Erfahrung und juristischem Know-How aufwarten. Diese veränderte Rolle der UnterstützerInnen ist durchaus positiv zu beurteilen:
Hier werden nicht mehr Theorien oder Ideologien über Streiks und Streikende
gestülpt, betont und gefordert wird hingegen der (auch politische) Erfahrungsaustausch und ein mehr an »militanten Aktionen«, wobei die Enttäuschung angesichts »reformistischer« Ziele nicht selten deutlich zu Tage tritt. Diese »militanten Aktionen« der UnterstützerInnen sind jedoch Aktionen, die Streikende
früher selber durchführten und auch hier ist eine verminderte ArbeiterInnenmacht zu diagnostizieren. Der Verzicht der Belegschaften auf »militante Aktionen« beruht u.a. auf der Herstellung der aktuellen diskursiven Hegemonie:
Wird man in der medialen Öffentlichkeit negativ dargestellt, hütet man sich im
Normalfall davor, dieses negative Bild zu verstärken. Kurz: Da Macht von ArbeiterInnen nicht mehr normal ist, sind auch die Gewerkschaften in einer Legitimationskrise, was die tendenzielle Ohnmacht verstärkt – wie auch den Ärger
darüber. Dies ist der Moment, wo sich die nicht-streikenden UnterstützerInnen
tatsächlich die Sinnfrage ihrer Unterstützung stellen sollten, da ihr Handeln das
offizielle Streikgeschehen möglicherweise weiter diskreditiert und es somit einer Stärkung von ArbeiterInnenmacht nicht zuträglich ist.
Zusammenfassung und Fazit
Das marktwirtschaftliche System befindet sich, und dies bereits seit den 1970er
Jahren, in einer Krise, auf die es mit den verschiedensten Methoden reagiert.
Dies sind die von Silver beschriebenen Fluchtbewegungen, die einen Wandel
und eine Wanderung der ArbeiterInnenmacht erkennen lassen, wie auch eine juridische und institutionelle Einschränkung der ArbeiterInnenmacht. Die Rückkehr des Streiks steht unter defensiven Vorzeichen, die Krise des Kapitalismus
ist auch die Krise der ArbeiterInnenmacht. Es geht nicht mehr, wie Marx posifentlichkeitsarbeit zu etablieren.
Streik – ein Konzept mit Zukunft?
205
tiv bemerkte, um alltägliche Verbesserungen (MEW 16: 197), sondern darum,
alltägliche Verschlechterungen zu verhindern.
Die geschwundene ArbeiterInnenmacht führt einerseits zu einer gestiegenen Kompromissbereitschaft und Akzeptanz der kapitalistischen Fluchtbewegungen sowie des damit verbundenen Angriffs auf den Lebensstandard und die
Menschenwürde, andererseits zu einer Wut über die eigene Ohnmacht. Beides
erfordert neue Strategien in einer ökonomischen Klassenauseinandersetzung.
Die Träger der organisatorischen ArbeiterInnenmacht – die Gewerkschaften –
richten sich (durch »Campaigning«) an eine vermeintliche »Zivilgesellschaft«
und ihre Themen, die Träger der strukturellen ArbeiterInnenmacht richten sich
an radikale Gruppen.
Auch wenn Streiks in den kapitalistischen Zentren keineswegs mehr die Demonstration von ArbeiterInnenmacht sind, die sie einst waren, so ist ihnen ein
Aspekt nach wie vor immanent: Sie konstituieren nachhaltig ein Klassenbewusstsein, das weiteres (gewerkschaftliches) Engagement fördert: Ein kollektiver Streik ist im Gegensatz zu individualisiertem Widerstand noch Jahre in Erinnerung.18 Das ist gerade aufgrund der veränderten ökonomischen Situation von
äußerster Relevanz: Das gemeinsame Streiken deutscher KollegInnen mit ausländischen KollegInnen macht eine gemeinsame Interessenslage bewusst und
ist u.a. eine Erfahrung, die Rassismus und Nationalismus sehr direkt entgegenwirkt. Streiks resultieren immer aus und profitieren von Erfahrungsaustausch
und praktischem Lernen, sie enden aber auch immer in neuen Erfahrungen und
sind Basis neuer kollektiver Lernprozesse – die wenigsten Streiks bestehen nur
aus einer kollektiven Arbeitsverweigerung, sie sind auch »Schulen« sozialer
Kompetenz. Im Streik wird deutlich, warum gewisse Kampfformen besonders
effektiv sind und andere nicht anwendbar bzw. die Folgen kompensiert werden
müssen. Die Streikenden lernen, welche Arbeiten gesellschaftlich notwendig
sind und diese selbstverwaltet zu organisieren: Streik, gerade unter heutigen
Bedingungen, hat einen produktiven Charakter.
Die Situation in der Arbeitswelt – der Kampf um die Aufrechterhaltung der
Menschenwürde am Arbeitsplatz – benötigt jedoch auch starke Organisationen.
Ganz pragmatisch müssen sie über Betrieb, Branche und Region (sowie der Nation) hinausgehen, um die verbliebene Macht zu bündeln. Sie müssen aber auch
demokratisch – und zwar basisdemokratisch in jedem einzelnen Betrieb – sein,
damit keine divergierenden Interessen entstehen. Hier haben Gewerkschaften
viel zu lernen und hier kann die Gewerkschaftsbewegung zu ihrer eigentlichen
Macht zurückfinden, die sie nur hat, wenn sie mit der strukturellen ArbeiterInnenmacht harmoniert. Campaigning an Orten, an denen Gewerkschaften
18
Darauf weisen zahlreiche ExpertInnengespräche mit an Streiks Beteiligten hin.
206
Torsten Bewernitz
noch nie aufgetaucht sind, mit Themen, die die ArbeitnehmerInnen aus eigener Erfahrung nicht kennen, sind eher kontraproduktiv. Gewerkschaften müssen sich davor hüten, zu einer beliebigen links-alternativen Gruppe zu werden
und sich auf ihren originären Aufgabenbereich besinnen: die Vertretung der Arbeitenden in deren Interesse und nach deren Bedürfnissen gegenüber dem ökonomischen Gegner zu organisieren. Bündnisse mit anderen marginalen Kräften schwächen die strukturelle ArbeiterInnenmacht weiter, zumal wenn diese
ideologisch orientiert sind.
Real gibt es die kaum empirisch messbaren Widerstände gegen Arbeitszeitverdichtung, Lohnkürzungen usw.: Krankfeiern, Bummeln, Kleinstsabotage
und Diebstahl am Arbeitsplatz. Auch diese Formen nehmen durchaus ab, denn
wie überall, so befindet sich auch in der Arbeitswelt die Überwachung im Aufwärtstrend. Dennoch sind hier Reste einer ArbeiterInnenmacht zu finden, die
aber letztlich individuelle Züge trägt. Dies ist nur ein Grund mehr, warum wir
starke ArbeiterInnenorganisationen brauchen. Die Gewerkschaften versuchen,
diesem durch das Konzept des »Organizing« gerecht zu werden, der individuellen Suche nach der ArbeiterInnenmacht: Gesucht werden jene rebellischen
Gemüter, die sich ihrer verbliebenen Macht bewusst und bereit sind, diese zu
vermitteln und nicht nur individuell einzusetzen. Wie sagte ein Aktivist der leider gescheiterten McDonalds Workers Resistance Anfang des Jahres 2007 so
schön: »Das wird nicht durch Magie vor sich gehen, sondern wird ausgehen
müssen von bewussten Bemühungen der radikalisierten Teile der Klasse – an
dieser Bewegung werden auch ArbeiterInnen teilnehmen, die in die Moschee
gehen, Mascara tragen, eher Thomas Mann als Marx lesen, an New-Age-Mystik glauben, vor’m Essen ›Danke‹ sagen, oder ... Antiquitäten sammeln.« Funnywump 2007)
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Yasmin Fahimi
Wandel der Arbeitswelten –
Wandel der Gewerkschaften
Ein Diskussionsbeitrag über die Herausforderungen
der Gewerkschaften in Deutschland
Der tiefgreifende Wandel in der Arbeitswelt stellt Gewerkschaften vor neue
Herausforderungen. Insbesondere, weil er nicht nur ökonomische, sondern
auch gesellschaftliche Ursachen hat. Die Phase der Individualisierung, die demografischen Verschiebungen und die wissenschaftlich-technische Revolution
sind nur einige Stichworte, die in Erinnerung bringen sollen, wie tief die Veränderungen in den Alltag der Menschen wirken.
Mit der Globalisierung der Waren- und Finanzströme werden die Unternehmen unter einen radikalisierten Konkurrenzdruck gestellt. Das hat zur Folge,
dass Unternehmen sich in einem permanenten Reorganisationsprozess befinden. Oft genug vollzieht sich dieser Prozess auf Kosten der Beschäftigten, weil
damit Arbeitsplatzverluste, sinkende Reallöhne oder Arbeitszeitverlängerungen
verbunden sein können. Allein in der chemischen Industrie hat Deutschland in
den vergangenen zehn Jahren etwa 100.000 Arbeitsplätze verloren. Die IG BCE
kann solche Prozesse zwar weitgehend sozial abfedern, indem tarifliche Öffnungsklauseln genutzt, Sozialpläne verhandelt oder Transfergesellschaften gegründet werden. Aber die resultierenden Verunsicherungen bei den Beschäftigten
bleiben erhalten oder weiten sich sogar auf nicht betroffene Gruppen aus.
Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem auch Wissensfortschritt und Produktinnovation in einem Maße ermöglicht hat, so dass die Lebensstandards der Bevölkerung deutlich verbessert werden konnten. Das heutige Profil kapitalistischer Produktionsweise ist kein neuer
Farbanstrich, sondern prägt die Arbeits- und Lebensweisen der Menschen. Am
deutlichsten wird dies durch die Digitalisierung der Produktionsweise, die
überhaupt erst die Vorraussetzung für eine internationale Arbeitsteilung, die
Beschleunigung der Arbeitsabläufe, aber auch einer veränderten Lebensweise
und Kultur gewesen ist.
Die Erschütterungen der Sozialsysteme, die Zwei-Drittel-Gesellschaft und
die Prekarisierung sind die leidvollen Begleiterscheinungen, die auf Defizite
des Wandels unserer Gesellschaft hinweisen. Der Staat scheint all diesen Re-
210
Yasmin Fahimi
formanforderungen hinterherzulaufen und sucht angesichts stark belasteter öffentlicher Haushalte und den Folgen der Wiedervereinigung nach einer neuen
Balance zwischen Gerechtigkeit, Sicherheit und Leistungsfähigkeit. Auf dem
Modell Deutschland lastet ein enormer Reformdruck. Was können Gewerkschaften tun?
Entgrenzung der Arbeit – neuer Wertehorizont
Einige zentrale Veränderungen in der Arbeitswelt können unter dem Titel »Entgrenzung der Arbeit« zusammengefasst werden. Gemeint ist damit das gegenseitige Durchdringen arbeits- und lebensweltlicher Anforderungen. Dieser Prozess wird vor allem durch die rasanten Veränderungen in der Produktionsweise
bestimmt. Sie lassen sich beschreiben durch folgende Faktoren:
■ flexible Produktionsorganisation (just-in-time-production, Ausbau der System- und Dienstleistungsaufgaben, Zeitarbeit, Auflösung der Normalarbeitszeit),
■ neue Arbeitsorganisation und -konzepte (Gruppen-, Team- und Projektarbeit,
zunehmende Bedeutung von Methoden- und Sozialkompetenzen),
■ Enthierarchisierung und neue Durchlässigkeit (Handlungsautonomie, interdisziplinäre Tätigkeiten, höhere Verantwortungs- und Entscheidungskompetenzen),
■ Arbeitsverdichtung (Technologiesprünge und Digitalisierung der Arbeitswelt, Rationalisierung und Personalkostenreduktion durch Arbeitsplatzabbau).
Verschärft werden diese Entwicklungen noch durch das Tempo der Veränderungsprozesse, da eine permanente wissenschaftlich-technische Revolution zu
ständigen Produktivitätssteigerungen, Revolutionierung von Produkten und
Produktion und zur Entstehung neuer Branchen führt. Bei gleichzeitiger Internationalisierung der Waren- und Finanzströme sind die Folgen ein scharfer
Konkurrenz- und kurzfristiger Erfolgsdruck, den nicht alle Manager konstruktiv gestalten.
Die Beschäftigten sind also in Inhalt, Struktur und Arbeitsweise einem permanenten Anpassungsprozess unterworfen. Aber auch die Auswirkungen auf
den Alltag bleiben nicht aus: Das organisatorische, zeitliche und inhaltliche Hineinwachsen der Arbeit in das individuelle Leben verändert die Lebenswelten
massiv. Die Lebensplanungen und Strategien zur Alltagsbewältigung werden
immer stärker von den beruflichen Gegebenheiten beeinflusst. Denn: Flexible
Arbeitszeiten, gebrochene Erwerbsbiografien und Weiterbildungsanforderungen
beanspruchen nicht nur Ressourcen, sondern erfordern auch ein gutes Selbst-
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften
211
management und eine kontinuierliche Planung verschiedener Lebensabschnitte,
inklusive der individuellen Überbrückung von Risiken.
Es sind jedoch nicht die Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen allein, die die Grenzen zwischen Arbeit und Leben für die Beschäftigten
verschwimmen lassen. Umgekehrt wachsen auch die individuellen Ansprüche
an die Arbeit. In den multiplen Arbeitsanforderungen sehen viele Beschäftigte auch die Chance auf Entfaltung ihrer persönlichen Potenziale und Ziele.
Schließlich sinkt die Gefahr der Monotonie, der individuelle Gestaltungsspielraum wird erweitert und die Identifikation mit den Arbeitsergebnissen wächst.
In der Arbeit will man sich als Mensch wiederfinden, man möchte Respekt erfahren und individuelle Entwicklungs- und Erfahrungsmöglichkeiten erhalten.
Wie der DGB-Index Gute Arbeit deutlich zeigt, erhalten Dimensionen der Arbeit
wie »guter Informationsfluss« oder das »Erleben von Respekt« quasi den gleichen Stellenwert wie die Dimensionen »Arbeitsplatzsicherheit« oder ein »ausreichendes und leistungsgerechtes Einkommen« (DGB-Index Gute Arbeit: online). Solche veränderten Anspruchsprofile müssen von Gewerkschaften nicht
nur in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden, sondern
auch als Wertewandel bei Teilen der Beschäftigten zur Kenntnis genommen und
in die eigene Kultur integriert werden.
In der betrieblichen Praxis müssen daher die Entwicklungschancen wie die
Belastungsfaktoren von entgrenzten Arbeitsverhältnissen in ein ausbalanciertes
Verhältnis gebracht werden. Es geht darum, sowohl Arbeitsfähigkeit als auch
Lebensqualität gleichermaßen zu erhalten. Das ist auch die Voraussetzung für
eine hohe Arbeitsmotivation. In zahlreichen Unternehmen wird das bereits erkannt und ist daher ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die betriebliche Mitbestimmung. Denn das Zusammenwachsen von Arbeits- und Lebensumfeld
können sich moderne Betriebskulturen zu nutze machen. So fördert eine quasi
»familiäre« Betriebsatmosphäre in erheblichem Maße die Identifikations- und
Motivationspotenziale für das Unternehmen. Diese werden nicht zwangsläufig
als »Selbstausbeutung« von den Beschäftigten wahrgenommen, sondern vielmehr als ganzheitliches Arbeits- und Lebensmodell aufgefasst.
Mit der Entgrenzung der Arbeit innerhalb der Betriebsabläufe verschwimmen auch die traditionellen Rollen zwischen den Kollegen und zu den Vorgesetzten. Die Verflachung der Hierarchien verbreitert Tätigkeitsfelder und überträgt damit Handlungs- und Entscheidungsspielraum auf mehrere Beschäftigte.
Die Vorstellungen von Solidarität unter den Beschäftigten und Kooperation mit
dem Unternehmen einerseits sowie von Führungsverantwortung, Selbstbestimmung und Arbeitnehmerrechten andererseits richten sich neu aus. Was bedeutet das für die Mitbestimmung? Die Gewerkschaften müssen gleichzeitig ihrer
Schutzfunktionen wie auch ihrer partnerschaftlichen und moderierenden Rolle
212
Yasmin Fahimi
gerecht werden. Eine Interessenvertretung alleine auf Basis von gewählten Stellvertretern ist nicht ausreichend.
Wer seine Arbeit weniger in Zeiteinheiten denkt, sondern sich stärker an Projektergebnissen orientiert, versteht nicht, wenn Entlohnungssysteme diesem
Wandel nicht folgen. Tarifverträge zum Entgelt, die sich an Qualifikation, Alter/
Betriebszugehörigkeit und beschriebener Tätigkeit orientieren, können den tatsächlichen individuellen Einsatz schlecht abbilden. Eine Beteiligung am erwirtschafteten Erfolg in Form von Gewinn- oder Unternehmensbeteiligungen oder
leistungsbezogener Vergütung, wird dann eher als gerecht empfunden. Andere
Beschäftigtengruppen sehen dagegen gerade darin die Gefahr des »Nasenfaktors«, also der Übervorteilung Vieler zugunsten Weniger. Für Gewerkschaften
wird es eine große Herausforderung sein, mit solchen unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen auch tarifpolitisch umzugehen.
Diese Beschäftigtengruppen sind aber sehr wohl offen für Solidaritätsangebote der Gewerkschaften, da für sie Entwertungs- und Entfremdungserfahrungen im Kapitalismus spürbar bleiben: hoher Arbeitsdruck, mangelnde Unterstützung und Anerkennung, unsichere Entwicklungsmöglichkeiten und vieles
mehr. Voraussetzung für eine Annährung an Gewerkschaften ist, dass Gewerkschaften kreative Lösungen anzubieten haben, wie beispielsweise die Einführung von Langzeitkonten, Vereinbarungen zur familienbewussten Personalpolitik, Förderung von Qualifizierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten oder
Mitbestimmung am Arbeitsplatz.
Die Entgrenzung der Arbeit bringt eben keine wirkliche Demokratisierung
oder Humanisierung der Arbeitswelt per se mit sich. Vielmehr erleben die Beschäftigten gerade auch, dass die Flexibilitätsanforderungen ihrer Arbeitgeber
ein hohes Maß an Beliebigkeit und Einseitigkeit beinhalten. Oder um es mit den
Worten von G.G. Voß zu sagen: »Was im Zuge der Entgrenzung reduziert wird,
sind direkte, detailgenaue und breitflächige in festen Formen geltende strukturelle Begrenzungen von Arbeitsprozessen. Dieser Vorgang ist jedoch meist
auf einer systematisch ›höheren‹ betrieblichen Ebene von einer oft verschärften strukturellen Steuerung begleitet.« (Voß 1998: 476)
Um die individuellen Gestaltungs- und Einflusswünsche am Arbeitsplatz sicherzustellen, müssen also auch auf höherer Ebene die strukturellen Voraussetzungen dafür erhalten bleiben. Dies sind belastbare Instrumente, wie die
Unternehmensmitbestimmung, die Tarifautonomie und die betriebliche Mitbestimmung durch den Betriebsrat. Alleine durch eine stärkere individualisierte
Anspruchsformulierung wird der Wandel nicht konstruktiv und umfassend im
Sinne der Beschäftigten zu gestalten sein. Individuelle Forderungen und Wünsche bleiben zahnlos, wenn sie nicht mit solidarischen Konzepten verbunden
werden. Damit ist und bleibt also die zentrale Funktion der Gewerkschaften im
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften
213
Modell Deutschland die, die ihr seit der Nachkriegszeit zugestanden wurde: die
Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in einer solidarischen Gemeinschaft mit
Mitteln, die die Arbeitgeber ernst genug nehmen müssen, um in den Dialog zu
treten. Nicht die Instrumente sind daher zu reformieren, sondern die zu verhandelnden Inhalte den Veränderungen anzupassen.
Initiative Gute Arbeit und der DGB-Index
Aus verschiedenen Befragungen wissen wir, dass gerade die Kenntnis über die
betriebliche Realität am Arbeitsplatz, von den Beschäftigten als der Gradmesser
für die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit gewerkschaftlichen Handelns angesehen wird. Mit der Initiative Gute Arbeit will die IG BCE dem gerecht werden.
Die IG BCE unterstützt daher seit langem die gewerkschaftsübergreifende
Projektarbeit zum DGB-Index Gute Arbeit.1 Sie betrachtet den DGB-Index Gute
Arbeit als innovatives Instrument, den neuen Herausforderungen der komplexer
gewordenen Arbeitswelt zu begegnen und konstruktiv aufzunehmen, was über
die ausdifferenzierte Interessenlagen unterschiedlicher Beschäftigtengruppen
ausgesagt wird.
Die meisten der heutigen Errungenschaften und Fortschritte in der Arbeitswelt sind durch Gewerkschaften erzielt worden. Viele Belastungen wurden reduziert und neue Teilhabe sichergestellt. Dennoch arbeitet heute nur der geringere
Teil von Menschen unter wirklich guten Arbeitsbedingungen (12%), zahlreiche
Menschen bewerten ihre Arbeitsbedingungen noch nicht einmal als akzeptabel
(34%). Dies hat der DGB-Index Gute Arbeit 2007 gezeigt. Liegt dies an den gestiegenen Ansprüchen der Beschäftigten oder an neuen Herausforderungen? Die
Erfahrungen aus der Pilotphase des Index zeigen nicht, dass die Ansprüche mit
besseren Arbeitsbedingungen automatisch mitwachsen. Im Gegenteil: In dem
Produktionsbetrieb mit der besten Beurteilung seitens der Belegschaft schrumpfen die Anspruchslücken (Verhältnis aus Bewertung der eigenen Arbeitsplatzsituation und Anspruch) deutlich. Dies zeigt, dass bessere Arbeitsbedingungen
zum einen möglich und zum anderen auch wahrgenommen werden.
Die Arbeitswelt ist jedoch definitiv komplexer geworden und steht vor neuen
Herausforderungen. Bei all diesen Umwälzungsprozessen stellt sich eine alte
1
Der DGB-Index Gute Arbeit wurde im Rahmen der Initiative Trendwende entwickelt
und am 11. September 2007 zum ersten Mal veröffentlicht. Er misst die Arbeitsqualität
aus Sicht der Beschäftigten. Zukünftig wird dieser Index jedes Jahr als repräsentative
Erhebung die Entwicklungen in der Arbeitwelt darstellen können. Mehr Informationen
sowie die Ergebnisse dazu gibt es auf www.dgb-index-gute-arbeit.de
214
Yasmin Fahimi
Frage neu: Wie ist eine humane und gerechte Gestaltung der Arbeitswelt möglich? Um dies zu beantworten, müssen Gewerkschaften das tun, was sie schon
immer getan haben: Sie müssen die Interessen der Beschäftigten aufgreifen und
zu gemeinsamen Themen machen, ohne sie gegeneinander ausspielen zu lassen. Um genau dies zu tun, bedarf es jedoch im 21. Jahrhundert neuer Methoden. Und genau hierfür ist der DGB-Index Gute Arbeit nicht nur ein hilfreiches,
sondern geradezu notwendiges Instrument, um die ausdifferenzierten Beschäftigteninteressen möglichst detailgenau abzubilden und diese in gewerkschaftliches Handeln zu übersetzen.
In einem industriell geprägten Organisationsbereich wie dem der IG BCE
sind die Umwälzungen besonders deutlich spürbar. Darum müssen Gewerkschaften möglichst schnell erfahren, was die Interessen und Bedürfnisse der
Beschäftigtengruppen sind, die traditionell als eher gewerkschaftsfern kategorisiert werden oder die aufgrund organisatorischer Barrieren noch nicht zur Gewerkschaftsmitgliedschaft gefunden haben. Es wäre falsch zu behaupten, dass
Gewerkschaften zu allen Beschäftigtengruppen in gleichem Maße in Kontakt
stehen. Gleichwohl wissen wir, nicht zuletzt durch die Diskussionen um die
Prekarisierung der Beschäftigtenverhältnisse, dass zunehmend gerade auch solche als gewerkschaftsfern betrachteten Erwerbstätigen die gewerkschaftliche
Solidarität und Organisation suchen und benötigen. Diese werden jedoch nur
von der Gestaltungsfähigkeit der Gewerkschaften überzeugt sein, wenn für sie
passende Lösungen gefunden werden, die zur konkreten Verbesserung ihrer
Arbeits- und oder Lebenssituation beitragen. Die Verbesserung des Status der
Leiharbeitnehmer ist beispielsweise eine wichtige Zukunftsaufgabe. Es kann
auf Dauer nicht hingenommen werden, dass bei gleicher Tätigkeit unterschiedliche Löhne gezahlt und indirekt damit Tarifverträge einer Branche unterlaufen
werden. Wenn durch Flexibilisierung der Produktion Produktivitätszuwächse
erzielt werden, dann müssen diesen Beschäftigten eher höhere als niedrigere
Löhne gezahlt werden.
Mit der eigenen Initiative Gute Arbeit will und muss die IG BCE daher Themenschwerpunkte wie Entgrenzung der Arbeit, familienbewusste Personalpolitik, Weiterbildung und Qualifizierung sowie alternsgerechtes Arbeiten und prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiter voranbringen. Dazu müssen politische
Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie die Schaffung von Alterskorridoren, die gesetzliche Absicherung von Langzeitkonten, branchenbezogene Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungengesetze. Es müssen aber auch konkrete und betrieblich angepasste Vereinbarungen gefunden werden, um nah am
Menschen Lösungen zu finden.
Die entgrenzte Arbeit ist nicht nur ein Resultat der Anforderungen der Arbeitgeber oder logische Konsequenz aus der Explosion digitaler Welten. Auch
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften
215
die Beschäftigten selbst haben einen hohen Anspruch an ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Dieses Ineinandergreifen von arbeits- und lebensweltlichen
Ansprüchen erfordert flexible, aber nicht beliebige Regeln. Damit können Themen wie Vertrauensarbeitszeit, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung am
Arbeitsplatz, Gewinnbeteilung bzw. leistungsbezogenes Entgelt oder WorkLife-Balance zu echten Kernthemen großer Belegschaftsgruppen werden. Dazu
gehört insbesondere, dass nicht nur die Flexibilitätsanforderungen der Arbeitgeber Berücksichtigung finden, sondern dass auch die Zeitsouveränitäten, Gestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigten transparent
vereinbart werden. Wenn die Gewerkschaften diesen Lackmustest nicht bestehen, werden wachsende Teile der Belegschaften allenfalls eine romantische Erinnerung an die Gewerkschaften behalten.
Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung
Die IG BCE ist bekannt für ihre gelebte und erfolgreiche Sozialpartnerschaft.
Im Leitbild der IG BCE heißt es dazu: »Wir (...) wollen mit einem lösungsund konsensorientierten Politikverständnis unsere Ziele in einem fairen Interessenausgleich mit selbstbewusster Stärke durchsetzen.« Die IG BCE bekennt
sich zur sozialen Marktwirtschaft und schreibt weiter: »Wir wollen unsere Industriegesellschaft auf dem Weg zu einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung bringen, in der soziale, ökonomische und ökologische Werte gleichberechtigt nebeneinander gefördert werden.« Damit bekennt sich die IG BCE
zu einem Dialog mit den Arbeitgebern, der einerseits nach gemeinsamen Ansätzen und Zielen sucht und andererseits tragfähige Konsense bei unterschiedlichen Bewertungen findet.
Mit den rasanten Veränderungen muss jedoch auch der Rahmen für eine zukünftige Zusammenarbeit in dieser Sozialpartnerschaft neu justiert werden.
Denn auch für die Arbeitgeber hat der Wandel der Arbeitswelt Konsequenzen
wie z.B. die Suche nach neuen Standortstrategien, neuen Strategien zur Personalentwicklung und Weiterbildung wie auch eine lernförderliche Arbeitsorganisation und neue Anreiz- und Leistungssysteme zeigen.
Dies sind im Wesentlichen jedoch mitbestimmungspflichtige bzw. tarifpolitische Themen. Die Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung nimmt durch
den beschriebenen Wertewandel und die ökonomischen Veränderungen also
nicht etwa ab, sondern ist vielmehr die größte Chance für eine humane Erneuerung der modernen Arbeitswelt. Diese besondere Stellung der Gewerkschaften
im Modell Deutschland bleibt der Garant für die Beschäftigten, dass sich das
Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit nicht zu ihren Ungunsten ver-
216
Yasmin Fahimi
schiebt. Zentraler Anker für einen interessenausgewogenen Reformkurs ist die
betriebliche Mitbestimmung, die Unternehmensmitbestimmung und die Tarifautonomie. Offene oder indirekte Strategien seitens der Arbeitgeber, die darauf hinauslaufen, diese strukturelle Macht zu relativieren, finden nicht zufällig zu einem Zeitpunkt statt, in dem dieser Wandel der Arbeitswelt eine hohe
Dynamik erfahren hat. Hinter der scheinbaren Sachzwanglogik, dass Gewerkschaften diese modernen Gestaltungsfelder für die so genannten traditionell gewerkschaftsfernen Beschäftigtengruppen gar nicht wahrnehmen könnten, steckt
letztlich ein altbekannter ideologischer Kampf gegen die gewerkschaftliche Mitbestimmung. Folglich müssen die Gewerkschaften ihre Existenzbasis verteidigen und ihren Einfluss aus- und nicht abbauen.
»Leistungsprinzip« und »soziale Gerechtigkeit« unter dem Schlagwort der
Solidarität miteinander zu verbinden, bleibt aber zunächst eine drohende Zerreißprobe für Gewerkschaften. Mitbestimmung, Solidarität und Kooperation
müssen dann einerseits für diejenigen stellvertretend sichergestellt werden, die
diesen Wandel der Arbeitswelt im schlimmsten Fall als Prekarisierung erleben, genauso wie für diejenigen, die in einer entgrenzten Arbeitswelt auch ihre
individuellen Entfaltungsmöglichkeiten beanspruchen und ihr Selbstbestimmungsrecht nicht ausschließlich durch gewählte Stellvertreter realisiert sehen.
Und dies sind nur die Pole, zwischen denen sich eine Gewerkschaft bewegen
muss. Dazwischen findet sich eine breite Facharbeiterschicht mit klassischen
Themen zur Schichtarbeit und zum Gesundheitsschutz. Dieser Klientel hat die
IG BCE nach wie vor ihre Stärke zu verdanken und diese Klientel schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass der Wandel der Arbeitswelt auch für
andere Gruppen gestaltbar wird.
Darüber hinaus besteht die Chance, mit dem DGB-Index Gute Arbeit in
einen Dialog mit den Sozialpartnern zu treten. Gemeinsam mit dem BAVC
(Bundesarbeitgeberverband Chemische Industrie) hat die IG BCE einen Sozialpartnerprozess auf den Weg gebracht, der den Rahmen für die zukünftige Zusammenarbeit neu justieren soll. In diesem Zusammenhang dienen auch die Ergebnisse des DGB-Index Gute Arbeit als guter Ansatzpunkt, um über die Ziele
verantwortlichen Handelns im unternehmerischen Kontext zu diskutieren. Mit
einem solchen wissensbasierten Forschungsinstrument besteht die Möglichkeit, möglichst ideologieferne und stattdessen an der Sache orientierte Auseinandersetzungen über die Gestaltung einer modernen und humanen Arbeitswelt
zu führen. Das ist das gelebte Prinzip einer gesunden Sozialpartnerschaft, die
fortgeführt werden soll.
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften
217
Der Modernisierungsprozess OPUS und die Zielgruppenarbeit
Um die Themen des Wandels nicht nur für, sondern auch authentisch mit den
Betroffenen zu entwickeln, wurde auf dem Gewerkschaftskongress 2005 ein
richtungweisender Satzungsbeschluss gefasst. Gleichberechtigt neben der bisherigen traditionellen Personengruppenarbeit (Jugend, Frauen, Angestellte) wurde
als betriebliches Arbeitsfeld die Zielgruppenarbeit integriert. Mit der Zielgruppenarbeit soll stärker als bisher eine Projektarbeit initiiert werden, die differenziert Beschäftigtengruppen anspricht und ihre gruppenspezifischen Themen im
Betrieb kontinuierlich aufarbeitet.
Die Konzeptionalisierung der Zielgruppenarbeit war ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses OPUS der IG BCE. OPUS steht für »Optimierung unserer Strukturen« und war ein über insgesamt drei Jahre angelegter Prozess, der
von der Analyse über die Formulierung von Projektideen bis zur pilothaften
Umsetzung der Ideen alle Ebenen der IG BCE erfasst und sowohl haupt-, wie
auch ehrenamtliche Funktionäre einbezogen hat. Nach dieser Phase war die IG
BCE knapp 300 Projekte reicher. Einige dieser Projekte, wie die Zielgruppenarbeit, wurden nach ihrer Auswertung in die Satzung aufgenommen, andere
als best-practice-Beispiele oder als Grundlage für strukturelle Veränderungen
verarbeitet. Kern all dieser Veränderungen bleibt der Anspruch, ein optimales
Verhältnis von organisatorischer Aufgabenverteilung, politischer Arbeit und betrieblicher Wirksamkeit zu erreichen, um die anstehenden Aufgaben in der Arbeitswelt zu meistern.
Teil der Modernisierungsüberlegungen ist es, neben der Schutzfunktion die
Aufgabe von Gewerkschaften als Berater bzw. Moderator stärker auszubauen.
Dies muss mit den notwendigen Gremientätigkeiten in Einklang gebracht werden. Eine »Mitmach-Gewerkschaft« bedarf anderer Organisationsstrukturen
und einer anderen Kultur. Die IG BCE hat daher mit der Implementierung der
Zielgruppenarbeit in ihre Satzung eine wichtige Grundlage geschaffen, Menschen zielgerichtet und nah an ihrer Arbeitswirklichkeit in gewerkschaftliche
Arbeit einzubinden und ihre Interessen zu Themen der gewerkschaftlichen Aktivitäten im Betrieb zu machen. Die verschiedenen Initiativen der Imagekampagne »Modell Deutschland … zuerst der Mensch!« dienen dabei als Themenangebot, wie als Sammelbecken für spezifische Aktivitäten.
218
Yasmin Fahimi
Imagekampagne »Modell Deutschland … zuerst der Mensch!«
Für eine glaubwürdige Imageentwicklung ist es entscheidend, den Wandel in
der Arbeitswelt, wie er sich im Zuge der Globalisierung darstellt, inklusive seiner arbeitsorganisatorischen Phänomene, flexibel zu gestalten. Ein rein kulturell
modischer Anstrich von außen, der quasi nur symbolisch die Vielfalt der Milieus darstellt, ist nicht ausreichend. Insofern können gewerkschaftliche Kampagnen, anders als Werbekampagnen von Unternehmen, nur erfolgreich sein,
wenn sie sich auf konkretes betriebliches Handeln beziehen. Die Imagekampagne »Modell Deutschland … zuerst der Mensch!« der IG BCE sammelt unter
ihrem Dach daher mehrere Einzelinitiativen, um darüber Positionen und Werte
der Gewerkschaft zu transportieren. Diese sind:
■ Gute Arbeit
■ Offensive Bildung
■ Familienbewusste Personalpolitik
■ Gesunder Mensch im gesunden Unternehmen
Die Imagekampagne ist inzwischen zu einem wesentlichen IdentifikationsProjekt der Mitglieder geworden. Mit der Imagekampagne wurde der werteorientierte Charakter der IG BCE unterstrichen. Darüber hinaus lernte die Organisation Wesentliches für den Aufbau ihrer Kampagnenfähigkeit und bringt
Themen wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie, alternsgerechtes Arbeiten,
betriebliche Weiterbildung oder geschlechterspezifische Gesundheitsmanagementsysteme voran.
Ausblick und Zusammenfassung
Eine nachhaltige Erneuerung der Gewerkschaften muss den erfolgten Wertewandel als Realität einer veränderten Arbeitswelt nachvollziehen. Soziale Gerechtigkeit muss von Gewerkschaften als eine Verknüpfung aus strukturellen
Rechten und kulturellen Werten neu definiert werden.
Zu diesem Spagat gehört es, die betriebliche Mitbestimmung als Stellvertreterpolitik mit dem Anspruch an Selbstbestimmung und Autonomie am Arbeitsplatz zu harmonisieren. Flächentarifverträge müssen offen sein für betriebliche Lösungen. Chancengleichheit für unterschiedliche soziale Gruppen
muss gefördert werden. Soziale Sicherheit und Leistungsbewertung muss in
Einklang gebracht und Solidarität mit individuellen Entwicklungschancen verbunden werden.
Um das zu leisten, umfasst der weitere Modernisierungsprozess der IG BCE
daher folgende strukturelle Punkte:
Wandel der Arbeitswelten – Wandel der Gewerkschaften
219
1. Eine moderne und schlagkräftige Organisationsstruktur, die konkretes betriebliches Handeln und zentrale strategische Aufgaben miteinander harmonisiert. Für eine Multibranchen-Gewerkschaft wie die IG BCE heißt dies
auch eine stärkere Ausrichtung auf die Brancheninteressen.
2. Stärkung der gewerkschaftlichen Basisarbeit durch Ausbau der Vertrauensleute- und Ortsgruppenarbeit, Aufbau der Zielgruppenarbeit in den Betrieben sowie permanente Überprüfung des Leistungskatalogs.
3. Schärfung des Profils der Organisation durch strategisches Campaigning.
4. Eine moderne Tarif- und Betriebspolitik.
Die strukturelle Rolle der Gewerkschaften im Modell Deutschland muss erhalten bleiben, um die zahlreichen und komplexen Themen im Sinne der Beschäftigten bewegen zu können. Die Themen zu identifizieren, politisch umzusetzen
und die Menschen auf diesem Weg mit Verstand und Herz mitzunehmen, bleibt
die größte Herausforderung moderner Gewerkschaftsarbeit.
Literatur
Voß, G.G. (1998): »Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft«. In: Mitteilung
aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31 (3), S. 473-487.
DGB-Index Gute Arbeit: http://www.dgb-index-gute-arbeit.de
5. Studien zur Vielfalt
gewerkschaftlicher Akteure
Kirstin Bromberg
Verwaltungsapparat oder
soziale Bewegung?
Sozialweltliche Antworten auf die Frage,
wie Gewerkschaften funktionieren1
Dieser Beitrag2 gibt Antworten auf die Frage, wie Menschen zu Organisationen, wie Gewerkschaften sie darstellen, finden und sich hier allem Individualisierungs- und Pluralisierungswandel zum Trotz, politisch, kulturell und sozial engagieren.
Potenzielle Mitglieder haben es, bevor sie erwägen, einem Verband wie den
Gewerkschaften beizutreten, nicht mit einem abstrakten Organisationsapparat
zu tun. In den meisten Fällen treten sie über eine Person in Kontakt zur Gewerkschaft, die dort entweder angestelltes oder einfaches Mitglied ist. Diese, die Gewerkschaft verkörpernde Person, beeinflusst nun das Bild, was sich ein potenzielles Mitglied von der Gewerkschaft macht und sich künftig machen wird.
Der soziale Kontakt zu einer die Gewerkschaft repräsentierenden3 Person beeinflusst somit die Vorstellung, die dieser Mensch sich von der Gewerkschaft
macht.4 Ferner ist dieses Bild dem Einfluss dessen ausgesetzt, was andere im
1
Ich verwende in meinem Beitrag männliche und weibliche Bezeichnungen abwechselnd, um auszudrücken, dass es sich bei jeder Person prinzipiell sowohl um einen Mann
als auch um eine Frau handeln kann.
2
Grundlage für die hier vorgelegten Befunde ist eine biografieanalytische Studie zum
mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften (Bromberg 2007), in der durch Befragungen hauptamtlicher Gewerkschafter qualitatives Datenmaterial zu beruflichen Aufstiegsund Rekrutierungsprozessen bei Gewerkschaften erhoben wurde. Im Kern dieser Studie
steht die sozialwissenschaftliche Rekonstruktion einzelner Untersuchungsfälle (Bohnsack
1999; Schütze 1999), in deren Ergebnis ein gegenstandsbezogenes, theoretisches Modell
(Glaser/Strauss 1998) der Rekrutierungs- und Bindungspraxis in der gewerkschaftlichen
Sozialwelt (Strauss 1991: 233-270; Schütze 2002) vorgelegt wurde.
3
Repräsentanz der Organisation verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht als formale Repräsentation durch ein Amt, sondern vielmehr im Sinne einer Verkörperung der
und Bezugnahme zur Organisation.
4
Dies setzt freilich voraus, dass die Person überhaupt eine Vorstellung von der Gewerkschaft hat. Falls aber nicht, ist das nicht erheblich, da der Prozess individueller Bedeutungskonstruktion zur Gewerkschaft durch den personifizierten Zugang seinen Anfang nimmt.
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
223
sozialen Umfeld von der Gewerkschaft halten und was der Mensch in Rundfunk und Fernsehen über die Gewerkschaften zu hören bekommt bzw. was diese
über sich selbst kundtun. Insgesamt muss man davon ausgehen, dass die eine
Vorstellung beeinflussenden Faktoren nicht voll erfassbar sind (Wallace 1973;
Gamson 1992). Es handelt sich hierbei um das dynamische Aufeinandertreffen
von kulturellen Einflüssen und individuellen Bedeutungskonstruktionen (Wallace 1973; Gamson 1992), in deren Aushandlungsergebnis sich zeigen wird, ob
Gewerkschaften und individuelle Lebens- und Erfahrungswelt anschlussfähig
sind (resp. werden) oder nicht. Das Individuum muss sich mindestens als lernfähig genug erweisen, sich im Rahmen gewerkschaftlicher Organisationskultur
(Wallace 1973: 318f.) angemessen, also adäquat, verhalten zu können. Hierzu
sind nicht zwingend biografische Passungsverhältnisse5 nötig, wie sie von Gisela
Jakob (1993) als optimaler Anschluss von biografisch motivierten, meist temporär gebundenen individuellen Interessen6 und entsprechenden strukturellen Angeboten durch Institutionen oder Organisationen gedacht werden. Ebenso wenig
sind bewusste, nach utilitaristischer Befriedigung drängende Motive als Voraussetzung für freiwilliges Engagement nötig (Olson 1968), gleichwohl können Mitgliedschaften sowohl durch das eine als auch das andere begründet sein.
Dieser Beitrag eröffnet einen Blick auf die Vielfalt der Möglichkeiten, aus
denen Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten zur Gewerkschaft resultieren können. Er zeigt zudem, dass es sich bei dieser komplexen Vielfalt keineswegs um
unsystematische und somit zufällige empirische Befunde handelt, sondern dass
utilitaristisch motivierte, wie auch aus biografischen Passungsverhältnissen und
anderen Motivationen resultierende Mitgliedschaften eine Gesamtgestalt bilden,
die als Ausdruck kultureller Organisiertheit (Wallace 1973) von Gewerkschaften
verstanden werden muss. Das von mir generierte theoretische Modell zum Verhältnis von Individuum und Gruppe kontrastiert Theorien, die die zentrale Voraussetzung kultureller Partizipation im kollektiven Teilen von (bewussten) Interessen und Motivationen sehen.7 Stattdessen vertrete ich die These, dass es
sich bei gewerkschaftlichen Zugehörigkeiten um von den hauptberuflichen Akteuren hergestellte Passungsverhältnisse handelt (im Folgenden auch als Prinzip
der Adäquanz bezeichnet). Diese durch hauptamtliche Gewerkschaftssekretä5
Vgl. zur Definition von biografischen Passungsverhältnissen Reim 1997: 175-213.
Beispielsweise die Interessenvertretung des eigenen Kindes und seiner Mitschüler im Schulelternrat.
7
Die generierte gewerkschaftsbezogene Bindungstypologie steht im Kontext anthropologischer und sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle zu kollektiven Handlungen und
kollektiver Identität, die die Teilhabe eines Individuums (hauptberufliche Akteurin) an einer kulturell organisierten Gesellschaft (Gewerkschaft) explizieren.
6
224
Kirstin Bromberg
rinnen hergestellten Passungsverhältnisse kommen durch das Aufeinandertreffen zweier durch Interaktion anschlussfähig werdende Komponenten zustande:
Hierzu gehört einerseits das biografisch relevante Wissen der Hauptamtlerinnen
und ihre hieraus resultierenden Deutungen und andererseits die organisationskulturell definierten Merkmale der Gewerkschaft. Aus diesem interaktiv vollzogenen Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Organisationskultur
ergibt es sich entweder, dass sich Personen der Gewerkschaft zugehörig oder
sich ihnen fremd fühlen. Das Charakteristikum gewerkschaftlicher Mitgliederwerbung sind personenbezogene Rekrutierungs- und Bindungsstrategien, die
im Kontext gruppenbezogener Sozialisationsprozesse eine zirkuläre Erneuerung der gewerkschaftlichen Sozialwelt hervorbringen. Auf dieser Basis kann
schließlich geklärt werden, weshalb Personen mit voneinander abweichenden
Motivationen an einer freiwilligen Mitgliederorganisation, wie es die Gewerkschaft ist, partizipieren. Insoweit leistet dieser Aufsatz einen entscheidenden
Beitrag zur differenzierten Perspektive auf Gewerkschaften, die in der Common Sense Perspektive nur allzu häufig als Verwaltungsapparat bzw. Tarifmaschine verstanden werden.
Um die sozialweltliche Komplexität von Gewerkschaften und die hieraus resultierenden vielfältigen Rekrutierungsprozesse verstehen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass der innerorganisatorische Aufstieg zwar der häufigste, nicht
jedoch der einzige Weg zum Besetzen einer höheren Position in der Gewerkschaft ist. Beide Formen der Stellenbesetzung, durch innerorganisatorischen
Aufstieg oder Rekrutierung von Außen, bergen für die Gewerkschaftssekretäre
Schwierigkeiten. Diese sind Ausdruck organisationskultureller Aushandlungsprozesse (Liebig 2001), aus denen individuell konstruierte Zugehörigkeiten zum
gewerkschaftlichen Wir resultieren. In der beruflichen Arbeit der Akteurinnen
im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften bilden sich ihre biografischen
Zugehörigkeitserfahrungen ab. Diese Charakteristiken der beruflichen Handlungspraxis können auf eigene Rekrutierungserfahrungen in der Gewerkschaft
zurückgehen, sie können jedoch auch sozialisationsbezogenen Erfahrungen
in anderen kollektiven Handlungsrahmen (Miethe/Roth 2000), beispielsweise
aus verbandspolitischen Gruppierungen oder aus sozialen Bewegungskontexten, entspringen.
Zentrale Befunde zur gewerkschaftlichen Sozialwelt
Die soziale Welt der Gewerkschaften kennzeichnet, dass in ihr typische personengebundene Rekrutierungs- und Bindungsmuster verankert sind, die gegenwärtig auf der Grundlage des Prinzips der Adäquanz die Existenz der Organi-
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
225
sation sichern. Die gewerkschaftliche Sozialwelt lässt sich analytisch in zwei
Subwelten gliedern. Während die Subwelt I durch horizontale Beziehungen und
Kommunikationsformen geprägt ist, kennzeichnen die zweite Subwelt vertikale
und demnach hierarchische Beziehungen und Kommunikationsstile. Subwelt I
stellt sich aus der Deutungsperspektive der befragten Akteure als eine familiäre gute Binnenwelt dar, die dem Prinzip von Kameradschaft folgt und durch
egalitäre Denk- und Handlungsstrukturen sowie vom Typus der Ehrenamtlichkeit geprägt ist. Die egalitäre Handlungs- und Orientierungslogik der gewerkschaftlichen Subwelt I setzt sich mit der hierarchischen Ordnung ihrer sozialen
Schwesterwelt (Subwelt II) in starken Kontrast.
Subwelt II stellt sich analytisch als Verwaltungsapparat einer auf Dauer gestellten (Gewerkschafts-)Bewegung dar, der in Anlehnung an Miethe/Roth
(2000) als Bewegungsorganisation gefasst wird und deren Logik rationalen und
ökonomischen Prinzipien folgt.
Die kulturelle Organisiertheit (Wallace 1973) beider Subwelten offeriert
(potenziellen) einfachen Mitgliedern, aber auch hauptberuflich und ehrenamtlich tätigen Akteuren vielfältige Zugehörigkeitsoptionen und ist systematisch
auf eine quantitative und qualitative Anreicherung des gewerkschaftlichen Wir
ausgerichtet. Die Systematik dieses Bedeutungsanreicherungsprozesses beruht
auf einer für Gewerkschaften charakteristischen und daher typischen Rekrutierungs- und Bindungsarbeit ihrer hauptberuflichen Kräfte, die dem Prinzip der
Adäquanz folgt und auf unscharf angelegten Profilen von ehrenamtlich und
hauptberuflich Tätigen fußt. Hauptberufliche Akteurinnen bei Gewerkschaften
zeichnen sich dadurch aus, dass sie parallel oder nacheinander verschiedenen
Wir-Gruppen (Elwert 1989) zugehörig sind. So konnte beispielsweise für Wolfgang Anders, einem meiner Interviewpartner, Zugehörigkeiten zu politischen
Studentengruppen der akademischen Selbstverwaltung, zu religiösen Kontexten sowie zur Gewerkschaft herausgearbeitet werden. Dieses charakteristische
Merkmal der überlappenden Mitgliedschaften teilen Gewerkschafter mit den
Akteuren sozialer Bewegungen8 (Miethe/Roth 2000: 17). Hiermit sind die zentralen empirischen Voraussetzungen benannt, auf denen gewerkschaftliche Mit-
8
Soziale Bewegungen werden nach Miethe und Roth (2000) als kollektive Akteure
definiert. Sie beziehen sich hierbei auf das begriffliche Verständnis kollektiver Akteure
von Raschke (1991). Als kollektiver Akteur gilt demnach der, »der mit einer gewissen
Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen«
(Raschke 1991: 32f. nach Miethe/Roth 2000: 7).
226
Kirstin Bromberg
gliederwerbung fußt und die Fortbestand und Vitalisierung der Gewerkschaften
gegenwärtig sichern.
Während sich die Subwelt I der nicht-gewerkschaftlichen Umwelt eher offen
ins Verhältnis setzt, ist die Subwelt II durch eine stärkere Binnenorientierung
und Abschottung nach außen gekennzeichnet.9 Aus dem Prozess individueller
Deutungen dieser subweltlichen Merkmale von Gewerkschaften resultieren nun
personale Anschlüsse an die Organisation Gewerkschaft (Wallace 1973: 318f.).
Hierbei handelt es sich entweder um gezielte organisationsbezogene Rekrutierungen oberhalb der Ebene einfacher Mitglieder (institutionell geförderte Aufstiegsprozesse und formale Rekrutierungen), oder um die Werbung einfacher
Mitglieder, die auf mehr oder weniger bewussten personenbezogenen Rekrutierungs- und Bindungsstrategien von hauptberuflichen Kräften im mitgliedernahen Bereich der Gewerkschaften beruht.
Zu den hauptberuflichen Akteuren
Die Akteursgruppe der so genannten Hauptamtlerinnen setzt sich aus vier biografieanalytisch ausdifferenzierten Bindungstypen zusammen. Es handelt sich
hierbei um die als Bewegungs- und Klassenkampfakteure bezeichneten Personen,
deren Anschlussbereitschaften und -fähigkeiten und damit ihre kulturellen Zugehörigkeiten (Gamson 1992: xi) sich in erster Linie auf die gewerkschaftliche
Subwelt I beziehen. Und zum anderen um die hauptberuflichen Akteurinnen,
die sich überwiegend der Subwelt II zuordnen und als Organisations- und Sozialisationsagenten bezeichnet werden.10
Gewerkschaften favorisieren personenbezogene Rekrutierungsstrategien. Jeder Bindungstypus unterhält und pflegt in einer für ihn typischen Weise soziale
Beziehungen in der gewerkschaftlichen Binnenwelt bzw. zur nicht-gewerkschaftlichen Umwelt. Diese, die Gewerkschaft verkörpernden Personen vermitteln
in ihrem Umgang mit (potenziellen) Mitgliedern Ausschnitte der kollektiven
Identität der Gewerkschaften. Auf der Grundlage ausgehandelter und konstruierter Zugehörigkeiten zu gewerkschaftlichen und nicht-gewerkschaftlichen
9
Vgl. hierzu die Überlegungen bei Weber, nach denen Verwaltungen stets unter Ausschluss von Öffentlichkeit‚ ihr Wissen und Tun vor der Kritik zu verbergen suchten (Weber 1972 nach Becker 1986: 191).
10
Der Typus der Sozialisationsagenten stellt allerdings insofern eine Besonderheit
dar, als seine ursprüngliche Zugehörigkeit zur Subwelt I durch die Aufnahme seiner
hauptberuflichen Arbeit dekonstruiert werden muss, worauf später noch ausführlich
einzugehen sein wird.
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
227
Wir-Gruppen offerieren die hauptberuflichen Akteurinnen Anschlussmöglichkeiten für (potenzielle) Mitglieder, die ihrerseits wiederum bereits vorhandene
Bedeutungsfacetten der gewerkschaftlichen Sozialwelt verstärken und ergänzen können. Gewerkschaftliche Strategien der Rekrutierung, Bindung und Mobilisierung von Mitgliedern sind insoweit darauf ausgerichtet, eine möglichst
breite, stets jedoch adäquate, Mitgliederbasis zu gewährleisten und versuchen
dies, über die Zusammensetzung ihrer hauptberuflichen Kräfte im mitgliedernahen Bereich der Organisation zu erreichen.
Hauptberufliche Gewerkschafter, die, wie sich für die Mehrzahl meiner Befragten gezeigt hat, gleichzeitig oder aufeinander folgend mehreren Gruppen
angehören, müssen insoweit als differenzierte Persönlichkeiten (Simmel 1890)
bezeichnet werden, da deren berufliches Handeln vor allem durch gruppenbezogene Identitäten geprägt ist. Aufgrund der vielfältigen gruppenbezogenen Sozialisationserfahrungen bieten Gewerkschafterinnen für andere Personen (potenzielle Mitglieder) einerseits besondere, andererseits jedoch auch vielfältige
Anschlussoptionen.11
Obgleich Zugehörigkeiten und eine ihnen entspringende differenzierte Persönlichkeit eine der zentralen Voraussetzungen für eine hauptberufliche Anstellung bei Gewerkschaften darstellt, ergeben sich aus diesen parallelen oder
aufeinander folgenden Zugehörigkeiten zugleich Schwierigkeiten für die hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit. Ferner kann mit Nedelmann (1983: 175) argumentiert werden, dass die Erfahrungen in engen Gruppen die Voraussetzung für
die Existenz überindividueller und differenzierter Gruppen darstellen. Wenn es
also gilt, dass »die Fähigkeit zur Exklusivität (...) die Fähigkeit zur Nicht-Exklusivität voraus[setzt; K.B.]« (ebd.: 175), kann dies nicht nur als unausgesprochener Selektionsmechanismus gewerkschaftlicher Rekrutierungspraxis in Bezug auf ihre hauptberuflichen Kräfte identifiziert werden. Darüber hinaus werden
hieran die Funktionalität der kulturellen Ordnungen in Subwelt I und II sowie
ihre wechselseitigen Bezüge deutlich.
Die Subwelt I: Für die Bindungstypen »Klassenkampfakteure« und »Bewegungsakteurinnen« erweist sich insbesondere die berufliche Aktivität des Vermittelns als charakteristisch. Unter Vermittlung wird hier verstanden, dass die
Akteure zwischen gewerkschaftlicher Umwelt und Bewegungsorganisation
(Gewerkschaft) vermittelnd tätig werden und auf diese Weise die Spannung
zwischen den Binnenmilieus ihrer Wir-Gruppen und deren gesellschaftlichen
Umwelten kurzschließen (Neidhardt 1983: 29). Hauptberufliche Gewerkschafterinnen, die verschiedenen Wir-Gruppen zugehörig sind, erweisen sich insofern
11
Vgl. hierzu auch die Befunde zum kulturellen Grenzgängertum von Gewerkschaftssekretären bei Prott (2002: 22).
228
Kirstin Bromberg
als Vermittlerinnen im reinsten Sinne des Wortes. Während Klassenkampfakteure allerdings einen eher konfrontativen Stil des Umgangs mit Akteuren der
nicht-gewerkschaftlichen Welt verfolgen, um beispielsweise die Rechte von Arbeitnehmern zu wahren oder ggf. zu verteidigen, zeichnen sich Bewegungsakteurinnen vor allem durch einen kooperativen Stil aus. Ihnen kann die idealtypische Ausprägung des Vermittelns zugeschrieben werden. Bewegungsakteure
sind Personen, die an eine soziale Bewegung gebunden sind. In ihrem Selbstverständnis stellen sie sich als ambitionierte politische Akteure dar. Sowohl
Klassenkampfakteurinnen als auch Bewegungsakteure fühlen sich Wir-Gruppen zugehörig, die umfassender und komplexer sind als das gewerkschafts- und
organisationsbezogene Wir. Letztere entwickeln aufgrund ihrer starken emotionalen Bindung an soziale Bewegungsgruppen im Zuge ihrer hauptberuflichen
Arbeit bei der Gewerkschaft lediglich eine partielle Wir-Gebundenheit, die
sich beispielsweise auf den konkreten Arbeitsbereich beziehen kann. Aus ihrem Selbstverständnis als Bewegungsakteure erscheint die Fokussierung ihrer
Bedeutungszuschreibung auf die Bewegungsaspekte von Gewerkschaften nicht
nur vernünftig, sondern auch notwendig, um gewerkschaftskulturell anschlussfähig zu sein. Hierfür entfaltet beispielsweise der von ihnen in der alltäglichen
Berufsarbeit vorgenommene Bezug zu gewerkschaftlichen Traditionen der Arbeiterbewegung besondere Relevanz. Dieses zu den Traditionen in Bezug treten verbindet sich zugleich mit den Klassenkampfakteurinnen. Deren Wir-Zugehörigkeiten beziehen sich zumeist auf die Solidargemeinschaft der Arbeiter
(»solidarity group« nach Gamson 1992), woraus sich ihre zentrale Orientierung
auf politischen Protest ergibt. Ihre politische Orientierung, Dreh- und Angelpunkt der Handlungsorientierung, resultiert folglich aus einem Klassenbewusstsein. Während Klassenkampfakteurinnen sowohl durch formale Rekrutierung
als auch durch gewerkschaftsbezogene Aufstiegsprozesse in ihre hauptberufliche Anstellung gelangen, werden Bewegungsakteure typischerweise für die
hauptberufliche Gewerkschaftsarbeit formal rekrutiert. Die empirische Existenz des Bindungstypus Bewegungsakteurinnen zeigt, dass Gewerkschaften
auch noch gegenwärtig von Sozialbewegungsaspekten durchzogen sind. Diese
Aussage will sich empirisch gegen Rucht (2000) behaupten, dem zufolge »das
einst den Parteien und Verbänden noch vielfach innewohnende Bewegungsmoment sich zunehmend verflüchtigt hat« (ebd.: 57). Die hauptberufliche Tätigkeit
bei der Gewerkschaft stellt für Bewegungsakteure aufgrund ihrer formalen Rekrutierung nach abgeschlossener beruflicher Ausbildung eine neue professionelle Sinnwelt dar, in die sie sich durch Lernprozesse einsozialisieren müssen.
Ihre beruflichen Aktivitäten zielen in erster Linie auf gruppenbezogene Interaktionsprozesse, in denen sie Inhalte und Ziele gewerkschaftlicher Politik und
Bildung an (potenzielle) Mitglieder zu vermitteln suchen. Bewegungsakteu-
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
229
rinnen kennzeichnet insbesondere die Hingabe, mit der sie politisch agieren,
was Rucht (2000) zufolge das wichtigste Kapital sozialer Bewegungen bezeichnet (ebd.: 55). Bewegungsakteure verfolgen einen nivellierenden Umgang mit
den gewerkschaftlich (ohnehin unscharf) definierten Akteursrollen »hauptamtlich« und »ehrenamtlich«. Kennzeichen ihrer sozialbewegten Identität ist ferner das Plädoyer für ein ambitioniertes Engagement, welches sich selbst trägt
und keinerlei Gratifikationen12 bedarf.
Das Rekrutierungshandeln und die Bindungsarbeit der Klassenkampfakteurinnen sind hingegen durch die Perspektive des Arbeitskampfes geprägt. Hierbei zielen sie auf bei den Adressaten latent vorhandenes Klassenbewusstsein
(Gamson 1992) ab, was es zu aktivieren gilt. Zu den Bedingungen eines erfolgreich initiierten Bindungsprozesses zählt es, den richtigen Zeitpunkt hierfür abzupassen. Die Klassenkampfakteure zielen vorrangig auf Momente der
Betroffenheit von arbeitsrechtlichen Problemen ab, da diese für sie selbst biografische Bedeutung erlangt haben. Sie sprechen bevorzugt Arbeitnehmer an,
die schlechte Erfahrungen mit Arbeitgebern gemacht haben und sich wehren
wollen, zum Protest somit bereit sind, aber nicht wissen, wie sie es anstellen
sollen. Insofern zielen Klassenkampfakteure bei ihrer Rekrutierungsarbeit auf
die Förderung von Engagement ab, welches sich auf die Vertretung eigener Interessen als Arbeitnehmer gründet. Sie erweisen sich insofern als personifizierte Nachfolger einer einstmals in homogener Figur auftretenden Arbeiterbewegung. Dieses Bindungsmuster impliziert neben der biografischen Erfahrung
des Erfolgs und der Aktivierung des Klassenbewusstseins eine Perspektive des
Nutzens, also eine utilitaristische Haltung, von der potenzielle Mitglieder überzeugt werden müssen.13
Bindungstypen übergreifend konnte ein auf Quantität abzielender Rekrutierungsdruck für hauptberufliche Gewerkschafter rekonstruiert werden, der als
Ausdruck einer ökonomischen Ratio des Bewegungsapparates (Subwelt II) verstanden werden muss. Sie setzt sich insbesondere zum Selbstverständnis der
Bewegungs- und Klassenkampfakteure kontrastierend ins Verhältnis, widerstrebt jedoch auch den Sozialisationsagentinnen, aus deren Orientierung auf
dyadische Formen der Bindungen ebenfalls eine quantitative Begrenzung ihrer sozialen Beziehungen erwächst. Je größer jedoch der Einfluss dieser Wirtschaftsratio auf die soziale Welt der Gewerkschaft wird, desto stärkere Aus-
12
Gratifikationen verstehe ich hier als materielle und/oder ideelle Entschädigungen
für die geleistete freiwillige Arbeit.
13
Vgl. zum Zusammenwirken zweckrationalistischer und emotionaler Motive bei
Gruppenzugehörigkeiten Simmel 1922.
230
Kirstin Bromberg
wirkungen hat dies auf ihre sozialen Beziehungen, vor allem jedoch auf die
Bindungsmöglichkeiten.
Subwelt II: Die egalitäre Handlungs- und Orientierungslogik der gewerkschaftlichen Subwelt I, der vor allem Klassenkampf- und Bewegungsakteurinnen folgen, setzt sich mit der hierarchischen Ordnung ihrer sozialen Schwesterwelt (Subwelt II) in starken Kontrast. Dieser zweiten Subwelt fühlen sich in
erster Linie diejenigen Bindungstypen zugehörig, die als Organisations- und Sozialisationsagenten kategorisiert wurden. Beide kennzeichnet ein vertikal ausgerichteter Kommunikationsstil, der im Fall der Organisationsagentinnen paternalistische Züge und damit eine stark hierarchische Handlungsorientierung
aufweist. Diese Bindungstypen zeichnen sich im Vergleich zu den Bewegungsund Klassenkampfakteuren durch eine stärkere binnenbezogene Handlungsorientierung aus. Das Verhältnis des Organisationsagenten zur nicht-gewerkschaftlichen Welt ist eher konfrontativ ausgerichtet, das der Sozialisationsagentinnen
eher kooperativ. Der Bindungstypus der Organisationsagenten weist als einziger die kulturelle Bindung an die Gewerkschaft im Zuge der Primärsozialisation in der Herkunftsfamilie auf. Sofern die hauptberufliche Tätigkeit bei der
Gewerkschaft für Organisationsagentinnen eine neue professionelle Sinnwelt
darstellt, werden sie durch diese Lernprozesse nicht nur berufsbezogen in die
Sozialwelt der Gewerkschaft einsozialisiert, sondern sukzessive an die Organisation der Bewegung gebunden. Hieraus resultiert die von ihnen konstruierte
Zugehörigkeit zur Gewerkschaft als Organisation. Grundlage ihrer durch utilitaristische Orientierungen gekennzeichneten Zugehörigkeit stellt ihre berufliche Sozialisation und die hiermit verbundene Partizipation an Macht dar. Es
ist folglich das Organisationshandeln und die ihm zugrunde liegende Organisationsratio, welche den Kern des Typus ausmacht.
Organisations- und Sozialisationsagentinnen vereint das Selbstverständnis
einer politischen Orientierungs- und Führungsfigur, was für die sozialen Beziehungen besondere Relevanz entfaltet. Kontrastiert werden sie jedoch durch
den differenten emotionalen Bezug zu den Mitgliedern. Während noch für beide
Bindungstypen ein vertikaler Stil der Kommunikation charakteristisch ist, weiß
der Organisationsagent besser, was für den Rekruten gut ist, und schreckt nicht
davor zurück, dies auch gegen dessen (resp. ihren) Willen zu verfolgen. Eine
Sozialisationsagentin hingegen achtet sehr darauf, dass sich insbesondere junge
Rekruten entsprechend ihren eigenen Vorlieben entfalten und entwickeln können und vermeidet hierbei paternalistische Bevormundung. Kennzeichen des
biografisch gelernten Bindungsmodells der Sozialisationsagenten ist die Perspektivenübernahme wichtiger Personen, die auch signifikante Andere (Sullivan 1953 nach Joas 2003) genannt werden. Die zentrale Strategie dieses Bindungstypus besteht darin, die Adressaten der beruflichen Arbeit an die eigene
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
231
Person zu binden. Insofern begreifen sie junge Freiwillige bei der Gewerkschaft
als sich selbst Nachfolgende. Diese Form der Bindung wird von denjenigen
Akteurinnen favorisiert, die selbst als Auszubildende prozesshaft von bereits
hauptberuflich tätigen Akteuren an die soziale Welt der Gewerkschaft gebunden wurden. Sozialisationsagenten gelangen in ihre hauptberufliche Anstellung
ausschließlich durch organisationsbezogene Aufstiegsprozesse, was sich in der
Homogenität ihrer (berufs)biografischen und handlungspraktischen Merkmale
ausdrückt. Das Bindungsmuster der Sozialisationsagentinnen hat somit gleichermaßen wie die utilitaristisch geprägte Identität der Organisationsagenten
oder das freiwillige, ambitionierte politische Engagement der Bewegungsakteure biografisch betrachtet Kontinuität.
Zur Besonderheit des Sozialisationsagenten in der Subwelt II
An dieser Stelle soll es um die eingangs erwähnte Besonderheit des Bindungstypus Sozialisationsagent gehen, da an seinem Beispiel die Schwierigkeiten des
Lernprozesses von der Fähigkeit der Exklusivität zur Fähigkeit von Nicht-Exklusivität erläutert werden können. Die Gewerkschaft stellt sich im Verständnis
der Sozialisationsagentinnen nicht nur als Kontext wichtiger Sozialisationserfahrungen dar, sondern aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen als einer Familie ähnlich, in der man grundlegende Vorstellungen davon entwickelt, wer man
eigentlich ist und basale Fähigkeiten des sozialen Handelns und Umgangs mit
anderen erlernt (Joas 2003: 129). So erfährt man auch in der gewerkschaftlichen
Wir-Gruppe emotionalen Rückhalt und die Unterstützung einer Person bei der
eigenen Entwicklung. Diese biografische Erfahrung in der gewerkschaftlichen
Subwelt I wird nun durch die hauptberufliche Arbeit in der sozialen Teilwelt
II maximal kontrastiert, woraus sich Schwierigkeiten für den einzelnen Akteur
entwickeln können. Für den Anschluss an die ökonomische und rationale Handlungslogik der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit (Subwelt II) erweisen sich
die unscharf konstruierten Profile der »Ehrenamtlichen« und der »Hauptamtlichen« als sehr bedeutsam. Die Unschärfe dient nicht nur der institutionellen
Beförderung von Aufstiegsprozessen, die für die Klassenkampfakteurinnen und
Sozialisationsagenten kennzeichnend sind, sondern sie sichert zugleich das frühzeitige Einsozialisieren in die zwei gewerkschaftlichen Subwelten. Hiermit ist
ihre stabilisierende Funktion für die gewerkschaftliche Binnenwelt bezeichnet.
Nicht zuletzt wird die Profilunschärfe dadurch optimiert, dass die Akteurinnen
häufig selbst parallel zu ihrer hauptberuflichen Arbeit freiwillig engagiert waren oder es noch sind, was zu ihrer hohen Bereitschaft unentgeltlicher Zusatzleistungen im Rahmen der hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit beiträgt.
232
Kirstin Bromberg
Die kollektive Identität von Gewerkschaften erweist sich stets als verhandelbares und ausgehandeltes Konstrukt zugleich. Die in ihrem Handlungsrahmen
agierenden Personen (hier mitgliedernaher Bereich) verkörpern die Gewerkschaftskultur jeweils in Ausschnitten und werden auf dieser Grundlage als gewerkschaftskulturelle Bindungstypen identifizierbar. Es handelt sich bei den
Sozialisations- und Organisationsagentinnen bzw. bei den Klassenkampf- und
Bewegungsakteuren um zum Teil kontrastierende Typen, die im kollektiven Akteur – Gewerkschaft – vereinigt werden.14 Insoweit müssen Gewerkschaften als
in Veränderung begriffene kollektive Akteure verstanden werden. Die vier für
die soziale Welt der Gewerkschaft rekonstruktiv ermittelten Bindungstypen tragen im Vollzug ihrer alltäglichen hauptberuflichen Arbeit, insbesondere durch
die für sie charakteristischen Rekrutierungs- und Bindungsstrategien, zur Anreicherung der »semantischen Matrize« (Wallace 1973: 308) von Gewerkschaften
bei. Auf diese Weise wird gegenwärtig eine Stabilisierung der Gewerkschaften
im Innen und Außen erreicht (Elwert 1989: 49f.).
Fazit
Die eingangs gestellte Frage danach, wie Menschen als freiwillige Akteure zu
einer freiwilligen Organisation, wie es die Gewerkschaften sind, finden, kann
nach den gemachten Ausführungen auf der Grundlage des gewerkschaftskulturellen Mechanismus der zirkulär angelegten Rekrutierungen beantwortet werden.
Er stellt die Basis für die gegenwärtige Rekrutierungs- und Bindungspraxis der
Gewerkschaften dar. Das für die Rekrutierung und Bindung zentrale Prinzip der
Adäquanz verbindet sich mit der gewerkschaftlichen Organisationsstrategie zur
Auswahl ihrer hauptberuflichen Kräfte, durch welche die gewerkschaftskulturelle Organisiertheit beeinflusst wird. Die den hauptberuflichen Akteurinnen zugeteilte und von ihnen ausgeführte berufliche Aufgabe der personenbezogenen
Mitgliederwerbung gewährleistet, dass vorwiegend jene Adressaten in die gewerkschaftliche Politik einbezogen werden, mit denen das gewerkschaftskulturelle Prinzip der Adäquanz fortgeschrieben werden kann. Eine Mitgliedschaft
in der Gewerkschaft kommt ferner dann zustande, wenn sich das (potenzielle)
Mitglied bezogen auf die Gewerkschaftskultur als ausreichend lernfähig erweist.
Hiermit sind gleichermaßen die Bedingungen des Zustandekommens und des
Aufrechterhaltens gewerkschaftlicher Mitgliedschaften bezeichnet.
14
Vgl. hierzu die ähnlich gelagerten Ergebnisse Miethes (1999) bezogen auf soziale Bewegungen.
Gewerkschaften – Verwaltungsapparat oder soziale Bewegung?
233
Sowohl Bewegungs- und Klassenkampfakteurinnen als auch Sozialisationsund Organisationsagenten dienen als differenzierte Persönlichkeiten auf gleichwertige Weise der Vitalisierung und Mobilisierung der Mitgliedschaft und damit
der gegenwärtigen Existenzsicherung von Gewerkschaften. Die Differenzierung ihrer Persönlichkeit resultiert aus parallelen oder aufeinander folgenden
Zugehörigkeiten zu verschiedenen Wir-Gruppen (Elwert 1989). Es zeigt sich
demnach zugleich, dass gewerkschaftliche Partizipation sich nicht mit der Vorstellung von Statik verbinden lässt, sondern als dynamisches Ergebnis wechselseitiger bedingter Aushandlung von Akteuren und Gewerkschaft gedacht
werden muss. Vielmehr geht es um sozial und interaktiv hergestellte Zugehörigkeiten, die in einem zirkulären Prozess zwischen kollektiv handelnden Personen (hauptberufliche Gewerkschafterin) und (potenziellen) Mitgliedern bzw.
aktiven Freiwilligen stattfinden. Der rekonstruierte und durch das Prinzip der
Adäquanz bestimmte Rekrutierungs- und Bindungszirkel ist strategisch sowohl
auf den gewerkschaftlichen Binnenraum als auch auf die gewerkschaftliche Umwelt bezogen. Für den auf diese Weise entstehenden Erneuerungskreislauf der
(partiellen) Zugehörigkeiten zur Gewerkschaft entfaltet das berufliche Handeln
der vier gewerkschaftskulturell differenzierbaren Bindungstypen zwar eine verschiedene, jedoch gleichermaßen wichtige Bedeutung.
Die soziale Wirklichkeit der Gewerkschaften verweigert sich vor diesem Hintergrund einem einfachen und stabilitätsbezogenen Zugriff des Verstehens. Es
handelt sich hierbei um eine Vorstellung von Stabilität, die René König (1983)
noch im besten Sinne als »blinden Fleck im Auge des Beobachters« (ebd.: 59)
bezeichnet. So zeigt sich am Beispiel der von den gewerkschaftlichen Akteuren
selbst dargestellten, ihnen jedoch nicht zu Bewusstsein gewordenen Tatsache,
dass es »kein ›Jenseits‹ des Sozialen, wohl aber einen ständigen Erneuerungsprozess« (ebd.: 60) gibt.
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Kirstin Bromberg
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Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Prekäre und flexibilisierte Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
Auf der Suche nach gewerkschaftlichen Handlungsstrategien
1. Hintergrund
Dieser Beitrag befasst sich mit den Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit im gewerkschaftlichen Kontext. Hintergrund ist die neoliberal inspirierte Re-Organisation der Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit, die sich durch
eine Ökonomisierung des Handlungsrahmens und durch eine programmatische
Neuausrichtung im Rahmen eines aktivierenden Staates auszeichnet. Für die
Beschäftigten konkretisiert sich dies u.a. in flexiblen bis prekären1 Beschäftigungsverhältnissen (vgl. Eichinger 2007), was die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten in gewerkschaftlichen Zusammenhängen aufwirft.
Wir beschäftigen uns als Gewerkschafterinnen wissenschaftlich mit der Bedeutung dieser Entwicklung für die Arbeitssituation sozialpädagogischer Fachkräfte in Berlin. Ziel unserer empirischen Untersuchung war es, den Ist-Zustand
der Arbeitssituation zu erfassen und daraus Konsequenzen für (inner-)gewerkschaftliches Handeln abzuleiten. In Anlehnung an eine bereits 1988 von der
GEW bundesweit durchgeführten Studie (Grundmann/Kunz 1988) entwickelten wir einen halb-standardisierten Fragebogen, der 2005 an alle Berliner GEWMitglieder des Arbeitsbereichs Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit verschickt
wurde. Von den 1050 Fragebögen erhielten wir 134 Fragebögen vollständig beantwortet zurück. Die Zusammensetzung der Stichprobe entsprach der bundesweit üblichen Verteilung (Dahme et al. 2005: 204): 20% der Befragten sind bei
1
»Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten
aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit
Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zu ungunsten der Beschäftigten«
verändert (Brinkmann et al. 2006: 17). »Dazu gehören Leih- und Zeitarbeit, niedrig
entlohnte Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit und befristete Stellen ebenso wie
Mini- und Midi-Jobs, abhängige Selbstständige oder sozialpolitisch geförderte Arbeitsgelegenheiten.« (Dörre 2006: 8)
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
237
öffentlichen und 80% bei freien Trägern beschäftigt. Der größte Anteil der TeilnehmerInnen gehört zur Berufsgruppe der Diplom SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen (54%), gefolgt von ErzieherInnen (17,9%) und LehrerInnen (7,5%).
Die Befragten arbeiten überwiegend in der Kinder-, Jugend und Familienhilfe
(63%) sowie in den Arbeitsbereichen Behindertenhilfe, Hilfen für Psychisch
Kranke und Altenhilfe (27%) und 10% arbeiten im Aus-, Fort- und Weiterbildungssektor.
Bevor wir auf die Arbeitssituation der Befragten eingehen, geben wir im Folgenden einen historischen Rückblick zur Entwicklung der Arbeitsbedingungen
sowie zu der gewerkschaftlichen Organisierung im Bereich der Sozialen Arbeit,
um strukturelle Schwierigkeiten diskutieren und Rückschlüsse für gewerkschaftliches Handeln ziehen zu können.
2. Historischer Rückblick
Trotz der niedrigen Bezahlung und der schlechten Arbeitsbedingungen in den
ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vertrat Alice Salomon – die damals wohl
wie kaum eine andere die Professionalisierung der Sozialen Arbeit vorantrieb –
die These, dass Leute, die wirklich geeignet seien für den Beruf, sich durch ihr
Charisma auch ohne Gewerkschaften durchsetzen könnten (Sachße 1986: 288).
Dennoch blieb deren Interessenvertretung nicht auf der individuellen Ebene:
Zwar nicht die Gewerkschaft, aber die Arbeitsgemeinschaft der Berufsverbände
übernahm nach ihrer Gründung 1920 die Vertretung der wirtschaftlichen und
beruflichen Interessen dieser Berufsgruppe. Ihre Initiativen verbuchten kleine
Erfolge, wie z.B. tarifrechtliche Richtsätze für die Entlohnung von Fürsorgerinnen (Zeller 1994: 115). Die Arbeitsgemeinschaft betonte in ihrer Argumentation das Allgemeinwohl und nicht ihr Eigenwohl. Wenn nämlich eine bessere
Qualität erbracht werden solle, so ihre Argumentation, bedürfe es verbesserter
Arbeitsbedingungen für die Berufsgruppe (Paulini 2001: 336).
In der damaligen Fachdebatte gab es jedoch weiterhin die Neigung, die stetigen Berichte über körperliche wie seelische Arbeitsüberlastungen auszublenden, was vereinzelt kritisiert wurde (Sachße 1986: 291). Da half es auch wenig,
dass Heynacher 1925 die Ergebnisse einer ersten empirischen Studie zur teilweise alarmierenden »Berufslage der Fürsorgerinnen« veröffentlichte.2 Gertrud
Bäumer, eine prominente Figur der Frauenbewegung, beklagte, dass es trotz der
2
Es gab große Unterschiede bei der Besoldung, beim Arbeitsumfang und hinsichtlich des Anstellungsstatus. So waren z.B. 42% nicht ständig angestellt, sondern Zeitkräfte (Sachße 1986: 293; Paulini 2001: 339f.). Heute sind es nach den Angaben des
238
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Ergebnisse »ziemlich schweigsam« (Bäumer 1930 zit. n. Zeller 1994: 117) blieb
und keine nennenswerten Konsequenzen bzw. Verbesserungen folgten. Der Auftraggeber der Studie, das preußische Volkswohlfahrtsministerium bot infolgedessen lediglich Turnkurse zum Ausgleich an (Zeller 1994: 117).
1968, also mehr als vier Jahrzehnte später, veröffentlichte Lingesleben eine
ähnliche Studie und kam nach einem Vergleich mit den Ergebnissen seiner Vorgängerstudien (Heynacher 1925; Bierfelder 1955) zu dem für ihn »bemerkenswerten« Schluss, »dass einige Probleme von damals so ziemlich auch die Probleme von heute geblieben sind« (Lingesleben 1968: 112). Dieses Ergebnis
überrascht umso mehr, wenn man in Betracht zieht, dass inzwischen 70% der
Befragten in Berufsverbänden oder Gewerkschaften organisiert waren. Lingesleben sah seinerzeit die mangelnde Durchsetzungskraft in der Vielzahl von Organisationen begründet (ebd.: 111).
Über all die Jahrzehnte haben sich die Interessensvertretungsorganisationen
zwar gewandelt bzw. vereinheitlicht, doch blieb das Tätigkeitsfeld der Sozialen
Arbeit ein gewerkschaftliches Stiefkind. Auch 2001 im Zuge der gewerkschaftlichen Reorganisation bemühte sich weder ver.di noch die GEW ausdrücklich
um deren Vertretung. So sind zwar ca. 30%3 der Dipl. SozialarbeiterInnen/Dipl.
SozialpädagogInnen organisiert, was dem durchschnittlichen bundesweiten Organisationsgrad entspricht (Ebbinghaus o.J.). Ihre Interessen werden jedoch ausgesprochen halbherzig vertreten. Zudem werden in der heutigen Fachdebatte
einerseits weiterhin teils die »Klagelieder« der Fachkräfte hinsichtlich ihrer Beschäftigungssituation kritisiert (Maier/Spatscheck 2006) und andererseits bzw.
von anderen die Legitimität der Beschwerden sowie ein Handlungsbedarf unterstrichen (Dahme et al. 2007).
Als hemmend für eine wirkmächtige Interessensvertretung wird weiterhin
u.a. die Heterogenität des Berufsfelds angeführt. Die somit auch heterogenen
Arbeitsbedingungen hätten für die gewerkschaftlichen Interessensvertretungen
zur Folge, dass es kaum gelinge, einen Überblick über die realen Arbeitsbedingungen zu wahren, um adäquate Forderungen stellen zu können (Dahme et al.
2005: 159). Auch erschwere die Heterogenität des Berufsfelds die Herausbildung einer unterstützenden einheitlichen professionellen Identität. Zudem finBerufsverbands DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit) ca. 50%, die nicht
mehr fest angestellt werden.
3
Über den aktuellen Organisiertheitsgrad der SozialarbeiterInnen liegen folgende Zahlen vor: Sie läge bei 6% für den DBSH (Paulini 2001: 446). Karges et al. (2000: 41f.)
kamen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass 32% der Berufsgruppe bei den Gewerkschaften ver.di und GEW organisiert seien. Bornhöft (2001:191) kommt auf 26,7%
bei seiner Befragung (inkl. Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit, der als Gewerkschaft anerkannt ist, kommt er auf 31,1%).
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
239
det bis heute eine Abgrenzung zu klassischen gewerkschaftlichen Strategien
wie z.B. Streiks statt. In der Frühzeit der Sozialen Arbeit waren es vor allem
die Sozialarbeiterinnen des bürgerlichen Lagers, die betonten, »der Dienst am
Volksganzen ist kein Klassenkampf« (Zeller 1994: 58). Heute wird u.a. das
Argument stark gemacht, dass durch einen Streik kein wirkmächtiger Druck
wie in anderen Branchen aufgebaut werden könne. Zudem würden insbesondere die NutzerInnen der Sozialen Arbeit leiden, was in der Berufsgruppe als
Unzumutbarkeit gelte.
Doch reichen diese Erklärungsmuster aus? Zumal, wenn auch nur sehr vereinzelt in der Vergangenheit Streiks geführt wurden.4 Zu den genannten Erklärungsversuchen, bzw. zu ihrer empirischen Relevanz liegen bedauerlicherweise keine vertiefenden Forschungsergebnisse vor. Es drängt sich im Kontext
der Gewerkschaftsarbeit mit sozialpädagogischen Fachkräften jedoch die Frage
auf: Sind die Organisierten in der Sozialen Arbeit unorganisierbar? Die Ergebnisse unserer Studie bieten Anknüpfungspunkte auf der Suche nach Antworten auf diese Frage.
3. Ausgewählte Ergebnisse der Erhebung
Neben Fragen zur Berufsbiografie, den aktuellen Arbeitsregelungen und Fragen
zur Arbeitsplatzsituation, stellten wir offene und geschlossene Fragen zur Fachgruppe Kinder-Jugendhilfe und Sozialarbeit in der Berliner GEW.
Regelung der Arbeitsbedingungen und Umfang der Beschäftigung
Tabelle 1 vergleicht die Regelung der Arbeitsbedingungen und den Umfang der
Beschäftigung für die Mitglieder der von uns untersuchten Berliner Fachgruppe
in der GEW mit den Daten aus der Vorgängerstudie, die 1988 vom GEW-Hauptvorstand durchgeführt wurde. Dabei wird deutlich, dass der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) bzw. der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) als Leitwährung an Relevanz deutlich verliert:5 Das Verhältnis zwischen jenen, deren
Arbeitsbedingungen voll nach Tarif geregelt werden und jenen, bei denen der
BAT keine bindende Wirkung hat, kehrte sich in weniger als zwei Jahrzehnten
4
Zum Beispiel fand in West-Berlin laut Zeitzeugenaussage in den 1960er/70er Jahren ein Streik der Beschäftigten in Kinder- und Jugendheimen statt. Hierbei handelte es
sich um einen Streik, der weder formal legitimiert war durch einen offiziellen Aufruf
der Gewerkschaften noch durch eine Urabstimmung.
5
Mangels anderer Daten gehen wir davon aus, dass die 1988 bundesweit ermittelten
Zahlen auch für das damalige Berlin sprechen.
240
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Tabelle 1: Ausgewählte Befragungsergebnisse im Zeitvergleich
(Angaben in %)
Berliner
GEW-alt
Fachgruppe (1988)b
(2005)a
Regelung der Arbeitsbedingungen
Dahme u.a.
(2002-2004)a
BAT/TVöD
38
68
Angelehnt BAT/TVöD
62
32
35
70
75
Teilzeit
65
1
27
25
Regelmäßige Überstunden
70
62
Lingesleben
(1968)b
Umfang der Beschäftigung
Vollzeit
28
Zufriedenheit mit der Bezahlung
Sehr Zufrieden und Zufrieden
39
Teilweise zufrieden
25
Entfällt wg Arbeitslosigkeit/
keine bzw. keine klare Antwort
Unzufrieden
a
b
1
39
8
38
28
23
Erhebungszeitraum
Jahr der Veröffentlichung
Die restlichen Befragten der GEW-alt Studie hatten Honorarverträge über 10 bis 30 Wochenstunden.
praktisch um. Ähnliche Verschlechterungen für die Beschäftigten zeigen sich
auch im Hinblick auf den Umfang der Beschäftigung: im Vergleich mit der GEWAltstudie und einer Studie von Dahme, Kühnlein und Wohlfahrt von 2005.
Einschätzung der Personalsituation
Bei der Betrachtung der Ergebnisse im Hinblick auf die Einschätzung der Personalsituation zeigt sich, dass ein Großteil der Beschäftigten die personelle Ausstattung in den Betrieben als mangelhaft einschätzt. Auch gibt ein Drittel der Befragten an, dass es eine Unterbesetzung mit Fachkräften gibt. Immerhin geben
noch 27% der Beschäftigten an, die Personalsituation sei gut (Tabelle 2).
Auf die Frage, welche Veränderungen bei den MitarbeiterInnenstellen stattgefunden haben, wurden sowohl Stellenabbau und Neubesetzung mit geringer
qualifizierten MitarbeiterInnen angegeben, als auch eine Verlegung von MitarbeiterInnenstellen aufgrund von Einrichtungsschließungen. Auch wurden
vormals entfristete Stellen befristet und Verträge zu extrem schlechten Bedingungen verlängert. Im Hinblick auf diese Ergebnisse lässt sich ablesen, dass
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
241
die Arbeitsverhältnisse, denen die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit unterliegen, immer prekärer werden.
Auf die Frage nach den Gründen, die die Arbeitsstelle für die Beschäftigten
unsicher machen, lässt sich ein hohes Maß an Planungsunsicherheit ableiten.
Die Mehrheit der Befragten gibt als Grund6 für die Unsicherheit der Arbeitsstelle Kürzung der öffentlichen Haushalte an. Weitere häufig genannte Gründe
sind die Finanzlage des Trägers, Änderungen der gesetzlichen Grundlage, Veränderungen in der Organisations- und Aufgabenstruktur als auch Misswirtschaft
des Arbeitgebers. Aus Gewerkschaftsperspektive ist interessant, dass nur knapp
ein Zehntel der Befragten angibt, dass eine fehlende betriebliche Interessenvertretung ein Grund sei, der die Arbeitsstelle unsicher macht.
Tabelle 2: Personalsituation in der Sozialen Arbeit
(Quelle: eigene Erhebung 2005, Angaben in %)
Anteil der
Befragten
Personalsituation
Unterbesetzung mit Fachkräften
38
Unterbesetzung mit Hilfskräften
3
Unterbesetzung mit Fach- und Hilfskräften
32
Gute personelle Ausstattung
27
Gründe für Unsicherheit des Arbeitsplatzes
Kürzung öffentlicher Haushalte
85
Finanzlage des Trägers
50
Gesetzesänderungen
31
Veränderte Aufgaben
18
Misswirtschaft des Arbeitgebers
17
Fehlende gesellschaftliche/politische Unterstützung durch die Einrichtung
15
Fehlende betriebliche Interessensvertretung
8
Alle Prozentangaben bezogen auf alle Befragten. Mehrfachantworten waren z.T. möglich.
6
Die Fragen zu den Gründen wurden in einem geschlossenen Format mit der Möglichkeit zur Mehrfachantwort vorgegeben.
242
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Arbeitsbelastungen und Arbeitszufriedenheit
Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung ist, das 70% der Befragten regelmäßig Überstunden leisten. Der Arbeitsbereich der Behindertenhilfe ist hierbei
mit 84% Spitzenreiter.
Beachtlich im Vergleich zu den Vorgängerstudien (vgl. Tabelle 1) ist der
deutliche Anstieg der Befragten, die regelmäßig Überstunden leisten. Zusätzlich gilt es, auf den geschlechtsspezifischen Unterschied zu verweisen, denn
12% mehr Frauen leisten regelmäßig Überstunden als Männer. Bei über der
Hälfte der Betroffenen werden die Überstunden mit Freizeit ausgeglichen. In
Anbetracht der sehr hohen Quote von Teilzeitbeschäftigten – nur 35% arbeiten
Vollzeit – könnte die gleichfalls hohe Mehrarbeitsquote auf die Tendenz verweisen, dass zwar der formale Umfang der Arbeitszeit geringer wird, jedoch
häufiger Überstunden erbracht werden, um zeitweilig höhere Arbeitsanfälle flexibel zu regulieren.
Eine weitere Anforderung für die Beschäftigten stellt die deutlich gestiegene Arbeitsdichte dar. So gaben 74% an, dass ihre Arbeitsdichte zugenommen hat (Tabelle 3). Da u.a. sowohl Überstunden wie auch die Arbeitsdichte
für die Beschäftigten zu Arbeitsbelastungen werden können, wenn sie weder
Tabelle 3: Arbeitsdichte und negative Auswirkungen der Berufstätigkeit
(Angaben in %)
Arbeitsdichte
Arbeitsdichte sehr stark gestiegen
14
Arbeitsdichte stark gestiegen
34
Arbeitsdichte angestiegen
25
Arbeitsdichte unverändert
14
Arbeitsdichte abgenommen
4
Arbeitsdichte stark abgenommen
2
Entfällt wegen Arbeitslosigkeit/Keine Angabe
7
Negative Auswirkungen der Berufstätigkeit
Arbeit beschäftigt noch nach Feierabend
67
Erschöpfung in der Freizeit
62
Eingeschränkte soziale Kontakte
33
Arbeitsbedingte Erkrankungen
25
Ängste und Depressionen
16
Keine negativen Auswirkungen
18
Alle Prozentangaben bezogen auf alle Befragten. Mehrfachantworten waren z.T. möglich.
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
243
individuell bzw. im Rahmen ihrer strukturellen Arbeitssituation adäquat ausgeglichen werden können, fragten wir, ob bzw. von welchen negativen Auswirkungen sie persönlich aufgrund ihrer Tätigkeit betroffen sind (Tabelle 3). Lediglich 6% der Befragten gaben an, keine negativen Auswirkungen durch ihre
Berufstätigkeit zu haben.
Aufschlussreich sind hierzu kontrastierend die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Arbeitszufriedenheit, die als einer der wesentlichsten Aspekte gilt, um Arbeitsbelastungen auszugleichen (erneut waren Mehrfachantworten möglich)
bzw. negative Auswirkungen zu verhindern.7 Die Zufriedenheit mit der Arbeitsplatzsicherheit wird von annähernd so vielen Befragten bejaht wie verneint (Tabelle 4). Mit der Bezahlung ihrer Stelle sind knapp 30% der KollegInnen unzufrieden. Die hohe Unzufriedenheit mit der niedrigen Bezahlung stellt eine
historisch erstaunlich kontinuierliche Einschätzung dar (Tabelle 1). Auch hinsichtlich der Arbeitszeitregelungen zeigt sich, dass immerhin 22% mit diesen
unzufrieden sind.
Bei der Betrachtung der Frage nach der Wahrnehmung der sozialen Arbeitsbeziehungen lässt sich aufzeigen, dass die Befragten überwiegend zufrieden
sind mit der Zusammenarbeit auf der MitarbeiterInnen-Ebene (41%) als auch
mit der Führungsebene (41%). 59% geben an, dass sie zufrieden sind mit den
Möglichkeiten, selbstbestimmt zu arbeiten.
Qualitative Ankerbeispiele unterstreichen die Relevanz der beiden zuletzt
aufgeführten Aspekte als Ausgleich für hohe Arbeitsanforderungen. So gaben
Tabelle 4: Zufriedenheit mit der Arbeitssituation in der Fachgruppe Soziale Arbeit
der GEW Berlin
(Quelle: Eigene Erhebung 2005, Angaben in %)
Zufrieden
Arbeitsplatzsicherheit
33
Bezahlung
39
Teilwei- Unzuse zufrieden
frieden
23
36
25
28
Entfällt/
keine
Angabe
8
100
8
100
Arbeitszeitregelung
46
24
22
8
100
Zusammenarbeit mit Vorgesetzten
41
22
29
8
100
Zusammenarbeit mit KollegInnen
63
22
8
7
100
Selbstbestimmung am Arbeitsplatz
59
22
12
7
100
7
Der Begriff Arbeitszufriedenheit bezieht sich auf die Wahrnehmung der Arbeitssituation und deren Bewertung. Das Ausmaß der Zufriedenheit hängt nicht nur mit der Arbeitssituation, sondern ebenso mit den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zusammen.
244
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
Befragte an, dass »das freie eigenverantwortliche Arbeiten im Team« und das
»gute Arbeitsklima« sowie »der freundliche Kontakt zu den Kollegen und Vorgesetzten« vieles ausgleiche. In den Arbeitsbeziehungen, insbesondere zu den
Vorgesetzen, liegen jedoch Entwicklungsmöglichkeiten bzw. auch -notwendigkeiten. Dies untermauern die am häufigsten genannten Kündigungsgründe: der
Streit mit Vorgesetzen und das Arbeitsklima.
Im Anschluss an die Fragen zur konkreten Arbeitsplatzsituation wollten wir
wissen, über welche Themen nach Meinung der Befragten die Fachgruppe der
Berliner GEW informieren und sich engagieren sollte. Einen großen Stellenwert hat für die Beschäftigten die Arbeitsplatzsicherheit, 73% messen ihr eine
große Bedeutung bei. Vergleicht man diese Aussage mit den Aussagen zur Zufriedenheit der Arbeitssituation, so scheint hier ein gewisser Widerspruch zu
liegen, da immerhin 33% der Befragten ihren Arbeitsplatz als sicher einstufen,
bzw. nur 36% als unsicher.
4. Überlegungen für gewerkschaftspolitische Handlungsstrategien
Für uns zeigte sich, dass unsere Ergebnisse in der Fachgruppe Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit der GEW Berlin eine fachliche Auseinandersetzung
bzw. eine Reflexion der Arbeitssituation anregte. Die Veröffentlichung der Befragungsergebnisse ermöglichte uns, gewerkschaftsintern Aufmerksamkeit zu
erlangen und Raum zu schaffen, um die Arbeitssituation aus Beschäftigtenperspektive darlegen zu können. Dieses Vorgehen ist u.E. gut geeignet, um die
Beschäftigten dabei zu unterstützen, zunächst gewerkschaftsintern ihre Anliegen selbstbewusst einzubringen, um anschließend in den bestehenden Strukturen Handlungsspielräume und -strategien auszuloten. Wir nehmen an, dass
die Vorstellung unserer Untersuchungsergebnisse dazu beigetragen hat, die gewerkschaftsinterne Wahrnehmung dieses Organisationsbereichs der Berliner
GEW zu befördern. Durch die Darstellung der Ergebnisse während einer gewerkschaftsinternen Vollversammlung konnte ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung auch außerhalb der Reihen der sozialpädagogischen Fachkräfte erreicht werden. Die darauf folgende Gründung einer
Abteilung für den Bereich Kinder-Jugendhilfe und Sozialarbeit war ein wichtiger Schritt in Richtung Emanzipation der sozialpädagogischen Berufsgruppen innerhalb der Berliner GEW.
Was ändert sich hierdurch für die Mitgestaltungsmöglichkeiten der sozialpädagogischen Fachkräfte aus der Elementarpädagogik bzw. dem Bereich der
Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit? Bisher wurden diese Berufsgruppen bzw.
die Fachgruppen in den regionalen Bezirksleitungen der GEW mitvertreten. Bei
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
245
den betroffenen Mitgliedern wuchs allerdings die Unzufriedenheit, da sich zwar
ihre Arbeitssituation massiv verschlechtert hatte, sie ihre spezifischen arbeitsfeldbezogenen Themen und Interessen jedoch aufgrund der an Bezirke gebundenen Zuständigkeitsstrukturen unzureichend repräsentiert sahen. Bedenkt man,
dass die Träger ihrer Einrichtungen in der Regel überbezirklich bzw. berlinweit
organisiert sind, verwundert dies nicht. Innerhalb der Gewerkschaft gestalteten
sich gemeinsame Absprachen und der Informationsfluss zwischen den einzelnen Bezirken teilweise schwierig und vor allem zeitaufwendig. Auf dieser Basis z.B. gemeinsame Anträge zu erarbeiten, kam einer Sisyphusarbeit gleich.
Das Engagement und die Kompetenzen von KollegInnen aus diesen Bereichen
können nun in einer bezirksübergreifenden Abteilung besser genutzt werden,
indem der Informationsfluss erleichtert wird und die Themenfindung und -bearbeitung sich einfacher koordinieren lässt. Durch die neu gegründete Abteilung
soll es außerdem gelingen, ein klares, transparentes Bild gegenüber anderen Arbeitsfeldern wie z.B. Schule herzustellen. Dies hat den Vorteil, dass thematische
Anknüpfungspunkte und AnsprechpartnerInnen für eine Zusammenarbeit z.B.
für Projektgruppen oder Arbeitsgemeinschaften leichter zu ermitteln sind. Außerdem soll die Abteilungsstruktur den direkten Kontakt zu den politisch Verantwortlichen im Berliner Senat erleichtern, da in der Regel dort die relevanten
Entscheidungen und weniger auf bezirklicher Ebene getroffen werden. Weiterhin ist es nicht unerheblich, dass die selbständigere Finanzverwaltung einer Abteilung den gezielteren Einsatz der Mittel ermöglicht, die für die sozialpädagogischen Arbeitsfelder innerhalb der GEW Berlin vorgesehen sind. Zugespitzt
lässt sich formulieren, dass es für Betroffenengruppen neben der formalen Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft mindestens ebenso wichtig ist, sich auch aktiv innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen einzubringen, um u.a. von den
Hauptamtlichen wahrgenommen und vertreten zu werden
Unsere Erfahrung zeigt allerdings, unabhängig von der durchgeführten Studie, dass organisierte Beschäftigte die Austragung von Konflikten an die wenigen Aktiven delegieren. Wir mussten erkennen, ähnlich wie schon anhand der
Berufshistorie dargestellt, dass Daten über Missstände in der Arbeitssituation
kein Selbstläufer sind. So stellten wir bei der Arbeit an der Befragung, ihrer
Auswertung und der Veröffentlichung fest, dass sich gewerkschaftsintern kaum
finanzielle und logistische Unterstützung fand. Anfänglich gab es fachgruppenintern ebenso wenige Rückmeldungen im Hinblick auf die Ergebnisse und deren Interpretation wie Ideen hinsichtlich der weitergehenden Nutzung des Datenmaterials. Wir nehmen an, dass durch die Abgabe von Verantwortung und
der Vermeidung einer Positionierung mögliche Risiken vermieden werden sollen. Dass jedoch unter den Aktiven wenig Bereitschaft besteht, diese zugewiesene Verantwortung zu übernehmen, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass sie
246
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
wenig Interesse daran zeigten, die Ergebnisse der vorliegenden Studie politisch
auszuschlachten. Eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen bezüglich ihrer Nutzbarkeit beispielsweise zur Kampagnenplanung blieb bis heute aus, obwohl sie Handlungsbedarf anzeigen, der sich auch in den Erwartungen der Befragten an die Fachgruppe widerspiegelt.
Aufgrund der Erfahrungen gehen wir davon aus, dass die konkrete Auseinandersetzung mit Ergebnissen zur Arbeitssituation, die Betroffenen auch
überfordern kann bzw. in der Interpretation der Ergebnisse auch ein Konfliktpotenzial liegt. Wichtig war in diesem Zusammenhang für uns, sich nicht entmutigen zu lassen und weitergehende Überlegungen anzustellen, an welchem
Ort bzw. bei welcher Gelegenheit mehr Aufmerksamkeit und Wirkung erzielt
werden kann. Möglichkeiten, mehr Aufmerksamkeit und Wirkung zu erzielen,
könnten in der argumentativen Begleitung, z.B. für die Modifizierung der Organisationsstruktur als auch in der inhaltlichen und strategischen Ausrichtung
der Fachgruppenarbeit liegen.
Die Auseinandersetzung mit und Interpretation der Ergebnisse erfordert die
Bereitschaft, die eigene Arbeitssituation zu reflektieren. Dabei entstehen Unstimmigkeiten zwischen Bewältigungsstrategien von Belastungen u.a. im Hinblick
auf Widerstandsformen einerseits und Angst vor Planungsunsicherheit andererseits, vor allem in Bezug auf den möglichen Verlust des Arbeitsplatzes. Vermeidungsstrategien, die zur Bewältigung der problematischen Arbeitssituation entwickelt werden, können durch eine gemeinsame Diskussion, die versucht, über
die eigene Situation hinauszugehen, hinterfragt werden. Hierfür gilt es Kommunikationsformen und Orte zu finden und zu etablieren. Ziel wäre hierbei die
Schaffung eines Diskussionsrahmens von Vertrautheit und Sicherheit, da Anmerkungen leicht missverstanden oder als Angriff auf den Umgang mit der eigenen
Situation erfahren werden können. Die Heterogenität des Tätigkeitsfeldes kann
in den Austauschprozessen als Potenzial genutzt werden, um Gemeinsamkeiten
herauszuarbeiten, die kennzeichnend für die teils prekären Arbeitssituationen
in der Sozialen Arbeit sind. Trotz der Unterschiede in den Arbeitsrealitäten besteht die Möglichkeit, vom Einzelfall auf ein »kollektives« Bild zu abstrahieren und »Differenzen anzuerkennen« (Brinkmann et al. 2006).
Um Widerstände gegen konflikthafte Auseinandersetzungen der organisierten Beschäftigten in der Sozialen Arbeit abzubauen und Veränderungen in der
Beschäftigungspolitik zu erreichen, muss zudem darüber nachgedacht werden, wie die Organisierten dabei unterstützt werden können, aktiver bzw. fordernder in den Gewerkschaften und Betrieben zu werden. Hierfür ist es notwendig, ihre scheinbar naturgemäße oder objektiv fehlende Wirkungslosigkeit zu
hinterfragen und die Beschäftigten als AkteurInnen selbst stärker wahrzunehmen. Um auszuschließen, dass der Grund für das geringe Engagement in man-
Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit
247
gelnden Kenntnissen über Möglichkeiten der politischen Nutzbarmachung begründet liegt, gilt es spezifische, auf den Bereich abgestimmte Schulungen wie
z.B. Aktions- und Kampagnenplanung anzubieten. Für den innergewerkschaftlichen Diskurs wie z.B. bei der Erarbeitung gewerkschaftlicher Strategien zur
Nutzung von Untersuchungsergebnissen gilt es, die Gründe zu berücksichtigen, die die Beschäftigten dabei behindern können, sich aktiv an der Mitgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen zu beteiligen. Die Mitgestaltung und Mitbestimmung über Beschäftigungsverhältnisse kann immer jeweils spezifische Risiken
bergen und der Bedarf an Ressourcen zur Realisierung von Forderungen muss
mitbedacht werden.
Trotzdem konnten wir feststellen, dass die Befragung hilfreich war beim Erkennen neuer Themenschwerpunkte in der gewerkschaftlichen Arbeit, wie z.B.
gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsanalysen (Ahlers/Brussing 2005) zu fordern und die hohe Anzahl der Teilzeitverträge hinsichtlich der Umwandlung regulärer Beschäftigungsverhältnisse in Mini-Jobs ins Blickfeld zu rücken. Perspektivisch kann zudem bei der Argumentation gegenüber Wohlfahrtsverbänden,
Politikern etc. auf die Zahlen zurückgegriffen werden, um in aktuellen Diskussionen wie z.B. über die Notwendigkeit eines Branchentarifvertrags aktiv als politische Akteursgruppe mit fundierten Argumentationen auftreten zu können.
Literatur
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Brinkmann, Ulrich/Dörre, Klaus/Röbenack, Silke u.a. (2006): Prekäre Arbeit:
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Dahme, Heinz-Jürgen /Trube, Achim/ Wohlfahrt, Norbert (2007): Arbeit in Sozialen
248
Ulrike Eichinger/Tanja Kraemer
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Paulini, Christa (2001): Der Dienst am Volksganzen ist kein Klassenkampf: Die
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Sachße, Christoph (1986): Mütterlichkeit als Beruf: Sozialarbeit, Sozialreform und
Frauenbewegung 1871-1929. Frankfurt: Suhrkamp.
Zeller, Susanne (1994): Geschichte der Sozialarbeit als Beruf Bilder und Dokumente
(1893-1939). Pfaffenweil: Centaurus.
Über die AutorInnen
Alle AutorInnen (außer Yasmin Fahimi, Dorothea Härlin und Nikola Siller) sind
bzw. waren PromotionsstipendiatInnen der Hans-Böckler-Stiftung.
Dario Azzellini, Politikwissenschaftler, Autor und Filmemacher, promoviert zum
Thema »Partizipative und protagonistische Demokratie in Venezuela« bei Joachim Hirsch und John Holloway. Diverse Buch- und Filmveröffentlichungen
in verschiedenen Sprachen zu Lateinamerika, Italien, Soziale Bewegungen
und Krieg. Zuletzt »Venezuela bolivariana: Revolution des 21. Jahrhunderts?«,
(Neuer ISP Verlag 2007) und »Futbolistas. Fußball und Lateinamerika: Hoffnungen und Helden, Politik und Kommerz«, (Assoziation A 2006) und der Film
»5 Fabriken – Arbeiterkontrolle in Venezuela«. Weitere Informationen: www.
azzellini.net
Torsten Bewernitz, geb. 1975, hat in Münster Politikwissenschaft, Soziologie, Dt.
Philologie und Philosophie studiert. Seine Promotion in Politikwissenschaft behandelt die Darstellung von Geschlecht und Nation während des Kosovo-Konflikts in den deutschen Printmedien. Seit Auslaufen seines Stipendiums arbeitet
er nebenbei in einem CallCenter und ist aus pragmatischen Gründen Mitglied in
drei Einzelgewerkschaften. Momentan arbeitet er gemeinsam mit anderen GewerkschafterInnen an einer Monografie zur Geschichte des Streiks in der BRD
und beschäftigt sich mit dem Gewerkschaftssystem in Mexiko.
Kirstin Bromberg ist Erziehungswissenschaftlerin und forscht an der Universität Potsdam zur Qualität der Hochschullehre. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Organisationskulturen, Rekonstruktive Sozialarbeitsforschung, Professionsgeschichte Sozialer Arbeit.
Hae-Lin Choi promoviert an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Politikwissenschaft, über gewerkschaftliche Organisierungsstrategien in den USA, Südkorea und Italien. Arbeitsschwerpunkte: Prekäre Beschäftigung, gewerkschaftliche Mitgliedergewinnung und gewerkschaftliche Revitalisierungsstrategien.
Zusammen mit Ulrich Brinkmann, Richard Detje, Klaus Dörre, Hajo Holst, Serhat Karakayali und Catharina Schmalstieg veröffentlichte sie im Frühjahr 2008
die Literaturstudie »Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse
eines Forschungsprogramms« im VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
250
Über die AutorInnen
Ulrike Eichinger, geb. 1976, Dipl.-Sozialarbeiterin, Erzieherin, arbeitete u.a. in
der offenen Jugendarbeit, im Bereich berufsvorbereitender Maßnahmen und in
der Drogenhilfe. Promoviert zum Thema: Der neoliberale Strukturwandel Sozialer Arbeit aus der subjektiven Perspektive von ArbeitnehmerInnen am Fachbereich Psychologie an der FU Berlin.
Yasmin Fahimi, geb. 1967 in Hannover, ist Dipl.-Chemikerin und arbeitet seit
April 2000 als Gewerkschaftssekretärin bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Ihr derzeitiger Arbeitsschwerpunkt »Strategische Kommunikation« in der Abteilung Grundsatz/Personal (Vorstandsbereich Hubertus Schmoldt) umfasst die innerorganisatorischen Modernisierungsprozesse,
die zentrale Kampagnenplanung sowie die Mitarbeit in der Initiative Trendwende des DGB. In diesem Zusammenhang spielt die Initiative Gute Arbeit
eine Schlüsselrolle.
Wolfgang Graf, geb. 1966 in Hamburg, Berufstätigkeiten: 1983-86 Ausbildung
zum Gärtner, 1988-1995 Gärtner, 2004 Gärtner, 2004-2005 Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Forschungsanstalt Geisenheim; Studium: 1995-1999 Gartenbau an der TFH-Berlin (Studienberechtigung über Berufsqualifikation), Dipl.
Ing. (FH) Gartenbau, 2002-2003 Gartenbauwissenschaften an der HU-Berlin,
M.Sc.; Promotion: Gartenbauwissenschaften, Zierpflanzenbau; Gewerkschaftsmitgliedschaft: seit 1990 GGLF/ IG-BAU. Sozialwiss. Veröffentlichungen: Graf,
Wolfgang (2007): Guns and roses (Angaben im Lit.Verz.).
Dorothea Härlin, geb. 1947, ist seit den G8-Protesten in Genua 2001 bei Attac
aktiv. Ihr Berliner Standbein steht im ATTACafé, der AG Argumente von attacberlin und dem Berliner Wassertisch. Mit ihrem Spielbein nahm sie an internationalen Foren wie dem WSF, ESF, europäischen Attac-Treffen und Gegengipfeln teil. Dieses Wissen bringt sie im bundesweiten Attac-Rat und der AG
Internationales ein. Neben der Zukunft des WSFs lag ihr Schwerpunkt in Nairobi beim Thema Wasserprivatisierung.
Christoph Haug, geb. 1975, promoviert in politischer Soziologie an der Freien Universität Berlin über diskursive Entscheidungsfindung in sozialen Bewegungen
(insb. Attac und dem Sozialforumsprozess). Seit 2005 arbeitet er am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in der Forschungsgruppe
»Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa«. Auf
die Bedeutung sozialer Bewegungen in Afrika wurde er während eines Konferenzaufenthaltes in Durban (Südafrika) und seiner Mitarbeit im Organisationsbüro des Weltsozialforums 2007 in Nairobi (Kenia) aufmerksam.
Über die AutorInnen
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Astrid Henning, geb. 1973 in Erfurt, erlebte ihre Lehr- und Wanderjahre in Offenbach am Main. In Hamburg holte sie auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nach, bevor sie in Hamburg und Wien Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft studierte. Seit 2007 arbeitet sie an ihrer Dissertation »Literatur und
Soziale Herrschaft: Das Subjekt des nationalen und die Heinrich Heine Rezeption in der DDR«. Bisher von ihr erschienen sind »Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR« und »Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Arbeit als soziale Heimat bei Georg Büchner und Volker Braun«.
Tanja Kraemer, geb. 1974, Erziehungswissenschaftlerin M.A., arbeitete u.a. als
sozialpädagogische Einzelfallhilfe in der Kinder- und Jugendhilfe. In ihrer Doktorarbeit im Fachbereich Allgemeine Didaktik und Empirische Unterrichtsforschung an der Universität Potsdam beschäftigt sie sich im Kontext von Grundschule mit Metakognition und Motivation.
Rudi Maier, Ludwigsburg, arbeitete nach seinem Realschulabschluss von 1982
bis 1998 als Heilerziehungspfleger. Nach dem Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg studierte er Empirische Kulturwissenschaft und Erziehungswissenschaft an
der Universität Tübingen. Er promoviert derzeit zu Fragen der Deutung und des
Gebrauchs von Markenkleidung durch junge Erwachsene am Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft. Weitere Forschungsthemen: Motivationssongs/Firmenhymnen, Werbung, Erinnerung an den Nationalsozialismus,
politische Jugendbildungsarbeit. Er spielt gerne Heimorgel und Krocket.
Tino Plümecke promoviert über rassistische Kontinuitäten in den aktuellen Lebenswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsforschung und kritik, Geschlechterforschung und Postkoloniale, critical whiteness Perspektiven. Publikationen: »Kritik der Kritik oder der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«
(mit Catrin Heite) In: Widersprüche, Nr. 100; »Renaissance der ›Rasse‹-Konzepte: In den Lebenswissenschaften hat die Biologisierung des Sozialen Konjunktur.« In: analyse & kritik, Nr. 514. Im Erscheinen bei Unrast: »Gemachte
Differenz: Kontinuitäten biologischer Rassekonzepte« (Mitherausgeber).
Berit Schröder, geb. 1974, Dipl. Sozialwirtin, arbeitete von 2001 bis 2002 am
Göttinger Zentrum für Europa- und Nord-Amerika-Studien zum Thema Rechtsextremismus und Frauen. 2002 bis 2005 war sie als Referentin in der Abteilung
Jugend bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt mit den Schwerpunkten Rassismus und Migration tätig. Dissertationsprojekt: »Grenzen und
Perspektiven der gewerkschaftlichen Organisierung von Saisonarbeitskräften.« Publikationen: »›Saisonarbeit gesucht!‹ Netzwerke polnischer Saisonar-
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Über die AutorInnen
beitskräfte und gewerkschaftliche Organisierung«; »Experimentierfelder einer
vielfältigen Bewegung.«
Christian Schütte-Bäumner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind Professionalisierung
Sozialer Arbeit, Interdisziplinarität, Gender, Queer Theory sowie Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit und Palliative Care. Zuletzt veröffentlichte er eine Monographie im transcript Verlag »Que(e)r durch die Soziale Arbeit: Professionelle
Praxis in den AIDS-Hilfen«, Bielefeld 2007. Email: [email protected].
Niels Seibert zeltete im Juni 2007 auf einem Anti-G8-Camp und beteiligt sich
im Berliner Soli-Bündnis für die Einstellung der §129(a)-Verfahren. Sein Buch
»Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964-1983« (Münster: Unrast 2008) ist ein Beitrag zur Protest- und Widerstandsgeschichte in der
BRD.
Nikola Siller, geb. 1975, nahm 1996 am Intergalaktischen Treffen der Zapatistas in Chiapas und diversen Folgetreffen teil und ist seit 13 Jahren aktiv in
der Gruppe B.A.S.T.A. Ihre Magisterarbeit in Politikwissenschaft schrieb sie
2003 über die Bedeutung des Zapatistischen Aufstands für die Antiglobalisierungsbewegung. Sie ist Mutter von zwei Kindern, arbeitet im Forschungs- und
Bildungskollektiv Zwischenzeit e.V. und im Interkulturellen Zentrum »Don
Quijote« in Münster und findet den zapatistischen Spruch »Für eine Welt in die
viele Welten passen« ziemlich gut.
Karen Wagels bewegt sich seit Jahren in queer/feministischen Kontexten und
promoviert in den Kulturwissenschaften zum Thema »Geschlecht als Arte/Fakt«.
Aktuelle Publikation u.a.: Sub/Versionen – zum politischen Einsatz einer Fotoausstellung. In: Ernst, Thomas/Gozalbez-Cantó, Patricia/Richter, Sebastian/
Sennewald, Nadja/Tieke, Julia (Hrsg.), SUBversionen – zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld: Transcript 2008. Forschungsund Lehraktivitäten: Geschlechterdifferenz, feministische Körperkonzeptionen
und poststrukturalistische Theoriebildung.
Notizen
253
254
Notizen
VSA: Gewerkschaften
& soziale Bewegungen
Roland Klautke/Brigitte Oehrlein (Hrsg.)
Peter Bremme/Ulrike Fürniß/
Ulrich Meinecke (Hrsg.)
Globale
Soziale Rechte
Zur emanzipatorischen Aneignung
universaler Menschenrechte
KRITISCHER
BEWEGUNGS
DISKURS
Dario Azzelini
Ronald Blaschke
Ulrich Brand
Mario Candeias
Alex Demirović
Martin Dieckmann
Thomas Gebauer
Rolf Künnemann
Sandro Mazzadra
Wolf-Dieter Narr
Iris Nowak
Werner Rätz
Thomas Seibert
Mag Wompel
VS
VS
V
V
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Never work alone
Organizing – ein Zukunftsmodell
für Gewerkschaften
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ISBN 978-3-89965-286-4
Wie kann der universale Menschenrechtsgedanke in konkreten emanzipativen Bewegungen angeeignet werden?
280 Seiten; € 19.80
ISBN 978-3-89965-239-0
Organizing meint eine ganze Palette
gewerkschaftsinterner, betriebsnaher
und öffentlicher Aktivitäten.
Frank Deppe/Horst Schmitthenner/
Hans-Jürgen Urban (Hrsg.)
Notstand der Demokratie
Auf dem Weg in einen autoritären
Kapitalismus?
128 Seiten; € 11.80
ISBN 978-3-89965-283-3
T. Brandt/T. Schulten u.a. (Hrsg.)
Europa im Ausverkauf
Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und ihre Folgen
für die Tarifpolitik
248 Seiten; € 16.80
ISBN 978-3-89965-253-6
Prospekte anfordern!
Reinhard Bispinck (Hrsg.)
Verteilungskämpfe
und Modernisierung
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VSA-Verlag
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Tel. 040/28 09 52 77-10
Fax 040/28 09 52 77-50
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www.vsa-verlag.de
VSA: Globale Proteste & Alternativen
ABC der Alternativen
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Selbstorganisierung und Partizipation
in Venezuela
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Herausgegeben von Andrej Holm
Von »Ästhetik des Widerstands«
bis »Ziviler Ungehorsam«
Herausgegeben von
Ulrich Brand, Bettina Lösch und Stefan Thimmel
VS
V
In Kooperation mit
und dem Wissenschaftlichen Beirat von
VS
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ISBN 978-3-89965-247-5
133 Begriffe, die alternative »Weltsichten« eröffnen und für emanzipatorisches Denken und Handeln wichtig
sind, werden in diesem ABC erläutert.
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ISBN 978-3-89965-259-8
Dieses Buch schärft den Blick auf den
ebenso faszinierenden wie eigenwilligen
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Kerstin Sack/Steffen Stierle u.a.
Vom Süden lernen
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96 Seiten; € 6.50
ISBN 978-3-89965-292-5
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St. Georgs Kirchhof 6
20099 Hamburg
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Martin Khor/Sven Giegold u.a.
Klima der Gerechtigkeit
McPlanet.com – Das Buch zum dritten Kongress von Attac, BUND, EED,
Greenpeace, Heinrich Böll Stiftung in
Kooperation mit dem Wuppertal Institut
für Klima, Umwelt, Energie
192 Seiten; mit DVD; € 12.80
ISBN 978-3-89965-243-7
www.vsa-verlag.de

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