als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen

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als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
ISSN 1433-4488 H 43527
Ausgabe 4+5/00
Heft
69/70
Aug./Sept.2000
FLÜCHTLINGSRAT
Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen
Debatten:
Rassismus
Angriffe in Niedersachsen
Mauer gegen Flüchtlinge
Appelle von Flüchtlingen
Asyl
Asylrecht philosophisch
Asylrecht realistisch
Einwanderung
Einwanderung ökonomisch
Einwanderung globalistisch
Editorial
"Ihr werdets nicht vermuten, wir sind die Guten!" Wer hätte gedacht, dass diese alte Demo-Parole der Linken eines Tages auf breite Zustimmung stößt? Wer hätte gedacht, dass die Bildzeitung, bekannt für ihre rassistischen
Hetzartikel, irgendwann Leitartikel gegen Rechts und eine Porträt-Reihe von Menschen ohne deutschen Pass
bzw. mit "ausländischer" Optik bringt? Wer geglaubt, dass das Bundesverfassungsgericht argumentativ auf "die
gewaltbereiten Göttinger autonomen Gruppen" zurückgreift, um eine Nazi-Demo zu verbieten? Wer, dass AktivistInnen von kein Mensch ist illegal und anderer antirassistischer Initiativen, sonst nur unter Aufmerksamkeit des
Verfassungsschutzes leidend, bundesweit zum "Liebling der Medien" werden (S.41)?
Flüchtlinge fehlen nicht nur dieser Aufzählung. Sie kommen in der Mediendebatte über Rassismus, Faschismus
und Gewalt von Rechts nicht zu Wort. Die Flüchtlinge aus Rathenow, die nach zahlreichen rassistischen Angriffen mit ihrer Forderung nach Verlegung in ein westliches Bundesland früher für bundesweite Medienaufmerksamkeit gesorgt hatten (Seite 5), die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen auf ihrem Kongress in Jena (Seite 56), die unglaublich vielen - auch in Niedersachsen - hungerstreikenden Flüchtlinge gegen
Gutscheine, Fresspakete und Arbeitsverbot (Seite 77 u. 81): sie alle stellen die Verknüpfung zwischen staatlicher
Ausgrenzungspolitik und Rassismus her. Das aber sind die Anteile an der "Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft",
die tunlichst in der medialen und parteipolitischen Debatte ausgespart werden.
"Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft" ist nicht nur, wenn Politiker Hetze schüren - nur drei Prozent von
Flüchtlingen als "asylwürdig" ansehen (Schily), Zuwanderer in solche die "nützen" und solche, die "ausnützen"
bzw. "belasten" einteilen (Seite 17, 27), eine Mauer um ein Flüchtlingswohnheim bauen (Seite 8), den Asyl- und
Sozialmissbrauch in großem Stil anprangern (Seite 15). Eine Politik der Apartheid, die die Haupt-Zielscheibe
Rechter als zu bekämpfende, zu vertreibende, abzuschreckende Gruppe von Menschen konstruiert, fällt ebenfalls darunter. Die durch Sondergesetze jeden Tag - im Alltag, von jedem und jeder zu beobachten- deutlich
macht: diese Menschen sind eine "Sonder"-Gruppe, haben von Gesetzes wegen weniger Rechte: an jeder Ladenkasse (Seite 84 und 85), auf jedem Bahnhof (Seite 12), in der Röntgenabteilung (Seite 91). Sie sind potentiell verdächtig: bei jeder Eheschließung mit Angehörigen der privilegierten Kaste, sie werden immer im Zug und
auf der Straße kontrolliert, während BGS und Polizei an (optisch) Deutschen vorbeigehen.
Nicht nur, dass der staatlich institutionalisierte, zur Flüchtlingspolitik geronnene Rassismus in der Debatte nicht
auftaucht, muss misstrauisch machen. Die Versuche, den Anti-Rassismus inhaltlich zu besetzen und ihn staatlich
zu "domestizieren", erinnern zu sehr an die rot-grüne Methode der "Bomben für Menschenrechte". Das öffentlich Positionieren gegen staatliche Umarmungsversuche und Begriffsbesetzungen wird verdammt schwierig,
wenn es doch die eigenen Forderungen sind, die da plötzlich den Beifall von der falschen Seite finden. Das Beispiel Ludwigshafen macht die Grenzen deutlich: "Rassisten morden, der Staat schiebt ab", das dürfen Zivilcouragierte nicht sagen. Das längst überfällige öffentliche Erschrecken über rechte Gewalt ist nicht aus gesellschaftlicher Bewegung entstanden, sondern regierungsamtlich verordnet. Sicherlich und hoffentlich werden mehr Menschen auch in diesem Land jetzt sensibilisiert für das Ausmaß rechter Gewalt und den Verbreitungsgrad rechten
Denkens. Der einen oder anderen Initiative wird die Debatte die - evtl. vorher wegen politischer Unliebsamkeit
gestrichene - Finanzierung sichern.
Die Ergebnisse der öffentlich inszenierten Debatte aber rechtfertigen jedes Misstrauen gegenüber Zweck und
Perspektive. Ausgerechnet der BGS z.B. soll verstärkt zum Schutz von Flüchtlingen eingesetzt werden - der BGS,
dessen Hauptaufgabe im Aufspüren von Illegalisierten und Flüchtlingen außerhalb ihres Aufenthaltsbereichs besteht (S. 56), gegen den zahlreiche Strafanzeigen von Flüchtlingen wegen Körperverletzung im Amt vorliegen.
Ein ganzer Katalog an Repressions- und Überwachungs-Instrumentarien soll verschärft werden, was sich bislang
nicht legitimieren und durchsetzen ließ, schafft der
"Ruck gegen Rechts": Video-Überwachungen, Kontrolle des Internet, juristische Schnellverfahren,
Post-Kontrolle usw. .
Gewalt gegen Flüchtlinge lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen. Aber heute findet sich der
ermordete Alberto Adriano auf dem Titelblatt, wo
vor einem Jahr Aamir Aageeb abgebildet war - bei
der Abschiebung ermordet. Die Mörder von Adriano sind dieser Tage zu Höchststrafen verurteilt worden, die Mörder von Aamir Aageeb haben noch
kein "Gesicht gezeigt". Vielleicht bringt Günther
Beckstein die flüchtlingspolitischen Anteile des Einheits-Taumels gegen Rechts am treffendsten auf
den Punkt: "Auch der Ausländer, der morgen abgeschoben wird, muss sich heute auf unseren
Straßen sicher fühlen" (Seite 41).
Maria Wöste
2
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
IMPRESSUM
Titel:
FLÜCHTLINGSRAT
Zeitschrift für
Flüchtlingspolitik in
Niedersachsen
Ausgabe:
4+5/00 – Heft 69/70
August - September 2000
Herausgeber, Verleger
Redaktionsanschrift:
Förderverein
Niedersächsischer
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31135 Hildesheim
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Maria Wöste
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Redaktion dieser Ausgabe:
Claudia Gayer,
Dietmar Lousée,
Justus Reuleaux
Betina Stang,
Kai Weber,
Maria Wöste
Layout
Justus Reuleaux
Druck:
Druckerei Lühmann
Bockenem
1-3 Tausend, August 2000
Erscheinungsweise:
8 Hefte im Jahr
auch als Doppelnummer
Bezugspreis:
Jahres-Abonnement incl.
Versandkosten 120 DM
(im Mitgliedsbeitrag
enthalten)
ISSN 1433-4488
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Landes Niedersachsen
Titelfotos:
Bernd Grueninger/ version
Trauerkundgebung für Alberto Adriano,
Dessau, 14.6.2000
INHALT
R A S S I S M U S U N D G E WA LT
Appell der Flüchtlinge in Rathenow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .5
Celle:Mauer gegen Flüchtlinge (R.Winter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8
LK Helmstedt: Hilferuf von Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11
Stade: Geschehen im Saal dominieren Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12
GRUNDRECHT AUF A SYL UND EINWANDERUNG
“Asylmissbrauch” in Bremen (ARAB/IMRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15
Anmerkungen zur Asyldebatte (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17
Asylrecht realistisch: Asyl in Deutschland(G. Werner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19
Asylrecht philosophisch: “Wir, das Volk” (S. Benhabib) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23
Einwanderung ökonomisch: “Nützliche” Zuwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
Einwanderung globalistisch: Gute Karten, schlechte Karten (FSchneider) . . . . . . . .30
Asylrecht doch noch: Anerkannt (Red.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32
FESTUNG EUROPA
Krokodilstränen um tote MigrantInnen (M. Holzberger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35
Angriff auf Europas sans papiers (kmii) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40
Grenz-Camp:Sklaven mit Computrkenntnissen (kmii) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Festung Flüchtlings-Lager (R. Andreesen/M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
Kriminalisierung und Beratung von Flüchtlingen (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . .44
DEPORTATION
Grenzen (Wolf-Dieter Narr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45
Deportation class: Lufthansas Abschiebegschäft versalzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .47
Cloppenburg: ABH als Identitätsverschleierer (J. Sürig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53
Hannover: Mustergefängnis? Abschiebeknast vorzeitig in Betrieb . . . . . . . . . . . . .54
Karawane Flüchtlings-Kongress (K. Gierth/C. Yufanyi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56
KURDENVERFOLGUNG
Von Deutschland in den türkischen Folterkeller (C. Gayer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59
Neuer Türkei-Lagebericht (C. Gayer/K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62
Zwischen den Fronten (K. Welder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65
Ausbürgerungbei Wehrdienstentziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66
KRIEGSFLÜCHTLINGE
Flüchtlinge aus Kosova und Serbien: Frieden nicht in Sicht (B.Stang) . . . . . . . . . . .67
Wie entlarve ich einen falschen Roma - Nds. MI (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . .71
Abschiebungsschutz für Roma? (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .73
Bundestag: Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten . . . . . . . . .74
ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ
Flüchtlingsproteste bundesweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77
Niedersachsen: Hungerstreik in Hagen (M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .81
Wolfsburg: Gutschein-Betrug - Wer sind die Betrogenen (O. Sunny) . . . . . . . . . . .84
§2 AsylbLG: Das Privileg der Benachteiligten (A. Kothen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .86
G E T E I LT E M E D I Z I N
Hannover: Ärztlich attestierter Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89
Gifhorn: Todesurteilauf Raten? (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .90
Oldenburg: Apartheid in der Röntgenabteilung (M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . .91
Traumatiserte Flüchtlinge (Redaktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92
EHE UND FAMILIE
Prügel als Abschiebungsgrund - § 19 geändert (B. Stang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .95
Apartheid: Eheleute unter Argwohn/Ausreisepflicht trotz Kind (B.Stang) . . . . . . . .96
Neue Kindergeld- und Erziehungsgeld-Ansprüche (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . .99
Freie Wohnortwahl für Konventionsflüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102
KIRCHENASYL
Kirchenasyl ist ein Dazwischentreten (H-P Daub) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103
Braunschweig: Pastoren auf der Anklagebank (Flüchtlingsrat) . . . . . . . . . . . . . . .105
Wanderkirchenasyl: Gefangen in der Unmenschlichkeit (kmii) . . . . . . . . . . . . . . .107
LÄNDERBERICHTE
Afghanistan: Bundesverfassungsgericht kippt Bürgerkriegsrechtsprechung . . . . .109
S E R V I C E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111
3
S o l i d a r i t ä t s e r k l ä r u n g
E
in Sondereinsatzkommando
der Polizei schießt in Braunschweig am 10. 12. 99 - zynischerweise dem Tag der Menschenrechte - auf den bulgarischen Flüchtling Zdravko Nikolov Dimitrov. Die
angeblichen „Notwehr-Schüsse“
auf Dr. Nikolov fallen, als dieser
unter Selbstmord-Drohungen sich
dagegen wehrt, wegen einschlägiger Foltererfahrungen in Abschiebehaft genommen und einem
Amtsarzt zwangsvorgeführt zu
werden. Der kommunistische Physiker Nikolov war 1992 in Sofia in
einem psychiatrischen Gefängnis
von Ärzten und Polizisten gefoltert
lingsrat schon seit Jahren zusammen. Gemeinsam haben wir 1998
eine Publikation über Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen
in der deutsch-polnischen Grenzregion herausgebracht. Ein Mitarbeiter des FFM wird im Zusammenhang mit der polizeilichen
Großaktion verhaftet, ihm wird
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Last gelegt.
Die Straftaten, an denen er angeblich beteiligt gewesen sein soll,
sind strafrechtlich längst verjährt
wie die Staatsanwaltschaft selbst
mitteilt. Bei den Vorwürfen geht es
ausnahmslos um Anschläge, die
und Entrechtung bei Flüchtlingen
legitimiert und exerziert wurden,
sind mittlerweile hinlänglich bekannt. Dafür ist Berlin mit seiner
Umsetzungspraxis des Asylbewerberleistungsgesetzes inklusive Aushungern und Obdachlos-Aussetzen von Flüchtlingen ein schauriges Beispiel.
sich gegen „Vollstrecker der deutschen Asylpolitik“ richteten.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen
unterstützt die Forderung, den
Mitarbeiter des Forschungszentrum Flucht und Migration und die
anderen beiden Festgenommenen
sofort freizulassen.
Dass in dieser Stadt jetzt mit
durchsichtigen aber trotzdem
funktionstüchtigen Mechanismen
der Spaltkeil an die kritische (füchtlings)politische Öffentlichkeit gesetzt wird, verdient unser aller
Empörung.
Foto: 3.Welt Saar
worden, es bestand eine attestierte, akute Retraumatisierungs- und
Suizid-Gefahr. Am 20.12. 99 stirbt
Zdravko Nikolov Dimitrov an seinen Schussverletzungen.
Einen Tag vor seinem Tod durchsucht ein Großaufgebot an polizeilichen Spezialeinheiten den Berliner MehringHof nach Sprengstoffdepots. Neben anderen Initiativen
sind hier zahlreiche MigrantInnenSelbstorganisationen und flüchtlingspolitische Initiativen beheimatet, unter anderem das Forschungszentrum Flucht und Migration (FFM). Mit dem FFM arbeitet der niedersächsische Flücht4
In einer Zeit, in der der deutsche
Bundesinnenminister laut über die
Abschaffung der Reste des Asylrechts sinniert, wird ein Flüchtling
erschossen - von Angestellten des
Staates. Und in dieser Zeit werden
einige Initiativen und deren Mitarbeiter, die staatliche (Flüchtlings)Politik kritisch analysieren und
kommentieren, öffentlich als Terroristen gebrandmarkt, kriminalisiert,
inhaftiert. Die Mechanismen, mit
denen Ausgrenzung und Stigmatisierung vorbereitet und hemmungslose Leistungsverweigerung
Solidaritätserklärung des Flüchtlingsrat Niedersachsen, 23.12.
1999
weitere Inormationen:
www.freilassung.de
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Rassismus und Gewalt
Rassismus und Gewalt
Foto: Rostock - Lichtenhagen 1992
”Why do you blame the man on the street who beats, what about the law and the law makers?”
Appell der Flüchtlinge in Rathenow
I
m Februar hatten Flüchtlinge aus
Rathenow (Kreis Haveland/Brandenburg) in einem offenen Brief ihre Verlegung in ein anderes Bundesland gefordert, nachdem mehrere von ihnen Opfer rassistischer Angriffe geworden waren. Der Brief löste öffentliche Diskussionen aus, die rassistischen Angriffe
gingen aber – trotz erhöhter lokaler Polizeipräsenz – nicht zurück. Ende April
schickten 116 Flüchtlinge erneut einen
Brief an den Bundeskanzler, Bundestag
und andere offizielle Stellen. Sie benennen hier Gründe für die rassistische Gewalt, die in der aktuellen öffentlichen
Diskussion nicht auftauchen. Flüchtlinge kommen in der Debatte über Rassismus und rechte Gewalt – außer als
Opfer-Zahl – nicht vor und fast nie zu
Wort. Darum drucken wir ihren Brief –
in der Original-Version – ungekürzt ab.
(Red.)
Honourable Statesmen, We the asylum
seekers in Rathenow have the honour
most respectful to present our claims.
We have thought it very wise that the
silent scribble of the pen is stronger
than the thunderous sound of the gun.
We believe strongly in the power of argument and not the argument of power. Our claims have reduced us to the
level of secondclass citizens and have
made some Germans to consider us as
valueless to the extent of always beating us mercilessly. From these racist
attacks we incure serious body injuries
to the extent of death. We consider these attacks racist because of the words
that always come out from the mouth
of the aggressors. Example: “Foreigner,
what do you want here, we hate you
because you are a foreigner, we are
fighting for our land, you should go
back to your land and fight all the foreigners there.”
Respectful Ladies and Gentlemen, before we proceed, we wish to use this golden opportunity to make clear a point.
Many people have always considered
the asylum seekers as outcasts of society, as people who have nothing to
contribute to the growth of the society,
as people who left their various countries because of poverty, as people without any sense of direction, as criminals
and not as humanbeings who left their
various homes because their lives were
at stake.
Honourable Ladies and Gentlemen, we
are appealing to you to consider the
asylum seekers as human-beings like
yourselves without any barrier in any
domain -colour-, nationality or continent. It is a disgrace for us to be writing
in English after living in Germany for a
long time. WHY? Because we do not
have the possibility as asylum seekers to
study in Germany. In order to enrich the
society, knowledge should be distributed. When one has knowledge and distribute it, he or she enriches the society
without losing a grain of his or her knowledge. When there is a lighted candle
in a room, and people come with candles and light their candles from this one
candle, the flame of the single candle
does not reduce but on the contrary the
Landkreis Stade
21.01.2000
Auf ein von 42 Flüchtlingen bewohntes
Haus in Harsefeld wird ein Brandanschlag verübt, bei dem aber niemand
verletzt und nur geringer Sachschaden
angerichtet wird. Drei Personen sollen
anschließend mit einem weißen VW Golf
in Richtung Buxtehude geflüchtet sein.
25.01.2000
Die Polizei fasst fünf Täter, die an dem
Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in Harsefeld am 21.1. beteiligt waren. Die Täter sind geständig, "eine
rechtsextreme Motivation sei aber nicht
erkennbar", so ein Polizist vom Staatsschutz.
27.01.2000
In der Nacht zum 28.1. werden in Horneburg mehrere Stellen (u.a. Realschule,
Bahnhof, Kirche, ein Geschäft) mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert,
an einem Geschäft, dessen Inhaber aus
der Türkei stammt, werden die Fensterscheiben zertrümmert.
5
Rassismus und Gewalt
30.1.2000
Abends greifen 15 bis 20 Neonazis - mit
Ketten, Holzlatten und Flaschen bewaffnet - am Bremervörder Bahnhof eine
Gruppe von mit dem Zug eintreffenden
Bundeswehr-Soldaten an, von denen sie
nach einer Auseinandersetzung in der
örtlichen Diskothek Haase am 20. Januar bereits Prügel bezogen hatten. Die
Soldaten können mit leichten Verletzungen fliehen.
room becomes bright. Examples are the
present U.S.A. secretary of state who
went to America as an asylum seeker
and Mr.Schultze who left Germany and
went to America as an asylum seeker.
He ended up as a senator in America.
WHY? They met a selfless society in the
distribution of knowledge. This is just to
name a few. From these two examples,
you will agree with us that some of us
are like the biblical stone. We have something in us that others do not have.
The slaves from MENDI, Sierra-Leone,
could express themselves and demystify
the mystery that surrounded the Spanish ship, THE AMISTAD, in 1839, because they were offered the opportunity to learn.
Before we proceed, we will use this opportunity to express our profound gratitude to some officials and organisations in the state of Brandenburg for the
Mitte Februar 2000
role they have played to arrest the racist
In Neuenkirchen bei Horneburg wird ein
assaults on us which have not receded
28-jähriger Türke aus Hannover von drei
but have instead increased.
Neonazis zusammengeschlagen. Zuvor
hatten die drei eine Frau veranlasst, per
Honourable Ladies and Gentlemen, altInternet einen ausländischen Freund zu
hough some of these officials have set
suchen, worauf sich der Mann aus Hanthe foundation to solve the problems of
nover meldete. Unter einem Vorwand
racism we are facing, the physical and
wurde er in eine Neuenkirchener Wohpsychological torture we undergo, they
nung gelockt, wo ihm dann u.a. das Naalso appealed to us that they have limisenbein zertrümmert und er - am Boden
ted powers to handle our social deliegend - getreten wurde. Er konnte mit
mands as asylum seekers. That is why as
einem angehaltenen Auto entkommen.
asylum seekers, we find it appropriate
Die Täter werden zwar daraufhin festgeto personally present our claims to you.
nommen, aber nach kurzem wieder entThese claims have contributed for the
lassen, weil "die rechtlichen Voraussetracist attacks we undergo.
zungen für den Erlass eines Haftbefehls
nicht vorliegen", so der Stader PolizeiSome of our colleagues took a trip to
sprecher John. Dieser Vorfall wird erst
some of the asylum camps in the state
drei Monate später im Stader Tageblatt
of Brandenburg to share with the other
(20.5.) bekannt.
asylum seekers our miseries. The report
Beteiligt an der Tat ist Lars Hildebrandt,
is drab, hollow, blick and degrading.
der Haupttäter des Überfalls auf eine KuFrom their report, we discovered that
tenholzer Flüchtlingswohnung am
asylum seekers are imprisoned for their
19.5.1999.
“Political and religious ideas” back at
their various countries. In fact, an undefined prison sentence.
16.2.2000
In einem Interview mit dem Wochenblatt erklärt der Stader Polizeisprecher
John, trotz einer Häufung von neofaschistischen Schmierereien und Anschlägen sowie bekanntgewordener "Stahlhelm"-Aktivitäten: "Nein, der Kreis ist keine rechte Hochburg."
6
Honourable Ladies and Gentlemen, if
you have two friends, one is always sharing your point of view and the other
can at times criticise you, PLEASE, “the
praise singer friend” is not a good friend. We are appealing to [use] your
High offices to improve the social conditions of the asylum seekers in your
country. If it is a law, we hold strongly
that this law is outdated to suit the taste of time. We are in a new Millenium.
Let us avoid a situation where posterity
will judge somebody negatively or point
a finger at somebody for his or her inhuman treatment towards his fellow
human-being. Who ever knew, the almighty Papon Maurice who had all the
powers to arrest and deport about
1500 Jews in camps of Nazis exterminationwill one day have a rusty, sordid
and dradful future. Plato, the philosopher, once said: “The foreigner,
isolated from his fellow country men
and his family, should be the subject of
greater love on the part of men and of
gods. So all precautions must be taken
in order that no wrong be committed
against foreigner”.
Honourable Ladies and Gentlemen, in
our various countries, we fought
against bad governance to the risk of
our lives. Had it been we were in some
European countries or Arnerica, some
of our names will be handed down to
posterity as those who practised those
sublime of all virtues-disinterested patriotism and unshrinking courage to
stand firm against dictatorship. On the
contrary, we were hunted away because of our ideas.
Ladies and Gentlemen, we do not know
how you are going to receive our appeal but we know we are playing our rational role. William Shakespeare once
said, “The world is a stage where every
body has a role to play”.
OUR CLAIMS
1 - NO FREEDOM OF EDUCATION:
Respectful Ladies and Gentlemen, we
strongly believe that there are no barriers to the acquisition of knowledge.
We are shocked to see that because somebody is an asylum seeker he cannot
go beyond a certain level of elementary
education, he cannot further his education, he cannot learn any profession.
How can people live in asylum prisons
for one to ten years without educational facilities. Such an indiscriminate
creation of exclusive privileges tends
rather to destroy a particular class of
people than to construct. For the fact
that we are unable to express our selves
to the Germans, some of them consider
us as pest to the society and their response is to attack us mercilessly. Some
Germans think we are fools.
2 - NO FREEDOM OF MOVEMENT:
We are puzzled than angry to the fact
that we have defined territorial jurisdiction that we cannot go beyond without
permission. At times a ministerial order
can rule this federal law. Example was
on the 20.04.2000 that some of our
colleagues were supposed to go to an
International Congress of Refugees in
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Rassismus und Gewalt
Jena. The almighty Minister of internal
affairs in the state of Brandenburg circulated a ministerial order not to give
any body permission to go to Jena.
Are we living in a military regime? Are
we living in a dictatorial regime as back
in our various homes? Are we living in a
state of emergency? Is that his definition of democracy? - NO freedom of association, NO freedom of movement?
Why should we always live on the margin? Our cry although is like a teaspoon
of water thrown into the sea. We know
we are not living, we are barely surviving. lf you can put the nail on our
coffins, we shall no more live to see or
to hear dictatorship.
That apart, the question now is, why
should we at any moment need permission to travel within Germany? Did we
seek asylum in Germany or in Haveland? We are born free but every second we are in chains. If the Police arrest anybody out of his territorial jurisdiction, he or she is expected to pay the
sum of 125.-DM. How can you tax somebody who is not working to pay
125.-DM? How can you punish somebody who have the right to 80.-DM
cash per month to pay the sum of 125.DM?
3 - NO FREEDOM OF WORK:
Another bomb in the road is we do not
have the freedom to work. In our identity card, it is clearly stated “Erwerbstätigkeit nicht gestattet”. In this case,
you cannot be employed by any body
or carry on any personal activity that
can raise money. What do you think will
become of a human being that cannot
go to school, that cannot move freely
and that cannot work? Always eating
and sleeping in one room. Many of us
have developed nerves problems, gastric and psychological problems because of this inhuman treatment. Worst of
all we are hated by some Germans who
believe their taxes are used on us. That
is why they attack us. Why do you blame the man on the street who beats,
what about the law and the law makers? We strongly believe that racism
stems from the law.
4 - NO FREEDOM OF COMMERCE:
One of the root causes of racism is the
manner in which our shopping system
is organised. Example is in the state of
Brandenburg. The medium of exchange
is with vouchers or Smart Cards. We do
not have access to money. In a month,
we are given the vouchers to the tune
of 310.-DM and money is just 80.-DM
cash. Or one can do shopping with the
Smart Card to the tune of 310.-DM.
With these systems, we have defined
shops, defined goods to buy. For instance, there are Asians or Africans. We
have special food stuff that are found in
special shops in towns and these shops
do not accept the vouchers. Secondly,
in the shops that we are allowed to
buy, it is very easy for somebody to
identify us with vouchers. This create a
lot of problems. We cannot use these
vouchers or Smart Cards out of our territorial juridiction. We want our monthly payment in cash. Why? Because at
the end of each month, we have to
[pay] our lawyers 50.-DM, we have to
write our family members back at our
countries, some asylum prisons are not
in the same town with the social welfare office. To go there, we have to pay
transport too and fro, we have to pay
penalties from Police control. With 80.DM, it is impossible to meet up these
demands.
Anfang März 2000
Die Grundschule in Ahlerstedt und das
Harsefelder Rathaus werden mit Hakenkreuzen, SS-Runen und anderen faschistischen Parolen besprüht.
März 2000
Schwerpunkte des 40 Mitglieder umfassenden JN-Landesverbandes (NPD-Jugendorganisation) liegen nach Aussage
des niedersächsischen Verfassungsschutzberichtes für 1999 in den Regionen Buxtehude und Diepholz.
We always create long lines with our
vouchers in shopping centres. This has
always made people to be annoyed
with us: As if that is not enough, we are
forced to buy to the tune of 90% with
our vouchers. It is clearly stated on the
vouchers that one cannot receive a balance of more than 10%. Where is the
freedom of commerce? Finally, the vouchers have expiring dates. We are forced to use these vouchers within a specific time of not more than one month.
The dates are usually stated on the vouchers.
18.3.2000
Nachdem bereits für Ende Februar ein
Nazi-Rock-Konzert in Wesel (Kreis Harburg-Land) geplant war, wird am 17.3.
ein Tostedter Neonazi durch Messerstiche schwer verletzt - angeblich von einem russlanddeutschen Jugendlichen.
Am 18.3. suchen etwa 20 Neonazis die
Auseinandersetzung mit der Polizei,
nachdem ihre Demonstration in der
Nähe einer vorwiegend von Russland5 - OUR ASYLUM PRISONS ARE MOSTdeutschen bewohnten Siedlung verboLY IN FOREST:
ten wurde.
As it has been seen, most of our asylum
prisons are found in forest. Many people always asked why is it that most of
the asylum seekers live mostly at the outskirts of the town? To those who cannot ask, they have built it in their minds
that we are good for the forest with the 7.4.2000
animals. When they see us in town, it is Mit einem massiven Aufgebot verhindert
an embarrassment. They point fingers die Polizei in Tostedt eine von der NPD
at us, they look at us with racist eyes angekündigte Demonstration sowie eine
and they attack us with their normal Gegenkundgebung.
slogan “foreigner what are you doing
here”? In some of our camps, we find it
difficult to reach the towns. We are
strange to some Germans because they 12.4.2000
cannot understand us.
Einen erheblichen "Aufwärtstrend" bei
rechtsextremistischen Straftaten gab es
In our prisons, we have spaces smaller in Stade. Waren es 1998 noch 62 Taten,
as six quadrametre. So many people so gab es im folgenden Jahr 88. Das ist
share one room. The German shepherd eine Zunahme von 42 Prozent. (Aussadogs are respected more than asylum gen bei Vorstellung der Kriminalstatistik
seekers. The dog is entitled to a space 1999)
7
Rassismus und Gewalt
22.4.2000
Unter dem Schutz eines starken Polizeiaufgebotes demonstrieren rund 100
Neonazis in Tostedt mit rassistischen Parolen. Antifaschisten erhalten Platzverweise. Die JN (Jungen Nationaldemokraten) hatten die Kundgebung angemeldet. Zunächst war sie von der Kreisverwaltung Harburg-Land verboten worden. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht hatten das Verbot bestätigt, das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe hatte sie schließlich genehmigt.
20.5.2000
Der "Runde Tisch" in Kutenholz veranstaltet ein Jahr nach dem Überfall auf fünf
Flüchtlinge
in
Kutenholz-Aspe
(19.5.1999) eine Aktion mit gelben
Schleifchen vor einem Einkaufsmarkt.
Kein Wort im Stader Tageblatt über die
Opfer, die mittlerweile in Apensen wohnen, sie waren zu dieser Aktion nicht
eingeladen.
above eight quadrametre but asylum
seekers about six quadrametre and even
that they do not have. All these aspects
have made some Germans to consider
us as outcasts of the society. Are we not
human-beings?
Respectful Ladies and Gentlemen, our
problems are many. We cannot write all
down. If really asylum seekers wants to
describe their situation, we always use
the picture of two men standing in
front of us. One is holding the Holy
Bible and a knife at his back. He gives
the Bible to the other man, as he takes
it, turns to go, the other man stabs him
from the back with the knife.
Respectful Ladies and Gentlemen, we
are appealing to you to use your high
offices and reverse this situation. While
thanking you for reading, we hope you
will answer to our cry for a better life.
THANKS.
Your sincerely
asylum seekers, RATHENOW:
26. April 2000.
Foto: Klingbeil
Göttingen: 29.1.2000
In Celle baut man eine Mauer
gegen Flüchtlinge
Nazis können nur noch das „lasche Vorgehen der Justiz“
beklagen
RALF WINTER
Ende Mai 2000
In Stade-Hahle werden zwei Männer aus
der Türkei von zwei Neonazis mit neofaschistischen Parolen beschimpft und
belästigt. Die Täter werden von der Polizei zwar gestellt, über Konsequenzen
berichtet das Wochenblatt (24.5.) aber
nicht.
30.5.2000
Im Prozess gegen die Täter vom
19.5.1999 (Überfall auf fünf Flüchtlinge
in Kutenholz-Aspe) wird Lars Hildebrandt zu 18 Monaten Gefängnis, die
übrigen vier Angeklagten zu Bewährungstrafen verurteilt. Allen wird
mehr oder weniger geglaubt, dass sie
8
„Im übrigen würde ich mir wünschen:
Wer als Asylbewerber in diesem Lande
das Gastrecht durch Straftaten missbraucht, muss damit rechnen, ausgewiesen zu werden.“1 Es kann heute
nicht mehr überraschen, diesen Satz
aus dem Munde eines Sozialdemokraten zu hören. Irritieren mag vielleicht
einzig, dass es sich bei Jens Rejmann
nicht nur um den Vorsitzenden der Celler SPD-Ratsfraktion, sondern auch um
den Leiter der gewerkschaftsnahen
Heimvolkshochschule Hustedt handelt
und diese wiederum seit drei Jahren mit
EU-Mitteln ein Projekt mit dem Titel „Integration contra Nationalismus“ durchführt.2 Der SPD-Politiker positionierte
sich mit seiner Äußerung im Zentrum
einer von Presse und Politik initiierten
Kampagne gegen schwarzafrikanische
Asylbewerber. Die neonazistische „Kameradschaft 73 Celle“, um die es am
Ende dieses Artikels kurz gehen soll,
kann da auf ihrer „Heimat-Seite“ im Internet nur zustimmen, um einzig das
„lasche Vorgehen der Celler Justiz“ zu
beklagen.
Zu Beginn diesen Jahres wurde die Celler Öffentlichkeit mal wieder darauf
aufmerksam gemacht, dass es auch in
der niedersächsischen Provinz AsylbewerberInnen gibt. Wie immer, wenn
sich die Lokalpresse des Themas annimmt, mit negativer Konnotation.3
„Behörden schauen weg: Prostitution,
Rauschgifthandel und offene Gewalt“
titelte die “Cellesche Zeitung”.4 Ins Visier genommen wurde ein von der Fa.
Olympic betriebenes Flüchtlingswohnheim, in dem rund 60 AsylbewerberInnen aus rund 15 Ländern leben. Reißerisch wurde ein mafiöses Szenario beschrieben, in dem die Flüchtlingsunterkunft zum bedrohlichen Drogenumschlagplatz mutierte. Die Polizei ließ auf
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Rassismus und Gewalt
der Stelle eine Razzia folgen, die exakt
elf Gramm Kokain und 32 Gramm Marihuana sowie drei Schreckschusspistolen in die Asservatenkammer beförderte. Die Überschrift der “Celleschen Zeitung”: „Asylbewerberheim Treffpunkt
für Abhängige: Drogenfahnder stellten
Kokain und Waffen sicher“.5
Was die Presse angeschoben hatte,
fand einen Resonanzboden in der Bevölkerung des Wohnumfeldes des
Flüchtlingsheims. Verständlicherweise
und durch die Presse angeheizt ist einigen, die Drogen in der Apotheke und
im Lebensmittelladen erwerben, ein Milieu “unheimlich”, wo Geschäfte nicht
mit Kassenzettel quittiert werden. Die
Anwohner forderten deshalb die Abschirmung ihres Garagenhofes durch eine Mauer, weil über diesen Hof die Anlieferung der Drogen abgewickelt würde.
Verwaltung und Stadtrat machten sich
sofort an die Umsetzung des Bürgerwillens. Beschlossen wurde der Bau einer
Mauer, die dem Sicherheitsbedürfnis
der Anwohner Rechnung tragen und sie
vom Flüchtlings-Sammellager trennen
soll.6 Die tiefe Symbolik eines Mauerbaus gegen Flüchtlinge irritierte weder
die Öffentlichkeit noch bei seinem einträchtigen Beschluss den Stadtrat.7
Auch die unbestreitbare Tatsache, dass
im Deutschland des Jahres 2000 nicht
die Eingeborenen, sondern die Fremden
einer Bedrohung an Leib und Leben
ausgesetzt sind, brachte niemand zum
Nachdenken. Nebenbei soll das Wohnheim technisch so aufgerüstet werden,
dass Vergleiche mit einem Knast nicht
mal absurd scheinen: Eingangskontrolle
(Zugang nur für Bewohner), Präsenz
von Wachleuten, Zusammenarbeit mit
der Polizei. Für das ganze Maßnahmenpaket stellte der Rat 123.000 DM in den
Haushalt ein.
Wofür sich dagegen kaum jemanden in
Celle zu interessieren scheint, ist die Lebenssituation der AsylbewerberInnen.
Gemeinsam ist ihnen eine gelungene
Flucht aus Armut und Verfolgung in eines der reichsten Länder der Welt, gemeinsam war ihnen vielleicht die Hoffnung auf Sicherheit und Glück. Unterschiedslos aufgezwungen wird ihnen
ein Leben in Enge, Armut und Unsicherheit. AsylbewerberInnen ist bekanntlich nicht erlaubt, auf “ehrliche
Weise” ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zugebilligt wird ihnen ein Dasein unterhalb des für Deutsche definierten Existenzminimums. Wegen der
Ausgabe von Wertgutscheinen gelangt
kaum Bargeld in ihre Hände. Kurz: Politik und Verwaltung schaffen, indem sie
rund 60 Menschen unter diesen Bedingungen auf engstem Raum konzentrieren, einen “sozialen Brennpunkt”, und
wundern sich, wenn die Probleme öffentlich werden, dass ein “sozialer
Brennpunkt” entstanden ist. Dabei erscheint es fast selbstverständlich, dass
in dieser Situation von Armut und Unsicherheit vor allem junge Männer den illegalen Weg des Gelderwerbs gehen.
Und das heißt Kleinkriminalität in allen
ihren Formen. Drogenhandel und Diebstahl sind dabei die vergleichsweise ungefährlichsten und einträglichsten Wege. Wer also 1+1 zusammenzählen
kann, weiß, dass Sammellager für
Flüchtlinge geradezu zwangsläufig Drogen-Konsum und -”Kriminalität” hervorbringen. Für die Familien mit Kindern und die älteren Flüchtlinge, die
mitten in diesem „Milieu“ leben müssen, bedeutet dies vor allem zusätzlichen, gesundheitsgefährdenden Stress.
Dies zu ändern, wäre ein vergleichsweise Leichtes, würde man die Lebensbedingungen der Flüchtlinge verbessern.
Das Wohnheim gehört schlicht aufgelöst; eigentlich kein Problem angesichts
des in der Stadt vorfindlichen Wohnungsleerstands seit dem Abzug der
britischen Truppen aus Celle. Hilfreich
wären weiter ausreichende finanzielle
Leistungen, Arbeitserlaubnis, integrative Maßnahmen wie Sprachunterricht.
Nur steht das dem gewollt abschreckenden und ausgrenzenden Charakter entgegen, der Flüchtlingen das
Leben in Deutschland zur Hölle und den
Deutschen ihre Stigmatisierung leicht
macht.
Dass es Unterschiede im Verhalten der
Flüchtlinge gibt, ist auch dem eingangs
erwähnten SPD-Fraktionsvorsitzenden
nicht entgangen. Nur ist er scheinbar
nicht in der Lage zu verstehen, warum
alte Flüchtlinge stumm und depressiv
werden, junge Männer sich den Drogen
zuwenden und Kinder zu Bettnässern
werden. Seine ganzes Differenzierungsvermögen bewegt sich auf dem Niveau
von Gut und Böse. Ein von ihm gefordertes „ineinander verzahnte Sicherheits- und Sozialkonzept“ ist nichts weniger als verzahnt, sondern folgt dem
schlichten Motto: “Jedem das Seine.”
Die einen sollen mit allen Mitteln strafrechtlich verfolgt werden, während es
ein soziales Betreuungskonzept ausdrücklich nur für „nicht belastete
Flüchtlinge“ geben soll.8
Der neonazistischen “Kameradschaft 73
Celle”9 bleibt so auf der von ihr im In-
sich von neofaschistischen Strukturen lösen bzw. gelöst haben. Dass ein in dieser Angelegenheit bereits zu einer Jugendstrafe verurteilter Zeuge mit einem
Ärmelaufnäher "Kameradschaft ElbeWeser" und alle Angeklagten außerdem
in typischer Neonazi-Kluft erscheinen,
stört weder Gericht noch Staatsanwalt.
Die Opfer des Überfalls sind zwar als
Zeugen geladen, werden aber nicht
gehört. Prozessbesuchern gegenüber sagen die Opfer nach der Verhandlung
aus, dass sie bereits vor dem Überfall
Morddrohungen von Neonazis erhalten
hatten.
9.6.2000
In Stadersand kommt es am Abend zu
einer Schlägerei, bei der Strandbesucher,
die dort Ball spielen, von einer Gruppe
Jugendlicher angegriffen werden. Fünf
Streifenwagen sind im Einsatz. Die Jugendlichen sollen der rechten Szene angehören. Bis jetzt liegen der Öffentlichkeit noch keine weiteren offiziellen Informationen dazu vor.
Harburg-Land
17. November 1999
Am Volkstrauertag führten etwa 60
Neofaschisten mit NPD-Fahnen einen
Aufmarsch auf dem Ehrenfriedhof Rosengarten-Vahrendorf durch.
Cuxhaven
Herbst 1999
Auf dem jüdischen Friedhof in der
Wingst kam es erneut (nach 1995 und
1997) zu einer Schändung. Der Ortheimatpfleger betont: "Für mich sind das
rechtsextreme Vorfälle, die von unserer
Gesellschaft sehr ernst genommen, entsprechend verfolgt und geahndet werden sollten. Dies besonders in Anbetracht des Schicksals, das den Menschen
jüdischen Glaubens und Geburt in der
NS-Zeit in unserem Land und darüber
hinaus widerfahren ist."
9
Rassismus und Gewalt
Rotenburg/Wümme
15./16. Januar 2000
In der Nacht wurden sechs Fensterscheiben eines Hauses in Elm mit Steinen eingeworfen. Die Mauer wurde außerdem
mit dem Schriftzug "SIEG HEIL" und einem Hakenkreuz beschmiert. In dem
Haus leben zwei kurdische Familien und
zwei Aussiedlerfamilien aus Russland.
Einbeck
Mai 2000
Im Mai 2000 wird bekannt, dass der Leiter eines privat betriebenen Flüchtlingswohnheims in Einbeck seit Anfang 1995
sämtliche Post der Bewohner angenommen, geöffnet, gelesen und nach dem
Zukleben den Flüchtlingen ausgehändigt
hat. Gegen ihn wird ermittelt, wozu er
gegen das Briefgeheimnis verstoßen und
die Briefinhalte genutzt hat, sei noch unbekannt. Ein Polizeisprecher sagte, ein
vergleichbarer Fall sei bislang noch nicht
bekannt geworden. Dem Flüchtlingsrat
sind dagegen mehrere Berichte von
Flüchtlingen über Zimmerdurchsuchungen inklusive Lesen privater Post bekannt. Angesichts der Maßnahmen zur
"Identitätsaufklärung" gegenüber angeblichen Identitätsverschleierern im Modellprojekt Identitätsfeststellung (Projekt
X) verwundert es, dass für Flüchtlinge
das Briefgeheimnis überhaupt noch gilt.
Göttingen
Nachdem von November 1999 bis Mitte
2000 vier angemeldete Nazi-Aufmärsche in Göttingen wegen Gegendemonstrationen verboten wurden (zuletzt
vom Bundesverfassungsgericht), kündigen die Nazis Morde an. Ziel der Nazis:
die "linke Hochburg schleifen." Nach den
gescheiterten Aufmarsch-Versuchen gibt
es mehrfach Hakenkreuzschmierereien
auf dem jüdischen Friedhof, an einem
linken Buchladen und anderen "widerständigen" Orten. Parallel zur öffentlichen Debatte über rechte Gewalt gibt es
einen Schub provokanter Okkupationsversuche des öffentlichen Raums: Im Juli und August tauchen faschistische Postwurfsendungen, Spuckis und Plakate der
NPD in Göttingen und vielen Orten der
10
ternet betriebenen “Heimatseite” kaum
mehr, als den sonst von ihr gescholtenen “Systemknechten” zuzustimmen.
Die Artikel der “Celleschen Zeitung”
werden von ihr dokumentiert und mit
Kommentaren versehen, die zum einen
auf ein “Mehr davon” hinauslaufen.
Nachdem die bei einer Razzia im Juli
(gefunden wurden neben geklauten
Fahrrädern 100 Gramm Marihuana, 6
Gramm Kokain und 20 Ecstasy-Pillen)
festgenommenen drei „mutmaßlichen
Drogendealer und Hehler“10 (CZ) tags
darauf wieder aus der Haft entlassen
waren, schrieben die Celler Nazis: „Als
wir bei unserem gestrigen Kommentar
das, zwar verspätete, Vorgehen der Polizei lobten, müssen wir dafür heute
umso mehr das lasche Vorgehen der
Celler Justiz kritisieren. Es kann doch
nicht angehen, das Personen die, nachgewiesener Maßen, mit Drogen dealen
wieder auf freien Fuß gesetzt werden.
Bei einem solchen Vorgehen der Verfolgungsorgane, darf man sich auch nicht
über das dreiste Verhalten, wie in oben
aufgeführten Artikel erwähnt, wundern! Was haben sie denn zu erwarten?
Drakonische Strafen? Ausweisung? Weder noch, bei einem solchen Verhalten
der Justiz wird uns dieser Personenkreis
weiterhin, mit einem breiten Grinsen im
Gesicht und dem gestohlenen Handy in
der Hand, auf der Nase herumtanzen!“11
Steuergeldern?! Schade bloß, dass wir
nicht in dem Bus nach Langenhagen
gesessen haben. Die beiden Türken hätten vor Ort direkt ihre gerechte Strafe
bekommen!“12 Drohungen wie diese
sind ernstzunehmen. Im August vergangenen Jahres erschlugen zwei jugendliche Skinheads aus dem Umfeld
der organisierten Nazis im Landkreis
Celle einen arbeitslosen “Alt-Hippie” in
seiner Wohnung, weil er immer wieder
ihre rassistischen Sprüche kritisiert hatte.
1. Rede von Jens Reymann im Celler Stadtrat,
dokumentiert in "Revista", Nr. 4/2000, nachzulesen unter http://members.tripod.de/Revista/start.htm
2. Mit Hilfe des im Rahmen dieses Projekts
herausgegebenen "Handbuch für Erwachsenenbildung" wäre es kurioserweise möglich,
Reymanns Rede auf ihren rassistischen Kern
zu untersuchen: József Wieszt u.a. (Hg.): Integration contra Nationa-lismus, Hustedt
1997
3. Zur Rolle der Presse bei der Verbreitung
und Reproduktion von Rassismus ist lesenswert Hilke Ganzerts Artikel im Jahres-bericht
des AntiDiskriminierungsBüro Bielefeld;
http://www.uni-marburg.de/dir/MATERIAL/
DOKU/DIV/BIELEF7.HTML
4. CZ, 22.1.2000
5. CZ, 23.1.2000
6. Für die geplante 2,50 m hohe Mauer hätte ein Bauantrag gestellt werden müssen,
was ihren Bau verzögerte. Der schnellen Umsetzung wegen entschied man sich im Juli
für eine nicht genehmigungspflichtige 1,80
m hohe stacheldrahtbewehrte Mau-er.
Rassistischer Schutzwall?
Wie sie sich die Lösung dieses “Problems” vorstellen, wird an anderer Stelle deutlich. Die “Neue Presse” berichtete Ende Mai in einem rassistischen
Reißer, dass zwei türkische Jugendliche
in einem Bus in Hannover-Langenhagen
eine schwangere Frau geschlagen hätten. Kommentar auf der “Heimat-Seite”: „Diese feigen, abartigen türkischen
Jugendlichen, werden für ihre niederträchtige, feige Tat vor einem deutschen
Gericht wahrscheinlich noch nicht einmal eine Geldstrafe bekommen. Vielleicht gibt es ja auch einen netten Urlaub, sozusagen als therapeutische
Maßnahme, bezahlt von deutschen
7. Einzig die lokale Alternativzeitung "Revista" nahm in zwei Artikeln kritisch Stellung:
"Wo Celle zur Großstadt wird / Der Kampf
gegen "Dealer" führt zur Mauer gegen
Flüchtlinge", Nr. 3/2000, und "Stadtrat sagt
JA zu rassistischem Schutzwall", Nr. 4/2000;
beides unter http://members.tripod.de/Revista/start.htm
8. siehe Fußnote 1
9. Zur Celler Nazi-Szene gibt es ein gut recherchierte 6-seitiges Flugblatt, das bezogen
werden kann über: AntiFa Celle c/o Buntes
Haus, Hannoversche Str. 30 f., 29221 Celle
10. CZ, 12.7.2000
11. http://www.freie-nationale-jugend-celle.de/seite96.htm
12. http://www.freie-nationale-jugend-celle.de/seite66.htm
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Rassismus und Gewalt
Hilfe-Ruf von Flüchtlingen aus
dem Landkreis Helmstedt
A
n alle, die mit dem Thema Flüchtlinge und Menschenrechte beschäftigt
sind, hier ist ein Hilferuf.
sen im Moment von Abschiebungen
nicht die Rede ist, sind sie im Lankreis
Helmstedt schon fast zuende.
Wir sind verzweifelt, wir haben Angst.
Jeden Tag werden Flüchtlinge beleidigt,
unterdrückt und schlecht behandelt.
Wir haben Angst, unsere Ausweise verlängern zu lassen. Jedes Mal werden
wir mit Abschiebung bedroht, obwohl
es gar keine Möglichkeit dazu gibt. Es
gibt keine Verlängerung, ohne beleidigt
zu werden. Zum Teil werden uns Ausweise wegggenommen, wenn wir nicht
sofort ausreisen oder eine Erklärung zur
Freiwilligen Ausreise unterschreiben,
und zwar sofort.
Einigen Flüchtlingen im Landkreis Helmstedt wurde vor einigen Tagen ihr Ausweis weggenommen (Original: Im
Landkreis Helmstedt einige Flüchtlinge
seit paar Tage ihr Ausweis weggenommen). Sie hatten die „Freiwillige Ausreise“ in ein weltbekanntes Fluchtland
nicht unterschrieben, um ihre Verwandten im Heimatland nicht in Schwierigkeiten zu bringen.
Es gibt dafür auch einige Beispiele aus
der jüngsten Zeit:
Eine Familie aus dem Kosovo mit drei
kleinen Kindern hat wegen diesem
Druck die „Freiwillige Rückkehr“ unterschrieben. Den genauen Zeitpunkt
dafür hatten sie noch nicht festgelegt,
denn sie haben ein krankes Kind, das in
Behandlung war. Als sie am 14. August
zur Verlängerung ihrer Ausweise im
Landkreis waren, wurden sie aufgefordert, am nächsten Tag um 11.00 ab
Hannover auszureisen. Würden sie das
nicht tun, würden ihre Leistungen gestrichen und sie sofort abgeschoben.
Weil sie keine andere Wahl hatten, sind
sie mit ihrem kranken Kind ausgereist.
Das ist nur ein Beispiel, bei den KosovoAlbanern. Obwohl in anderen Landkrei-
Foto: 3.Welt Saar
Es sind viele, viele Sachen, die man
wirklich nicht alle in einen Brief schreiben kann. Dieses Schreiben wurde von
einer Gruppe verschiedener Nationalitäten aus Helmstedt geschrieben. Wir
sind fast jeden Tag dort, wir sehen es
und wir hören es, unglaubliche Situationen. Wir bitten euch um eure Unterstützung und darum, ein Gespräch mit
dem Landkreis Helmstedt durchzuführen.
Umgebung auf - u.a. neben einem
Flüchtlingswohnheim. Vier gröhlende
Nazis marschieren nachts mit Fahnen
und Transparenten am Todestag Rudolf
Hess auf einer Ausfallstraße. Am 23. Juli
wird eine Studentin aus der Karibik von
pöbelnden Nazis angegriffen, ein Autofahrer greift ein und verhindert noch
Schlimmeres.
Hannover
Juni 2000
Eine Vermieterin wollte ihrer zukünftigen Mieterin den Besuch eines schwarzen Freundes verbieten. Denn wenn er sie
besuche, müsse er zwangsläufig den
Haus-flur durchqueren, und das könne
man den anderen Mietern nicht zumuten. Auf deren Abneigung gegen
Schwarze sei schließlich Rücksicht zu
nehmen. Die Vermieterin wollte die
Wohnung nur noch mit Besuchsverbot
für Schwarze vermieten. Die empörte
junge Frau verzichtete, sollte dann aber
für Mietausfall 1700 DM bezahlen. Sie
zog vor Gericht. (Nach HAZ, 10.6. 00)
Mit freundlichen Grüßen
(Sprachlich überarbeitet von der Redaktion. Dieser Brief erreichte uns am 23.
August. Er war ebenfalls an ai, Pro Asyl
und an den UNHCR adressiert).
Salzgitter
17. Juni
Rechtsradikale Skinheads griffen mehrere Türken an, es kam zu einer Schlägerei.
Nach Platzverweis durch die Polizei zogen 30 Rechtsextreme daraufhin in eine
überwiegend von Ausländern bewohnte
Straße und grölten ausländerfeindliche
Parolen. Die Polizei intervenierte, als die
gleiche Anzahl Türken sich ihnen entgegenstellte.
18. Juni
Folgende Meldung fand sich im Göttinger Tageblatt direkt unter der obigen,
ohne das ein Bezug hergestellt wurde:
"Bei einem Streit auf einem Spielplatz in
Salzgitter-Bad ist ein 21-jähriger Mann
aus Göttingen am späten Sonntag
Abend durch einen Messerstich lebensgefährlich verletzt worden. Ein 16-Jähriger erlitt leichte Verletzungen. Der Göt11
Rassismus und Gewalt
Das Geschehen im Saal
dominierten die Täter
tinger, der zu Besuch bei Freunden in
Salzgitter war, hatte sich mit diesen gegen 22.50 Uhr auf einem Kinderspielplatz aufgehalten. Als dort ein 18-jähriger Ausländer in Begleitung von drei
Aspe
Kindern vorbeikam, gab es zunächst ei- Überfall auf Flüchtlingswohnung in Kutenholz-A
ne verbale Auseinandersetzung. In deren -P
Prozess gegen die Täter in StadeVerlauf zog der 18-jährige plötzlich ein
sogenanntes Butterfly-Messer und stach VNN Stade
auf seine Opfer ein".
Die Tat
sollten, sonst würde es ihnen schlecht
m 19. Mai 1999 überfielen acht ergehen. Die Vorkommnisse wurden alMänner die Flüchtlingswohnung in le der Polizei gemeldet. Nach der Tat
Kutenholz-Aspe (Landkreis Stade). Drei kam es zu weiteren fremdenfeindlichen
der vier im ersten Stock des Hauses le- Pöbeleien in Kutenholz.
benden Flüchtlinge konnten sich durch
einen Sprung aus dem Fenster retten, Reaktionen im Dorf
ein weiterer Flüchtling versteckte sich Unmittelbar nach dem Anschlag trat
im Haus. Die Täter demolierten die der örtliche “Runde Tisch” (Zusammen30.6. 2000
Wohnungseinrichtung und zerschlugen schluss von Kutenholzer Vereinen, VerDie Staatsanwaltschaft lehnt ein Strafdie Fenster des Hauses. Eine im Erdge- bänden und der Kirchengemeinde) mit
verfahren gegen eine Schaffnerin der
schoss lebende Frau wurde mit einer Aktionen an die Öffentlichkeit. In einer
Deut-schen Bundesbahn ab, denn "ein
Waffe bedroht, ebenfalls ein zu Hilfe aufmerksamen Nachbarschaft hätten
öffentliches Interesse an der Strafverfolkommender Nachbar. Ein Anwohner “feige Gewalttäter es schwer”. Gelbe
gung (kann) nicht angenommen werkonnte sich die Nummer eines der Tä- Bänder in den Birkenbäumen, die zu
den". Die Staatsanwaltschaft würde nur
terwagen merken. Die ersten Täter wur- Pfingsten aufgestellt werden, sollen
tätig werden, wenn "die Strafverfolgung
den noch in der Nacht festgenommen.
symbolisieren, “daß hier jemand zu
ein gegenwärtiges Anliegen der AllgeHause ist, der dieses rechtsradikale Chameinheit ist, d.h. eine breite Bevölke- Die Opfer
otentum ablehnt”. Die Schleifenaktion
rungsschicht an der Bestrafung der Täter Es sind Flüchtlinge aus dem Bürger- wurde als Aktion gegen das Vergessen
ein Interesse hat." Der Afrikaner war am kriegsland Sierra Leone, die hier Asyl im Mai 2000, ein Jahr nach dem Über8. Dezember 1999 im Bahnhof Elze von beantragt haben. Sie fürchteten fall, wiederholt. Die Opfer waren nicht
einer Zugbegleiterin mit den Worten während des Überfalls um ihr Leben dabei. Sie waren nicht eingeladen wor"Neger, ich mach dich tot" aus dem an- und konnten sich nur durch verstecken den, da ihre neue Adresse, in einem nafahrenden Zug gestoßen worden. Um und durch Flucht aus dem Fenster (im hegelegenen Ort, den Organisatoren
den letzten Zug noch zu erreichen, hat- ersten Stock) retten. Nach der Tat wur- nicht bekannt war.
te er in Panik die Gleisen überquert, die de ihnen eine Wohnung in einem andeSchaffnerin hatte deshalb die Mitfahrt ren, nahegelegenen Ort des Landkreises Der Prozess
verweigert. Nach dem Stoß lag der Stade, zugewiesen. Nach eigenen An- Im Mai 2000 fand, nachdem schon vorFlüchtling minutenlang auf dem Bahn- gaben haben sie für die zerstörten pri- her die drei minderjährigen Täter unter
steig, er zog sich Verletzungen zu. We- vaten Gegenstände keinen Schadener- Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem
der Lokführer noch Schaffnerin hatten satz bekommen. Als zusätzliche Wie- Jugendgericht verurteilt wurden, der
sich überzeugt, dass er unverletzt war. dergutmachung bot einer der Täter Prozeß gegen fünf volljährige Täter in
(s.a. FLÜCHTLINGSRAT 64/65).
beim Prozess einen Präsentkorb an - für Stade statt. Alle Täter waren geständig,
die beim Überfall bedrohte -deutsche - gaben eigenen Tatanteil zu, konnten
Anwohnerin.
sich angeblich aber nicht an ein spezielles Auftreten der jeweils Anderen erinDas Umfeld
nern. Die Tat sei spontan aus der GrupEine Jugendgang trat bis vor einigen pe heraus entstanden, einen Anführer
Jahren gewaltbereit in Kutenholz auf. habe es nicht gegeben, und es habe die
Einer der Täter war Mitglied dieser Cli- Absprache gegeben, lediglich Sachbeque, die “Bomber” genannt wurden. schädigung zu machen. Die mitgeführ8. Juli 2000
Ein schwarzer Schüler und seine Mit- Zehn Tage vor dem Überfall wurden in ten Schlaginstrumente (Baseballschläschüler aus Hamburg sind bei einem Kutenholz bei einer anderen Flücht- ger und Latten) hätte man zufälligerZeltlager in Soltau von einem Dutzend lingsfamilie aus dem Kosovo die Fen- weise dabeigehabt. Auslöser des ÜberJugendlichen angegriffen worden. Mit sterscheiben eingeworfen. Mehrmals falls sollte eine Auseinandersetzung geden Worten "Nigger, komm raus! Wenn vorher waren schon unbekannte Män- wesen sein, die Marcus Millo tagsüber
wir dich in die Hände kriegen, bist du to- ner auf den Hof gefahren und hatten mit den Flüchtlingen gehabt hätte. MilParolen wie “Ausländer raus” gegrölt. In lo, es wurde schon vom Jugendgericht
ter als tot!", wurde der Schüler bedroht,
der Flüchtlingswohnung in Kutenholz- verurteilt, bedrohte während des Überer wurde von Fußtritten am Kopf getrofAspe wurden einige Tage vor der späte- falls eine Anwohnerin mit einer Waffe.
fen, ein Schneidezahn brach ab. Die 16ren Tat bereits Fenster eingeworfen und Im Gericht trug er einen großen
bis 18-jährigen Täter aus Wietzendorf
die Wände beschmiert. An dieser Tat schwarz-weiß-roten Aufnäher mit der
wollte der Polizeisprecher aber nicht als
war mindestens einer der späteren Tä- Inschrift “Kameradschaft Elbe Weser”.
Rechtsradikale bezeichnen, sie seien
ter beteiligt. Die Flüchtlinge aus Sierra Staatsanwaltschaft und Gericht gingen
eher einfach gestrickte Dorfjugendliche
Leone erhielten auch eine mündliche nicht von einer spontanen, unorganiund bisher nicht polizeilich bekannt. (FR
Warnung, daß sie den Ort verlassen sierten Tat aus. Drei der Angeklagten er22.7.00)
A
Hildesheim
Soltau
12
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Rassismus und Gewalt
hielten eine neunmonatige Strafe mit
Bewährung verbunden mit Geldstrafe,
ein Angeklagter wurde zu fünfzehn
Monaten Strafe auf Bewährung und
Geldstrafe verurteilt. Er war früher
schon in Kutenholz als “Bomber” aufgefallen. Die Gerichtskosten müssen
von den vier Tätern getragen werden. In
Lars Hildebrandt sah das Gericht den
heimlichen Anführer und er wurde zu
einer Haftstrafe von 18 Monaten ohne
Bewährung verurteilt. Rassistische oder
politische Motive der Täter wurden vom
Gericht nicht herausgearbeitet, verhandelt wurde nur versuchte Körperverletzung und Sachbeschädigung. In der
Prozessankündigung ging es noch um
Landfriedensbruch.
Kutenholz-Aspe war er Mitglied der
NPD. Hildebrandt war schon im Oktober 1996 verantwortlich für einen Überfall auf den kirchlichen Jugendtreff
“Sky” in Gnarrenburg. Die Verurteilung
zu einer fünfzehnmonatigen Jugendstrafe auf Bewährung für diese Tat wurde erst im Frühjahr 2000 rechtskräftig.
Hildebrandt trat häufig provokant auf,
so bot er z.b. der Leiterin der Bremervörder Jugendbegegnungsstätte Schutz
vor “kriminellen Ausländern” an. Im
Anschluss an eine Party, die Hildebrandt
in seiner damaligen Wohnung in Zeven
gab, kam es im November 1999 zu
Ausschreitungen, bei denen etwa 20
Leute unter anderen eine Polizeiwache
angriffen.
In einem “Standpunkt” zum Prozeß
schrieb die “Bremervörder Zeitung” am
2. Juni 2000: “Das Geschehen im Saal
109 des Amtsgerichts dominierten die
Täter. Ihre Perspektive zählte, ihre
Sprüche bleiben in Erinnerung - nicht
jedoch das Leiden der Opfer. Ihre Todesangst kam nicht zur Sprache, ihre
Verletzungen nach dem Sprung aus
dem Fenster waren kein Thema.” Das
Gericht hatte vormittags beschlossen,
die Flüchtlinge als Zeugen nicht mehr
zu hören. Als sie am Frühnachmittag als
Zeugen erschienen, war die Verhandlung bereits beendet. Sie warteten, verschüchtert, vor dem Gerichtsgebäude.
Die Täter und ihr Skinheadanhang besprachen in unmittelbarer Nähe den
Prozessausgang.
Ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung ist gegen Hildebrandt seit
Februar 2000 beim Stader StaatsschutzDezernat anhängig. Über das Internet
hatte eine junge Frau einen 28-jährigen
Türken aus Hannover nach Neuenkirchen im Alten Land gelockt, wo er von
drei Männern zusammengeschlagen
wurde.
Der “Rädelsführer”
Bereits einige Tage vor dem Überfall
hatte Hildebrandt das Haus mit der
Flüchtlingswohnung beschmiert und
Fenster eingeworfen. Auf sein Motiv angesprochen sagte er knapp “Fremdenhass”. Der jetzt 22 jährige Hildebrandt
gilt laut “Bremervörder Zeitung” als
“geistiger Anführer der Bremervörder
Skinheadszene”. Zum Zeitpunkt des
Überfalls auf die Flüchtlingswohnung in
Foto: Lars Klingbeil
Mit Hinweis auf eine günstige “Sozialprognose” versuchte der Verteidiger
von Hildebrandt eine Haftstrafe für den
Überfall von Kutenholz-Aspe abzuwenden. Da das nicht gelang, wird man
wahrscheinlich in die Revision gehen.
Die anderen Täter können sich auf jeden Fall weiterhin frei im vertrauten
Umfeld bewegen. Die Opfer des Überfalls dagegen können sich nicht allzu
weit bewegen. Ihr Wohnort liegt unmittelbar an der Landesgrenze zu Hamburg, die sie wegen der Residenzpflicht
nicht übertreten dürfen. Ihr Bewegungsradius ist auf den Landkreis Stade
beschränkt, ihre sozialen Bezüge nach
Hamburg können sie nur mit (Ausnahme)Genehmigung der Ausländerbehörde pflegen.
Hannover
Juli 2000
"Fünf Monate lang arbeitete ich als Sachbearbeiterin in der Stelle für Asylanten,
Bürgerkriegs- und Kontingentflüchtlinge
im Sozialamt der Stadt Hannover. Der
damalige stellvertretende Stellenleiter
äußerte sich folgendermaßen zu den
Flüchtlingen: "Wenn die schon herkommen und jammern, dass sie als Menschen behandelt werden wollen, würde
ich sie am liebsten fragen, ob sie mal in
den Spiegel geschaut hätten". Ich formulierte daraufhin eine Beschwerde gegen den Herrn und wurde bereits am
nächsten Tag als Hilfskraft unter Streichung der Zulagen in die Poststelle versetzt." (anonymisierter Leserbrief im
Spiegel, Juli 2000)
SalzgitterLebenstedt
1. August 2000
Eine aus Polen stammende Frau fand
nach der Rückkehr aus dem Urlaub
sämtliche Wände und Möbel in ihrer
Wohnung mit Hakenkreuzen und ausländerfeindlichen Parolen beschmiert
vor.
Tostedt
5. August 2000
Mehr als 230 junge Neonazis marschieren in Tostedt auf. Manche müssen ihre
Springerstiefel gegen Turnschuhe wechseln - eine der Auflagen des Gerichts,
mit denen die Demo genehmigt wurde.
Niedersachsen
19. August 2000
In mindestens 17 Städten Niedersachsens beschlagnahmt die Polizei rechtsextreme Plakate zum Rudolf-Hess Todestag.
13
Rassismus und Gewalt
Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik
und ihre tödlichen Folgen
Altenau (Oberharz)
August 2000
In der offiziellen Festschrift der Bergstadt
Altenau zum Heimatfest im September
findet sich ein Brief von Adolf Hitler, in
dem er erklärt, die Ehrenbürgerschaft
anzunehmen. Der Bürgermeister sprach
von einem "unerklärlichen peinlichen
Vorfall".
ARI
I
n ihrer Dokumentation über die Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik listet die Berliner antirassistische Initiative auf: Todesfälle und Verletzungen
bei Grenzüberquerungen; Selbst-tötungen, Selbsttötungsversuche und Verletzungen von Flüchtlingen aus Angst und
auf der Flucht vor Abschiebungen; Todesfälle und Verletzungen vor, während
und nach Abschiebungen. Sie umfasst
auch Berichte über Fluchtversuche, die
deutlich machen, welche lebensbedrohlichen Bedingungen Flüchtlinge
auf sich nehmen müssen, um heute in
die BRD zu gelangen. Fluchtversuche,
die oft nur durch Zufall nicht tödlich für
23.8. 2000
Drei Neonazis haben auf dem Altstadt- die Flüchtlinge endeten.
fest in Northeim einen 25-Jährigen mit
so großer Gewalt auf die Straße ge- Diese Zusammenstellung umfasst Anschleudert, das er lebensgefährliche Ver- griffe und Anschläge auf Flüchtlingssammellager. Die Aufzählung rassistiletzungen erlitt.
Rund Dreiviertel aller Übergriffe von scher Angriffe auf Flüchtlinge auf deutRechtsradikalen gegen Ausländer in den schen Straßen beinhaltet wohl die
neuen Ländern kommen nicht zur An- größte Dunkelziffer. Während es für das
zeige. Das liege einerseits daran, dass Bundesland Brandenburg Initiativen wie
die Ausländer sich nicht ausreichend ver- die Opferperspektive oder das Büro der
ständlich machen könnten und anderer- Ausländerbeauftragten gibt, die systeseits beim Umgang mit deutschen matisch dokumentieren, sind die VorfälBehörden, vor allem der Polizei, verunsi- le in den restlichen Bundesländern nur
chert seien, so das Dresdner Bürgerpro- sporadisch erfasst.
jekt AnStiftung nach Auswertung einer
Befragung: Dunkelhäutige erlebten die Nicht mit aufgeführt sind die MenPolizei im Alltag eher als mächtiges, schen, die durch Arbeitsverbot, durch
durchgreifendes, drangsalierendes und Beendigung der Aufenthaltsgenehmikontrollierendes Organ, von dem man gung oder durch Fluchthilfeschulden in
im Zweifel keine Hilfe erwarten dürfe. sogenannte nicht legale Arbeit geBei Streitfällen gingen viele Beamte von drängt wurden und dabei zu Tode kavornherein von einer Schuld oder wenig- men oder verletzt wurden. In den letzstens Mitschuld der anzeigenden Aus- ten Jahren wurden mindestens 50 Menländer aus. Es komme vor, dass Übergrif- schen bei Verteilungskämpfen im Zigafe und Überfälle bei den anschließenden rettenhandel getötet (Der Tagesspiegel,
Meldungen heruntergespielt oder die 24.4.99).
Anzeigenden vor möglichen "Folgen" gewarnt würden, wenn sie die Anzeige Wir haben uns bei dieser Chronologie
aufrecht erhielten. Viele Übergriffe wer- um Vollständigkeit bemüht - wohlwisden auch auf Drängen von Betreuungs- send, dass wir sie nicht erreichen könstellen nicht öffentlich gemacht, weil die nen.
Überfallenen begründete Angst vor den
Folgen einer Anzeige hätten. In der Re- Diese Dokumentation umfasst den Zeitgel würden z.B. Angriffe bei Volksfesten raum vom 1. Januar 1993 bis zum 31.
und ähnlichen Veranstaltungen unter Dezember 1999. In diesem Zeitraum
Schlägereien subsumiert, bei vielen All- starben mindestens 113 Menschen auf
tagsauseinandersetzungen schönten dem Wege in die Bundesrepublik
Behörden die Darstellung, indem sie die Deutschland oder an den Grenzen. AlAngriffe explizit etwa als "nicht auslänRassistische Angriffe: Aus einer Chroderfeindlich" einstuften.
nik des VVN Stade und Sammlung der
(Pressemitteilung der Anstiftung, DresRedaktion
den, 25. Juli 00)
Northeim
14
lein 87 Personen starben an den deutschen Ost-Grenzen. 267 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt zum Teil erhebliche Verletzungen, davon 141 an
den deutschen Ost-Grenzen. Von den
58 Flüchtlingen, die beim Grenzübertritt in die BRD durch Maßnahmen der
Bundesgrenzschutzbeamten verletzt
wurden, geschah das bei 45 Personen
durch Bisse von Zoll- und Diensthunden.
78 Menschen töteten sich selbst angesichts ihrer drohenden Abschiebung
oder starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Allein 36 Flüchtlinge starben in Abschiebehaft. Mindestens 185 Flüchtlinge haben sich aus
Verzweiflung und Panik vor der Abschiebung selbst verletzt oder versuchten sich umzubringen und überlebten
z.T. schwer verletzt.
Während der Abschiebungen starben 5
Flüchtlinge; 97 Flüchtlinge wurden
durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt. Abgeschoben in ihre Herkunftsländer, kamen 9 Flüchtlinge zu
Tode, mindestens 239 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder
Militär misshandelt und gefoltert. Mindestens 33 Menschen verschwanden
nach der Abschiebung spurlos. 9
Flüchtlinge starben durch Polizeigewalt
in der BRD, mindestens 97 wurden verletzt. Bei Bränden in Flüchtlingsunterkünften starben nach unseren Recherchen mindestens 52 Menschen; mindestens 458 wurden z.T. erheblich verletzt.
Ein Fazit: Durch staatliche Maßnahmen
der BRD kamen mehr Flüchtlinge ums
Leben als durch rassistische Übergriffe."
Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und
ihre tödlichen Folgen
Dokumentation von 1993 bis 1999, 7.
aktualisierte Auflage, Berlin
2000, 127 Seiten, 13,50 DM
Bestelladresse: Antirassistische Initiative
e.V., Yorckstraße 59,
10965 Berlin, Tel.: (030) 785 72 81,
Fax: (030) 786 99 84
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Green
Card
Rassismus und Gewalt:
„Asylmissbrauch” in Bremen
Eine aufgeblasene, rassistische und gezielt lancierte Kampagne
D er Bremer Innensenator Bernt Schulte (CDU) hatte Anfang des Jahres
Ergebnisse einer Ermittlungsgruppe präsentiert, wonach über 500 Kurden aus dem Libanon, die seit Jahren als staatenlose Flüchtlinge mit gesichertem Aufenthalt in Bremen lebten, in Wahrheit türkische Staatsangehörige sein sollen. Sie hätten sich mit diesen Falschangaben ihren Aufenthalt „erschlichen“ und unberechtigt Sozialhilfe bezogen, weil sie als
türkische Kurden längst abgeschoben wären. Bundesweit erregte dieses
Thema großes Aufsehen, gegen die Schlagzeilen über die „Schein-Asylanten“ (Weser-Report) und „Asylbetrüger“, die „unseren Sozialstaat abzocken“ (Bild, Bremen) hatten die Klarstellungen der Anwälte keine
Chance. 56 Deutsche und Nicht-Deutsche versuchten, diese „beleidigende und hetzerische“ Berichterstattung der Lokalpresse anzuprangern und
erstatteten Anzeige. Erfolglos: nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
schützt die Meinungsfreiheit auch „scharfe und übersteigerte Äußerungen“, auch „in Form von sachbezogener Schmähkritik“, wie die Frankfurter Rundschau am 27.7. 2000 meldet. (M.W.)
W
ir weisen die vom Bremer Innensenator gestartete sog.
“Asylbetrugs-Kampagne” zurück
und verlangen ein gesichertes Aufenthaltsrecht für die betroffenen
Menschen.
Fakt ist, dass diese Menschen nach
Deutschland kamen, weil ihnen
der Aufenthalt im Libanon oder
der Türkei nicht möglich war. Trivialerweise ging es ihnen von Anfang an darum, einen Aufenthaltstitel zu erwerben, der ihnen den
langfristigen
Aufenthalt
in
Deutschland ermöglicht. Das gilt
ganz unabhängig davon, wie viele der Betroffenen wie lange im Libanon bzw. in der Türkei gelebt
haben. Der Wunsch in Deutschland zu leben ist nach unserer Auffassung absolut legitim und hat
mit “Betrug” nichts zu tun.
Es ist neuerdings ja so, dass allein
der Wunsch in Deutschland leben
zu wollen und der Versuch, dies
auch umzusetzen, als kriminelle
Handlung und verwerfliche Haltung definiert wird. Wir machen
uns diese wohlstands-chauvinistische
Abschottungsmentalität
nicht zu eigen. Wir sind nach wie
vor der Auffassung, dass nicht der
Versuch, nach Deutschland bzw.
Westeuropa zu gelangen, moralisch verwerflich ist, sondern die
Errichtung der Festung Europa.
Den von der Kriminalitätskampagne Betroffenen und ihren in
Deutschland geborenen Kindern
ist über Jahre hinweg systematisch
ein sicherer Aufenthaltstitel und
damit auch die Möglichkeit für eine Erwerbstätigkeit verweigert
worden. Sie wurden behördlicherseits dazu gezwungen, ihren Lebensunterhalt mit Sozialhilfe zu
bestreiten. Das heißt aber auch,
die Sozialhilfe stand und steht ihnen zu. Hier nun den Vorwurf des
Sozialhilfebetrugs zu erheben, ist
nicht nur zynisch, sondern tatsächlich eine rassistische Hetzkampagne.
Gäbe es in Deutschland ein auch
nur geringfügig großzügigeres
Aufenthaltsrecht (so wie in vielen
anderen Staaten Europas), hätte
ein Großteil der nun als organisierte Betrüger Denunzierten längst einen langfristigen Aufenthaltstitel,
viele der in Deutschland geborenen Kindern wären längst Deutsche.
In Wahrheit geht es hier nicht um
“Betrug” oder “Kriminalität”, sondern darum, die Abschiebungen
von 500 Menschen propagandistisch und rechtlich vorzubereiten.
Denn die betroffene Personengruppe würde nunmehr zum
größten Teil unter die Altfallregelung fallen und könnte damit einen gesicherten Daueraufenthalt
bekommen. Hier glaubt man also
bei der Innenbehörde endlich einen Hebel gefunden zu haben, eine Personengruppe, die schon seit
Jahren ganz oben auf der Abschussliste der Bremer Abschiebemaschinerie steht, tatsächlich abschieben zu können.
Fakt ist weiterhin, dass vor allem
jene Menschen, die schon vor langer Zeit nach Bremen kamen,
durch eine fälschliche Selbstdeklaration als “Libanesen” ihre Chancen für einen Daueraufenthalt in
Bremen selbst vermindert hätten.
Galt Ende der 80er bzw. Anfang
der 90er Jahre in Bremen doch der
sogenannte “Kurdenerlass”, der
auch abgelehnten Asylsuchenden
aus der Türkei ein Bleiberecht zusicherte. Eine Umdeklaration von
türkisch-kurdisch auf libanesischkurdisch brachte somit aus damaliger Perspektive keine Vorteile.
15
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Green Card,
Blue Card,
Asyl-Card
Luigi La Grotta
(Kürzungen durch
die Red.,dieser Beitrag erschien in:
Stimme 4/2000)
16
Der scheinbare Coup, den die Bremer Polizei hier gelandet hat, ist in
Wahrheit eine aufgeblasene, rassistische und gezielt lancierte Kampagne, die den Realitäten in keinster Weise gerecht wird. Die nunmehr angeblich aufgedeckten
“Fakten” sind zum großen Teil seit
langem bekannt. Die komplizierten
Flucht- und Wanderungsprozesse
von Kurdinnen und Kurden zwischen der Türkei und dem Libanon, und damit zusammenhängende verworrene
Staatsangehörigkeitsfragen sind seit
Jahren bekannt
und in den Asylakten der betreffenden Personen z.t. auch
enthalten, also
auch für die
Behörden nichts
Neues. Neu ist,
dass man in
dem unbedingten Willen, diese
Menschen abzuschieben, eine polizeiliche Sonderkommission beauftragt hat, die in vielen Akten
verstreuten Informationen systematisch zusammenzutragen, und
daraus nun eine realiter nicht vorhandene kriminelle Verschwörung
zusammenstrickt.
Die Arbeitsweise der derzeitigen
Sonderermittlungsgruppe EG 19
stimmt mit den Methoden der vormaligen EG 11 überein, die im November 1992 zur Aufdeckung von
Mehrfachidentitäten eingerichtet
worden war. Die von Polizei und
Innensenator praktizierte Masche,
die gesamten bezogenen Sozialleistungen auf Heller und Pfennig
auszurechnen, sie als betrügerisch
erworben zu klassifizieren und daraus eine Kampagne zu machen,
S
Staat nur zweckgebundene Daten
sammeln darf. Er darf nicht auf
Vorrat sammeln, was er kriegen
kann. Genau das aber passiert bei
der Asyl-Card. (...)
Im vergangenen November haben
die Innenminister der Länder einstimmig - und damit einer erstaunlicher Eintracht - den Bundesinnenminister aufge-fordert, die Einführung der Asyl-Card zu "prüfen".
Um den Kritikern den Wind aus
den Segeln zu nehmen, sollen
nicht alle Daten, die auf der Karte
gespeichert sind, uneingeschränkt
einseh-bar sein. Jede Stelle, die mit
einem entsprechenden Lesegerät
ausgerüstet ist, wie zum Beispiel
Ausländer- oder Sozialamt, darf
nur die Daten einsehen, die für sie
bestimmt sind. (...)
Bayerns Innenminister Beckstein
will dabei eine Vorreiterrolle übernehmen.
Die
öffentliche
Empörung über den Bremer "Asylskandal" kam ihm gerade recht. Er
schlägt jetzt vor, die Karte im
Großraum um Nürnberg einzu-
o umstritten die Ermittlungsergebnisse auch sind, der Bremer
Asylskandal wird wohl weitreichende Folgen für alle Flüchtlinge
in Deutschland haben. Der bayerische Innenminister Günter Beckstein (CSU) hat nämlich in diesem
Zusammenhang die "Asyl-Card" gezückt. Er will für alle Flüchtlinge eine Chip-Karte einführen, die umfassend Personendaten speichert.
Ob beim Einkauf, beim Verlassen
der Flüchtlingsunterkunft oder bei
der Essensausgabe, alles wird registriert. (...)
Vor knapp zwei Jahren war die
Chip-Karte schon einmal im Gespräch. Sie wurde heftig kriti-siert.
Zwar bietet sie die größtmögliche
Kontrolle, gleichzeitig schafft sie
aber den gläsernen Flüchtling, so
die einhellige Meinung der Kritiker.
Der Staat hat dadurch die Möglichkeit, Per-sönlichkeitsbilder von
Menschen zu erstellen. Im so genannten Volkszählungsurteil von
1984 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der
Die Verlogenheit dieser Inszenierung wird besonders deutlich,
wenn man sich daran erinnert,
dass der Bremer Senat vor nicht
allzu langer Zeit im Rathaus einen
Empfang für den millionenschweren
Steuerbetrüger
“Wurst”
Könecke, der sich seinerzeit einer
Inhaftierung durch Flucht entzogen hatte, ausrichtete. Der damalige Innensenator Ralf H. Borttscheller pries ihn damals gar als vorbildliche Unternehmerpersönlichkeit.
Wir verlangen ein
dauerhaftes Bleiberecht für die nun an
den Pranger gestellten Menschen. Soweit es in unseren
Kräften steht, werden wir sie in der gegen sie gerichteten
Kampagne unterstützen.
deckt sich haargenau mit den damaligen Praktiken. Zu Erinnerung:
Die Methoden der EG 11 sind damals von zahlreichen JuristInnen
als unseriös und die Darstellung
der Fälle als tendenziös kritisiert
worden. (vgl. z.b. Weserkurier vom
12.9.93 und 9.7.93)
(Gemeinsame Presseerklärung AntiRassismus-Büro Bremen/Gruppe “Grenzenlos” /Flüchtlingsinitiative Bremen/ IMRV)
führen. Nur auf Probe, wie es
heißt. Kritik wischt man in Bayern
vom Tisch, indem man sich auf eine Machbarkeitstudie beruft, die
vor zwei Jahren erstellt wurde. Die
Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die "Smart-Card im
Asylver-fahren" eingeführt werden
kann.
Die Studie war von Ex-Innenminister Manfred Kanther (CDU) in
Auftrag gegeben worden. Unterstützt wurde er durch eine BundLänder-Arbeitsgruppe unter Vorsitz vom Ex-Innenminister Niedersachsens Gerhard Glogowski
(SPD). Kanther ist inzwischen über
die Spendenaffäre seiner Partei gestolpert.
Glogowski
musste
zurücktreten, weil er nicht zwischen seinem politischen Amt und
privaten Interessen unterscheiden
konnte. Er-stellt wurde die Studie
von einer Tochterfirma der OrgaConsult in Paderborn. Und damit
von einem der größten Chip-Kartenhersteller in Europa.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Anmerkungen zur Asyldebatte
Kai Weber
„Eine institutionelle Garantie würde eine Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen durch besondere Beschwerdeausschüsse
statt durch die mit Asylverfahren
überlasteten Verwaltungsgerichte
ermöglichen (ggfs. i.V.m. einer entsprechenden Ergänzung des Art.
19 Abs. 4 GG - Rechtswegegarantie).“
(aus: Diskussionspapier „Zuwanderungsbegrenzung und Zuwanderungssteuerung
im Interesse unseres Landes“ von Wolfgang Bosbach, Fraktionsvize der
CDU/CSU)
„Wir haben bekanntlich einen
Streit um das so genannte Kirchenasyl. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass man die Erwägungen, die aus einem solch moralisch
engagierten Personenkreis eingebracht werden können, nicht erst
nach Abschluss eines rechtlichen
Verfahrens einbezieht. Darüber
denke ich nach.“
dern“ mit 23% mehr als 2 1/2 mal
so groß wie der Anteil an der Bevölkerung. Auch der Anteil an den
Erwerbslosen ist doppelt so hoch.
Gleichzeitig sei der Anteil der erwerbstätigen
Migranten/innen
drastisch zurückgegangen: „1985
lebten in der Bundesrepublik
Deutschland ca. 4 Millionen Ausländer. Von ihnen waren ca. 2 Millionen sozialversicherungspflichtig
DM und auf die Sozialversicherungsbeiträge über 40 Mrd. DM.
1995 haben die zwischen 1988
und 1995 nach (West-) Deutschland zugewanderten Personen
mehr als 35 Mrd. DM an Steuern
und Sozialversicherungsbeiträgen
aufgebracht. Da sich die Ausgaben
für die Immigranten, inklusive 5,5
Mrd. DM für Asylbewerber, nur auf
20 Mrd. DM beliefen, ergab sich
Asyl ist
keine
Handelsware
(Otto Schily in: SZ vom 11.3.2000)
Das Asylrecht ist - wieder einmal Gegenstand heftiger innenpolitischer Debatten. Interessanterweise
bildet diesmal die Diskussion um
IT-Fachleute und green-card die
Auftaktmusik. Nachdem die Union
ein Einwanderungsgesetz jahrelang kategorisch ablehnte, hat sie
sich nun an die Spitze der Bewegung gesetzt und eine Sortierung
verschiedener Gruppen von Migranten/innen nach ihrer Nützlichkeit für die deutsche Volkswirtschaft gefordert. Eine „an den Interessen der Bundesrepublik
Deutschland orientierte Zuwanderungssteuerung“ sei „das Gebot
der Stunde“, so Wolfgang Bosbach. Umsetzen will die CDU/CSU
dies mithilfe von Quotenregelungen in Form einer gesetzlichen Beschränkung der Zahl der Zuwanderer, die nach Auffassung des CSUGeneralsekretärs Thomas Goppel
bei jährlich 500.000 bis 700.000
liegen könnte.
Dass eine stärkere Selektion bei der
Zuwanderung erfolgen muss, leitet
die CDU aus den aktuellen Sozialhilfe- und Arbeitslosendaten ab.
So sei der Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen unter „Auslän-
Foto: Nds. Ministerpräsident Gabriel beim Amtsantritt
beschäftigt. Heute sind es .7,32
Millionen - und weniger als 2 Millionen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt.“
Trotz dieser ungünstigen Strukturdaten, für welche die Politik u.a.
durch Arbeitsverbote und Einschränkungen bei der Arbeitserlaubniserteilung selbst verantwortlich ist, erweist sich die Beschäftigung von Migranten/innen insgesamt unter dem Strich nach wie
vor als ein profitables Geschäft: Die
1995 in Deutschland lebenden
Ausländer, über 7 Mill., haben den
Berechnungen des rheinisch-westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) zufolge auch
Steuern und Beiträge in Höhe von
rund 100 Mrd. DM entrichtet. Davon entfallen auf die direkten und
indirekten Steuern jeweils 30 Mrd.
ein Überschuss für die staatlichen
Finanzen von ca. 15 Mrd. DM.
Der Anteil der Flüchtlinge an der
Gesamtzuwanderung betrug 1999
nur 14% und lag damit so niedrig
wie in den letzten zehn Jahren
nicht mehr. Im ersten Halbjahr
2000 ist nicht nur die Flüchtlingszahl, sondern auch der Anteil der
Flüchtlinge an der Gesamtzuwanderung weiter gefallen. 1990 waren es noch 23%; ihr Anteil stieg in
den Folgejahren auf 28% in 1991
und 36% in 1992. 1993 fiel der
Anteil geringfügig auf 33%. 1994
bis 1998 lag er dagegen zwischen
16% und 17%.
Die Asyldebatte aus den Jahren
1992/93, die im sog. „Asylkompromiss“ ihren vorläufigen Abschluss fand, war insofern, so lässt
17
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
sich vermuten, nicht nur und evtl.
nicht einmal primär eine Folge der
hohen Zuwanderungszahl selbst,
sondern auch ein Effekt des in steigenden Flüchtlingszahlen zum
Ausdruck kommenden tendenziellen Verlusts staatlicher Kontrolle
über die Zuwanderungsstruktur.
Der in der gegenwärtigen Diskussion aufgestellte Zusammenhang
zwischen Zuwanderungsökonomie
und Asylrecht ist also nicht wirklich
neu. Neu ist lediglich die Offenheit, mit der lauthals über die
Steuerung und die Verwertbarkeit
der Arbeitskraft von Migrantinnen
und Migranten unter Einbeziehung auch von Flüchtlingen nachgedacht wird. Bekanntlich werden
nicht nur Computerfachleute, sondern u.a. auch Ingenieure, Pflegekräfte und nicht zuletzt Hilfskräfte
in der Landwirtschaft oder im Gastronomiegewerbe gebraucht und
beschäftigt.
Immer dann, wenn die Flüchtlingszahlen sinken, haben die Apologeten einer Verteidigung des Asylrechts, der „Freiheitsstatue im Hafen unserer Verfassung“ (Burkhard
Hirsch), Konjunktur. Es ist beruhigend, dass Bundespräsident Rau
„eine Art Brandmauer“ zwischen
den Themen „Einwanderung“ und
„Asyl“ errichten will. Auch die bisherigen Verlautbarungen aus der
SPD sowie von Bündnis90/DIE
GRÜNEN, die unisono den Rechtsanspruch auf Asyl verteidigen und
ein Asyl-Gnadenrecht ablehnen,
stimmen hoffnungsvoll. Schily ist
mit seiner Überlegung, das individuelle Asylrecht zu streichen und
die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, um auf diese Weise einen
„Spielraum“ für Zuwanderung zu
gewinnen, „die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht“,
bislang in der SPD isoliert.1 Dennoch hält er weiterhin verbissen an
seiner Absicht fest, das Grundrecht
auf Asyl aus der Verfassung zu
streichen und in die Überprüfung
von Asylentscheidungen Vertreter/innen von Kirchen und anderen
gesellschaftlichen Gruppen einzubinden (s. Eingangszitat). Kirchenasyl und andere Formen des Protestes könnten auf diese Weise, so
das Kalkül, paralysiert werden.
Paralysieren läßt sich der Rechtsweg gegen ablehnende Asyl-Entscheidungen auch in Schilys Gnadenmodell wohl kaum.
18
Die Genfer Flüchtlingskonvention
schreibt eine gerichtliche Überprüfung von Asylentscheidungen zwar
zwingend vor, sondern lediglich eine unabhängige Beschwerdeinstanz. Um Klagen gegen ablehnende Asylentscheidungen zu unterbinden, wäre allerdings u.a. die
Abschaffung des Grundrechts auf
Asyl sowie eine Einschränkung der
Rechtswegegarantie des Art. 19
GG zwingend erforderlich. Fraglich
erscheint, ob es überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist, die
Rechtswegegarantie, welche eine
Kontrolle der Behörden durch die
Gerichte sicherstellen soll, für
Flüchtlinge einzuschränken. Aber
selbst wenn die Überprüfung von
Entscheidungen des Bundesamtes
zum Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Genfer Konvention einer gerichtlichen Kontrolle
entzogen wäre, könnten die Betroffenen sich auf die EMRK oder
die Anti-Folter-Konvention berufen
und ablehnende Entscheidungen
gerichtlich, nach einer Erschöpfung des Rechtswegs beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen.
Allen hehren Erklärungen zur „uneingeschränkten Anwendung“ der
Genfer Flüchtlingskonvention zum
Trotz ist im Übrigen unverkennbar,
dass diese durch eine ganze Reihe
von administrativen und gesetzlichen Maßnahmen unterhalb der
Ebene einer Abschaffung des AsylGrundrechts schon jetzt massiv unterlaufen wird: durch Drittstaatenregelung, nur temporären Schutz
für Bürgerkriegsflüchtlinge, restriktive
Rechtsauslegung,
Abschreckungsmaßnahmen und Kriminalisierung und durch Senkung
der Rechtsmittelquote, weil Anwälte aufgrund der Leistungsverweigerung nicht mehr bezahlt
werden können.
Der erneute Angriff von Schily und
der CDU/CSU auf das Asyl-Grundrecht erscheint vor diesem Hintergrund derzeit relativ aussichtslos.
Dass die Front der Verteidiger eines
individuellen
Asylrechts
und
Rechtsschutzes lange hält, wenn
der Anteil der Flüchtlinge an der
Gesamtzuwanderung wieder einmal steigen sollte, muss angesichts
der Erfahrungen von 1992/93 jedoch bezweifelt werden. Der im
öffentlichen Drama hergestellte
Zusammenhang zwischen einer
„nationalen Interessen“ dienenden
Einwanderung von Arbeitskräften
einerseits und einer Kosten verursachenden Einwanderung von
Flüchtlingen andererseits dürfte
insbesondere dann virulent werden, wenn es entsprechend den
Vorstellungen von Schily und der
CDU/CSU zur Festlegung von
Höchstquoten für die Gesamteinwanderung kommt, auf welche die
Zahl der nach jetziger Rechtslage
nicht quotierbaren Flüchtlinge angerechnet würde.
Am Ende könnte es ein Ergebnis
der neuen Asyldebatte sein, dass
sich nichts verändert. Rot-grün
wird die standhafte Verteidigung
des Grundrechts auf Asyl in den
Vordergrund rücken und es dabei
bewenden lassen. Eine Anerkennung auch nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund wird aller Voraussicht nach solange nicht realisiert, wie die Aufnahme von Zuwanderern unter Einbeziehung
von Flüchtlingen nicht quotiert
wird. Bis heute hat es die rot-grüne Bundesregierung nicht einmal
fertig gebracht, das Arbeitsverbot
für Flüchtlinge aufzuheben, von einer Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ganz zu schweigen.
1 Auch der niedersächsische Innenminister Heiner Bartling hat in einem Brief
an den Niedersächsischen Flüchtlingsrat vom 5.1.2000 seine öffentlich
geäußerte Unterstützung von Schily zumindest relativiert und erklärt, es gehe
ihm nicht darum, die Schutzgewährung für Flüchtlinge in Deutschland
einzuschränken. Paul Middelbeck ergänzte als Vertreter des niedersächsischen Innenministeriums auf der Jahreshauptversammlung des niedersächsischen Flüchtlingsrats am 8.4.2000,
Niedersachsen wolle an der Rechtsmittelgarantie des Art. 19,4 GG nicht rütteln. Ministerpräsident Gabriel hat
schließlich am 13.7. im Namen der Landesregierung erklärt, Niedersachsen
wolle mit einer sog. Blue Card Spitzenkräfte ins Land holen, aber dies nicht
mit Forderungen nach einer Abschaffung des Grundrechts auf Asyl verknüpfen und damit „wie die Bayern
Überfremdungsängste schüren“.
Asyl
ist keine
Handelsware
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Asyl in Deutschland
Günter Werner, Rechtsanwalt
E
s ist ruhig geworden um das
Asylrecht. Verfolgt man die tägliche Presse, so finden sich nur
noch relativ selten Berichte über
Flüchtlinge, die nach Deutschland
gekommen sind. In regelmäßigen
Abständen berichten dagegen die
Behörden von den neuesten Asylbewerberzahlen. Die im Laufe der
Jahre durchgeführten Gesetzesänderungen haben nach offizieller
Lesart vollen Erfolg: Die Zahl der
neu gestellten Asylanträge in
Deutschland ist im Jahre 1998
erstmals seit 1990 unter 100.000
gesunken. Für 1999 kann ein weiterer Rückgang erwartet werden.
Im Jahre 1992 lag der Höchststand
bei 438.000. Zugleich stieg die
Zahl der Abschiebungen sprunghaft an.
Hintergrund für diese Entwicklung
sind die grundlegenden Gesetzesänderungen im Bereich des Asylrechts seit Beginn der 80er Jahre.
Einen vorläufigen Höhepunkt fanden diese Gesetzesänderungen im
Jahre 1993, als mit Hilfe der SPD
die sog. Asylrechtsnovelle verabschiedet wurde. Diese Asylrechtsrechtsnovelle schränkt in bisher
beispielloser Weise das Grundrecht
auf Asyl ein. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland wurde ein Grundrecht aus dem Grundrechtskatalog
des ersten Abschnitts des Grundgesetzes derart beschnitten. Viele
Experten sprechen davon, dass das
Grundrecht auf Asyl mit den Gesetzesänderungen faktisch abgeschafft worden sei. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, ist dies
nicht übertrieben.
Durch die sogenannte Drittstaatenregelung wurden sämtliche
Flüchtlinge, die über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland kommen, vom
Asylrecht schlicht ausgeschlossen.
Sie können selbst bei nachgewiesener politischer Verfolgung nicht
als Asylberechtigte anerkannt werden.
Weiterhin wurden die sog. verfolgungsfreien Staaten eingeführt.
Der Asylantrag eines Flüchtlings,
der aus einem solchen durch die
Bundesregierung als „verfolgungsfrei“ bezeichneten Land kommt, ist
per Gesetz „offensichtlich unbegründet“ mit der Folge, dass
Rechtsmittel gegen einen solchen
Bescheid die Abschiebung nicht
hindern.
Wesentliche Änderungen betreffen das Asylverfahrensgesetz.
So wurden Mitwirkungspflichten
des Flüchtlings mit einschneidenden Konsequenzen bei Nichtbeachtung normiert. Wer z.b. sein
Asylverfahren länger als einen Monat nicht betreibt, dessen Verfahren wird eingestellt, er wird so behandelt, als habe er seinen Antrag
zurückgenommen. Ein anwaltlich
vertretener Flüchtling muss sich
das Verschulden seines Anwalts
zurechnen lasse. Durch Ausschlussfristen wird ein ergänzendes Vorbringen im Lauf des Verfahrens
unmöglich gemacht bzw. erheblich erschwert. Wer nicht bereits in
der Anhörung vor dem Bundesamt
alles lückenlos vorbringt, muss damit rechnen, später mit Ergänzungen oder zusätzlichem Vorbringen
zurückgewiesen zu werden. In Verwaltungsgerichtsurteilen wird das
dann als sog „gesteigertes Prozessvorbringen“ bezeichnet, das den
gesamten Vortrag unglaubhaft
mache.
Der erste Satz dieses Artikels über die Realität des
Asylrechts stimmt nicht mehr, denn er ist 1999 entstanden. Inzwischen ist es wieder unruhig geworden
um das Asylrecht, Schily u. Co. fordern Beschneidung oder absolut endgültige Abschaffung, getarnt
als „europäische Harmonisierung“. Und die Partei,
die an der Abschaffung des Asylrechts maßgeblich
beteiligt war, versucht sich als Verteidigerin dieses
von ihnen selbst geplünderten Grundrechts zu profilieren, indem ihr Vortänzer des Inneren den Advocatus diabolus gibt. Dieses Szenario beinhaltet auch eine Aufwertung des beschnittenen Grundrechts. In
der Debatte finden sich die, die bisher die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl angeprangert hatten,
unversehens in der Rolle von VerteidigerInnen seiner
Reste wieder. Eine gefährliche, widersprüchliche Rolle, die den KritikerInnen da zugeschanzt wird, am
Ende wirken wir gar noch mit an der Polierung des
Totenschädels, den die große Anti-Flüchtlings-Koalition übriggelassen hat vom Grundrecht auf Asyl.
Umso wichtiger, den Scheinwerfer wieder umzudrehen auf die Asylrechts-Plünderung, wie Rechtsanwalt Werner das tut. (M. W.)
Die Berufung als zweite Instanz ist
faktisch abgeschafft. Sie kann
zwar durch einen Beschluss des
zuständigen OVG zugelassen werden. Die Praxis dieser Zulassung
seit 1993 zeigt aber, dass hier die
pure Willkür herrscht: wollen die
zuständigen OVG-Richter eine Berufung zulassen, so tun sie es. In
den meisten Fällen wollen sie es
nicht. Es sind im Gesetz drei Konstellationen vorgesehen, in denen
eine Berufung zugelassen werden
kann:
Foto: Lars Klingbeil
19
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
- wenn die Sache grundsätzliche
Bedeutung hat
- wenn das VG-Urteil von einer
Entscheidung des eigenen OVG
abweicht
- wenn grundlegende Verfahrensregeln missachtet wurden.
Im Bereich des „grundsätzlichen
Bedeutung“ ist praktisch alles
möglich, zumal das OVG seine
Entscheidung nicht mit Gründen
versehen muss. Es ist für den einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen, warum in diesem und jenem
Fall die Berufung nicht zugelassen,
in anderen aber zugelassen wurde.
Ich komme nach mehr als 6 Jahren
Praxis nach dem neuen Gesetz zu
der Überzeugung, dass eine
„grundsätzliche Bedeutung“ immer dann angenommen wird,
wenn das OVG - aus welchen
Gründen auch immer - meint, die
Sache selbst entscheiden zu müssen.
Asyl
ist keine
Handelsware
Ein besonders krasses Beispiel für
die OVG-Praxis der letzten Jahre
liefert das OVG Bremen im Falle
der Entscheidung über Flüchtlinge
aus Togo. Hier ging es vor allem
um die zentrale Frage, ob aufgrund der in Togo herrschenden
Verhältnisse prinzipiell jeder
Flüchtling bei einer Abschiebung
bereits allein wegen seiner Asylantragstellung gefährdet wäre. Zu
dieser Frage haben sich, soweit ich
das überblicke, im Laufe der Jahre
sämtliche OVGs der Bundesrepublik Deutschland geäußert, mit
durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. So gingen für mehrere Jahre die OVGs in Greifswald, Saarlouis und Magdeburg von einer beachtlichen
Verfolgungswahrscheinlichkeit allein aufgrund einer
Asylantragstellung aus.
Normalerweise sollte man denken,
dass in einer solchen Situation -unterschiedliche Auffassungen verschiedener OVGs zu derselben Frage - die „grundsätzliche Bedeutung“ gegeben sein müsste. Das
OVG Bremen sah dies anders, es
hat in keinem einzigen Fall die Berufung zugelassen, auch nicht in
dem Fall, in dem - aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten - die
Ehefrau in Greifswald als Flüchtling gem. § 51 AuslG anerkannt
wurde, der Ehemann jedoch in
Bremen abgelehnt wurde.
20
Die unter prozessualen Gesichtspunkten erschreckendste Entwicklung sehe ich im Bereich der Berufungszulassung wegen Verfahrensmängeln. Hierunter fällt - abgesehen von Verstößen gegen rein
formale Regeln wie Zuständigkeit,
Besetzung des Gerichts etc - vor allem das Umgehen des Verwaltungsgerichts mit gestellten Beweisanträgen. Die rechtswidrige
Ablehnung eines Beweisantrages
stellt einen Eingriff in das prozessuale Grundrecht des rechtlichen
Gehörs dar. Dieses Grundrecht - im
GG in Art. 103 Abs. 1 normiert:
vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör - ist
eines der wichtigsten Grundrechte
des Rechtsstaats. Der Anspruch,
vor Gericht gehört zu werden, ist
grundlegende Voraussetzung für
ein faires, rechtsstaatliches Verfahren.
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mache ich als Anwalt regelmäßig die Erfahrung, dass Beweisanträge als lästig betrachtet werden. Unterschwellig, bisweilen
auch offen wird mir unterstellt, ich
missbrauche das Mittel des Beweisantrages, um das Verfahren unzulässig in die Länge zu ziehen
oder um überhaupt das Gericht zu
ärgern und es am zügigen Durchführen des Verfahrens zu hindern.
Dabei sind Beweisanträge oftmals
ein entscheidendes Mittel, um bestimmte Verhältnisse aufzuklären
oder zu erklären, um zusätzliche
Informationen zu beschaffen, die
für die Entscheidung erheblich sein
können.
Im Verfahren um die Zulassung der
Berufung wird dann die rechtswidrige Ablehnung eines Beweisantrages als Verstoß gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen - und die Zulassung der
Berufung dann regelmäßig abgelehnt. Die OVGs decken, hier praktisch alles ab, was auf der Ebene
der VGe gemacht wird. Die Begründungen sind teilweise abenteuerlich.
Eine wichtige Rolle spielen im Asylverfahren Sachverständigengutachten. Es kann kein Verwaltungsrichter von sich behaupten, alle
Verhältnisse in allen Ländern zu
kennen und beurteilen zu können.
Stellungnahmen von ai, GfbV, UNHCR, Orient-Institut, Südasieninsti-
tut, Institut für Afrika-Kunde etc.
spielen daher eine große Rolle. Regelmäßiger und stereotyper Ablehnungsgrund für die verweigerte
Hinzuziehung eines Sachverständigengutachtens ist die angeblich
vorhandene eigene Sachkunde des
Gerichts. Regelmäßig findet sich
kein Wort darüber, woraus sich die
Sachkunde des Gerichts ergeben
soll. Die OVGs decken in der Regel
die Ablehnungen durch die VGe.
Eine besondere und oft fatale Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sog. Lageberichte des
Auswärtigen Amts. Oft scheinen
diese Berichte einzige Entscheidungsgrundlage zu sein, obwohl
die Bundesregierung kürzlich
selbst eingestehen musste, dass
diese Berichte häufig geschönt
sind und die Wirklichkeit in den
Ländern kaum realistisch wiedergeben. Auch hier sollte man denken, es sei ein Fall der „grundsätzlichen Bedeutung“ gegeben, wenn
z.b. das AA in einer Frage
grundsätzlich anderer Auffassung
ist als maßgebliche und anerkannte Sachverständige oder Gutachter.
Doch auch hier weit gefehlt. Die
OVGs scheren sich in der Regel wenig darum, dass Gutachter und Institutionen anderer Meinung sind
als das AA.
In den weitaus meisten Fällen (sicherlich über 95 %) werden die Zulassungsanträge abgelehnt. Einige
OVGs (Münster, Lüneburg) geben
regelmäßig keinen Satz der Begründung für ihre Entscheidungen.
Entscheidend ist, dass grundsätzlich eine inhaltliche Überprüfung
der Entscheidung des VG nicht
mehr möglich ist. D.h. die Bewertung des Asylantrages durch das
Gericht ist in der Regel einer Überprüfung entzogen. Das Verfahren
ist damit praktisch auf eine Gerichtsinstanz verkürzt. Eine der
grundlegenden Regeln des Rechtsstaats, Garantie des Zugangs zu
gerichtlichen
Entscheidungen
einschließlich eines Instanzenzuges, ist damit prinzipiell durchbrochen.
Leider hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 die Asylrechtsnovelle grundsätzlich gebilligt. Es hat entschieden, dass das
Asylrecht nicht zu den unverzicht-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
baren Grundrechten gehört, dass
es also dem Verfassungsgesetzgeber frei stehe, das Asylrecht auch
abzuschaffen. Viele hatten große
Hoffnungen in die Entscheidung
des BVerfG gesetzt, weil sie glaubten, dass zumindest die Richter in
Karlsruhe sich unbeeindruckt von
dem enormen politischen und gesellschaftlichen Druck zeigen würden, unter dem die Debatte um
das Asylrecht stand. Sie wurden
enttäuscht.
Rechtsprechung hat aber dem
Flüchtling die „Darlegungslast“
auferlegt: er muss die Umstände
darlegen und im Zweifel beweisen,
aus den auf eine Verfolgung geschlossen werden kann.
In der Praxis hat das fatale Auswirkungen: wer bringt schon die Beweise für seine Verfolgung
schwarz auf weiß mit ? Zwar hat
das BVerfG vor Jahren darauf hingewiesen, dass eine Asylsuchender
quasi naturgemäß in einer Lage
möglichst auf niedrigstem Niveau
zu halten. Und es wäre der Sache
der Richter, gegen die damit verbundene Entrechtung anzugehen.
Das Extrem - bislang, soweit ich sehen kann, nur als Ausnahme in die
Tat umgesetzt - sind die Asylrichter, die ausschließlich Asylverfahren führen und ihren Sitz gleich in
der „Aufnahmeeinrichtung“, d.h.
im Flüchtlingslager haben. Es ist
nicht abwegig, solche Gerichte als
Lagergerichte zu bezeichnen.
Das BVerfG hat in
vielen Entscheidungen vom „Menschenbild
des
Grundgesetzes gesprochen“, an dem
sich die Gesetze
messen lassen müssen. Im Bereich des
Asylrechts bekommt
man manchmal den
Eindruck, die hier
Betroffenen, Flüchtlinge, Asylsuchende
gehören nicht zu
den Menschen, deren Bild durch das
Grundgesetz besonders geprägt ist.
Auch der konkrete
Umgang mit den
Asylsuchenden vor
Gericht ist - von
Ausnahmen abgesehen - erschreckend. Mehr als einmal haben sich Besucher nach einer Gerichtsverhandlung schockiert gezeigt und geäußert, sie hätten
nicht gewusst, dass so etwas in
unserem Rechtsstaat möglich ist.
In vielen Fällen, vermutlich in den
meisten Fällen, ist der Grundtenor,
mit dem Asylsuchenden im Gericht
begegnet wird: alles ist gelogen,
du bist eigentlich hier, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen.
Gilt im Strafverfahren trotz aller
auch hier eingeführten Änderungen und Einschränkungen immer
noch der Grundsatz „in dubio pro
reo“, so ist es im Asylverfahren gerade umgekehrt: im Zweifel gegen
den Flüchtling. Zwar gilt hier immer noch offiziell der verwaltungsgerichtliche Grundsatz der „Ermittlung des Sachverhalts von Amts
wegen“, d.h. eigentlich ist es Sache des Gerichts, den Sachverhalt
erschöpfend zu ermitteln. Die
Foto: Göttingen / Flüchtlinge am Bad Grund
der „Beweisnot“ sei, eben weil typischerweise die Beweis für die politische Verfolgung nicht mitgebracht werden können. Die sich
hieraus ergebenden Konsequenzen für das Verfahren - wohlwollende Beurteilung des eigenen Vorbringens - sind längst von der
Wirklichkeit der Asylverfahren
überholt worden.
Bei den meisten Verwaltungsgerichten ist es heute die Regel, dass
die Verfahren von Einzelrichtern
entschieden werden. Ein einziger
Mensch entscheidet hier über
Schicksale, manchmal über Leben
und Tod, und das ohne eine richtige zweite Instanz. Werden Richter
nach dieser Problematik befragt,
verweisen sie meist auf die unzureichende Ausstattung der Gerichte und die Überlastung mit Asylverfahren.
Doch diese unzureichende Ausstattung der Gerichte gehört mit
zu dem Konzept, das Asylrecht
Eines dieser Gerichte befindet sich
im Lager Boizenburg an der Elbe.
Parallel zu den gesetzlichen Einschränkungen des Asylverfahrensrechts hat sich die Rechtsprechung
zum Asylrecht entwickelt.
Die „politische Verfolgung“ ist inzwischen - etwas übertrieben gesprochen - eine Art Phänomen,
dem man vergebens hinterher
jagt. Dass Folter und Todesstrafe
nach dieser Rechtsprechung als
solche keine politische Verfolgung
sind, ist bekannt. Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen fallen
in der Regel nicht unter den Begriff
Politische Verfolgung, Verfolgung
von Kriegsdienstgegnern und Verweigerern ebenfalls nicht.
Das Bundesverwaltungsgericht hat
- im Gegensatz zu den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskommission - wiederholt und eindeutig entschieden,
dass politische Verfolgung im Sin21
Grundrecht auf Asyl und Einwanderun
ne des Asylrechts nur dann angenommen werden kann, wenn es
eine staatliche Verfolgung ist oder
sie zumindest dem Staat zuzurechnen ist.
Asyl
ist keine
Handelsware
Eine bedeutsame Rolle spielt für
die politische Verfolgung die vom
Bundesverfassungsgericht
entwickelte Differenzierung zwischen
den Flüchtlingen, die als „vorverfolgt“ gelten und denen, die als
„unverfolgt ausgereist“ gelten. Nur
wer als „vorverfolgt“ anzusehen
ist, hat einigermaßen sicheren
Schutz vor Abschiebung. es muss
sichergestellt sein, dass ihm bei einer Rückkehr ins Heimatland nicht
erneut Verfolgung droht. Dies
kann von kaum einem der Herkunftsländer gesagt werden. Wer
aber als „unverfolgt“ ausgereist
betrachtet wird, dem wird nur
dann Schutz gewährt, wenn er bei
einer Rückkehr mit „beachtlicher
Wahrscheinlichkeit“ Verfolgung
befürchten muss.
Um die Stufe der „beachtlichen
Wahrscheinlichkeit“ einer Verfolgung bei Rückkehr zu überwinden,
muss schon einiges passieren: es
muss praktisch jeder Rückkehrer
als konkret gefährdet angesehen
werden können, was in der Realität kaum geht: wenn alle gefährdet sind, warum kommen nicht alle im Heimatland um ?
Eine immer wichtigere Rolle hat in
den letzten Jahren der § 53 AuslG
gespielt, also Abschiebungshindernisse wegen Gefahr für Leib oder
Leben, unabhängig von einer politischen Zielsetzung. Mancher gutwillige Verwaltungsrichter hat hier-
in seine Zuflucht gesucht, wenn er
sich aufgrund der rigiden Rechtsprechung zur politischen Verfolgung gehindert sah, weitergehend
zu entscheiden. Diesen Versuchen
hat das Bundesverwaltungsgericht
schnell ein Ende gesetzt. Es muss
im Einzelfall konkret belegt werden, dass der betreffende Flüchtlinge persönlich von der Gefahr für
Leib oder Leben betroffen ist. Das
ist praktisch kaum möglich - die
Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG ist inzwischen fast schwerer zu erreichen als die Anerkennung als
Flüchtling.
Eine in letzter Zeit zu beobachtende Tendenz betrifft den Widerruf
von Asylanerkennungen. Diese ist
nach dem Gesetz vorgesehen,
wurde jedoch bis heute nur relativ
wenig praktiziert. Das hat sich
geändert. In jüngster Zeit gibt es
ein Flut von Widerrufen (Togo). Albanien). Widerrufe von Anerkennungen von Kosovo-Albanern sind
angekündigt. Wenn das die Regel
wird, sollte man das Asylrecht ehrlicherweise abschaffen und durch
eine vorübergehende Aufnahme
ersetzen.
Asylrecht als Versuchsfeld für
Grundrechtsverkürzungen insgesamt
Wenn wir heute über das Asylrecht
reden, müssen wir daher über den
Zustand des Rechtsstaats insgesamt reden. Unter dem Motto „Beschleunigung, Straffung, Kosteneinsparung“ werden zunehmend vor allem prozessuale Grun-
Bankrottes Asylrecht
Abdalla Fathelrahman hat Deutschland für immer verlassen
Abdalla Fathelrahman wurde von
der amerikanischen Einwanderungsbehörde als politischer
Flüchtling aus dem Sudan anerkannt und konnte Bayern am
15.05. 2000 für immer verlassen.
“Damit hat die Asylgesetzgebung
in diesem Land, allein anhand des
Schicksals von Abdalla den völligen Bankrott erklärt. “Offensichtlich unbegründet” war Abdallas
Asylantrag bereits nach wenigen
Monaten Aufenthalt abgelehnt
worden. Anhörer und Entscheider
beim Bundesamt waren nicht in
22
der Lage oder willens, zu erkennen, dass vor ihnen ein schwer
traumatisierter Mensch stand.
Von insgesamt 26 Monaten Aufenthalt in Deutschland verbrachte
Abdalla 11 Monate in Abschiebehaft und Psychiatrie. Trotz schwerer Retraumatisierung, ausgelöst
durch gewaltsame Abschiebeversuche und Abschiebehaft, fanden
sich immer wieder willfährige Mediziner, die Abdalla für reisefähig
erklärten.... “ heißt es in einer
Presseerklärung der Freien Flüchtlingsstadt Nürnberg und der Aktion Grenzenlos vom 16.05.00.
drechte der Bürger eingeschränkt.
Viele Errungenschaften des Rechtsstaates, die ihre Geschichte in
langwierigen Auseinandersetzungen mit obrigkeitlichen und autoritären Staatsordnungen haben,
werden bedenkenlos geopfert. Ein
Bremer Verwaltungsrichter, der
u.a. auch Leiter einer Arbeitsgemeinschaft zur Ausbildung von
Gerichtsreferendaren ist, sagte mir
kürzlich, er wisse nicht , wie er die
neuen Regelungen seinen Referendaren noch als rechtsstaatlich vertretbar vermitteln könne.
Im Bereich des Strafrechts, aber
auch in der Zivilgerichtsbarkeit stehen weitere einschneidende Änderungen an. Die Entwürfe liegen in
der Schubladen der Ministerialbürokratie, es ist nur eine Frage der
Zeit, wann sie auf den Tisch kommen.
Die Kehrseite der Verschärfung des
Asylrechts ist die zunehmende Zahl
von Abschiebungen und die immer
schärfer werdende Praxis der Ausländerbehörden bei Abschiebungen. Niemals waren in den Gewahrsamszellen so viele Abschiebehäftlinge wie heute. In Bremen
soll in Kürze in einer früheren Kaserne eine neue Abschiebehaftanstalt in Betrieb genommen werden. Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, Fotos der neuen Zellen
anzusehen. Es lief mir kalt den
Rücken herunter, als ich die modernen, kalten, klinisch sauberen
und menschenfeindlichen Räume
sah, vom Boden bis zur Decke gekachelt, ohne Fenster (stattdessen
Glasbausteine), mit einer Neonröhre an der Decke. Einem anderen
Betrachter entfuhr spontan die
Äußerung: „Das ist ja Folter“.
Das Asylverfahren ist unter den
geltenden Gesetzen zu einer Farce
geworden. Es hat äußerlich noch
die Form eines rechtsstaatlichen
Verfahrens vor dem VG, in Wahrheit aber hat es keinen wirklichen
rechtsstaatlichen Inhalt mehr und
ist in seinem Kern ein Verfahren
zur Ablehnung von Asylsuchenden. Das Asylverfahren erweist sich
als quasi-rechtsstaatliche Schablone, die den Zweck hat, die offizielle Zielrichtung der Gesetzgebung
und Politik zu vollstrecken.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderun
Flüchtlingshilfe
Das AsylVfG sieht in § 84 vor, dass
mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe
bis zu 3 Jahren bestraft wird,
„wer einen Ausländer verleitet
oder dabei unterstützt, im Asylverfahren ... unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen, um seine Anerkennung ...
zu ermöglichen“.
Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis
10 Jahre ist schließlich vorgesehen,
wer im obigen Sinne „gewerbsmäßig“ handelt. Manchmal mache
ich mir klar, dass ich zu dieser Kategorie von Straftätern gehöre.
Denn: Bedeutet Hilfe und Unterstützung von Asylsuchenden in
ihren Verfahren möglicherweise
automatisch, dass Gesetze verletzt
werden müssen ?
In „besonders schweren Fällen“ ist
Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren angedroht, z.b. wenn der Täter
„wiederholt oder zugunsten von
mehr als 5 Ausländern handelt“.
Diese Frage stellt sich nicht nur mir
und anderen Anwälten, sondern
noch viel verschärfter den vielen
Mitarbeitern von Flüchtlingsinitiativen, von kirchlichen Unterstützer-
gruppen und von anderen, die sich
um die Belange von Flüchtlingen
kümmern. Es ist eine sehr
grundsätzliche Frage nach der Legitimität staatlichen Handelns und
nach den Grenzen des Gehorsams
gegenüber diesem Staat, der für
sich in Anspruch nimmt, ein
Rechtsstaat zu sein, in dem der
Mensch und seine Würde oberster
Wert ist.
Eine spannungsgeladene Formel:
“Wir, das Volk”.
Hannah Arendt und “das Recht, Rechte zu haben”
Ein Plädoyer für die Rechte von Minderheiten,
Flüchtlingen und deportierten Völkern
Seyla Benhabib
I.
M
ein Vortrag ist eine Meditation über Hannah Arendts Satz
“das Recht, Rechte zu haben”. Ich
möchte diese Redewendung zum
Anlass nehmen, um über die ethischen und politischen Dilemmata
nachzudenken, mit denen sich die
Nationalisten heute in einer globalen Weltordnung konfrontiert sehen.
Flüchtlinge und Minderheiten,
Staatenlose und displaced persons
sind jeweils verschiedene Kategorien von Menschen, die durch die
Maßnahmen der Nationalstaaten
gleichsam “geschaffen” wurden.
Denn in einem territorialen System
von Nationalstaaten, das heißt in
einer “Staat-zentrierten” internationalen Ordnung, bedarf der
rechtliche Status einer Person des
Schutzes durch die höchste Autorität, die das Territorium, auf dem
sich die Person aufhält, kontrolliert
und die ihr die erforderlichen Papiere ausstellt.
Menschen werden zu Flüchtlingen,
wenn sie verfolgt, ausgewiesen
oder aus ihrer Heimat vertrieben
werden. Menschen werden zu An-
gehörigen einer Minderheit, wenn
die politische Mehrheit des Gemeinwesens erklärt, dass bestimmte Gruppen nicht zum angeblichen
“homogenen” Volk gehörten.
Menschen werden zu Staatenlosen, wenn der Staat, dessen
Schutz sie bis dahin genossen haben, diesen Schutz verweigert und
die ihnen gewährten Papiere für
nichtig erklärt. Menschen werden
zu displaced persons, wenn sie,
nachdem sie einmal zu Flüchtlingen, Staatenlosen oder zu einer
Minderheit geworden sind, kein
anderes Gemeinwesen finden können, das sie als Mitglieder anerkennen würde, so dass sie zwischen alle Stühle geraten, zwischen Territorien hin- und hergeschoben werden, von denen keines ihnen Aufenthalt gewähren
möchte.
An dieser Stelle folgert Arendt:
“Dass es so etwas gibt wie ein
Recht, Rechte zu haben – und
dies ist gleichbedeutend damit,
in einem Beziehungssystem zu
leben, in dem man auf Grund
von Handlungen und Meinungen beurteilt wird -, wissen wir
erst, seitdem Millionen von
Menschen aufgetaucht sind, die
dieses Recht verloren haben und
zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen. (. . .) Das Recht, das diesem
Verlust entspricht und das unter
den Menschenrechten niemals
auch nur erwähnt wurde, ist in
den Kategorien des 18. Jahrhunderts nicht zu fassen, weil sie annehmen, dass Rechte unmittelbar der ,Natur’ des Menschen
entspringen (. . .) das Recht auf
Rechte oder das Recht jedes
Menschen, zur Menschheit zu
gehören, (müsste) von der
Menschheit selbst garantiert
werden. Und ob dies möglich ist,
ist durchaus nicht ausgemacht.”
Hannah Arendt bemüht sich um
eine “zeitgeschichtliche Diagnose”:
“Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat sich von der Natur genauso emanzipiert wie der
Mensch des 18. Jahrhunderts
von der Geschichte. Geschichte
und Natur sind uns in diesem
Sinne gleichermaßen fremd,
nämlich in dem Sinne, dass das
Wesen des Menschen mit ihren
23
Grundrecht auf Asyl und Einwanderun
Kategorien nicht mehr zu begreifen ist. Andererseits ist die
Menschheit, die für das 18. Jahrhundert, kantisch gesprochen,
nicht mehr als eine regulative
Idee war, für uns zu einer unausweichlichen Tatsache geworden.
Diese neue Situation, in der die
,Menschheit’ faktisch die Rolle
übernommen hat, die früher der
Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen,
dass das Recht auf Rechte oder
das Recht jedes Menschen, zur
Menschheit zu gehören, von der
Menschheit selbst garantiert
werden müsste.”
Die klassischen Ideale der Natur
und der Geschichte sind als philosophische Fundamente durch die
politischen Realitäten des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehöhlt worden. Und das Kantische Ideal der
Menschheit, weit entfernt davon,
bloß regulativ zu sein, ist nun zu
einer “unausweichlichen Tatsache”
von moralischem Gewicht geworden. Diejenigen, die das “Recht,
Rechte zu haben”, einfordern, und
diejenigen, von denen es gefordert
wird, sind selbst Menschen.
Arendt hat die Konzeptionen von
der menschlichen Natur verworfen
und die teleologischen Konzeptionen von der Geschichte in Frage
gestellt, doch was hat sie uns stattdessen anzubieten?
II.
Das “Recht, Rechte zu haben”, lässt sich nur in einer politischen Gemeinschaft verwirklichen, in der
wir nicht nach den Eigenschaften
beurteilt werden, die uns bei unserer Geburt definieren, sondern
nach unseren Handlungen und
Meinungen, nach dem, was wir
tun und sagen und denken. Unser
politisches Leben, so Hannah
Arendt, gründet auf der Annahme,
dass wir Gleichheit durch Organisation erreichen können, da der
Mensch mit seinesgleichen, und
nur zusammen mit diesen, zum
Handeln fähig ist und eine gemeinsame Welt gestalten und umgestalten kann.
Heute würde man sagen, dass
Hannah Arendt ein “ziviles” an24
statt eines “ethnischen” Ideals des
Gemeinwesens und der Zugehörigkeit verteidigt. In der gegenseitigen Anerkennung eines
Zusammenschlusses von Bürgern
als jeweils gleiche Träger von Rechten liegt für Arendt die wahre Bedeutung politischer Gleichheit.
Könnte also die institutionelle –
wenn auch nicht die philosophische – Lösung der Dilemmata der
Menschenrechte in der Etablierung
der Prinzipien eines zivilen Nationalismus zu suchen sein? Natürlich
würde der zivile Nationalismus voraussetzen, dass der Erwerb der
Staatsbürgerschaft auf dem jus soli (Recht des Bodens) beruht, da
das jus sanguinis (Recht des Blutes)
eine dauerhafte Verknüpfung des
Ethnos mit dem Demos zur Folge
hätte, das heißt die Koppelung der
“Mitgliedschaft in einem Staat” an
die “Volkszugehörigkeit”. Zweifellos verficht Arendt ein Ideal der zivilen Nation, das auf einem jus-soli-Modell der Staatsbürgerschaft
basiert. Allerdings besagt ihre Diagnose der Spannungen, die im Ideal des Nationalstaats angelegt
sind, dass es eine noch tiefere Erschütterung seiner institutionellen
Struktur gebe, ein noch tieferes
Unbehagen am “Niedergang des
Nationalstaates und dem Ende der
Menschenrechte”.
Um es zuzuspitzen: Arendt stand
den Idealen einer Weltregierung
genauso skeptisch gegenüber wie
der Frage, ob das System der Nationalstaaten jemals Gerechtigkeit
und Gleichheit für alle würde realisieren können. Einerseits schränke
eine Weltregierung lebenswichtige
Voraussetzungen der Politik ein,
sofern sie es den Individuen nicht
gestatten würde, von sich aus gemeinsam öffentliche Räume zu definieren. Andererseits berge das
System der Nationalstaaten immer
die Gefahr der Aussonderung und
Ungerechtigkeit nach innen und
der Aggression nach außen.
III.
Eine der rätselhaftesten Aspekte
von Arendts Denken bleibt, dass
sie, obwohl sie die Schwächen des
Systems der Nationalstaaten kritisierte, den Idealen einer Weltföderation nicht minder skeptisch gegenüberstand.
Arendts philosophische und politische Ambivalenz gegenüber den
Nationalstaaten bewegt sich auf
mehreren komplexen Ebenen. Das
System der Nationalstaaten, das
infolge der amerikanischen und
Französischen Revolution entstand
und das Ergebnis von Entwicklungsprozessen war, die seit dem
europäischen Absolutismus des
sechzehnten Jahrhunderts am
Werke waren, basiert auf der
Spannung und bisweilen auf dem
eklatanten Widerspruch zwischen
dem “Staat” und der “Nation” einerseits und den “Menschenrechten” und dem Prinzip der “Souveränität” andererseits.
Welche Schlussfolgerungen können wir aus den historischen und
institutionellen Widersprüchen in
der Idee des Nationalstaats ziehen? Ist Arendts widerwillige Akzeptanz dieser politischen Formation eine Konzession an den politischen Realismus und historische
Zwänge?
Das Experiment des modernen
Staates lässt sich meines Erachtens
jedoch auch anders analysieren,
ohne die Entwicklung der Nation
im Sinne von rückschrittlichen
Ideologien der Abstammung, der
Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit oder von “Blut und Boden” deuten zu müssen. Im Gegensatz dazu lässt sich die Entwicklung eines demokratischen
Volkes mit einer besonderen Geschichte und Kultur auch als die
ständige reflexive Transformation
und experimentelle Neubestimmung einer kollektiven Identität
begreifen.
IV.
“Wir, das Volk”, um nur das amerikanische Beispiel zu nehmen,
schloss ursprünglich nicht die
nichtweißen Völker ein, die amerikanischen Sklaven, die nur zu drei
Fünfteln die Rechte der Person genossen; noch gewährte die Unabhängigkeitserklärung den Frauen
die volle Staatsbürgerschaft oder
das Wahlrecht. Deren Status wurde durch eine Prozedur, die als
“couverture” bezeichnet wird, von
dem ihrer Ehemänner abhängig
gemacht. Und in vielen Fällen sa-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderun
hen die Verfassungen der dreizehn
Kolonien auch für die dort sesshaften Anhänger des jüdischen Glaubens nicht den vollen Genuss der
Freiheitsrechte und der politischen
Rechte vor. So viel zum amerikanischen Fall.
Das Zeitalter der Revolutionen in
Europa von 1789 bis 1848 ist
natürlich geprägt vom Kampf verschiedener Gruppen gegen solche
Formen des Ausschlusses und für
den Erhalt der vollen Staatsbürgerrechte. Das souveräne “Wir” der
modernen Nation schloss ursprünglich weder die Arbeiter ein
noch die Arbeitsgesellen, die Frauen oder die Besitzlosen. Noch erachtete man die nichtweißen,
nichtchristlichen Völker der Selbstgesetzgebung fähig.
Die Geschichte der politischen Moderne ist die Geschichte von dem
Kampf ausgeschlossener Gruppen
für die Aufnahme in den Kreis der
Adressaten jener universalen Aussage: “Alle Menschen sind gleich
geschaffen”. Sie sind es jedoch offensichtlich nicht.
Vielmehr sind es die politischen
Kämpfe in der Geschichte, die
Gründung von Institutionen und
das Lernen aus vergangenen
Kämpfen und Niederlagen, die kulturellen Transformationen und
Umgestaltungen, die diese Gleichheit zu einem historischen Prinzip
machen. Der Konflikt zwischen
dem Universalen und dem Partikularen, zwischen den Prinzipien der
Menschenrechte und der Souveränität eines konkreten Volkes ist einer zwischen Inklusion und Exklusion.
Die Abgrenzungen des “Wir” werden bestritten und sind bestreitbar,
jedoch nicht nur innerhalb der
imaginären Gemeinschaft dieses
“Wir” des souveränen Volkes. Im
System der Nationalstaaten bedeutet Souveränität immer auch die
Hoheit über ein eingegrenztes Territorium. Das “Wir” wird eine Einheit, indem es seine Grenzen gegenüber “Anderen”, Fremden,
Ausländern und Flüchtlingen definiert, überwacht und schließt.
Die moderne Staatenwelt gründet
auf dem Prinzip der “territorialen”
Staatsbürgerschaft. Es wird immer
Andere innerhalb und außerhalb
des souveränen Volkes geben. Ohne diese Fähigkeit des modernen
Staates, sein Territorium zu definieren und zu verteidigen, würde das
Prinzip der Souveränität irrelevant.
Die Frage, mit der wir uns heute
befassen wollen, ist jedoch: Kann
das territorial definierte Prinzip der
Volkssouveränität, das wir vom
Westfälischen Friedensvertrag ererbt haben, in einer zunehmend
globalisierten Welt noch mit dem
Prinzip der Achtung der universalen Menschenrechte vereinbart
werden? Können Demokratien mit
der juristischen Illusion geschlossener Grenzen leben?
Offensichtlich nicht. Eben weil die
Prinzipien der Souveränität und
der Menschenrechte für die moderne Nation konstitutiv sind, ist es
das Zusammenspiel zwischen ihnen, das in juristischer wie in politischer, in institutioneller und in
kultureller Hinsicht die Erfahrung
demokratischer Identitäten definieren wird. Arendt erlebte die
Auflösung des westfälischen Modells in Europa, aber nicht seine
Transformation – das Alte war zusammengebrochen, das Neue
noch nicht in Sicht. Wo aber stehen wir heute?
V.
Während die Globalisierung im
Schwindel erregenden Tempo fortschreitet und eine materielle globale Zivilisation die Welt von Hongkong bis Lima, von Pretoria bis
Helsinki umspannt, geht die weltweite Integration in Wirtschaft,
Kommunikation, Information und
Rüstung mit der allgemeinen kulturellen Desintegration älterer politischer Gemeinwesen einher. Im
Prozess der Globalisierung und
gleichzeitigen Fragmentierung geraten Menschenrechte und Souveränitätsansprüche zunehmend
miteinander in Konflikt. Einerseits
wächst weltweit das Bewusstsein
für die universalen Prinzipien der
Menschenrechte; andererseits werden partikularistische Identitäten
im Sinne von Nationalität, Ethnizität, Religion, Rasse und Sprache,
auf Grund deren man einem souveränen Volk angehören soll, mit
zunehmender Schärfe behauptet.
Anstatt eine “kosmopolitische
Ordnung” herzustellen, einen Zustand des ewigen Friedens zwischen den Völkern, die sich von
den Prinzipien einer republikanischen Verfassung leiten lassen
(Kant), hat die Globalisierung den
Konflikt zwischen den Menschenrechten und den souveränen
Selbstbestimmungswünschen von
Kollektiven eher verschärft.
Welche Formen der Immigration
und der Naturalisation und welche
Staatsbürgerschaftspraktiken
wären nun mit den Menschenrechten vereinbar, auf die sich die
liberaldemokratischen Staaten ver25
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
pflichtet haben? Können Ansprüche auf souveräne Selbstbestimmung mit der gerechten und
fairen Behandlung von Ausländern
und anderen, die in unserer Mitte
leben, vereinbart werden?
VI.
Keine liberale Demokratie, so meine These, kann seine Grenzen
schließen. Die Durchlässigkeit der
Grenzen stellt eine notwendige,
wenn auch keine hinreichende Bedingung für liberale Demokratien
dar. Ebenso kann keine souveräne
liberale Demokratie das Recht verlieren, eine Immigrations- und
Aufnahmepolitik zu verfügen. In
diesem Kontext kann man die Bedingungen für die Einreise in ein
Land – wie die Erlaubnis zu arbeiten, Freunde und Verwandte zu
besuchen, zu studieren und Güter
zu erwerben – von den Bedingungen eines befristeten Aufenthalts
unterscheiden und diese wiederum
von den Bedingungen des unbefristeten Aufenthalts und der zivilen
Integration, die in der politischen
Mitgliedschaft gipfelt. Es handelt
sich hier um verschiedene Stufen
der politischen Integration, die in
der theoretischen Debatte häufig
miteinander vermengt werden,
aber sich analytisch unterscheiden
lassen.
Auf jeder dieser Stufen werden die
Rechte und Ansprüche von Ausländern, Gästen und Fremden von
souveränen Gemeinwesen geregelt; aber die entsprechenden Regelungen können eingehend ge-
prüft, diskutiert, angefochten und
zum Gegenstand von Protesten
gemacht werden von denjenigen,
auf die sie zutreffen, von deren
Anwälten und von nationalen wie
internationalen Menschenrechtsgruppen. Es gibt keinen Schritt in
diesem Prozess, der der Überprüfung durch die Betroffenen entzogen werden könnte.
Demokratische Souveränität in der
Immigrations- und Integrationspolitik ist kein uneingeschränktes
Recht; das Selbstbestimmungsrecht eines bestimmten Volkes
muss im Lichte der Verpflichtung
dieses Volkes auf die universalen
Menschenrechte überprüft und
bewertet werden.
Die Behandlung von Fremden,
Ausländern und anderen, die in
unserer Mitte leben, ist ein entscheidender Prüfstein sowohl für
das moralische Gewissen als auch
für die politische Reflexivität liberaler Demokratien. Die Definition der
Identität einer souveränen Nation
hat selbst den Prozesscharakter einer fließenden, offenen und heiß
umkämpften öffentlichen Debatte:
Die Trennlinien zwischen “wir” und
“ihr”, “uns” und “ihnen” beruhen
meist auf unreflektierten Vorurteilen, uralten Konflikten, historischem Unrecht und bloßen Verwaltungsentscheidungen. Die Anfänge jedes modernen Nationalstaats tragen immer auch die Anfänge von Gewalt und Unrecht in
sich. Insofern hat Carl Schmitt
Recht. Trotzdem sind moderne liberale Demokratien sich selbst beschränkende Kollektive, die die Nation als Souverän konstituieren
und dabei gleichzeitig verkünden,
dass die Souveränität dieser Nation
ihre Legitimität durch die Einhaltung fundamentaler Menschenrechtsprinzipien bezieht. “Wir, das
Volk” ist eine spannungsgeladene
Formel, in deren Artikulation bereits die konstitutiven Widersprüche zwischen der Achtung der
universalen Menschenrechte und
der national umgrenzten Souveränitätsansprüche enthalten ist.
Die Rechte von Fremden und Ausländern, seien es Flüchtlinge oder
Gastarbeiter, Asylbewerber oder
Abenteurer, definieren die Schwelle, die Grenze, an der die Identität
des “Wir, das Volk” festgelegt und
neu ausgehandelt, festgezurrt und
aufgedröselt, eingefroren und flüssig gemacht wird.
(Aus dem Englischen von Anne
Middelhoek. Auszüge aus dem
Gastvortrag “Eine spannungsgeladene Formel: ‚Wir, das Volk‘. Hannah Arendt und ‚das Recht, Rechte
zu haben‘“ von Seyla Benhabib,
gehalten anlässlich der HannahArendt-Tage im Oktober 1999 in
Hannover; aus: Frankfurter Rundschau vom 29.10.1999)
Postkarte: IgA, Frankfurt/M
26
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
„Nützliche“ und
„belastende“ Zuwanderung
(Red.) Für Beobachter und Beobachterinnen der Flüchtlingspolitik
zeichnete sich im vergangenen
Jahr deutlich ab, was jetzt unter
anderen Vorzeichen diskutiert
wird: eine Segregationspolitik, die
zwischen „guten“ und „schlechten“ MigrantInnen unterscheidet.
Diese Kategorien bezogen sich bislang auf Flüchtlinge – die mit Bleiberecht, denen verstärkte Integrationsbemühungen und -mittel zukommen sollten und die ohne.
Letzteren wurden und werden systematisch und sukzessive Rechte
und Leistungen entzogen – im
Modellprojekt Identitätsfeststellung in Niedersachsen (Projekt X),
in der Kürzung der Mittel für die
Flüchtlingssozialarbeit, in der Vertreibungspolitik mithilfe von Leistungskürzungen nach §1a Asylbewerberleistungsgesetz (vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen: Rechenschaftsbericht 1999; FLÜCHTLINGSRAT 64/65).
In der neuen Asylrechtsdebatte
konnte Schily in seinen Reihen keine Mehrheiten finden für die offene Verknüpfung von Asylrecht und
Einwanderungsdebatte. Die „Einwanderungskommission“ soll jetzt
für die Zuwanderungs-Interessen
der Wirtschaft, die „nützlichen“
Zuwanderer, Konzepte erarbeiten.
Auch wenn die Rechtswege-Garantie des Asylrechts z.Zt. nicht
mehr offensiv zur Disposition gestellt wird, hat der Verwertbarkeits-Diskurs eine politische (Segregations-)Funktion. Ulrich Beck
schreibt dazu in der Süddeutschen
Zeitung unter dem Titel:
Deutsche Lebenslügen
„Die Green Card für ausländische
Computerspezialisten sollte in
Deutschland mit einer Brown Card
ausgegeben werden, witzelte neulich ein ausländischer Kollege, auf
der die Stadtteile verzeichnet sind,
die er meiden sollte, wenn ihm
sein Leben lieb ist. Wie das Bombenattentat auf russische Einwan-
derer in Düsseldorf zeigt, ist es
Ausdruck einer westlichen Bigotterie, den normalisierten Fremdenhass alleine den neuen Feinden im
Osten, den glatzköpfigen Kindern
des autoritären Kommunismus in
die Schuhe zu schieben. Tatsächlich tobt sich hier ein gestörtes Verhältnis vieler Deutscher zu den sogenannten Fremden aus, das nicht
nur in der Mitte der Gesellschaft,
sondern auch in allen politischen
Parteien beheimatet ist.
Es gibt keinen sanften Übergang in
die multiethnische Weltgesellschaft. Aber diese ist auch kein
Hirngespinst, kein Experiment, das
man für gescheitert erklären kann,
um dann zum nationalen Selbstverständnis einer abgeschotteten
Gesellschaft zurückzukehren. Die
multiethnische Gesellschaft ist vielmehr eine globale Realität und
wird dies im Zuge der laufenden
Globalisierungsprozesse immer
mehr. Sie führt nicht nur zu einer
bunten Vielfalt überlappender Herkunfts- und Identitätskategorien,
sondern auch zu Abschottungen
und Xenophobie - nicht nur in
Deutschland, überall auf der Welt.
Entscheidend ist allerdings, ob
man sich für die neuen, verwirrenden Realitäten öffnet oder sich ihnen verschließt. Die Debatte in
Deutschland weist in die zweite
Richtung; sie ist von drei Lebenslügen geprägt.
Die erste, entscheidende Lebenslüge liegt in dem Bild des “rentablen
Ausländers” (Vera Gaserow), das
jetzt in allen Parteien die Runde
macht. Es beruht auf der gefährlichen Illusion, zwischen “guten”
und “schlechten” Ausländern am
Maßstab des nationalen Nutzens
unterscheiden zu können, ohne
dadurch die Basis des zivilisatorischen Zusammenlebens -die Grundrechte - zu zerstören.
In die Debatte um das bevorstehende Einwanderungsgesetz haben sich beunruhigende Töne ein-
„Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung, die die
Sozialkassen erheblich belastet, und Zuwanderung, die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht. Alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, enthalten ein Kompensationsmodell. Bei einem Kompensationsmodell bleibt Spielraum
für Zuwanderer, die wir aus eigenem Interesse nach
Deutschland holen wollen.“
(Bundesinnenminister Schily in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 26. Juni 2000)
geschlichen. Dass in der Münchner
CSU ein Thesenpapier zur Ausländerpolitik vorgelegt wurde, in dem
dafür plädiert wird, “dass jene zu
uns kommen, die uns nützen und
nicht ausnützen”, mag der Beobachter noch als erwartbar abtun.
Auch die bigotte Konkretisierung:
“Wer Vorbehalte gegen die Gleichstellung der Frau hat, ist hier nicht
erwünscht”, wirkt wie aus dem
Realkabarett. Hat man mitbedacht, wie viele CSU-Anhänger damit des Landes verwiesen werden
müssten? Auch die FDP hat ein
“Zuwanderungsgesetz” in den
Bundestag eingebracht, in dem
sie, die ehemalige Partei der Bürgerrechte, von Regelungen für
Ausländer spricht, “die Deutsch-
land gut brauchen kann” und gegen Ausländer, “die wir nicht so
gut brauchen können”. Analog argumentieren CDU-Fraktionschef
Merz oder SPD-Innenminister Schily.
Man muss sich das konkret ausmalen: Der Inder, der sein Computerwissen nach Deutschland mitbringt, ist ein guter, weil rentabler
Ausländer. Er darf für fünf Jahre
bleiben. Wie ist das mit dem polnischen Ingenieur, der Frau und zwei
Kinder mitbringt - noch rentabel
oder nicht mehr? Die malaysische
Krankenschwester? Nun ja, wenn
sie jung und der deutschen Spra27
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
che mächtig ist, wäre das durchzukalkulieren. Ganz und gar unrentabel sind allerdings die Flüchtlinge
aus Bosnien und Afrika.
Das ist der Punkt: Nicht dass Rentabilitätskriterien für eine Einwanderungspolitik auch eine Rolle
spielen, sondern dass unter der
Hand ein Einwanderungsgesetz
gegen das Asylrecht, indische
Computerspezialisten gegen nachziehende Familienangehörige, sozialpflichtige Fachkräfte gegen
Bürgerkriegsflüchtlinge, gute gegen schlechte Ausländer ausgespielt werden, verweist auf die
deutsche Krankheit: Die Schwierigkeit, anzuerkennen, was seit Kant
zum humanen Selbstverständnis
gehört - dass mit den Menschenrechten anderer die eigenen Lebensgrundlagen verteidigt werden.
Bis heute gilt in Deutschland die
Ausrede, dass man nicht wissen
konnte, was mit den Juden in den
KZs geschah. Dass es deutsche
Staatsbürger waren, denen systematisch die Bürger- und Menschenrechte abgesprochen, die
ausgesondert und abtransportiert
wurden, wusste jeder, es galt aber
nicht als verwerflich. Auch heute
wieder klagt der brandenburgische
Ministerpräsident Stolpe, dass die
fremdenfeindlichen Jugendbanden
“Deutschland einen Bärendienst
erweisen”. Man fürchtet Einbrüche
in der Tourismusbranche, sieht das
Ansehen Deutschlands gefährdet,
will aber nicht wahrhaben, dass
nicht nur die Gewalt gegen sogenannte Fremde, sondern auch
schon das Kalkül des rentablen
Ausländers die Grundlagen des zivilen Zusammenlebens gefährdet“.
...
(SZ vom 08.08.2000 Feuilleton)
Ökonomische Auswirkungen
der Zuwanderung nach Deutschland
Asyl
ist keine
Handelsware
Von Hans Dietrich von Loeffelholz und Günter Köpp.
Zusammenfassung: Justus Reuleaux
Schriftenreihe des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Heft 63
Berlin 1998. (ISBN 3-428-09801-3 / ISSN 0720-7212, 98,-DM,
http://www.rwi-essen.de/presse/publikat/ver_s63.htm
Z
entrales Ergebnis der Studie
ist: Langfristig gesehen ermöglichen Zuwanderer und
deren bessere Integration die
Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt.
Zuwanderung wird in der Öffentlichkeit, neben Bedenken hinsichtlich der kulturellen Identität und
des sozialen Zusammenhangs der
Gesellschaft, zunehmend mit der
Befürchtung thematisiert, dass die
Grenzen der Leistungsfähigkeit
von Sozialleistungssystem und Infrastruktur erreicht werden könnten. Ziel der Studie ist es, mit einem auf die ökonomische Wirkung der Zuwanderung gerichteten Blick zu einer Versachlichung
der Diskussion beizutragen. Dazu
untersucht die Studie die arbeitsmarktspezifischen,
finanzwirtschaftlichen sowie wachstumsund strukturpolitischen Wirkungen
der Zuwanderung nach Deutschland sowohl rückblickend seit Bestehen der Bundesrepublik als
auch vorausschauend bis zum Jahr
2030. Schwerpunkte sind dabei:
die unterschiedlichen bisherigen
Zuwanderungsentwicklungen; die
für den Arbeitsmarkt wichtige
theoretische und empirische Frage,
28
inwieweit die Situation der Ansässigen durch die zuziehenden Arbeitskräfte beeinflusst wird; finanzwirtschaftliche Effekte und
die Auswirkungen der Zuwanderung auf Konjunktur, Wirtschaftswachstum und Strukturwandel.
In den letzten Jahrzehnten wurde,
bedingt durch die Zuwanderungen, ein Bevölkerungswachstum
und eine Verlangsamung der
durchschnittlichen Veralterung in
der Bundesrepublik ermöglicht.
Die Ergebnisse der Studie sind
zwar nicht dazu geeignet, kurzfristige oder auf einen bestimmten
Zeitpunkt bezogene Aussagen
über das Arbeitskräfteangebot in
Deutschland zu machen. Sie verdeutlichen jedoch, dass die Zahl
der Erwerbspersonen langfristig
wegen der demographischen Entwicklung erheblich abnehmen
wird; diese Entwicklung wird
durch Zuwanderungen oder ein
geändertes Erwerbsverhalten verlangsamt aber nicht aufgehalten.
Die Studie entwickelt, auf der Basis
von 1994 mit ca. 39 Mill. Erwerbspersonen, sechs Szenarien für die
Entwicklung bis zum Jahr 2030.
Sowohl die Szenarien I (ohne weitere Zuwanderung), II (mit halbier-
ter Zuwanderung von 150.000 pro
Jahr) und III (mit konstant hoher
Zuwanderung von 300.000 pro
Jahr) ohne eine Veränderung des
Erwerbsverhaltens als auch AI, AII
und AIII mit einer Veränderung des
Erwerbsverhaltens (kürzere Ausbildungszeit, spätere Rente und
höhere Frauenerwerbsbeteiligung)
ergeben einen Rückgang der Anzahl der Erwerbspersonen. Unter
der Annahme des Szenario I ergäbe sich ein drastischer Rückgang
von ca. 11 Mill. und im Szenario
AIII von nur 0,5 Mill.. Dies bedeutet, dass ohne Zuwanderung spätestens 2015 (I) bzw. 2024 (AI) die
Arbeitskräftenachfrage nicht mehr
durch das inländische Angebot gedeckt werden kann. Bei konstanter
Zuwanderung und verändertem
Erwerbsverhalten (AIII) würde die
Arbeitslosenquote von 9,6% auf
7% sinken. In den mittleren Szenarien (II und AII), die als realistisch
angesehen werden, kommt es zu
einem Rückgang der Erwerbspersonen um ca. 3-7 Millionen bis
zum Jahr 2030.
Auch eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), so die Frankfurter
Rundschau vom 23.5.00, geht von
ähnlichen Zahlen aus. Zur Frage
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
der Osterweiterung der EU bestätigt diese Brüsseler Prognosen,
nach denen für Handel und Arbeitsmärkte durch die Osterweiterung keine starken Spannungen zu
erwarten seien. Dabei geht das
DIW von einer problemlosen Aufnahmekapazität von 330.000 Arbeitskräften für die EU bzw. von
220.000 für Deutschland in den
nächsten Jahren aus. In seiner Februarausgabe nimmt das Forum
Migration bezug auf eine UNOStudie die von größeren Zahlen
ausgeht. So benötige Deutschland
in den nächsten 50 Jahren jährlich
die Einwanderung von 500.000
Menschen um den Umfang der Erwerbsbevölkerung auf dem Stand
von 1995 halten zu können. Die
EU - so die Empfehlung der UNO sollte sich in den nächsten 25 Jahren um die Einwanderung von 35
Millionen Menschen bemühen, um
die Erwerbsbevölkerung auf einem
stabilen Level zu halten.
Die RWI- Studie zeigt darüber hinaus auf, dass die ausländischen Zuwanderer, da sie überwiegend als
un- oder angelernte Arbeitskräfte
beschäftigt werden, auf dem Arbeitsmarkt kaum in Konkurrenz zu
ausgebildeten Deutschen geraten.
Durch die Zuwanderung unqualifizierter Arbeitnehmer verringert
sich einerseits die Arbeitslosenquote der qualifizierten Arbeitnehmer,
andererseits erhöht sich die Quote
der unqualifizierten. Dieses betrifft, aufgrund von bestehenden
Integrationsdefiziten z.b. bei Sprache und Bildung, zum überwiegenden Teil die ausländischen Arbeitskräfte.
Mehreinnahmen durch Zuwan derung
Der Vorteil für die öffentlichen Finanzen der Aufnahmegesellschaften ist eindeutig und besteht darin, dass sich die Migranten an den
öffentlichen Kosten beteiligen. Bezüglich der Wachstums- und strukturpolitischen Auswirkungen der
Zuwanderungen in die Bundesrepublik kann die Studie nur Tendenzen angeben. Die Gründe dafür
sind zum einen in der Komplexität
der Ursachen und Folgen des Wirtschaftswachstums und des wirtschaftlichen Strukturwandels zu
suchen und zum anderen, auch
ein Ergebnis, in der nur untergeordneten Rolle, die Immigration
hierfür spielt.
Die positive Bedeutung der Immigranten für die öffentlichen Finanzen wird aus folgenden Zahlen
deutlich: Die 1995 in Deutschland
lebenden Ausländer, über 7 Mill.,
bringen im Ausmaß ihres Bevölkerungs- und Erwerbspersonenanteils (8%) auch Steuern und Beiträge auf, was rund 100 Mrd. DM
entspricht. Davon entfallen auf die
direkten und indirekten Steuern jeweils 30 Mrd. DM und auf die Sozialversicherungsbeiträge über 40
Mrd. DM. 1995 haben die zwischen 1988 und 1995 nach
(West-) Deutschland zugewanderten Personen, ein Drittel deutsche
Immigranten und ein Drittel ausländische, mehr als 35 Mrd. DM an
Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen aufgebracht. Da sich die
Ausgaben für die Immigranten, inklusive 5,5 Mrd. DM für Asylbewerber, nur auf 20 Mrd. DM beliefen, ergab sich ein Überschuss für
die staatlichen Finanzen von ca. 15
Mrd. DM.
hung in die Bildungs- und Beschäftigungssysteme nicht zu verkennen. Da eine Integration im Sinne
einer weitgehenden sektoralen
und beruflichen Angleichung ohne
spezielle Förderung erst in sehr
langer Frist zu erwarten ist, laufen
ausländische Zuwanderer Gefahr,
den Arbeitsmarktanforderungen
des Strukturwandels in der Wirtschaft nur bedingt zu entsprechen
und als Beschäftigte in Sektoren,
Regionen und Tätigkeiten mit hohen Beschäftigungsrisiken weiterhin besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen zu werden. Der
Abbau der bildungs- und arbeitsmarktspezifischen Integrationsdefizite und damit ein um 1 bis 2%
höherer Beitrag der Ausländer zur
volkswirtschaftlichen Wertschöpfung könnte, so die Studie, einen
volkswirtschaftlichen Gewinn von
jährlich 50 bis 80 Mrd. DM bedeuten. Dies würde an Steuern und
Sozialbeiträgen zusätzlich 20 bis
35 Mrd. bedeuten.
Dabei hat der rechtliche Status der
Migranten, als Deutsche (Aussiedler, Übersiedler) oder Nichtdeutsche (Asylbewerber oder sonstige
Ausländer), auf die Finanzen einen
großen Einfluss. Je besser die Zuwanderer in den Erwerbsprozess
sowie in Wirtschaft und Gesellschaft integriert werden können,
um so günstiger stellt sich auch
das Ergebnis für die öffentlichen
Budgets dar. So hätten beispielsweise die 5,5 Mrd. DM Aufwendungen für die 1995 in Deutschland lebenden über 1 Mill. Flüchtlinge durch entsprechende Einnahmen der öffentlichen Hand ausgeglichen werden können, wenn etwa 300.000 Personen eine um ein
Drittel unter dem Durchschnitt
entlohnte
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gestattet
gewesen wäre.
Das Ergebnis der Studie ist, dass
Zuwanderung für Deutschland,
wie für alle Immigrationsländer,
der Zufluss an flexiblen, motivierten und unternehmerisch orientierten „Humankapital“, für das ja
keine Investitionen geleistet werden mussten, eine positive Wirkungen haben. Daher fordern die
Autoren eine gesetzliche Regelung
von Zuwanderung vor allem über
verstärkte Integrationsanstrengungen. Das bedeutet mehr Einbürgerungen und Erleichterungen beim
Staatsbürgerschaftsrecht als wesentliche Voraussetzungen für eine
stärkere Integration vor allem von
jüngeren, in Deutschland geborenen Ausländern in Wirtschaft und
Gesellschaft. Also die Forderung
nach einem Einwanderungsgesetz
auch für Deutschland, wie es in
Frankreich oder den USA besteht.
In fiskalischer Hinsicht wirken sich
Zuzug und Aufenthalt von ausländischen Zuwanderern bisher positiv auf die öffentlichen Finanzen
aus. Hauptgründe dafür sind die
günstige Altersstruktur der Immigranten, die beachtliche Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte und
die unterproportionale Inanspruchnahme wichtiger öffentlicher Leistungen. Gleichwohl sind
Restriktionen bei den ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten
als Folge mangelnder Einbezie-
Weitere Literatur:
RWI und Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster
(Hrsg.), Kosten der Nichtintegration ausländischer Zuwanderer. Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und
Soziales des Landes NordrheinWestfalen. (Bearb.: H.D: von Loeffelholz, D. Thränhardt und A.
Gieseck.) Düsseldorf 1996.
29
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Gute Karten, schlechte Karten
Asylrechtsdebatte globalistisch: Und sie bewegt sich doch
Florian Schneider
D
Foto:
“Die Welt ist
keine Handelsware”
Seatle WTO
30.11.1999
30
er Zeitpunkt hätte geschickter
nicht gewählt werden können. Am 1. Mai diesen Jahres veröffentlichten Esther Dyson, Linus
Torvalds und Steve Wozniak in
den USA ein migrationspolitisches
Manifest, das in eine hitzige Debatte intervenierte: “The New
Economy needs new Americans”,
stellten die wohl bekannteste Internet-Unternehmensberaterin, der Erfinder des Betriebssystems Linux und der Mitbegründer der Firma Apple
in einem offenen Brief an die
Kongressabgeordneten fest.
Zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse machten die drei Superstars der
New Economy ein unmissverständliches Plädoyer in
Sachen Einwanderung: ITSpezialisten, wie sie in letzter
Zeit zu Hunderttausenden in
die USA gelockt werden,
dürften nicht in einem rechtlosen Gastarbeiter-Status gefangen bleiben, sondern
müssten auf die gleichen
Rechte wie alle Amerikaner
zählen können.
Nach einer langen Debatte wurde
die Zahl der “H-1B”-Visa im Sommer 1998 auf 115.000 pro Jahr
festgelegt. Auf massivem Druck
der Industrie präsentierte die Clinton-Administration damals einen
Kompromiss, der auch eine Ausbildungsabgabe enthielt; der vom
Arbeitgeber zu entrichtende symbolische Betrag von 500 Dollar
Linus Torvalds weiß, wovon er
spricht. Selbst dem Computer-Genie aus Finnland wurde es nicht
besonders leicht gemacht, als er
vor knapp zwei Jahren ins Silicon
Valley abgeworben wurde. Torvalds schaffte es auch nach persönlicher Intervention der örtlichen Kongressabgeordneten bislang nicht, an eine reguläre Green
Card zu kommen. Stattdessen arbeitet er nach wie vor, und wie
Hundertausende wesentlich weniger protegierte IT-Arbeiter, in einem Gastarbeiterstatus, der in
den USA “H-1B” heißt: Ein “NichtEinwanderungs”-Visum, das die
ursprüngliche Vorgabe hat, einen
vorübergehenden Arbeitskräftemangel zu beseitigen, und ausländischen Experten einen maximal sechsjährigen Aufenthalt beschert.
pro Visum sollte die damals noch
notorisch einwanderungsfeindlichen Gewerkschaften milde stimmen. An Nachfrage mangelte es
jedenfalls nicht: Im März diesen
Jahres - zu einem Zeitpunkt also,
als in Deutschland gerade die
“Kinder statt Inder”- Kampagne
anschlug - war jenseits des Atlantiks das Kontingent an “H-1B”-Visa für das gesamte Jahr 2000 bereits ausgeschöpft.
Mitten im Vorwahlkampf begann
ein Wettlauf, in dem Demokraten
und Republikaner um die Gunst
der High-Tech -Industrie buhlten
und sich gegenseitig mit immer
großzügigeren Offerten überboten, wie der boomenden Volkswirtschaft weitere Arbeitskräfte
zuzuführen seien. Von 300.000
unbesetzten Stellen war die Rede
und Clinton stellte eine Verdreifachung der Zahl der “H-1B”-Visa
für die nächsten Jahre in Aussicht.
Plötzlich aber regte sich Widerspruch: Sprecher der indischen
Programmierer-Community, die
mittlerweile fast 40 Prozent der
Arbeitskräfte im Silicon Valley
stellt, beanspruchten einen sicheren Aufenthaltsstatus.
Wer mit der Kündigung
auch sein Bleibebrecht
verliert, stehe exzessiver
Ausbeutung und Lohndumping
schließlich
mehr oder weniger
machtlos gegenüber. Um
nicht länger wie Sklaven
an einen Arbeitgeber gebunden zu sein und das
Land ohnehin nach ein
paar Jahren wieder verlassen zu müssen, forderten die Inder echte “Green Cards”. Auf diese Linie
sind in den vergangenen
Wochen auch Gewerkschaften wie die AFL-CIO
und der größte Berufsverband der Branche, die
IEEE-USA, eingeschwenkt.
Bis vor kurzem galten die beiden
Organisationen noch als Bastionen ständisch motivierter Fremdenfeindlichkeit, jetzt stehen sie
an der Spitze einer Koalition für
eine grund-sätzliche Reform der
Einwanderungsbestimmungen.
Die Wendung vom Saulus zum
Paulus dürfte niemand besser verkörpern als Paul Donnelly: Als PRDirektor der US-Kommission zur
Einwanderungsreform trat er
1996 für die Verringerung der
Zuwanderungzahlen auf fast die
Hälfte ein, doch heute verficht
Donolly Standpunkte, die wie das
blanke Gegenteil seiner agressiven
Stimmungsmache in den 90er
Jahren anmuten. Als Sprecher der
“Immigration Reform Coalition”
initiierte er den Offenen Brief von
Dyson, Torvalds und Wozniak, der
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
bald von den wichtigsten CEO’s
der Branche unterzeichnet wurde.
“The New Economy needs new
Europeans”
Verglichen mit Donolly sehen die
Wendehälse hierzulande ziemlich
altbacken aus. Beckstein und Schily tun sich bekanntermaßen hart,
den radikalen Kurswechsel in der
Migrationspolitik schlüssig zu begründen, ohne ihre Positionen zur
“Nullmigration” von noch vor ein
paar Monaten der Lächerlichkeit
preiszugeben. Ausländer kämen
nach Deutschland, um unseren
Sozialstaat auszunutzen, wurde
den Menschen landauf, landab
jahrelang von Politikern fast aller
Parteien eingebläut. Davon, dass
hoch-motivierte internationale Arbeitskraft durchaus nützlich sein
könne, durfte keine Rede sein. Ein
Tabuthema, das erst mit dem gemeinsamen Vorstoß der Vertreter
führender Computerkonzerne zur
CEBIT aufgebrochen wurde.
Natürlich wäre es naheliegend,
den Bonmot von Dyson, Torvalds
und Wozniak einfach in die alte
Welt zu übertragen. Doch schon
beim zweiten Mal Lesen offenbart
das Wortspiel einen ungeahnten
Facettenreichtum: Müssen sich
nicht zuerst die Europäer ändern,
bevor sie den Segen der Zuwanderung von Experten, deren teure
Ausbildung schließlich in wesentlich ärmeren Regionen dieser Welt
finanziert wurde, überhaupt verdient haben? Zeugt die Devise
“Rein darf nur, wer uns nützt”
nicht von gelinde gesagt allzu
schlichtem Gemüt? Ist derlei Bauernschläue, wie sie seit neuem in
den Landes- und Bundesministerien grassiert, dem überaus komplexen und vielschichtigen Migrationsdiskurs angemessen?
Seitdem tobt nun eine Debatte,
die die Fronten gehörig durcheinanderwirbelt und zumindest einen Nutzen hat: Die festgefahrene Auseinandersetzung ist endlich
vom Kopf auf die Füße gestellt.
Langsam spricht es sich schließlich
auch in Deutschland herum: Um
wenigstens einen Rest sozialer Errungenschaften
zu
retten,
braucht es jede Menge Zuwanderung. Um die Herausforderungen
der New Economy zu meistern,
müssen Spezialisten aus aller Herren Länder angeworben werden.
Um auf den globalen Märkten
konkurrenzfähig zu sein, muss
auch die Mitarbeiterschaft eines
Betriebes entsprechend zusammengesetzt sein.
Verglichen mit dem Niveau, das für
die Auseinandersetzungen in den
USA in quantitativer und qualitativer Hinsicht selbstverständlich
scheint, wirken die hiesigen Debatten wie Spiegelfechterei. Die Gewerkschaft AFL-CIO, beileibe keine
linksradikale Splittergruppe, fordert neuerdings Papiere für alle,
die als “Illegale” mit Niedrigstlöhnen am gegenwärtigen Boom
maßgeblich mitgearbeitet haben.
Mehrere ehemalige Verwaltungsdirektoren der Einwanderungsbehörde INS plädieren in einer
“National Coalition for Dignity and
Amnesty” für eine Generalamnestie aller geschätzt rund 5,5 Millionen Migranten ohne Aufenthaltstitel. Selbst Präsident Clinton stellte
kürzlich fest, die Einwanderungspolitik in seinem Land gerate zunehmend unfair und elitär. Er
meinte, wenn nun einige Hunderttausend graduierte Software-Entwickler ins Land gelassen werden,
dürfte es auch kein Problem darstellen, den paar Tausend Flüchtlinge aus lateinamerikanischen Ländern ein dauerhaftes Bleiberecht
zu gewähren.
Dabei handelt es sich freilich um
Einsichten, die keinswegs revolutionär sind, und schon gar nicht
neu. Zu lange aber glich, was
hierzulande unter Globalisierung
verstanden wurde, einem Lufthansa-Linienflug: Vorne sitzen die
Business Nomaden, die nicht nur
genügend Statusmeilen, sondern
vor allem den richtigen Pass haben, dazwischen Touristen auf
den billigen Plätzen und hinten
die gefesselten und geknebelten
Schüblinge: Menschen, die abgeschoben werden, weil sie angeblich aus bloß “wirtschaftlichen
Gründen” eingereist seien.
Es kann natürlich nicht darum gehen, die über zweihundertjährige
Tradition der USA als Einwanderungsland praktisch über Nacht
auf den alten Kontinent herunterzuladen. Es fragt sich auch, inwiefern das herkömmliche Verständnis von Ein- und Auswanderung,
Pull- und Push-Faktoren nicht völlig an der Realität von Menschen
vorbeizielt, die ihre Lebensmittelpunkte auf zwei oder mehreren
Kontinenten verteilen. Doch nicht
nur aus volkswirtschaftlicher Perspektive wird die Frage immer
drängender, ob Europa beim
Nachdenken über Migration ein
bestimmtes ethisches Mindestniveau erreicht, das zum Aufrücken
auf die nächste Stufe der Globalisierung qualifiziert.
Asyl
ist keine
Handelsware
Ein erster Schritt könnte in einer
grundlegenden und wenn dann
eher humanistischen als humanitären Einsicht bestehen: Jeder
Mensch ist ein Experte. Jeder
Mensch spezialisiert sich im Laufe
eines Lebens, und die Vielfalt dieser Besonderheiten macht den
Reichtum und die Produktivität eines sozialen Gefüges aus. Menschen, die dermaßen viel Vorstellungskraft haben, dass sie ihre vertraute Umgebung aufgeben, um
sich in der Fremde behaupten zu
wollen, müssen allemal Experten
sein. Sie zeichnen sich durch geistige Beweglichkeit aus, sowie Anpassungsfähigkeit und die Hartnäckigkeit, Grenzen auch wirklich
zu überwinden. Da spielt es eine
untergeordnete Rolle, welchen Abschluss sie in der Tasche haben,
wie viel sie verdienen mögen und
weswegen sie sich auf den Weg
gemacht haben. Sie müssen sich,
auf wenigstens eine Sache spezialisieren, die unter Alteingesessenen
Mangelware ist und im Jargon der
neuen Unternehmenskultur “Interkulturelle Kompetenz” heißt.
Weltoffenheit ist eine Spezialkenntnis, die erfahren werden
muss. Alles weitere lässt sich mit
etwas Begeisterungsfähig schnell
aneignen. Wer weiß denn heute
noch, ob die Küchenhilfe nicht
nach Feierabend C++ programmiert? Und was ist schließlich der
Unterschied zwischen Pizza-Austragen und Skripten für e-Commerce-Lösungen schreiben? Menschen jedoch vorschnell in nützlich
oder unnütz einzuteilen, ist ein
Schuss, der nach hinten losgehen
wird und im besten Falle ziemliche
Ahnungslosigkeit über die eigentliche Dynamik der globalen Informationsgesellschaft offenbart.
31
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
ANERKANNT
(Red.) Eine ganze Reihe von Flüchtlingen, über die der FLÜCHLINGSRAT in der Vergangenheit berichtete, wurden von Bundesamt oder Gerichten in den letzten Wochen und Monaten anerkannt. Von „Ketten-Anerkennung“ lässt sich wohl (leider) nicht sprechen, es waren jeweils sehr unterschiedliche Zusammenhänge (manchmal mit zynischem Beigeschmack), die zum „glücklichen“ Ausgang führten. Eins haben aber alle diese Flüchtlinge gemeinsam: ihre Verfolgung und das Bleiberecht wurden erst nach intensiver Recherche und mit Hilfe
breiter Unterstützung anerkannt.
Nach ÜberläuferAussagen anerkannt
Das Auswärtige Amt bestätigte
mittlerweile, dass das Reuegeständnis des Überläufers Vedat
Yilmaz echt ist. Yilmaz legte am
20.10.99 in seiner Verhandlung
vor dem Staatssicherheitsgericht
Diyarbakir eine ergänzende schriftliche Aussage vor, mit der er mehrere in Deutschland lebende Kurden und insbesondere die Teilnehmer des Wanderkirchenasyls in
NRW als PKK’ler bezeichnete und
damit schwer belastete (s.
FLÜCHTLINGSRAT, Heft 64/65). Inzwischen erhielten mehrere der
denunzierten Personen Abschiebeschutz nach § 51 Abs 1 AuslG, so
z.b. die Familie Kardasoglu aus
Hannover, die damit ihr Göttinger
Kirchenasyl beenden konnte.
Selbst wenn die Vorwürfe des Vedat Yilmaz inhaltlich nicht zutreffend seien, so das BAFl, so gefährdeten sie doch die Familie bei einer
Rückkehr in die Türkei. Der Bescheid ist rechtskräftig (Juli 2000).
Weitere Anerkennungen wegen
Yilmaz Aussagen liegen aus Nienburg und dem LK Osnabrück vor.
Im Göttinger Kirchenasyl
anerkannt
Neben der Familie Kardasoglu erhielt auch Emin Acar im Göttinger
Kirchenasyl ein Bleiberecht. Nach
einer unglaublichen Verfahrensodyssee wurde er nun doch noch
vom VG Braunschweig nach § 51,1
AuslG anerkannt. Um nur einige
Etappen zu nennen: Der Asylerstantrag wurde mit der Begründung
abgeschmettert, die vorgelegten
Unterlagen über die drohende politische Verfolgung seien gefälscht.
Acar wurde illegalisiert und suchte
32
Schutz im Kirchenasyl in Hildesheim. Nachdem der Nds. Flüchtlingsrat die Echtheit der Dokumente nachweisen konnte, zog sich
das VG Braunschweig auf die Begründung zurück, Acar habe bezüglich seiner Einreise falsche Angaben gemacht und sei darum
nicht glaubwürdig. Emin Acar
tauchte unter, bis es gelang, weitere Beweise in der Türkei zu sichern.
Er kam ins Göttinger Kirchenasyl.
chiert und im Bericht „Von
Deutschland in den türkischen Folterkeller“ dokumentiert wurde, erhielten nun nach erneuter Flucht
das „Kleine Asyl“:
Oguz Ciftci (Nr. 13) wurde am
12.01.00 rechtskräftig nach § 51,1
AuslG anerkannt. Das BAFl sah es
als erwiesen an, dass Ciftci nach
seiner Abschiebung gefoltert wurde und zu Spitzeltätigkeiten ge-
Foto: Kirchenasyl in Göttingen
Doch auch der Asylfolgeantrag,
Eil- und Abänderungsanträge und
eine
Verfassungsbeschwerde
scheiterten. Erst nachdem Kennzeichen D das Schicksal Acars veröffentlichte und auch das Berliner
Folteropferzentrum die erlittene
Folter bestätigte, sprach der Richter die Anerkennung aus.
Nach erneuter Flucht anerkannt
Mehrere Kurden, deren politische
Verfolgung nach der Abschiebung
vom Nds. Flüchtlingsrat recher-
zwungen werden sollte. Ciftci gab
in seinem Verfahren an, die deutsche Polizei habe den türkischen
Sicherheitskräften belastende Dokumente übergeben. Dies habe zu
seiner Festnahme und dem Terrorismusverdacht geführt.
Hüzni Almaz (Nr. 5) ist ebenfalls
wieder in Deutschland und seit
dem 10.01.00 rechtskräftig nach §
51,1 AuslG anerkannt. Das Kassationsgericht in Ankara bestätigte
unterdessen die Verurteilung des
Kurden zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft wegen exilpolitischer Aktivitäten.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Abdulhalim Nayir (Nr. 19), der
nach seiner erneuten Flucht
zunächst in Abschiebehaft landete, wurde am 3.7.00 vom VG Osnabrück nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannt. Er habe glaubhaft gemacht, nach seiner Abschiebung
in die Türkei in „erheblicher Weise
misshandelt worden zu sein“. Eine
Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen könne trotz Freispruch im Verfahren vor dem
Staatssicherheitsgericht nicht mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, da Nayir die Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften als Spitzel durch seine
Flucht ins Ausland aufgekündigt
habe. Der Asylantrag der Restfamilie wurde abgelehnt.
In den letzten zwei Jahren wurde
die Familie von unserer Gruppe unterstützt und begleitet. Sie traten
an uns heran, weil sie bereits eine
Ausreiseaufforderung
erhalten
hatten und alle noch laufenden
Verfahren keine aufschiebende
Wirkung mehr hatten.
Da es sehr offensichtlich war, dass
beide Elternteile durch die Ereignisse in der Türkei schwer traumatisiert waren, wurden mehrere Ärz-
Behörden, die wir mit einigen Beispielen belegen wollen:
- So wurde z.B. vor Beginn der
Therapie durch Zitate von Gerichtsurteilen aus anderen Fällen
unterstellt, dass die Traumatisierung bzw. Suizidgefährdung nur
vorgetäuscht sei
- Es wurden u.a. unzulässige Fristen gesetzt, wie lange die Therapie höchstens dauern dürfe.
In Abwesenheit anerkannt, aber wegen exilpolitischer Aktivitäten in
Haft
Das Bundesamt hob im Fall Angay
(Nr. 21) am 20.07.00 seinen Bescheid vom 04.05.98 auf und stellte die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG fest. Im Falle einer
Rückkehr in die Türkei sei Angay
mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt. Ahmet Angay bringt
die Entscheidung allerdings wenig:
Er wurde bereits im Sept. 98 abgeschoben und sitzt seit dem
06.12.98 in türkischer Haft. Am
10.05.00 wurde er wegen unterstellter exilpolitischer Aktivitäten
zu 12 Jahren und 6 Monate Haft
verurteilt. Beweise lagen außer einem Foltergeständnis und Denunziationen keine vor.
Nach zwei Jahren mit
Traumatisierungs-D
Duldungen anerkannt
(Von UnterstützerInnen aus dem
Wendtland)
Vor acht Jahren flüchtete die Familie Acar aus dem türkisch-kurdischen Midyat nach Deutschland
und landete in Lüchow-Dannenberg. Nach endlosem Tauziehen
mit Behörden wurden die Eltern
Acar und zwei ihrer vier Kinder im
Frühjahr in einem Berufungsverfahren gegen die Ablehnung ihres
zweiten Asylfolgeantrages nach
§51 AuslG als politisch Verfolgte
anerkannt.
Foto: Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen
tInnen und eine Therapeutin konsultiert, Gutachten und Atteste
eingeholt. Schließlich wurde auch
vom Amtsarzt bestätigt, dass
Acars bei einer Abschiebung wegen Suizidgefährdung reiseunfähig seien. Nach langen Verhandlungen genehmigte die Ausländerbehörde und das Sozialamt eine
Therapie. Die Gefahr einer akuten
Retraumatisierung im Falle einer
Abschiebung außer acht lassend,
dichteten die Behörden der Therapie den Zweck der “Wiederherstellung der Reisefähigkeit” an.
Aus verschiedenen Gründen halten
wir es für sehr unwahrscheinlich,
dass Acars den Beweis ihrer Traumatisierung ohne Unterstützung
hätten erbringen können und zwar
aus mehreren Gründen: Zum einen
die Sprachschwierigkeiten, die es
unglaublich schwer machen, die
treudeutschen Amtsbriefe überhaupt zu verstehen. Zum anderen
die Traumatisierung und die damit
verbundene Angst vor der Abschiebung, welche auf die Betroffenen (nicht nur in diesem Fall) völlig lähmend und zerrüttend wirkt.
Verstärkend hinzu kommt die rassistische Grundeinstellung der
Nach scharfen Protesten auch
durch die Therapeutin wurden
diese Fristen zwar zurückgenommen, neun Monate später
hingegen die Nichteinhaltung
genau dieser Fristen zum Anlass
genommen, Acars mangelnde
Mitwirkung vorzuwerfen und
wieder mit Abschiebung zu drohen.
Dieser Vorfall führte erneut zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Eltern Acar. Obwohl ein therapeutisches Zwischengutachten ausdrücklich keine
Besserung bescheinigte, wurde die
Familie im Februar vom Amtsarzt
reisefähig geschrieben. Die Aushändigung des Gutachtens wurde
Herrn Acar vom Amtsarzt verweigert mit der Begründung er könne
es sowieso nicht lesen, da es ja in
deutsch geschrieben sei.
So erhielten Acars postwendend
die fristgebundene Ausreiseaufforderung, als sie in dem Berufungsverfahren völlig überraschend Asyl
bekamen. Die Anerkennung beruhte nach unserer Einschätzung
hauptsächlich auf vier Gründen:
33
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
1. Zeugen wurden vom Gericht
gehört, deren Vernehmung das
Bundesamt nicht für notwendig
hielt
2. Die nachgewiesene Traumatisie
rung
3. Die exilpolitischen Aktivitäten
4. Die bis dahin immer wieder genannte Fluchtalternative “Westtürkei” wurde ausgeschlossen
Ibrahim Doruk anerkannt!
Sechs Jahre ist es jetzt her: Am 12.
April 1994 wurde Frau Doruk mit
ihren vier Kindern aus Uchte im
Landkreis Nienburg ohne Vorankündigung, gegen ihren Willen
und ohne ihren Ehemann, ohne
Pass und mittellos nach Istanbul
abgeschoben.
Herr Doruk, noch unter den Folgen
einer schweren Schädeloperation
leidend, war in Panik orientierungslos in den Wald geflohen
und musste wegen eines Herzanfalls in eine Klinik eingeliefert werden. Bei seiner Entlassung aus der
Klinik war er vom VG Hannover
durch vorläufigen Rechtsschutz vor
einem erneuten Zugriff des Landkreises Nienburg geschützt. Er forderte die Rückholung seiner Familie und trat in den unbefristeten
Hungerstreik. Unterstützung und
Beistand erhielt er vom AK Flüchtlingshilfe aus Uchte sowie dem
Niedersächsischen Flüchtlingsrat,
als dessen Vertreter sich George
Hartwig ab Anfang Mai dem Hungerstreik anschloss.
Nach der Ankunft in Istanbul war
Frau Doruk - zunächst ohne Begründung - in ein Gefängnis in unmittelbarer Nähe des Flughafens
verbracht und dort insgesamt 11
Tage in einem Raum mit zwei
schmalen Betten und einer Toilette
ohne Wasseranschluss festgehalten worden. Ihr wurde nicht gestattet, Kontakt mit Verwandten
aufzunehmen, einen Anwalt oder
irgendeine Person ihres Vertrauens
anzurufen und um Hilfe zu bitten.
Während ihrer Inhaftierung wurde
Frau Doruk immer wieder verhört
und insbesondere nach dem Verbleib ihres Mannes gefragt, sie
wurde vor den Augen der Kinder
geschlagen, bespuckt, beleidigt
und bedroht.
34
Unser Fazit:
Die blockierende und rassistische
Haltung der Behörden führt zu einer Überforderung der Flüchtlinge,
aber auch irgendwann der UnterstützerInnen, die immer nah in Absprache mit den Betroffenen stehen, um sie in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Acars hatten
großes Glück mit dem Ausgang
der Gerichtsverhandlung, schien es
Nach 11 Tagen wurde sie plötzlich
ohne Begründung mit der Drohung an die Kinder entlassen, man
suche den Vater nach wie vor, „ihr
werdet verfolgt bis an euer Lebensende“.
Doch auch diese Schilderungen
konnten die Behörden zunächst
nicht erweichen. Nach Rücksprache mit den türkischen Behörden
teilte die deutsche Botschaft - ohne eigene Recherchen angestellt
zu haben - mit, Frau Doruk sei einer „Personalienüberprüfung“ unterzogen worden. „Da gegen Frau
Gülizan Doruk nichts vorlag, hat
man der Familie Essen gegeben
und Geld für das Busticket nach
Manisa gesammelt“, heißt es in
dem die Realitäten grotesk auf
den Kopf stellenden Fax der deutschen Botschaft vom 3.5.1994.
Weitere Wochen vergingen, ohne
dass sich der Landkreis Nienburg
oder das niedersächsische Innenministerium zum Einlenken bereit
zeigten. Erst als der Gesundheitszustand von Irbrahim Doruk lebensbedrohlich wurde, erklärte
sich das Land Mitte Mai schließlich
- gegen den erbitterten Widerstand des LK Nienburg - bereit,
Frau Doruk und ihren Kindern aus
humanitären Gründen - bis zur
Wiedergenesung ihres Mannes eine sog. „Betretenserlaubnis“ zu
erteilen. Kurze Zeit später - am
20.5.1994 - verfügte das Land einen generellen Abschiebungsstopp für Kurden aus den Notstandsgebieten.
Zwei deutsche Unterstützerinnen
fanden sich bereit, die „legale“
Rückführung von Frau Doruk und
den Kindern aus der Türkei nach
Deutschland zu organisieren. Rund
5000 DM mussten zusammengetragen werden, um die damit einhergehenden Kosten zu decken.
Am 17. Juni 1994 traf die Familie
doch ihre letzte legale Möglichkeit
zu sein. Wäre die Therapie nicht
mit solch einem Nachdruck durchgefochten worden, so hätte die
Verhandlung gar nicht mehr stattgefunden und Acars wären wohl
schon vor 1½ Jahren abgeschoben
worden. Es ist nach unseren Erfahrungen sehr wichtig alle Wege und
Möglichkeiten
auszuschöpfen,
auch wenn die Wahrscheinlichkeit
auf Erfolg als äußerst gering einzustufen ist.
endlich wieder in Deutschland ein.
Der erneute Bezug ihrer alten
Wohnung in Uchte wurde ihr jedoch verweigert. Man hatte verfügt, daß die Familie in Neustadt
am Rübenberge in zwei getrennten Zimmern in einem „Heim“ für
Asylbewerber mit ca. 250 Menschen zusammen leben müssen incl. Vollverpflegung. Der mit dieser
Unterbringungsform verbundene
Abschreckungseffekt war beabsichtigt - die Doruks sollten sich
nicht einrichten, sondern das Land
wieder verlassen.
Frau Doruk und die Kinder stellten
einen erneuten Asylantrag, den
das Bundesamt ohne viel Federlesens als unbeachtlich vom Tisch
wischte. Der daraufhin gestellte Eilantrag hatte jedoch Erfolg. 1996
drohte der Familie nach einer negativen Entscheidung des Gerichts
erneut die Abschiebung. Erst im allerletzten Moment stellte das VG
Hannover die aufschiebende Wirkung wieder her und durchkreuzte
damit das staatliche Interesse an
einer schnellen Abschiebung der
gesamten Familie in die Türkei.
Vier lange Jahre geschah nichts,
außer dass die Familie aufgrund
der Bedingungen des Lagerlebens
langsam aber sicher durchdrehte,
so dass es zunehmend zu familiären Konflikten kam.
Jetzt, im Juni 2000, hat das Gericht in der Hauptsache entschieden: Familie Doruk wird anerkannt! Ob allerdings ein Flüchtlingsausweis nach der Genfer
Flüchtlingskonvention ausgestellt
wird, steht noch nicht fest: Der
Bundesbeauftragte, der sich erfolglos gegen eine Asylanerkennung ausgesprochen hatte, hat einen Antrag auf Zulassung der Berufung schon angekündigt.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Festung Europa
Festung Europa
Krokodilstränen um tote MigrantInnen
Die EU und die Lehren aus Dover
Mark Holzberger
Der Schock über den Tod von
58 heimlichen GrenzgängerIn nen in Dover war nur kurz. Ab gelöst wurde er durch hekti sche Aktivitäten, die polizeiliche Bekämpfung der sog.
Schleuserkriminalität zu verbes sern. Ein Irrweg.
Der Tod der in einem niederländischen LKW versteckten chinesischen MigrantInnen konnte grausamer kaum sein. Nach einer monatelangen Odyssee über Peking,
Russland, die Ukraine, Tschechien,
die BRD und die Niederlande waren die ChinesInnen aus der Provinz Fuquing endlich auf britischem Boden angelangt. Dann
stand der mit Tomaten beladene
LKW aber stundenlang in der an
diesem Tag auch in Grossbritannien herrschenden Hitze. Die Temperaturen im Frachtraum waren unerträglich und die Atemluft wurde
knapp. Alles Schreien und Trommeln half nichts. Nur zwei Menschen überlebten verletzt und
traumatisiert. Die anderen 58 starben einen qualvollen Erstickungstod.
Der britische Innenminister Jack
Straw eilte in das House of Commons und sprach von einer
„schrecklichen Tragödie“, die sich
in Dover abgespielt habe. Gleichwohl nutzt er die Gelegenheit und
meinte, der Tod der 58 Chinesen
sollte auch als „ausdrückliche Warnung“ an diejenigen verstanden
werden, die daran dächten, „ihr
Schicksal in die Hände organisierter Schleuser zu geben“. Eine
merkwürdige Umdeutung der Ereignisse. Der Verdacht, in Dover sei
nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, den ließ ausgerechnet
Jack Straw aufkommen. Den britischen MPs verriet er nämlich: „Der
Wagen wurde nicht zufällig durchsucht, sondern als Ergebnis guter
nachrichtendienstlicher Informationen sowie einer Aktion der Zollbehörden.“1
Immerhin widerstand Straw aber
der Versuchung, sofort eine Verschärfung der nationalen Gesetze
zur Bekämpfung der sog. Schleuserkriminalität einzuleiten. Abgeordnete aller im britischen Unterhaus vertretenen Fraktionen, wie
auch die europäischen Partnerstaaten hatten nämlich gefordert, die
jüngst erlassenen Bestimmungen
über eine Zivilstrafe in Höhe von
2.000 Pfund für Menschenschmuggler in eine ordentliche
Haftstrafe umzuwandeln. Hier
wollte der Innenminister erst noch
mal abwarten.
Routine in der Berliner
Republik
In Berlin zeigt man sich offiziell
wenig beeindruckt über die Ereignisse im britischen Dover. Neben
üblichen Beileidsbekundungen für
die Opfer und Hinterbliebenen
bemühte man sich, Ruhe auszustrahlen: In Deutschland habe es
schon häufiger derartige Vorfälle
gegeben. Zugleich wurde die deutsche Öffentlichkeit darauf vorbereitet, dass auch in Zukunft damit
zu rechnen sei, dass hierzulande
tote Flüchtlinge und MigrantInnen
gefunden werden.
Tatsächlich – dies ergibt sich aus
Übersichten der Berliner Antirassistischen Initiative (ARI) – starben in
35
Festung Europa
den Jahren 1993-1999 nicht weniger als 113 Menschen an den
deutschen Grenzen bzw. auf ihrem
Weg dorthin.2 Europaweit liegt die
Zahl der zu Tode gekommenen
Flüchtlinge und MigrantInen deutlich höher: Mehr als 2.000 Menschen sind nach Erkenntnissen des
niederländischen antirassistischen
Netzwerks UNITED seit 1993 auf
ihrem Weg nach Europa umegkommen.3
In Deutschland erlitten darüber
hinaus nach Berechnungen der ARI
in diesem Zeitraum 267 Personen
körperliche Schäden im Zuge ihres
Grenzübertritts, 141 – und damit
„nur“ rund die Hälfte - an den Ostgrenzen.4
Heimliche GrenzgängerInnen leiden – speziell im Rahmen einer
kommerziell
durchgeführten
Fluchthilfeaktion – immer wieder
an Unternährung, Wasser- und
Luftmangel, bis hin zu Unterkühlung und Erfrierungen. Hinzu kommen allgemeine Schwächzustände
und psychische Traumatisierungen.
Die häufigsten Todesarten sind mit weitem Abstand – Ertrinken
(zumeist in Oder und Neiße) und
Ersticken oder Erfrieren.
In dem einen Tag nach Dover von
Bundesinnenminister Otto Schily
vorgelegten Jahresbericht des Bundesgrenzschutzes (BGS) ergibt sich
aus polizeilicher Sicht folgendes
Bild: Die Zahl der sog. „unerlaubten Einreiseversuche“ hat sich nach
dem Ende des Kosovo-Krieges um
rund 2.500 auf 37.789 leicht gesenkt. Gleiches gilt für die „nachweislich geschleusten Personen“.
Deren Zahl sank um rund 10% auf
11.101 (lag damit aber immer
noch um rund 3.000 Versuche
höher, als noch 1997). Nichts desto trotz hat der BGS letztes Jahr
3.410 Personen als angebliche
Schleuser festgenommen - mehr
als je zuvor. Schwerpunkte des polizeilich erfassten Menschenschmuggels waren insbesondere
die deutsch-tschechische sowie die
Schengener Binnengrenze zwischen der Bundesrepublik und
Österreich.
Diese Diskrepanz (weniger heimliche GrenzgängerInnen, jedoch
mehr festgenommene Schleuser)
erschließt sich aus der BGS-Übersicht „Grenzpolizeiliche Feststel36
lungen“ vom Februar diesen Jahres. Darin wird hervorgehoben,
dass die Arbeit des BGS national,
wie grenzüberschreitend auf mehrere Säulen verteilt worden ist: So
wurden sog. Verbindungsbeamte
des BGS in die Nachbarstaaten sowie in potentielle Herkunftsländer
von Flüchtlingen und MigrantInnen entsandt. Deren Transitwege
sollen bereits dort zerschlagen
werden. Zugleich wurde die bilaterale Zusammenarbeit mit den polnischen und tschechischen KollegInnen erheblich ausgeweitet. Im
Inland bemüht sich der BGS um eine Verzahnung seiner Arbeit mit
der der Landespolizeien: durch die
Einrichtung gemeinsamer Sonderkommissionen und Ermittlungsgruppen, die sich der Schleuserbekämpfung verschrieben haben.
Business as usual in
Europa
Die Tage nach dem Auffinden der
Toten von Dover waren geprägt
von markigen Worten derjenigen,
die ein härteres polizeiliches Vor-
ropäische Polizeibehörde mit der
Bekämpfung der Schleuserkriminalität zu beauftragen. Tatsächlich
hatte EUROPOL schon seit längerem das Mandat hierzu erhalten.
Die Bekämpfung der kommerziellen Fluchthilfe liegt EUROPOL im
Hinblick auf die Erweiterung seiner
Handlungsmöglichkeiten im Bereich sog. operativer Aktivitäten
besonders am Herzen. So hatte der
EU-Rat von Tampere erst im Oktober letzten Jahr bekräftigt, die EU
sei fest entschlossen, „die illegale
Einwanderung an ihrer Wurzel zu
bekämpfen, insbesondere durch
Maßnahmen gegen diejenigen, die
Zuwanderer einschleusen oder
wirtschaftlich ausbeuten.“ EUROPOL käme hierbei besondere Bedeutung zu. Bis Ende 2000 sollten
entsprechende Rechtsvorschriften
beschlossen werden.6
Im März 2000 legte der Rat der EU
seinen Strategie-Entwurf „Prävention und Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ vor. Darin
heißt es, es sei von allergrößter
Wichtigkeit, dass via EUROPOL
Foto: Kein Mensch ist Illegal
gehen gegenüber den „skrupellosen Schlepperbanden“ forderten:
So erklärte der Chef des britischen
National Criminal Intelligence Service, John Abbot: „Menschen haben die Drogen als das lukrativste
Objekt krimineller Banden ersetzt.
Wir reden hier nicht von Asyl, sondern von Organisierter Kriminalität“.5
Auf dem Gipfel der Europäischen
Staats- und Regierungschefs im
portugiesischen Feira versprach
man, nunmehr verstärkt die Eu-
nicht nur Informationen über sog.
Schleuserbanden ausgetauscht
werden. Überlegt werden sollten
auch „andere“ - nicht näher ausgeführte – „Formen der Zusammenarbeit“. Schließlich wird angeregt, eigene polizeiliche Task Forces hierzu zu gründen.7
Diese Idee ist nicht ganz neu8. Sie
wurde jüngst auch von der EUKommission aufgegriffen. Sie
schlägt die sofortige Einrichtung
derartiger gemeinsamer polizeilicher Ermittlungsteams u. a. auf
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Festung Europa
dem Gebiet des Menschenhandels
vor. 9 EUROPOL soll - im Zuge der
geplanten Ausweitung seiner
Kompetenzen - bei der Einrichtung
und Führung dieser Task Forces eine Schlüsselrolle einnehmen.10 EUROPOL wird somit zur Bekämpfung der kommerziellen Fluchthilfe
sein gesamtes Arsenal geheimpolizeilicher Praktiken einsetzen können. Hierzu gehören auch sog. polizeilich kontrollierte Lieferungen.
Dies sind Schmuggelaktivitäten,
die von der Polizei entweder von
außen technisch überwacht und
observiert und/oder von innen
durch V-Personen oder „verdeckte
Ermittler“ initiiert, gesteuert bzw.
begleitet werden. Eine makabre
Vorstellung, dass ggf. tödlich verlaufende Fälle der Fluchthilfe
zukünftig auch unter der (wenn
auch nur indirekten) Kontrolle EUROPOLs stattfinden könnten.11
Einschaltung der
Geheimdienste
Die EU-Mitgliedstaaten werden
aber auch auf nationaler Ebene aktiv – und dies regelmäßig auch unter Einschaltung der Nachrichtendienste. In Großbritannien beispielsweise arbeiten der In- und
der Auslandsgeheimdienst (MI5
und 6) eng mit Scotland Yard dem
Foreign Office sowie der Einwanderungsbehörde zusammen, um
kommerzielle Fluchthelfer zu
bekämpfen.12
In der Bundesrepublik sind neben
dem Bundesgrenzschutz und den
Landespolizeien auch das Bundskriminalamt fest in die Verfolgung
der sog. Schleuserkriminalität eingebunden. In dem Anfang Juli vorgelegten „Lagebericht Organisierte
Kriminalität“ ist die kommerzielle
Fluchthilfe mit Blick auf den „Schadensumfang“ vom achten auf den
fünften Platz gerückt. Doch auch
der
Bundesnachrichtendienst
(BND) ist diesbezüglich aktiv. Trotz
der hochgehaltenen Trennung von
Polizei und Geheimdiensten klärt
der BND seit den 80er Jahren auf,
inwiefern „Migrationsabsichten
unter Einbeziehung der Organisierten Kriminalität verwirklicht werden.“13
Die Kriminalisierung der
Fluchthilfe
Zu Zeiten des Kalten Krieges galt
die meist kommerziell betriebene
Hilfe zur Flucht aus einem der
“Ostblockstaaten” als rechtmäßiges Geschäft. Der Bundesgerichtshof stellte seinerzeit sogar fest,
dass ein Fluchthelfer die ihm versprochenen “Gebühren” notfalls
auch gerichtlich von der geschleusten Person eintreiben könne.14
Dieselbe Handlung, nämlich das
Einschleusen von Personen in die
Bundesrepublik, unterlag nunmehr
in den letzten Jahren einem grundlegenden Bewertungswandel: Was
früher den guten Sitten entsprach,
Die 58 Toten von Dover
im Mai vom
BGS abgeschoben
Thomas Zeller
Die ZEIT berichtet in ihrem Dossier
vom 29. Juni, dass die 58 in Dover
tot angekommenen Chinesen vermutlich am 31. Mai in Dresden
von BGS-Beamten aufgegriffen
und sofort nach Tschechien abgeschoben worden seien. „Die Parallelen sind evident“, so die ZEIT.
Im vergangenen Jahr wurden
12.846 Menschen beim Versuch
aufgegriffen, „illegal“ von Tschechien nach Deutschland zu gelangen. Seit der Einschränkung des
Grundrechts auf Asyl 1993 kann
der BGS ohne Prüfung der Asylgründe Flüchtlinge und Vertriebene schon direkt an der Grenze
zurückschieben. Das
Asylrecht in Deutschland hat sich seit 93
vom
Schutz
für
Flüchtlinge
zum
Schutz vor Flüchtlingen gewandelt.
2.063 Tote hat das Menschenrechtsnetzwerk United bis in diesem Sommer hinein registriert als
Opfer der “Festung Europa“. Sie
ertrinken vor Europas Küsten, erfrieren in den Frachträumen von
Flugzeugen, nehmen sich das Leben in der Abschiebehaft oder
werden zerquetscht von Lastwagen. Einzelfälle, die politischen
Aufruhr nicht entfachen.
Allenfalls pawlow´sche Reflexe
der Mitleidsbekundung und der
Ankündigung massiver gegen die
Schlepper vorzugehen, mit noch
rigideren Gesetzen und einer stärkeren Kontrolle der Grenzen. Ach
Europa !
wird heute als menschenverachtende Mafia-Tätigkeit dargestellt.15
Der Polizeilichen Kriminalstatistik
zufolge waren 1999 ca. 73% aller
als “Schlepper und Schleuser” angezeigten Personen Nichtdeutsche16 – was auch nicht verwunderlich ist, da sowohl die „Kunden“ keinen deutschen Pass besitzen als auch wesentliche Abschnitte des Geschäftes von der Natur
der Sache her im Ausland abgewickelt werden müssen.
Dass Schleusungen – wie die von
Dover - tatsächlich unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen stattfindet darf weder geleugnet noch verharmlost werden.
Aber diese Umstände der Fluchthilfe sind nicht gottgegeben. Vielmehr „schafft erst das System der
administrativen und materiellen
Grenzsicherung den Raum dafür,
in dem sich verschiedene Formen
von Fluchthilfe entwickeln.“17
Tödlich verlaufene Fälle der kommerziellen Fluchthilfe können nicht
durch eine verschärfte Grenzsicherung – und sei sie auch noch so
hermetisch – verhindert werden.
Erinnert sei hier nur an drei „Fälle“,
die unweigerlich an die Ereignisse
von Dover erinnern:
an das Schicksal der 18 Toten, die
im Juni 1995 in der west-ungarischen Stadt Györ auf ihrem Weg in
die BRD in einem LKW erstickten;
an die rund 150 Menschen, die in
die Bundesrepublik flüchten wollten, deren Boot aber am ersten
Weihnachtstag 1996 vor Malta
sank, so dass die Flüchtlinge ertranken oder
an die sieben Personen, die nahe
der sächsischen Ortschaft Weißenborn starben, als der Kleinlaster,
der sie in die BRD transportiert hatte, auf der Flucht vor der Polizei
außer Kontrolle geriet.
Die Grenzkontrollen des BGS und
die Strafandrohungen für Schleuser bewirken vor allem eines: Sie
treiben die Preise der Fluchthilfe in
die Höhe. Und das hat Folgen: So
herrscht nunmehr in diesem Bereich allein die Macht des Geldes.
Es kommt zu einer Hierarchisierung unter den auf der Flucht befindlichen Menschen: Nur wer es
sich leisten kann, ist in der Lage, z.
37
Festung Europa
B. eine sog. Garantieschleusung zu
buchen.
Diejenigen Flüchtlinge, die sich das
nicht leisten können, nehmen immer wieder einen Kredit auf – zumeist bei ihrem Fluchthelfer: In
Knebelverträgen verpflichten sie
sich dann regelmäßig dazu, nach
erfolgreicher Schleusung ihre
Schulden ggf. auch durch illegale
Tätigkeiten abzuarbeiten. “Die auffallend hohe, sprunghaft angestiegene Ausländerquote beim Drogenhandel, Diebstählen, Wohnungseinbrüchen und illegaler Prostitution muss daher“, so das Bundesinnenministerium, „als mittelbare Folge der Schlepperkriminalität betrachtet werden”.18
Einwanderung
ermöglichen
Als Konsequenz aus den Toten von
Dover wurde gefordert, „möglichst
rasch eine einheitliche EU-Einwanderungs- und Asylpolitik zu entwickeln“, so der aus Portugal
stammende sozialdemokratische
EU-Kommissar für Inneres und Justiz, Antonio Vitorino. Denn, so die
Abgeordnete im Ausschuss für
Bürgerfreiheiten des Europaparlaments, Sabina Mazzi, die beste-
1. Hansard v. 19.6.2000; Column 33
2. 87 - also knapp unter 80% - hiervon
kamen an den deutschen Ostgrenzen
um - wobei diese Zahl mit Sicherheit
höher liegen dürfte. So konnte die ARI z.
B. die von den polnischen und tschechischen Behörden aufgefundenen Toten
nicht berücksichtigen, da derlei Informationen nicht zwischen den Grenzschutzbehörden nicht ausgetauscht
werden.
3. Pressemitteilung vom 14.6.2000
4. Dies hängt u.a. damit zusammen,
dass Menschen, die im Zuge ihrer
Schleusung verletzt wurden, oftmals
erst weit hinter der Grenze gefunden
werden.
5. Zit. nach: Observer v. 25.06.2000
6. Schlussfolgerungen des Vorsitzes: Europäischer Rat (Tampere) 15. und 16.
10. 1999“ (SN 200/99), S. 6 (Punkt 23)
7. „Prävention und Bekämpfung der organisierten Kriminalität – Eine Strategie
der EU für den Beginn des neuen Jahrtausends“, Dok-Nr. 9423/4/99 vom 3. 3.
2000, S. 26 (Empfehlung Nr. 10)
8. Bereits Ende 1997 wurde im Rahmen
der Schengen-Kooperation eine entsprechende Task Force zur Bekämpfung
der kurdischen Massenflucht ins Leben
gerufen. Hochrangige Polizeibeamte
nicht nur der Schengener Vertragsstaaten, sondern auch aus den Herkunftsländern sollten, “in bestimmten Migrati-
38
henden unterschiedlichen Kriterien
und Vorschriften für die Aufnahme
von Flüchtlingen in der EU würden
systematisch von Schleuserorganisationen ausgenutzt.19
Diese Ansätze sind für sich genommen so allgemein wie unstrittig.
Tatsächlich wird derzeit in Umsetzung der Vorgaben des Amsterdamer Vertrages an einer Harmonisierung sowohl des materiellen, als
auch des verfahrensrechtlichen
Asylrechts in Europa gearbeitet.
Das Europa-Parlament, wie auch
die Parlamente der Mitgliedstaaten, sind hierbei nur als Zaungäste
zugelassen – die Regierungen arbeiten lieben unter sich. Allerdings
hat die EU-Kommission ihre erweiterten Zuständigkeiten genutzt
und z. B. zu den Bereichen Familienzusammenführung und Flüchtlingsfond vielversprechende Vorschlägen unterbreitet.
An die Frage, die im Zusammenhang mit heimlich durchgeführter
Migration und Fluchthilfe eine
zentrale Rolle spielt, hat sich bislang jedoch noch niemand heran
getraut, nämlich Zuwanderungsmöglichkeiten in die EU zu schaffen. Wer den Amsterdamer Vertrag aufmerksam liest wird fest-
onskrisensituationen” Lagebilder entwerfen und konkrete Handlungsvorschläge entwickeln. (SCH/Com-ex (97)
44 rev 2 und SCH/Com-ex (98) 37 rev.5)
Im Zuge der Überführung der Schengen-Kooperation in die EU wurde die
Schengener Task Force zwar formal
nicht aufgelöst. Sie lässt aber – so ist zu
hören - ihre Arbeit zugunsten anderer
EU-Arbeitsebenen vorläufig ruhen.
9. KOM (2000) 167 endgültig, S. 19
10. Vgl. „Erste Überlegungen zu den
Schlußfolgerungen von Tampere, soweit
sie sich auf EUROPOL beziehen“(Dok-Nr.
13370/99 vom 25.11.99) sowie die Erwiderung der Mitgliedstaaten hierzu
(Dok-Nr. 5845/00 vom 8. 2. 2000).
11. Ausweislich seines aktuellen Arbeitsprogramms (Dok. Nr. 13109/99 vom
22. 12. 99) arbeitet EUROPOL derzeit an
der Zerschlagung kurdisch-irakischer sowie kosovo-albanischer Schleusernetze.
Zusätzlich gibt Den Haag spezielle Lageberichte und ein Bulletin zur „illegalen“
Einwanderung heraus.
12. The Independent vom 1.7.2000
13. Hierzu veranstaltete der BND im Oktober letzten Jahres ein von 300 TeilnehmerInnen besuchtes und 120.000
DM teures Symposium, in dem der Auslandgeheimdienst auf die „Bedrohung“
hinwies, die aus einem Migrationspotential von ca. 30 Millionen resultiert:
„Angesichts beschränkter legaler Zu-
stellen, das dieser Aspekt dort
sträflich vernachlässigt worden ist
– im völligen Gegensatz zu seiner
Bedeutung für den Gesamtkomplex von Flucht und Migration im
Zeitalter einer sich globalisierender
Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung.
Völlig daneben ist in diesem Zusammenhang die Überlegung des
britischen Innenministers Straw, in
Folge von Dover die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) zu
überarbeiten.20 Denn erst im Oktober letzten Jahres hatten die
Staats- und Regierungschefs der
EU im finnischen Tampere beschlossen, dem zukünftigen gemeinsamen Asylsystem der EU die
GFK „uneingeschränkt und allumfassend“ zu Grunde zu legen. Daran darf nicht gerüttelt werden.
Ein Schleifen der Festung Europa –
die Wiederherstellung eines Rechts
auf Asyl, das seinen Namen verdient, und die Eröffnung legaler
Einwanderungsmöglichkeiten –
sind die aussichtsreichsten Maßnahmen, um “Schleppern” und
Schleusern” ihr unmenschliches
Betätigungsfeld zu nehmen und
das unnötige Sterben von Menschen auf der Flucht zu beenden.
wanderungsmöglichkeiten in den bevorzugten Aufnahmeländern werden“,
so der BND, „zunehmend illegale Einreisewege von kriminellen Organisationen
angeboten“; zit. nach: Kleine Anfrage
von Ulla Jelpke (PDS) BT-Drs. 14/2054
14. Neue Juristische Wochenschrift
1980, S. 1574ff
15. Vgl. Schmoller, K.: ‚Schlepperei‘ und
‚Ausbeuterische Schlepperei‘ - zwei
neue Deliktstypen im österreichischem
Strafrecht. Vortrag am 2. deutsch-polnischen Symposium “Kriminalität im
Grenzgebiet”, Europa-Universität „Viadrina“, Frankfurt/O., 28.11.1997
16. Hierbei handelte es sich – der BGSHalbjahresstatistik 1998 (vom 25. 02.
99) zufolge – um 738 Tschechen, 617
Jugoslawen und immerhin 337 Deutsche.
17. Forschungsgesellschaft Flucht und
Migration: Schleuser und Schlepper –
Fluchthilfe als Dienstleistung, in: analyse&kritik Nr. 430 (1999)
18. So: Rupprecht, R.: Zuwanderung
und Innere Sicherheit, in Angenendt, S.
(Hg.): “Migration und Flucht”, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 342, Bonn 1997, S.
90
19. FR, 21.06.00
20. vgl. Guardian 20.06.00
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Festung Europa
Schleuserbanden und europäische Asylpolitik
UNHCR-R
Report:
Trafficking and Smuggling of Refugees - the end
game in European asylum policy?
EXECUTIVE SUMMARY
This report analyses the response
of European governments to the
increasing problems of human
trafficking and smuggling, and
concludes that much of existing
policy-m
making is part of the problem and not the solution. Refugees are now forced to use illegal
means if they want to access Europe at all. The direction of current
policy risks not so much solving
the problem of trafficking but rather ending the right of asylum in
Europe, one of the most fundamental of all human rights. Any
comprehensive approach that
tackles trafficking and smuggling
successfully requires legal and safe
migration opportunities for all refugees, as well as necessary enforcement measures.
Europe is in urgent need for political and moral leadership on this issue and it is hoped that the recommendations contained in the
final chapter of this report might
stimulate some reflection.
RECOMMENDATIONS
(...) Non-refoulement should continue to represent the most fundamental obligation on all members
of both the European Union and
the Council of Europe. (Article 3 of
the European Convention of Human Rights and Article 33 of the
United Nations Convention Relating to the Status of Refugees.)
Non-refoulement should be understood in its fullest international
sense and should be applied to the
actions of any representative of a
European Government regardless
of where in the world they are performing their duties. With this in
mind, Governments have a duty to
ensure that the effects of pre-entry
screening and advice given by European officials oversea do not risk
refouling refugees.
Foto: 3.Welt Saar
Under present arrangements, it is
difficult to eliminate the very
strong theoretical possibility that
the activities of Airline Liaison Officers can and do return refugees to
persecution or human rights abuse
in an unsafe transit country. All European Governments need to review the procedures of all overseas
staff, with or without diplomatic
status, and to submit their work to
scrutiny by an impartial observer.
Governments should ensure that
private carriers, in particular road
haulage and shipping companies,
do not refoule refugees in order to
evade carriers’ liability penalties.
The protection of refugees and
other migrants at sea
Governments should affirm that
the position of all irregular migrants aboard sea-going craft is a
very vulnerable one and that the
immediate concern is always the
safety of all passengers on board.
Although it is recognised that the
1957 Brussels Convention is unlikely to ever become international
law, the existing guidelines of the
International Chamber of Shipping
regarding the disembarkation of
stowaways should explicitly mention refugees as a category of migrant and the importance of non-
refoulement. The draft United Nations Convention against Transnational Organisation Crime represents the best opportunity for
clearly apportioning responsibility
for asylum claims in international
waters at the present time. Governments throughout Europe should
ensure that their immigration and
harbour officials are rigorous in
disembarking all stowaways upon
arrival at any European port, regardless of the flag state or insurance arrangements. UNHCR Protection Officers and NGOs with access to ports (in particular Missions
to Seamen) should monitor as best
as they can disembarkation records and possible contravention
of the Safety of Lives at Sea (SOLAS) Conventions by returning irregular migrants to sea.
Der ganze Bericht kann heruntergeladen werden:
www.unhcr.ch/evaluate/reports/tra
ffick.pdf
Im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass der Autor nicht unbedingt die Position des UNHCR wiedergibt. Kritische Äußerungen
über die Festung Europa waren jedoch auch schon von Mary Robinson zu hören. (Red.)
39
Festung Europa
Angriff auf Europas Sans Papiers
aus der mailinglist
von kein mensch ist
illegal, leicht überarbeitet von d. Red.
Migrationskontrolle nach Ver wertungslogik
Unter der im Sommer 2000 beginnenden Präsidentschaft schlägt
Frankreich für den Politik Bereich
(sog.”Säule”) Justice and Home Affairs (JHA) der Europäischen Union vier politische Papiere vor:
1. Eine Richtlinie für europaweite Sanktionen von
“mindestens” 2.000 Euro
für Schlepper, die papierlose Einwanderer befördern
2. Die Verschärfung der
Strafen für jede Art von
Beihilfe zur “illegalen Einwanderung oder Aufenthaltsbeschaffung”
3. Eine Richtlinie zur Vereinheitlichung der Abschiebung von papierlosen Einwanderern aus der EU
4. Eine Intensivierung der
europäischen Polizeizusammenarbeit die auf
Bekämpfung der illegalen Migration zielt
Statewatch/London hat eine
schnelle und übersichtliche Einschätzung herausgegeben (die Papiere sind abrufbar unter deren
homepage, s.u.).
Hier nur ein vorläufiger kurzer
Kommentar zu den Papieren:
“Schengen war ein offenes und
demokratisches Europa. Zumindest im Vergleich zu der Festung,
die die Innenminister und Polizeichefs von 39 Ländern bauen wollen”.(TAZ, 24.7.2000, über ein
vom EU-Ratspräsidenten Frankreich organisierte Seminar über
Methoden und Erfahrungen im
Kampf gegen “Schlepperkriminalität” und “illegale Einwanderung”
in Paris Mitte Juli).
Es scheint, als würde die EU damit
sowohl auf die Tatsache antworten, dass sich innerhalb der EU
mehrere Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus aufhalten, als
auch dazu, dass sie verdeckte Unterstützung oder auch offene politische
Solidarität
erhalten.
In Kombination mit den jüngsten
40
Absichtserklärungen in England,
Deutschland und Italien zu wirtschaftlich erwünschter Zuwanderung - zumindest für England ist
dies ein radikaler Kurswechsel in
der politischen Rhetorik - sowie
den deutschen und englischen
Vorstößen zum weiteren Abbau
des Asylrechts, laufen die französischen EU-Vorschläge auf verschärfte Einwanderungskontrolle
plus Kampf den Illegalen plus Abbau des Asylrechts plus kontrollierter Arbeitsmigration hinaus. Es
geht um den Versuch, die aus
Sicht der Sozialplaner unzureichende Steuerung der Wanderung, sprich Selektion, zu vervollkommnen. Während schon in den
Herkunftsländern erwünschte Arbeitskräfte ausgelesen werden,
konzentriert sich die Politik erneut
auf die Bekämpfung selbstbestimmter, sowie politisch bedingter und armutsbedingter Migration. Uns scheint, als würde ein neuer Anlauf genommen, um eine gesamteuropäische Neuauflage von
Bevölkerungspolitik, dazu zählen
wir die Regelung von erwünschter
und nicht erwünschter Wanderung, unternommen. Es geht um
die politische Steuerung der Zusammensetzung der Bevölkerung
nach den Verwertungskriterien der
kapitalistischen Wirtschaft. Ob es
um die Höhe der Renten geht, um
die Durchsetzung von Billiglöhnen,
um die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, oder “zu hohe Lohn(neben)kosten”, Schreibtischtäter planen gegen die existenziellen Entscheidungen von Millionen, um sie
zunichte zu machen. Die Migrationskontrolle, die rational und
gleichzeitig rassistisch ist, versucht, die Ausbeutungsverhältnisse zu stabilisieren.
Diese neue Bevölkerungspolitik
sollten wir analysieren und Antworten von unten darauf finden.
Mit den EU-Aktionsplänen und
dem Lome III Vertragswerk, die allesamt vor allem die Migrationskontrolle auf die Transitländer erzwingen (Türkei, Marokko), bzw.
Rücknahme von Flüchtlingen an
Entwicklungsgelder koppeln, manifestiert sich entlang der Ausbreitung des EU-Migrationsregimes
vor allem der Anspruch auf die
Kontrolle osteuropäischer, nahöstlicher, mediterraner und westafrikanischer Staaten, sowie deren Sozial-, Migrations-, Bevölkerungsund Entwicklungspolitik.
Quellen: zu Lome III siehe ebenfalls:
http://www.statewatch.org/news/i
ndex.html)
Wer oder was ist Statewatch?
Statewatch ist eine unabhängige,
in London residierende Stiftung.
Grundsätzlich ist Statewatch die
erste Adresse zum Thema EU - Innen-, Justiz- und Sicherheitspolitik,
auf ihrer website sind die relevanten und aktuellen Papiere der EU
immer einsehbar. Abonnenten/innen von Semdoc erhalten Zugang
zu sämtlichen Dokumenten der
Dritten Säule JHA.
Siehe auch unter:
http://social.humanrights.de/index.html
kein mensch ist illegal:
http://www.contrast.org/borders/
kein [email protected]
http://coyote.kein.org/mailman/listinfo/coyote-l
Foto: Lars Klingbeil
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Festung Europa
Drittes antirassistisches Grenz-C
Camp in Forst
Sklaven mit Computerkenntnissen
Kein mensch ist illegal
E
s war sicherlich eine der skurrilsten Aufführungen, die das diesjährige Sommertheater zu bieten
hatte: Eine Gruppe altertümlicher
Griechen zog am ersten Samstag
im August durch das kleine brandenburgische Städtchen Forst.
Gehüllt in weiße Tunika schleppten
sie einen Haufen gefesselter Sklaven auf den fast menschenleeren
Marktplatz. Das Eröffnungsgebot
war niedrig: “Wer bietet mehr als
fünf Euro für einen wertvollen
Sklaven mit Computer-Kenntnissen?”
steriellem Krisenstab auf den Plan,
um den zähneknirschenden Lokalpolitikern eine Nachhilfestunde in
Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu geben. “Tolerantes Brandenburg” heißt das Programm der
Landesregierung, das den mordenden Neonazi-Banden Einhalt gebieten soll. Die semantische Raffinesse der Good-Will-Aktion musste
aber erst mal vor Ort konkretisiert
werden: Also nicht Neonazis gewähren lassen, sondern diejenigen, die gegen Rassismus und das
Grenzregime auf die Straße gehen.
schutz stundenlang blockiert wurde, zum Beispiel. Um die Beamten
an der Jagd auf Flüchtlinge, die illegal die Grenze überqueren zu
hindern, wurden kurzerhand Gräben ausgehoben und Zufahrtswege mit Baumstämmen blockiert.
Die Polizeiführung übte sich in Gelassenheit und konnte nur “geringe Sachbeschädigungen” oder eine “Ruhestörung” ausmachen.
Auch als die Scheiben des örtlichen
BGS-Büros klirrten – und zwar aus
Verärgerung darüber, dass von
zehn Flüchtlingen, die die Grenze
Vielleicht kommt Brechts Begriff
vom “epischen Theater” dem
außergewöhnlichen Charakter der
Darbietungen des antirassistischen
Grenzcamps am nächsten. Bereits
zum dritten Mal trafen sich vergangene Woche Aktivisten des
Netzwerks “kein mensch ist illegal”
im deutsch-polnischen Grenzgebiet, um mit symbolischen Aktionen im Hinterland des EU-Grenzregimes zu intervenieren. Und wie in
den beiden Jahren zuvor, genügte
bereits die bloße Ankündigung,
um den lokalen Behördenvertretern Schaum vor den Mund zu treiben.
The same procedure as every year:
Bis zum Eröffnungstag verweigerte
der Bürgermeister der “Telecity
Forst” ein öffentliches Grundstück
mit dem Hinweis auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die
ausgerechnet durch antirassistische Aktionen in Gefahr sei. Private Grundbesitzer wurden unter
Druck gesetzt, ja keinen Zeltplatz
zur Verfügung zu stellen. Und so
trat “Plan B” in Kraft, wie CampSprecherin Uschi Volz, mittlerweile
recht routiniert in solchen Auseinandersetzungen, bekanntgab. Unterstützt von starken Polizeikräften
mussten die Camper ein geeignetes Grundstück kurzerhand besetzen. Wie im ostsächsischen Görlitz
und letztes Jahr in Zittau trat eine
eigenartige Koalition von Autonomen, Antirassisten und innenmini-
Foto: Grenz-Camp 2000
Der Bombenanschlag von Düsseldorf und die anschließende öffentliche Debatte, wie der rechten Gewalt begegnet werden könne, bescherte den rund 1000 Teilnehmern des antirassistischen Grenzcamp ein unerwartetes Medieninteresse: “Yeeppie, wir sind die Lieblinge der Standort-Nation! Ein Kamera-Team jagt das andere über
unsere schöne grüne Wiese: ZDF,
ORB, NTV und ausländische Sender freuen sich, nette junge Menschen mit langen zotteligen bunten Haaren vor die Kamera zu bekommen.” So sarkastisch startet
das Webjournal, mit dem die
Campteilnehmer allabendlich über
ihre Aktivitäten berichteten. Wie
eine Kaserne des Bundesgrenz-
nächstens überquerten, zwei sofort festgenommen wurden. Kollateralschäden eines Engagements,
das die Solidarität mit Flüchtlingen
und Einwanderern eben ernst
nimmt.
Daran, dass das Camp in der ortsansässigen Bevölkerung weitgehend auf Wohlwollen stieß, konnten aber selbst solche Aktionen
nichts ändern. Bereitwillig spielten
die Einwohner von Forst beim 10tägigen Straßentheater mit. Sie
ließen sich in Flugblättern erklären,
dass Tanken in Polen laut “viertem
Schengener Durchführungsabkommen” von nun an verboten
sei, oder stellten sich für einen Test
zur Verfügung, der endlich Gewis41
Festung Europa
sheit darüber verschaffen sollte,
wer ein reinrassiger Deutscher sei
und wer nicht. Die antirassistischen Aktivisten hielten den Bürgern Lackmus-Papier vor die Nase,
und wer draufspuckte, konnte angeblich an der Verfärbung erkennen, dass sich unter den Vorfahren
reichlich Nicht-Deutsche befinden.
Kommunikationsguerilla, die nach
dem Vorbild der legendären Übergabe der Kleinstadt Zittau an Polen
funktionierte, mit der das Camp
1999 für Furore bereits im Vorfeld
sorgte.
Dass Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit nicht ausreicht, um
gegen den alltäglichen Rassismus,
der sich nicht nur im Osten, sondern in der Mitte der Gesellschaft
breit gemacht hat, anzugehen davon gehen ja mittlerweile nicht
nur die Camper aus. Was das alljährliche Zeltlager an der Grenze
aber von den allenfalls gutgemeinten Lichterkettenaktionen, die in
Kürze wieder aus dem Boden
schießen werden, unterscheidet,
sind die Offensivität, Konsequenz
und Entschlossenheit, mit der die
Antirassisten sich zumindest vorübergehend die Handlungsfreiheit
in einen äußerst prekären öffentlichen Raum aneignen.
Der Grenzschleier, wie die 30-Kilometer-Zone hinter den SchengenAußengrenzen neuerdings heißt,
ist seit Mitte der 90-er Jahre Exerzierfeld für Tausende von Grenzschützern, deren ausgewiesene
Strategie darin besteht, die örtliche
Bevölkerung zur Denunziation von
Flüchtlingen, die die Landesgrenzen überschreiten, zu animieren.
Dass Teile der Einwohnerschaft
diese Aufgabe zu wörtlich nehmen
In Paris wird im Herbst dieses Jahres ein EU-Gipfel stattfinden. Wir
gehen davon aus, dass dieser Gipfel ein Kristallisationspunkt für die
europaweite Mobilisierung sozialer Bewegungen gegen die herrschenden Verhältnisse sein wird.
Mit einem Gratiszug aus Deutschland nach Paris wollen wir ein
Konzept aufgreifen, das in Frankreich, Italien, Großbritannien und
den Niederlanden schon prakti-
42
und sich unautorisiert an der Jagd
auf Ausländer beteiligen, dürfte also nicht wirklich überraschen. “Einen Bärendienst für Deutschland”
nennt der Brandenburgische Ministerpräsident Stolpe Übergriffe auf
Ausländer folgerichtig und verharmlosend. Das furchterregende
Gemisch aus Akteuren, Mitwissern
und Achselzuckern, die das rassistische Klima in vielen Gegenden
der Bundesrepublik ausmachen, ist
einfach nicht in der Lage, die eigenwilligen
Ansichten
eines
bayerischen Innenministers nachzubuchstabieren. “Auch der Ausländer, der morgen abgeschoben
wird, muss sich heute auf unseren
Straßen sicher fühlen”, meinte
Günther Beckstein doch kürzlich.
Das offizielle Sommertheater präsentiert sich im All-Parteien-Konsens als Besserungsanstalt in Sachen doppelter Moral. Die Aktivisten von “kein mensch ist illegal”
sind spätestens mit dem diesjährigen Grenzcamp Hoffnungsträger
einer Bewegung, die es mit Globalisierung ernst meint. Nachgedacht
wird nicht nur über die Fortschreibung des Slogans (“Jeder Mensch
ist ein Experte”), schnell hat sich
auch die Idee des Zeltens für einen
guten Zweck auf der ganzen Welt
ausgebreitet. Neben dem Camp in
Forst, an der deutsch-polnischen
Grenze gab es dieses Jahr assoziierte Aktionen an der polnischukrainischen Grenze und am
Strand von Sizilien, wo ebenfalls
von Staats wegen gegen selbstbestimmte Formen der Einwanderung aufgerüstet wird. Und am
Wochenende vom 1. bis zum 3.
September heißt es in Tijuana an
der US-mexikanischen Grenze:
“Nadie es illegal”. Die örtlichen
ziert wird, insbesondere von Arbeitslosen und Sans Papiers. Es
geht darum, durch eine Bahnfahrt
ohne Fahrscheine und Passkontrollen einerseits Grenzen und
Ausgrenzung, also den herrschenden Rassismus aufzuzeigen und
zu hinterfragen. Andererseits sollen die kapitalistischen Prinzipien
von Markt und Eigentum in Frage
gestellt werden.
“Border-Kids” organisieren mit viel
Cyber-Subkultur im Rücken ein
Festival nach dem Vorbild der
deutschen Grenzcamps.
Auf das Internet hatten es auch die
drei Hundertschaften Polizei abgesehen, die kurz vor dem Ende das
Camp in Forst dann doch noch
stürmten. Im Irrglauben einen illegalen Radiosender beschlagnahmen zu können, durchwühlten
vermummte Beamte eines Sondereinsatzkommandos am Sonntagmorgen um acht Uhr das Zelt des
Webjournals. Diesmal bewahrten
die Camper die Ruhe: Mit Sprechchören wie “Heimlich hört ihr sowieso: Unser tolles Radio” mussten
sich die Polizeikräfte verspotten
lassen, bevor sie ohne Sender und
nur mit ein paar elektronischen
Bauteilen, die zum Upload der
Webseiten verwendet wurden, unverrichteter Dinge abzogen. Kurze
Zeit später wurde dann die Pressemitteilung von “kein mensch ist illegal” über die skandalöse Durchsuchungsaktion veröffentlicht: Auf
Kurzwelle und weiter ohne offizielle Sendelizenz.
(Campbericht in telepolis)
Webjournal:
http://www.nadir.org/camp/index.de.html
Telecity Forst:
http://www.telecity-forst.de/
Weitere Camps:
http://noborder.eu.org/
Letzjährige Camps:
http://www.contrast.org/borders/c
amp
Kein mensch ist illegal:
http://www.contrast.org/borders/k
ein
der Webseite oder auch auf Papier:
http://people.knup.de/~akinter/in
dex.html
AK Internationalismus/Infoladen
Anschlag/Heeper Str. 132/ d33607 Bielefeld
ak internationalismus <[email protected]>
Fon +49/521/171253 (Do 17-19
Uhr)
Ein Reader zum Thema gibt es auf
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Festung Europa
Festung
FlüchtlingsLager
Regina Andreesen/Maria Wöste
An den Verein Menschlichkeit e. V.
An die Repräsentanten der Menschenrechtsorganisationen
Betreff: Protest gegen die Behandlung, der wir unterworfen sind. Appell an eine Delegati
on der Menschenrechtsorganisation, um die unmenschliche Behandlung der Flücht
linge tatsächlich festzustellen.
Wir, Flüchtlinge des Aufnahmeheims LGU "Neues Haus" in 99889 Georgenthal senden auf
diesem Weg einen Notruf aus totaler Hoffnungslosigkeit, psychologischer Abnutzung, die ihren Höhepunkt erreicht hat. Im Namen des Menschenrechts bitten wir um Hilfe dadurch,
dass Sie uns einfach unangekündigt besuchen. Wir benutzen das Wort "unangekündigt", weil
bei einem angekündigten Besuch ein riesiger Wandel des Verhaltens der Behandlung stattfindet.
Noch einmal: Wir bitten um Hilfe als Menschen, Sie, Sie werden uns vielleicht erhören.
Die Flüchtlinge des LGU "Neues Haus" 99887 Georgenthal (ehem. "Tambach-Dietharz")
Foto: 3.Welt Saar
"Wir sind isoliert, weg von der
Welt". Das ist das größte Problem.
Alle nachfolgenden Punkte sind im
Zusammenhang zu sehen, die Auswirkungen auf unsere Psyche haben, weil wir hier oben so isoliert
leben.
Wir sind hier willkürlichen Behandlungen ausgesetzt, die keiner erfährt, weil wir hier oben auf dem
Berg weg- und eingesperrt worden
sind, schlimmer als Gefangene.
Wir sind aber keine Gefangenen
und deshalb wissen wir nicht, warum man uns hier so behandelt."
(Flüchtlinge Tambach-Dietharz)
T
ambach-Dietharz: Die Asylunterkunft liegt hoch oben im
dichten Fichtenwald, 5 km vom
nächsten Ort entfernt, fernab von
aller Zivilisation, sie hat die Größe
von drei großen Fußballfeldern.
Die Menschen in Tambach-Dietharz sind absoluten und willkürlichen Mechanismen durch die Bediensteten ausgesetzt. In zwei
großen Wohnblöcken sind ca. 500
Menschen aus ca. 30 Nationalitäten untergebracht - Einzelpersonen und Familien. Dort werden die
Menschen hinter einem teilweise
dreifach hohen Stacheldrahtzaun
"eingesperrt und gehalten wie Tiere in einem Gehege" (Aussage eines Asylbewerbers: "Die Tiere werden aber in Deutschland besser behandelt"). Personen können das
"Lager" nur betreten, wenn die
Wärter von innen die Drehtür aus
Stahlrohren (für Einzelpersonen)
oder das elektronisch gesteuerte
Eingangstor öffnen. Zusätzlich hat
man von innen an einigen Stellen
meterhohe und meterbreite ge-
fährliche Nato-draht-Stacheldrahtrollen ausgelegt. BesucherInnen
müssen vor Eintritt ihren Ausweis
beim Wärter hinterlegen. Die Daten (auch Auto-Kennzeichen) werden meist auf der Karteikarte desjenigen, den wir besuchen registriert. Die Asylsuchenden müssen
ebenfalls ihre Identitätspapiere
beim Wärter abgeben und erhalten eine sog. "Plastikkarte", wenn
sie sich innen im Lager bewegen.
(Bei Verlust müssen sie 50,00 DM
zahlen.) BesucherInnen dürfen bis
22.00 Uhr bleiben. Innerhalb des
Geländes, ca. 500 m von den
Wohnblöcken entfernt, sind
draußen - genau vor einem Wärterhäuschen - 4 Telefonzellen aufgestellt, deren Scheiben meist kaputt sind. Das bedeutet, dass die
Wartenden - und auch die Wärter
- alle Gespräche mithören können.
Die Büroräume und die anderen
Gebäude (für Geldausgabe etc.)
befinden sich auf der gegen-überliegenden Seite der Wohnblöcke.
Hausverbot für Unterstützerin
Eine Unterstützerin des Vereins
Menschlichkeit e.V., die seit Jahren
Kontakt zu Flüchtlingen in Tambach hat und sie in ihren Kämpfen
gegen die Bedingungen in dem Lager unterstützte, erhielt am 18.4.
vom Thüringer Landesverwaltungsamt folgenden Brief:
"Für den gesamten Bereich der
LGU Georgenthal ... spreche ich Ihnen hiermit ein Hausverbot aus. ...
Sie haben sich in jüngster Zeit
mehrfach im Bereich der LGU Georgenthal anlässlich diverser Zu-
sammenkünfte der dort untergebrachten Flüchtlinge in einer Weise
eingebracht, die unter den in Georgenthal untergebrachten Flüchtlingen für Unruhe gesorgt und die
Stabilität der Lage vor Ort in Frage
zu stellen droht. Das Thüringer Innenministerium hat Ihnen die Einzelheiten im Schreiben vom ... dargelegt und ich verweise auf dieses
Schreiben. Im Sinne einer geordneten Unterbringung der Flüchtlinge
kann Ihre Anwesenheit im Bereich
der LGU Geor-genthal daher nicht
mehr geduldet werden. Das hier
ausgesprochene Hausverbot ist
zeitlich unbefristet. Auf Grundlage
der bisherigen Erfahrung ist nicht
zu erwarten, das sich nach Ablauf
einer bestimmten Zeit Ihre Anwesenheit im Bereich der LGU Georgenthal nicht erneut destabilisierend auf die Situation der LGU auswirkt."
Die "Unruhe" der "Lage vor Ort"
hatte zum Ergebnis, dass im
Thüringer Landtag eine Anhörung
zu diesem Lager stattfinden musste. Mit "destabilisierender" Funktion dürften die Kontakte der Unterstützerin gemeint sein, um die sich
die Flüchtlinge bis zu Ihrem Hilferuf an den Verein Menschlichkeit
e.V. verzweifelt aber vergeblich
bemüht hatten, v.a. zur Presse. In
einem SPIEGEL-Beitrag über rechte
Gewalt (Nr. 26, 21. Juni 00) ist diese Unterstützerin die einzige von
16 Befragten, die in ihrem statement eine Verbindung zwischen
rechtradikaler Gewalt und staatlicher Flüchtlingspolitik herstellt.
Dokumentation des
Flüchtlings-Widerstandes in Georgenthal
und weitere Informationen:
Menschlichkeit e. V.
Humanity
Weserstraße 6, 31582
Nienburg/Weser (Niedersachsen)
Fax und Anrufbeantworter: 040 360331
4061 Handy: 0171/
9005118 Tel. /Fax:
(050 21) 91 48 65
e-mail: mailto:[email protected]
Homepage: www.papenberg.de/menschenrechte
Bankverbindung:
Volksbank e. G. Nienburg; BLZ: 256 900 09;
Konto-Nr 20 999 600
43
Festung Europa
Kriminalisierung und
Beratung von Flüchtlingen
pflichtgemäß zu verfolgenden
Straftaten nach dem AuslG und
dem AsylVerfG von dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder der
Behörden ab“.
Minister Weber beantwortet eine Anfrage des nieder sächsischen Flüchtlingsrats und skizziert das Integrati - Von Strafanzeigen aus der Bevölkerung gegen Flüchtlinge wegen
onskonzept der nds. Landesregierung ab 2001
Kai Weber
n
einem
Schreiben
vom
15.08.2000 beantwortet der nieIdersächsische
Justizminister Dr.
Wolf Weber eine Anfrage des niedersächsischen Flüchtlingsrats, die
sich auf die zunehmende Kriminalisierung von Flüchtlingen in Niedersachsen bezieht. „Die mir leider
erst jetzt vorliegenden Zahlen zur
Strafverfolgungsstatistik für das
Jahr 1999 bestätigen die Annahme, dass die Anzahl der Strafverfahren wegen Straftaten nach dem
Ausländergesetz (AuslG) und Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG) zugenommen hat“, schreibt der Minister und nennt folgende Zahlen:
„Die Verurteilungen wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 92
AuslG sind gegenüber dem Vorjahr
von 830 auf 1.132 gestiegen, die
Verurteilungen wegen strafbaren
Missbrauchs der Asylvorschriften
nach dem AsylVerfG von 614 auf
730.“
Mit letzterem dürften v.a. Verstöße
gegen die Residenzpflicht gemeint
sein, die nicht nur mit einem Bußgeld, sondern (z.B. im Wiederholungsfall) mit einer Verurteilung
sanktioniert wurden. Die Erhöhung der Zahlen erfolgter Verurteilungen wegen „unerlaubten
Aufenthalts“ um mehr als 36% ist
nach unseren Erfahrungen v.a. auf
staatliche Versuche zurückzuführen, Bürgerkriegsflüchtlinge
aus dem Kosovo und anderen Teilen Jugoslawiens, die keinen Asylantrag gestellt haben, zur „freiwilligen Rückkehr“ zu nötigen oder in
das Asylverfahren zu drängen.
Aber auch Asylsuchende werden
immer häufiger wegen „illegaler
Einreise“ angezeigt, ohne dass hier
eine klare Linie erkennbar wäre.
Weber verweist darauf, dass die
Genfer
Flüchtlingskonvention
Flüchtlinge nur bei „unverzüglicher“ Meldung der Betroffenen
gleich nach ihrer Einreise bei den
Behörden straffrei stellt, und stellt
klar, dass die Justizbehörden nicht
von sich aus tätig werden:
„Da die Staatsanwaltschaften keine eigenen Ermittlungskräfte haben, hängt die Zahl der von ihnen
44
„illegaler Einreise“ oder „illegalen
Aufenthalts“ ist in Niedersachsen
kaum auszugehen, daher dürfte
die gestiegene Zahl der Verurteilungen also auf vermehrte Anzeigen der Ausländerbehörden
zurückzuführen sein. Angesichts
der gestiegenen Zahl der Verurteilungen trotz gesunkener Flüchtlingszahlen ist zu vermuten, dass
das niedersächsische Innenministerium hier entsprechende Weisungen erteilt hat. Gleiches gilt im
übrigen auch zu den angestrengten Verfahren gegen Kirchenasyl
gewährende Gemeinden und andere Flüchtlingsunterstützer/innen
– ein Thema, zu dem Justizminister
Weber sich leider nicht äußert, obwohl wir es angesprochen hatten
(Näheres dazu unter Kirchenasyl).
Ausführlich hatten wir den Minister in unserem Schreiben vom
27.10.99 auf die alltägliche Kriminalisierung von Flüchtlingen hingewiesen, die Bußgelder begleichen oder Geldstrafen entrichten
müssen, aber nur Gutscheine und
ggfs. ein Taschengeld über 80 DM
im Monat erhalten. Da die Staatsanwaltschaft keine Gutscheine akzeptiert, muss die Strafe vom Taschengeld beglichen werden, das
jedoch für den Rechtsanwalt, Busfahrten, Telefonkosten u.ä. dringend gebraucht wird. Zwar ist auf
Antrag die Vereinbarung von Ratenzahlungen möglich. Die Flüchtlinge haben jedoch in der Regel
kein Konto und müssten daher erhebliche Überweisungsgebühren
zahlen (bis zu 5 DM pro Überweisung). In die Beratung kommen
betroffene Flüchtlinge meistens
erst, wenn Strafhaft droht. Keine
Lösung gibt es für solche Flüchtlinge, deren Hilfe zum Lebensunterhalt gem. §1a AsylbLG auf das
„zum Leben Unerlässliche“ gekürzt
wurde, also gar kein Taschengeld
mehr erhalten.
Weber vermeidet es, als Justizminister öffentlich zu den absurden
Folgen des Gutscheinsystems Stellung zu beziehen, und erklärt die
„Härten, die bei der Vollstreckung
von im Strafbefehlsverfahren verhängter Geldstrafen für Flüchtlinge
entstehen können“, für „leider systembedingt kaum vermeidbar“.
Lediglich im Hinblick auf die Höhe
der Tagessätze sieht er einen gewissen Gestaltungsspielraum: „Das
Gesetz bestimmt, dass die Geldstrafe mindestens fünf Tagessätze
zu 2,— DM und höchstens 360 Tagessätze zu 10.000,— DM beträgt. Nicht selten können die
Höhe des Tagessatzes in Strafbefehlsverfahren geringer angesetzt
werden, wenn bei Abschluss der
Ermittlungen die wirtschaftlichen
Verhältnisse eines Tatverdächtigen
genauer bekannt wären und nicht
geschätzt werden müssen. ... Um
Verbesserungen in der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen zu erreichen, soll die Problematik bei der
nächsten Dienstbesprechung mit
den Leiterinnen und Leitern der
Staatsanwaltschaften in Ihrem Sinne erörtert werden.“
Am Schluss seines Briefes weist
Weber auf die Absicht der niedersächsischen Landesregierung hin,
die „Integration der in Niedersachsen lebenden 60.000 Flüchtlinge
und anderen Ausländerinnen und
Ausländer, die auf Dauer hier bleiben“, weiter voranzutreiben. Weber bestätigt damit, dass die Integrationsanstrengungen, zu denen
Weber u.a. Sprachkurse, anzustrebende Chancengleichheit im Bildungs- und Ausbildungsbereich
und eine verbesserte Beratung
zählt, sich v.a. auf Personen mit einem sicheren Aufenthaltsrecht beziehen. Immerhin sollen, so der
Minister, Migrantinnen und Migranten ohne Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung ebenfalls „intensiv“ informiert und beraten
werden, „z.B. im Rahmen einer
Verstärkung der Rückkehr- und
Weiterwanderungsberatung, Förderung der freiwilligen Rückkehr
und Reintegration sowie Hilfestellung bei einer ‘Integration auf
Zeit’“. Schließlich seien problemorientierte Maßnahmen und Angebote u.a. für alte Migranten und
Migrantinnen, Kinder und Jugendliche, Traumatisierte, Behinderte,
rückkehrwillige Arbeitsmigrantinnen und -migranten etc. ins Auge
zu fassen. „Einen nachhaltigen
Beitrag zur Bewältigung dieser
Aufgaben wird ein Integrationsprogramm für Ausländer und Aussiedler liefern, das derzeit von der
Landesregierung mit einem Volumen von 10 Mio. DM vorbereitet
wird.
Ich gehe davon aus, dass bei der
Umsetzung des Programms auf die
wertvollen Erfahrungen des Niedersächsischen
Flüchtlingsrats
zurückgegriffen werden kann“,
heißt es am Ende des Briefes.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
Deportation
Rassismus und Gewalt: Grenzen
Prof. Dr. Wolf-D
Dieter Narr
(Redebeitrag anlässlich einer Demonstration gegen die Abschiebung von Flüchtlingen am 01.7.2000 vor dem
Flughafen Schönefeld / Berlin - Potsdam)
G
renzen haben für das begrenzte Lebewesen Mensch eine
Reihe positiver Seiten.
Etwa die Grenze der eigenen Freiheit zur Freiheit des anderen / der
anderen. Diese Grenze ist keine negative, wie dies die nur-für-sichselbst-Liberalen meinen. Die Grenze, die unsere Mitmenschen bilden, ist vielmehr für uns selbst, unsere eigene nur sozial mögliche
Person wesentlich. In diesem Sinne
gilt Rosa Luxemburg nie genug zu
erinnerndes Wort in einer von ihr
gewiss geteilten, andere Kulturen
mitumfassenden Weise. „Freiheit
ist immer auch die Freiheit der anders Denkenden“ und der anders
Lebenden.
Zu solchen positiven Grenz-Seiten
gehört auch die Begrenzung der
Eigentumsrechte konkreter Personen, gar der Eigentumsrechte von
Institutionen, die wie Personen
und deren Privatheitsanspruch behandelt werden. Solche formell
privaten Rechtssubjekte, riesige
Unternehmen etwa, die das
Schicksal von Tausenden von Menschen bestimmen, ja von ganzen
Ländern und Staaten, werden menschenrechtlich demokratisch
verstanden - zu Unrecht wie Privatleute behandelt, die für ihre Wohnung das Hausrecht beanspruchen
und ihre persönlich-private Integrität polizeigewaltig schützen lassen können. Dazu wird sogleich
noch einiges in Sachen FlughafenHolding Schönefeld zu sagen sein.
Positiv, und die Vorraussetzung jeden freieren Zusammenlebens,
sind auch die Grenzen zu werten,
die staatlicher Gewalt gesetzt sind.
Wenn sie gesetzt sind. Wenn sie
eingehalten werden. Solche Grenzen sind im Grundgesetz unter anderem in den unmittelbar geltenden Grund- und Menschenrechten
normativ gezogen. Weil bürgerlich
demokratisches Leben ohne solche
Grenzen nicht möglich ist, kommt
es dauernd darauf an mit Argusaugen darauf zu achten, dass alle
staatliche Gewalt ihre möglichst
eng und rechtssicher gezogenen
Grenzen einhalten. Erst dann ist so
etwas möglich wie ein grundrechtlich fundierter, demokratischer
Rechtsstaat.
Hier und heute lernen wir an diesem Kundgebungsrot Grenzen vornehmlich nur in ihrem negativen
Wirkungssinne kennen. Und darum und dagegen demonstrieren
wir vor allem. Und werden erneut
demonstrieren und diese argen Begrenzungen skandalisieren.
Die erste und unzulässig gesetzte
Grenze ist die unnötige Begrenzung unserer grundrechtlich verbrieften Demonstrationsfreiheit
(Art.8 Abs.2 GG). Zuerst hat uns
die private Flughafen-Holding keinen Demonstrationsort im Flughafengelände zugestanden, das sie
umfänglich besitzt. Sie hat uns ohne Not, vielmehr mit der polizeigesicherten Arroganz von Besitzenden, der Vorraussetzung beraubt,
uns in Sichtweite des Flughafens
dem Demonstrationszweck entsprechend zu versammeln. Nicht
Freiheit von BürgerInnen steht an
erster Stelle, die Willkürfreiheit privat missbrauchten Besitzes tut es.
Das demokratisch zentrale Grundrecht auf Demonstration („Versammlung unter freiem Himmel’’
wird es in Art.8 Abs.2 GG genannt) wird auf diese Weise der
45
Deportation
Privatisierung öffentlichen Raums
und von einseitigen privaten Ansprüchen grundrechtlich ungleich
niedrigerer Rangordnung schlicht
und einfach ausgehöhlt. Hinzu
kommt, dass die Polizei zu Potsdam den von der Flughafen-Holding erzwungenen, abseitig gelegenen Ort der Demonstration
übermäßig und unverhältnissmässig eingeengt und mit Auflagen
versehen hat. Erneut dominiert private Besitzsicherheit die der Grundrechte des Bürgers.
Ungleich schlimmer freilich sind
Grenzen, gegen deren menschenwidrige Handhabung wir hier und
heute demonstrieren. Und immer
erneut demonstrieren werden.
Menschen in Not - und das sind
fliehende Menschen immer, wie
man ihre Motive fettbeheimatet im
einzelnen auch aussortieren mag Menschen in Not, sage ich, wer-
speidank. Die Grenze verlor ihre
tödliche Bedeutung. Man hätte
hoffen können, vielleicht sogar
hoffen dürfen, dass deutsche
StaatsbürgerInnen, wenn schon
nicht 1933, 1939 und 1945, so
doch nun begriffen hätten, wie
tödlich Grenzen sein können; wie
sehr es darauf ankommt, Menschen in Not zu helfen; sie nicht
Schlepperbanden auszusetzen; sie
nicht mit der „Blutgruppe illegal’’
zu stempeln. Ein wenig von diesem Wissen, diesen Erfahrungen
war im Grundrecht auf politisches
Asyl bis zum 01. Juli 1993 enthalten. Danach ist es bis zur Unkenntlichkeit verkürzt, genauer: bis auf
einen symbolischen Rest abgeschafft worden. Ganz im Gegenteil: Die Oder ist zu einer neuen Todesgrenze geworden. Der Bundesgrenzschutz hascht dreißig Kilometer landeinwärts - und mehr als
das, vor allem auch um den Flug-
Foto: Karawane
den an den deutschen Grenzen der
osteuropäischen Staaten, die die
Bundesrepublik umgeben, abgeblockt, zurückgewiesen. Sie werden, gelangen sie doch auf irgendeine sie von vornherein illegalisierende Weise in die Bundesrepublik
hinein, ausgegrenzt und möglichst
umgehend abgeschoben. Man beachte allein die Sprache. Man lasse
sich die Wörter: „ausgrenzen‘’,
„abschieben‘’, „illegal‘’ und viele
ähnliche einmal auf der Zunge zergehen, und man wird spüren, wie
menschenrechtsbitter
diese
schmecken.
1989 ist zwischen zwei deutschen
Staaten eine Mauer gefallen. Gott46
hafen herum - nach vom bundesdeutschen Staat und seinen
schlimmen Gesetzes illegalisierten
Menschen. Selbst Taxifahrer werden verdächtigt. Sie müssen vor
der Fahndungshatz kuschen. Für
die Fluggesellschaften und die von
ihnen organisierten Flüge gilt dieser Missbrauch zugunsten der regierungsamtlichen deutschen Häscher ohnehin. Menschen in Not
nicht herein lassen; abschieben
lautet die Devise. Ob christdemokratisch-liberal geführte oder sozialdemokratisch-grün anzugsfeine
Regierung hin oder her. Die Deutschen halten ihr Land mit „aller
Härte des Gesetzes“ (O-Ton Otto
Schily, auch auf die Grund- und
Menschenrechte vereidigter Innenminister) „sauber“. Denn das deutsche Vorurteilsboot ist übervoll.
Die deutschen Vorurteilsgrenzen
werden überschritten. Nur mehr
oder minder privilegierte Arbeitssklaven werden regierungsamtlich
gewollt „eingeschleust“. Ein neues
deutsches, täuschendes Kartenspiel mit Green and Blue Cards
hebt an.
Diese Handhabung von Grenzen,
diese Ausgrenzungen, Ausgrenzungen aus menschlicher Hilfe,
diese Abschiebungen eigener Mitmenschlichkeit sind ein Skandal.
Sie sind d e r Skandal. Wenn derselbe schreien könnte, alle BürgerInnen und ihre machtstolzen, jedoch in Verantwortung hungerleidenden Staatsleute müssten vor
ihm fliehen. Bis sie denn Asyl fänden in gesicherten Menschenrechten. Und Menschenrechte sind
nur, wenn sie praktisch werden,
nicht als hehre Prinzipien, an welche die Bundesregierung und die
Mehrheit der nachplappernden
Parlamentarier allenfalls erinnern,
wenn sie neue Flüchtlinge produzierende Kriege rechtfertigen wollen. Oder wenn sie darauf ausgehen, ihre eigenen Wohlstandsrechte ausgrenzend, abschiebend, illegalisierend zu betonieren.
Nur wenn wir die eingangs erwähnten „ positiven ‘’ Grenzen beachten und dafür streiten, dass sie
mehr beachtet werden, werden
wir es schaffen, die „negativen“
Grenzen und ihre schlimmen Wirkungen abzubauen. Gegen die
Ausgrenzung von Menschen in
Not, von Menschen wie du und
ich.
Mögen alle heute nicht so zahlreich erschienenen, immerhin 500
und mehr Leute, die hier versammelt sind und in der Nähe des
Flughafens Schönefeld, von ihm
ausgegrenzt, gegen die Abschiebung von Menschen demonstrieren, mögen Sie, mögt Ihr alle die
Kraft haben, dagegen weiter zu
streiten, auch weiter zu demonstrieren. Bis man sich nicht mehr
schämen muss, in einem Land zu
leben, das dort am kräftigsten ist,
wo Menschen in Not ausgegrenzt
und abgeschoben werden. Nicht
nur, nicht einmal primär um dieser
Menschen willen; um unsretwillen
an erster Stelle.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
Deportation Class
(Lufthansas) Abschiebegeschäft versalzen
AG3F
“Als Linienfluggesellschaft unterliegt Lufthansa der Beförderungspflicht von Personen. Gemäß Luftverkehrsgesetz (§ 21, Abs.2) muss
sie grundsätzlich alle Personen mit
gültigem Ticket und den erforderlichen Reisedokumenten für das jeweilige Zielland akzeptieren.”
(Lufthansa-Pressestelle vom August 1999)
“Lufthansa lehnt Abschiebungen
gegen den Widerstand der Betroffenen grundsätzlich ab und befördert sie seit Juni 1999 nicht mehr.”
(Lufthansa-Pressemitteilung vom
11. April 2000)
Dass der letzte Halbsatz der Lufthansa-Pressemittelung vom April
diesen Jahres nicht der Wahrheit
entspricht, soll im folgenden noch
genauer erläutert werden. Doch
zunächst überrascht der öffentliche Betonungswandel bei Lufthansa (LH). Hatte Lufthansa bislang jede Kritik an ihrer Beteiligung bei
Abschiebungen kaltschnäuzig ab-
geblockt, hört sich dies seit dem
11. April alles ganz anders an.
Kein Zufall: Denn wenige Tage zuvor hatten mehrere im antirassistischen Netzwerk kein mensch ist illegal
zusammengeschlossene
Gruppen ihr erstes Aktionswochenende gegen die “deportation
class” gestartet. Eine unter diesem
Titel erscheinende KampagnenZeitung war erstmals im März auf
der Internationalen Tourismusmesse (ITB) in Berlin verteilt worden:
von dunkelblau-orange gekleideten Damen, die gut als Stewardessen hätten durchgehen können.
Erste Missstimmungen bei den anwesenden Lufthansa-Oberen waren dort unschwer zu erkennen
gewesen. Wenige Tage später hatten militante AntirassistInnen den
Lufthansa-Chef Weber in seiner
Hamburger Villa besucht und
reichlich rote Farbe hinterlassen.
Am 8. April waren dann die Lufthansa-Schalter an den Flughäfen
in Hamburg, Hannover und Mün-
chen Ziele von Protestkundgebungen. Und tags zuvor veranstalteten
AktivistInnen in Seeheim-Jugenheim, in der Nähe von Darmstadt,
ein Go-In im Zentralen Ausbildungszentrum der Lufthansa.
Es ist anzunehmen, dass Lufthansa
sich zunächst weiter unbeeindruckt gegeben hätte, wenn nicht
mit einer weiteren Aktion ihr wunder Punkt getroffen worden wäre:
zeitgleich waren tausende Flyer,
den offiziellen Werbefaltblättern
der Lufthansa täuschend ähnlich,
auf Flughäfen sowie in den Auslagen von Reisebüros in zahlreichen
Städten aufgetaucht. Darin wurde
zum 1. Mai als “Lufthansa Special”
die “deportation class” mit bis zu
30%igem Preisnachlass angekündigt, weil im gleichen Flugzeug
“ein abgetrennter Bereich für die
Rückführung von abgewiesenen
Asylbewerbern reserviert” sei. Daraufhin dürften die Telefone bei
Lufthansa heißgelaufen sein. Unter
denen, die sich über dieses neue
Foto: novum - Flughafen Hannover: deportation class
47
Deportation
Sonderangebot der Lufthansa
empörten, war auch die Münchener Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Spätestens jetzt musste
Lufthansa ihre Deckung verlassen
und eiligst eine Pressekonferenz
einberufen, um sich von diesem
“zynischen” Machwerk zu distanzieren und Strafanzeige zu erstatten.
gewalttätigen Durchsetzungsmittel eingeschränkt, doch nach einer
kurzen Schamfrist können heute
sogar wieder Helme eingesetzt
werden. Und Spezialisten sind, wie
der Spiegel (18/2000) berichtet,
mit der Entwicklung neuer Spezialhelme sowie aus den USA angelernter Fesselungstechniken beschäftigt.
“Arme Lufthansa. Militante Menschenrechtler haben der KranichFluglinie in den letzten Tage übel
mitgespielt!”, schrieb rührselig die
Bild-Zeitung, und die “deportation
class” wurde nachfolgend des öfteren zum Lufthansa nervenden
Pressethema.
Die Abschiebestrategen insbesondere beim BGS sorgen längst dafür, dass viele „Problemausweisungen“ anderweitig erledigt werden:
z.B. von mitgebrachtem Sicherheitspersonal der rumänischen Airline Tarom, die einmal pro Woche
von Düsseldorf aus einen Sammelabschiebecharter in die Türkei
fliegt. Oder, wie im Rückführungsabkommen mit Algerien festgelegt, indem Deportees schon auf
den deutschen Flughäfen an Beamte dieses Staates in Maschinen
der Air Algerie übergeben werden.
Vor diesem Hintergrund hatte kein
mensch ist illegal nicht nur auf den
exemplarischen Charakter der Lufthansakampagne hingewiesen, deren Ziel darin besteht, an einem
doch wichtigen Rädchen der Abschiebemaschinerie Sand ins Getriebe zu streuen. Denn auf Lufthansa, mit ihren vielen Direktverbindungen in alle Welt, ist für einen flexiblen, effizienten Abschiebeapparat schwerlich zu verzichten.
Die Kampagne hatte damit schneller den beabsichtigten Erfolg errungen als erwartet. Lufthansa war
unter Rechtfertigungsdruck geraten, offensichtlich verunsichert
und das Image erstmals angeschlagen. Im Rahmen von Pressenachfragen, und um sich gegen
den “absurden Vorwurf” zu wehren, vom Abschiebegeschäft zu
profitieren, gestand Lufthansa
dann auch ungewollt die Dimension ihrer Abschiebebeteiligung
ein. 40 Millionen Passagiere transportiere Lufthansa pro Jahr, da
könne bei 10.000 Abschiebungen
doch nicht von Geschäft gesprochen werden. Peanuts, so lag es
auf der Zunge. Die Süddeutsche
Zeitung erfuhr gar von 16.000 Abschiebungen unter LH-Flugnummern im Jahr 1999, was dann nahezu die Hälfte der rund 33.000
vom Bundesgrenzschutz (BGS) in
seiner Jahresstatistik aufgeführten
Rückführungen ausmachen würde.
Diese Abschiebungen werden in
abgestufter Brutalität durchgesetzt. Dass, nach offiziellen Angaben, ca. 90% der sog. Deportees
unbegleitet fliegen, mag stimmen1. Doch die angebliche Freiwilligkeit ist knallhart erzwungen:
Denn die Alternative ist bei vielen
Betroffenen die Fortdauer von monatelanger Abschiebehaft. 10%
der “Schüblinge”, und für 1998
hat der BGS 9.000 eskortierende
Beamte gezählt, fliegen “begleitet”, und dann nach wie vor unter
Anwendung nahezu aller Gewaltmittel. Nach dem Tod von Aamir
Ageeb im Mai letzten Jahres hatte
Innenminister Otto Schily die allzu
48
Die Behauptung, bei Lufthansa
würde seit Juni 1999 nicht mehr
gegen den Widerstand der Betroffenen abgeschoben, muss leider
als PR-Märchen abgetan werden.
Ein Leipziger Professor war noch
im März 2000 Zeuge eines brutalen Abschiebeversuchs geworden.
Die Crew des LH-Fluges 4115 von
Paris nach Berlin hatte nicht reagiert, bis der Professor dem Kapitän juristische Konsequenzen androhte. Daraufhin wurde der Flug
abgesagt. Vom Januar 2000 datiert ein anderer Abschiebungsfall
mit Lufthansa in den Sudan, ein
Land, in das fast ausschließlich mit
Lufthansa abgeschoben wird. Gefesselt war ein protestierender
Flüchtling von Gera bis zum Frankfurter Flughafen gebracht worden.
BGS-Beamte setzten ihn ins Flugzeug und ließen ihn mit dem Versprechen zurück, dass er ja bei der
Zwischenlandung in Kairo aussteigen könne. Doch in Kairo verwei-
gerte der Kapitän die Herausgabe
der Pass-Dokumente und zwang
den Sudanesen zum Weiterflug.
Dieser Vorfall, der die offensichtliche Zusammenarbeit von BGS und
Flugkapitän beweist, deutet auf eine Praxis hin, die sich offiziell natürlich nicht belegen lässt. Vermittelt von der Lufthansa-Sicherheitsabteilung bucht der BGS Deportees auf die Flüge, bei denen er
sich der Unterstützung oder zumindest Gleichgültigkeit bestimmter Piloten sicher sein kann.
Kommt es zu Zwischenfällen, dann
landen die entsprechenden “flight
reports” wiederum in der Sicherheitsabteilung der Lufthansa, die
alles daransetzt, dass nichts an die
Öffentlichkeit gerät. Insofern muss
davon ausgegangen werden, dass
noch zahlreiche, auch unmittelbar
gewalttätige Abschiebungen mit
Lufthansa stattgefunden haben
bzw. weiter stattfinden.
Dass Lufthansa erst im vergangenen Monat, also fast ein Jahr nach
ihrem angeblichen Beschluss, in
der MitarbeiterInnenzeitung “Lufthanseat” davon berichtet, keine
Abschiebungen gegen den Widerstand der Betroffenen durchzuführen, und dass bis heute keinerlei
entsprechende Anweisung an das
Flugpersonal ergangen ist, beweist
einmal mehr, dass es um einen
Showeffekt und allein darum ging,
der “deportation class”-Kampagne
und der damit verbundenen öffentlichen Kritik den Wind aus den
Segeln zu nehmen.
Doch diese Taktik scheint nicht aufzugehen. Zu einem zweiten Aktionstag gegen die “deportation
class” anlässlich des Todestages
von Aamir Ageeb Ende Mai kam
die Lufthansa erneut ins Schwitzen. In Bremen kündigten AktivistInnen an, die Lufthansa-Pilotenschule zu besuchen und zum Gespräch zu fordern. Hektische Reaktionen auf Presseanfragen und ein
von Polizei abgeriegeltes Schulungsgebäude waren die Folgen.
An mehreren Flughäfen fanden
Demonstrationen statt, adrette
“FlugbegleiterInnen gegen Abschiebungen” waren am Kölner
Flughafen im Einsatz, in Frankfurt
wurde eine Gedenktafel aufgestellt. Mittlerweile kursiert auch ein
erster internationaler Aufruf, in
dem der Lufthansa Proteste gegen
die “deportation class” in Stock-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
holm oder Amsterdam angekündigt werden. Gleichzeitig reist nun
eine kleine Ausstellung mit Plakatentwürfen und Texttafeln zur Lufthansakampagne umher, ab Mitte
Juni wird sie bei Anti-Expo-Veranstaltungen in Hannover zu sehen
sein.
lung. Die feindliche Übernahme
war zwar noch nicht vorgesehen,
doch kritische Aktionäre und aktionistische KritikerInnen verschafften
dieser Veranstaltung eine brisante
Stimmung.
Ein vorläufiger Höhepunkt des Protestes stand der Lufthansa in Berlin
ins Haus. Am 15. Juni tagte im ICC
die jährliche Aktionärsversamm-
(aus: ak 439 vom 8.6.2000, ak analyse & kritik; Zeitung für linke
Debatte und Praxis, ergänzt von
der Redaktion)
1 Diese Angaben beziehen sich aller-
Arme Lufthansa.
dings nur auf Begleitung durch den
BGS - bezieht man alle Be-gleitkräfte
mit ein, ergeben sich ganz andere Zahlen: Laut der Antwort des Deutschen
Bundestages auf eine PDS-Anfrage
vom 30.12.99 wurden fast ein Drittel
aller 34 756 Flug-Abschiebungen 1998
in Begleitung von Sicherheitskräften
durchgeführt. 4216 Flüchtlinge wurden 1998 in Begleitung des BGS bzw.
der Länder abgeschoben, 6160 Flüchtlinge wurden durch Sicherheitskräfte
der Luftver-kehrsgesellschaften bzw.
anderer Staaten eskortiert. Unbegleitete Abschiebungen zählte die Bundesregierung 1998 bei 24 380 Flüchtlingen. (Anm. d. Red.)
„Der Kranich hat erste Federn gelassen. Wir werden ihn weiterrupfen ...“
(kein mensch ist illegal)
Lufthansa - Aktionärsversammlung
A
ls gelungenen vorläufigen
Höhepunkt der Kampagne
“deportation class stop! - gegen
Abschiebungen mit der Lufthansa”
konnte kein mensch ist illegal die
Aktionärsversammlung der Lufthansa AG im Berliner Kongresszentrum ICC gestalten.
Schon im Vorfeld war das Thema
Abschiebung angekündigt – die
über 400.000 AktionärInnen hatten als Beilage mit der Einladung
einen Gegen-Antrag der kritischen
Aktionärinnen und Aktionäre“ erhalten: wegen des „geschäftsschädigenden Imageproblems“ aufgrund der Abschiebe-Beteiligung
wurden sie aufgefordert, die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat zu verweigern. Bei der Hauptversammlung wurden sie dann vor
dem Eingang von einer Gruppe
“FlugbegleiterInnen” empfangen,
die ein Info-Blatt „Image ist alles“
verteilten und das Thema Abschiebung mittels einer anschaulich
dargestellten Passagierfesselung à
la BGS präsentierten. Im Saal selbst
saßen die adrett gekleideten AktivistInnen in den vordersten Reihen
der lt. Presseangaben 4.000 (aber
tatsächlich wohl eher halb so viel)
AktionärInnen, indes der zahlreich
vertretene Sicherheitsdienst nach
verdächtig aussehenden “StudentInnen” Ausschau hielt. So war die
Überraschung groß, als plötzlich
während der Rede des Aufsichtsratsvorsitzenden dem auf dem Podium versammelten Vorstand und
Aufsichtsrat von Lufthansa mehrere Transparente vor die Nase gehalten wurden, mit denen an die in
Lufthansa-Maschinen getöteten
Kola Bankole und Aamir Ageeb erinnert und ein Stopp der Abschiebungen gefordert wurde.
Während einem Sprecher von kmii
in den folgenden Frage- & Antwortstunden kurzerhand das Mikro abgedreht wurde und er unter
anhaltendem Applaus des AktionärInnenmobs vorübergehend
des Saales verwiesen wurde, konnte eine weitere Rednerin, die Ausländerrechtsexpertin
G.Seidler,
dem LH-Vorstand in aller Ruhe
nachweisen, dass es eine Beförderungspflicht für deportees, wie immer behauptet, nicht gebe und
Lufthansa Abschiebungen schon
aus ethischen Gründen ablehnen
könne. Was für tropische Ziervögel
gelte, deren Transport LH nicht
mehr durchführe, müsse umso
mehr auch auf Menschen angewandt werden! Und auch die wiederholt von Lufthansa in Presseerklärungen sowie auf der Aktionärsversammlung verbreitete Behauptung, bereits seit 1999 würden
49
Deportation
“Schüblinge” nicht mehr gegen
ihren Widerstand abgeschoben,
wurde als Schutzbehauptung enttarnt, mit einem Gegenbeweis
ebenso wie mit der Tatsache, dass
es eine entsprechende Anweisung
an die LH-Flugzeugführer nicht
gibt. Die Antwort von Vorstandsvorsitzendem Weber:
„... Wir werden
einen Antrag auf
Befreiung von der
Beförderungspflicht
stellen,
wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür
vorliegen.
Um
den Antrag stellen zu können,
sind umfangreiche Gespräche
mit dem Bundesministerium des
Inneren und mit
dem Bundesverkehrsministerium
erforderlich. Diese
Gespräche
werden zurzeit
geführt. ... Die
Gespräche sind
auf Expertenebene
aufgenommen
worden.
Frau Seidler, der
Flugkapitän hat grundsätzlich
als letzte Instanz an Bord immer
das Recht, jeden Passagier abzulehnen, der eine sichere Flugdurchführung gefährdet. Dies
Regel ist allen unseren Piloten
bekannt“.
Damit verlautbarte Lufthansa erstmals presseöffentlich, dass sie in
Verhandlungen mit dem Bundesinnenministerium steht mit dem Ziel,
sich völlig aus dem Geschäft mit
Abschiebungen zurückzuziehen.
Aus einer ganz anderen Richtung
argumentierte ein Internetforscher
aus Konstanz, welcher der gebannt lauschenden Versammlung
darlegte, welche Verluste dem
Konzern und seinen AktionärInnen
daraus entstehen könnte, wenn
die Kampagne zur Schädigung des
Lufthansa-Image sich unkalkulierbar in die Dimensionen des Internet ausweitete. Als Beispiel führte
er den Kampf der Internet-Künstlergruppe etoy gegen den Spielwarenkonzern eToys an. Letzterer gewann in einem Streit um die Namensgebung zwar vor den Gerichten, wurde dann jedoch mittels ei50
ner Internetkampagne mit vielen
Beteiligten zum Rückzug gezwungen. Der Wertverlust an der Börse
betrug schließlich 5 Milliarden
Dollar, was bei einem derzeitigen
Eigenkapital der Lufthansa von 7,2
Milliarden DM recht bedrohlich
wirkt. Das beeindruckte große wie
kleine AktionärInnen offenbar
stop!” zu diskutieren, wurde ein
öffentliches Forum auf den Webseiten beschlossen:
h t t p : / / w w w. d e p o r t a t i o n alliance.com/lh
(aus: SWING. Rhein-Main-Info,
leicht überarb. und ergänzt von
der Red.)
Foto: novum
sehr, die diesmal noch mit 1,10
DM Dividende pro Aktie beglückt
werden konnten.
Alles in allem wurde - mithilfe
auch des Dachverbandes der kritischen AktionärInnen, welcher kein
mensch ist illegal den Zutritt zur
Aktionärsversammlung ermöglichte - dafür gesorgt, dass die Lufthansa nach den Aktionen auf Flughäfen und diversen LH-Institutionen auch bei diesem immerhin 3
Millionen teuren Heimspiel vom
Thema deportation class nicht
mehr loskam. Um Lufthansa bei
diesen schwierigen Verhandlungen
nachhaltige Unterstützung zu geben, beschloss die tags darauf
stattfindende Versammlung der
kmii-AktivistInnen, die Beziehungen zum Konzern durch weitere
Auftritte und Besuche bei Lufthansa zu festigen. Ein Highlight könnte z.B. der Besuch des bisher wenig
frequentierten LH-Standes auf der
EXPO werden.
Um die viefältigen Möglichkeiten
des Internet zur Ausweitung der
Kampagne “deportation class
Hinweise:
Die Plakatausstellung zur deportation.class ist ebenfalls im Internet
veröffentlicht: http://www.stadtrevue.de/kmii/frame/pla00.htm
Die Aktion zum Todestag Aamir
Ageebs am 27. Mai auf dem
Frankfurter Flughafen dokumentiert Pro Asyl auf seinen Webseiten: http://www.proasyl.de/serien/flughafen/rahmen.htm
Folgende Materialien zur Kampagne gegen (Flug-)Abschiebungen
sind bei der Geschäftsstelle des
Flüchtlingsrat zu beziehen:
- Tragetaschen (Plastik) mit Aufdruck: „Deportation class. Lufttransaction spezial“ (blau-orange, optisch sehr ansprechend)
Stück 20 Pf
- „Wichtiger Hinweis für Flugreisende“ - Faltblatt von Pro Asyl
- „Internationale Sicherheitsstandards“, Doppelseitiges Flugblatt
mit Rotem Rand, offizieller Eindruck, doppelseitig bedruckt,
kartoniert, Stück 15 Pf
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
Protest-Aktion am Flughafen Langenhagen
Eine kleine Gruppe von AktivistInnen protestierte am 24.5. 2000
auf dem Flughafen Hannover gegen Abschiebungen. Die Aktion
fand statt im Rahmen der Kampagne von kein mensch ist illegal gegen die Abschiebebeteiligung von
Fluggesellschaften. Nach 45 Minuten Veranstaltungsdauer wurde
der Gruppe Hausverbot erteilt und
eine Räumung angedroht. Sie verließen lautstark das Gebäude. Wir
dokumentieren einen Redebeitrag
der Aktion.
Am 28. Mai jährt sich der Todestag
von Aamir Ageeb, der bei seiner
gewaltsamen Abschiebung von
der Polizei ermordet wurde.
Wir sind hier um gegen die Abschiebungen über die Flughäfen zu
protestieren.
Wir protestieren aus aktuellem Anlass gegen die Abschiebung von
Frau Kimbolo. Die 22-jährige Frau
soll über diesen Flug mit der Gesellschaft EUROWINGS gegen
ihren Willen in den Kongo abgeschoben werden. Sie hat Angst vor
der Abschiebung, da sie nicht
weiß, was sie dort erwartet.
Jedes Jahr werden aus Niedersachsen rund 3000- 4.000 Menschen
abgeschoben. Etwa ein Viertel von
ihnen wird über den Flughafen
Langenhagen abgeschoben. Wie
rigide und brutal der Staat Abschiebungen durchsetzen will,
wird bei Abschiebungen auf dem
Luftweg besonders deutlich. Die
Menschen, die abgeschoben werden sollen, werden gefesselt, geknebelt und mit Medikamenten
“ruhiggestellt”, das Recht auf körperlich Unversehrtheit gilt für sie
nicht. Dies geht so weit, dass sogar
der Tod der Betroffenen in Kauf
genommen wird, um das Abschiebeinteresse des Staates durch BGSBeamte durchzusetzen.
Das letzte Todesopfer dieser mörderischen Deportationspraxis war
der sudanesische Asylbewerber
Aamir Ageeb, der vor einem Jahr,
am 28. Mai 1999, mit einer LUFT-
HANSA-Maschine nach Kairo abgeschoben werden sollte. Fünf
BGS-Beamte haben ihn in das
Flugzeug gezwungen. Aamir Ageeb war von ihnen an Händen und
Füßen gefesselt worden, außerdem hatten sie ihm einen Motorradhelm aufgesetzt, um seinen
Widerstand zu brechen. Während
des Flugzeugstarts drückten die
drei BGS-Beamten seinen Oberkörper auf die Oberschenkel, so dass
Aamir Ageeb erstickte. Er war damit das vierte Todesopfer bei einer
versuchten Abschiebung auf dem
Luftweg aus Europa innerhalb eines Jahres. Die Gleichgültigkeit der
Verantwortlichen zeigt, wie weitreichend der rassistische Konsens
in dieser Gesellschaft ist, und wie
sehr die mörderische Abschiebepraxis zur Normalität geworden
ist.
Wir fordern: Schluss mit den mörderischen Abschiebungen
Die Fluggesellschaften spielen innerhalb der Abschiebemaschinerie
eine nicht unwesentliche Rolle,
denn ohne deren Mithilfe könnten
Abschiebungen nicht ohne Probleme abgewickelt werden. In
Deutschland werden die meisten
Abschiebungen mit der LUFTHANSA durchgeführt. Für sie sind Abschiebungen ein lukratives Geschäft. Allein vom Flughafen
Frankfurt/Main wird die Hälfte der
jährlich ca. 10.000 abgeschobenen MigrantInnen mit LUFTHANSA-Maschinen deportiert. Seit
März 2000 protestiert das antirassistische Netzwerk “kein Mensch
ist illegal” gegen die Beteiligung
der Lufthansa AG am Abschiebegeschäft. Infolgedessen sah sich
die LUFTHANSA genötigt, mit folgender “Klarstellung” an die Öffentlichkeit zu treten. Sie behauptete: “Die Lufthansa lehnt Abschiebungen gegen den Widerstand der
Betroffenen grundsätzlich ab und
befördert sie seit Juni 1999 nicht
mehr.”
Entgegen dieser Darstellung sieht
die Wirklichkeit anders aus! Auf
dem Lufthansaflug LH 4115 ParisBerlin am 13. März haben zwei zi-
vil gekleidete französische Begleitpolizisten nach Aussagen eines Leipziger Professors einen Abzuschiebenden inhuman und mit exzessiver Gewalt behandelt. Trotz der
Schreie des Opfers und der Proteste einiger Passagiere hat die Crew
zunächst nicht reagiert, bis dem
Flugkapitän mit juristischen Schritten gedroht wurde. Daraufhin
wurde der Flug abgesagt und alle
Passagiere mussten das Flugzeug
verlassen. Bekannt wurden außerdem zumindest zwei weitere
Zwangsabschiebungen in Lufthansa-Maschinen von Frankfurt in den
Jemen und nach Sri Lanka. Auch
der kurdische Flüchtling Abdulcabbar Akyüz aus Wiesbaden wurde
eindeutig gegen seinen Willen von
zwei Polizeibeamten und einem
Arzt im Februar diesen Jahres mit
einer Lufthansa-Maschine nach Istanbul abgeschoben. Flugbegleitern und Piloten ist von einem
Stopp bei Abschiebungen durch
die Lufthansa ebenso nichts bekannt. Auf dem Flughafen Hannover wird aber wie jetzt gerade wieder durch die Fluggesellschaft EUROWINGS und Andere abgeschoben.
Boykottdrohungen in Belgien und
den Niederlanden haben die niederländische MARTIN AIR veranlasst, das tödliche Geschäft mit den
Abschiebungen aufzugeben. Nach
dem Mord an Samira Adamu sah
sich auch die belgische Fluggesellschaft SABENA gezwungen, keine
gewaltsamen
Abschiebungen
mehr durchzuführen. Andere europäische Fluglinien wie AIR FRANCE und die niederländische KLM
fürchten bereits um ihr Image.
Wir fordern: -Schluss mit den Abschiebungen durch die LUFTHANSA, EUROWINGS und anderen
Fluggesellschaften.
Die Abschiebemaschinerie schafft
aber noch weitere Opfer, wie der
Suizid der algerischen Asylbewerberin Naimah H. im Transitbereich
des Frankfurter Flughafens zeigt.
Sieben Monate wurde sie in einem
Internierungslager auf dem Flughafen eingesperrt. Ohne Aussicht
auf Asyl und mit der drohenden
51
Deportation
Abschiebung in den Folterstaat Algerien vor Augen, hielt sie den
Druck und die seelische Belastung
nicht mehr aus und nahm sich
schließlich das Leben. Der Kommentar aus dem Innenministerium
Otto Schilys: “Naimah H. ist selber
dafür verantwortlich, sie hätte ja
ausreisen können.” Wir verurteilen
diese menschenverachtende Sichtweise und fordern den sofortigen
Rücktritt Schilys und die Abschaffung des tödlichen “Flughafenverfahrens”.
Was können Sie als Fluggast gegen
Abschiebungen
unternehmen:
Verhindern Sie die gerade stattfindende Abschiebung von Frau Kimbolo! Auch für sie als Fluggäste
gibt es Handlungsmöglichkeiten:
Protestieren Sie lautstark! Setzen
sie sich nicht hin! Schnallen sie sich
nicht an! Fordern Sie das Personal
auf, die Abschiebung nicht durchzuführen! Verweisen Sie auf die
Verletzung der Menschenrechte!
Jeder Flugkapitän kann eigenständig entscheiden, ob er startet oder
nicht! Fordern Sie ihn dazu auf, die
Durchführung der Deportation zu
verweigern! Drohen Sie mit Fluglinienboykott! Bringen Sie Ihre Beobachtungen an die Öffentlichkeit! Greifen Sie ein! Ihr Eingreifen
kann Leben retten!
Wir fordern Sie auf, aktiv mit Mut
und Solidarität gegen rassistische
Praxis und Hetze einzugreifen! Abschiebungen verhindern, Grenzen
auf für alle!
Aus unserer Reihe: Abschiebung um jeden Preis
Ausländerbehörde als Identitäts-V
Verschleierer
Cloppenburg: per Falschangaben Abschiebepapiere besorgt
RA J. Sürig/Initiative für offene Grenzen Oldenburg
H
err K. kam vor zwei Jahren
nach Deutschland, um Asyl zu
beantragen. Er selbst ist in der Elfenbeinküste geboren und aufgewachsen, aber seine Eltern stammen aus Mali.
Nachdem der Asylantrag abgelehnt wurde, versuchte die Ausländerbehörde ihn abzuschieben. Die
dazu eingeschaltete Botschaft der
Elfenbeinküste war wegen der malischen Eltern der Auffassung, Herr
K. sei kein Staatsangehöriger der
Elfenbeinküste. Die Botschaft von
Mali aber weigerte sich, Passer-
satzpapiere auszustellen, weil keine Geburtsurkunde des Herrn K. zu
beschaffen war.
Da wurde die Ausländerbehörde
einfallsreich: Weil anscheinend die
Botschaft der demokratischen Republik Kongo nicht so genau prüft,
für wen sie Passersatzpapiere ausstellt, beantragte die Ausländerbehörde dort ein sog. Laissez-Passer für eine Abschiebung nach
Kongo - obwohl Herr K. nie im
Kongo gelebt hat und keine Beziehungen zu diesem Land hat!
Im O-Ton der
Ausländerbehörde liest sich das
so: „Dabei wurden, aufgrund
der völlig ungeklärten Personenidentität
des
Antragstellers,
neben dem von
ihm angegebenen Namen und
dem von ihm angegebenen Geburtsdatum diverse fiktive Daten eingetragen.“
Foto: Karawane
52
Mit
anderen
Worten: Der beantragende Beamte des Landkreises Cloppenburg hat sich bei
der Botschaft des
Kongo Phantasiedaten zusammenfabuliert, damit das Antragsformular nicht so nackt wirkte. Auf diese
Weise sind die Daten im LaissezPasser zu den Namen der Eltern,
des Geburtsortes und der angeblichen Adresse im Kongo zustande
gekommen.
Mit dem derart erschwindelten Papier leitete die Ausländerbehörde
dann die Abschiebung ein. Sie
schaffte es sogar, Herrn K. aufgrund der mit diesem Schwindelausweis geplanten Abschiebung
für zwei Wochen in Abschiebehaft
zu nehmen. Inzwischen ist Herr K.
wieder auf freiem Fuß.
Derzeit läuft immer noch ein Eilverfahren zur Verhinderung der
Abschiebung in den Kongo, in
dem der Rechtsvertreter der Ausländerbehörde allen Ernstes meint,
das mit erschwindelten Angaben
zustande gekommene Passersatzpapier für die Abschiebung verwenden zu dürfen.
Der Rechtsanwalt von Herrn K., Jan
Sürig aus Bremen, fordert einen
sofortigen Stopp der Abschiebung
und eine Strafverfolgung der Beamten der Ausländerbehörde
Cloppenburg, die auf derart kriminelle Weise Passersatzpapiere besorgen und damit auch noch Abschiebehaft erwirken.
(Presseerklärung vom 27. 7. 2000)
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
„Wie lauten die Personalien
Ihres Großvaters väterlicherseits?“
Neue Fragen des Bundesamtes im Asylverfahren
Das Bundesamt führt auf Vorschlag der AG RÜCK
neue Fragen ins Asylverfahren ein. Diese Arbeitsgruppe der Innenminister auf Bundesebene erdenkt neue
Instrumentarien, um die Zahl der Abschiebungen zu
erhöhen. Ein Blick auf die Fragen zeigt, dass sie schon bei der Erstbefragung im Asylverfahren – darauf abzielen, die Abschiebevoraussetzungen zu sichern. Schon der erste offizielle Zwischenbericht zum
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Modellprojekt Identitätsfeststellung regte entsprechende Maßnahmen an: Flüchtlinge könnten doch
bei der Asylantragsstellung solange in der Erstaufnahmeeinrichtung festgehalten werden, bis die Abschiebevoraussetzungen gesichert und Pässe oder Ersatzpapiere beschafft seien. Modellprojekt Identitätsfeststellung von Anfang an. (Red.)
Sprechen Sie neben der/den angegebenen Sprache(n) noch weitere Dialekte?
Besitzen oder besaßen Sie noch weitere Staatsangehörigkeiten?
Gehören Sie zu einem bestimmten Stamm/ einer bestimmten Volksgruppe?
Können Sie mir Personalpapiere wie z.b. einen Pass, Passersatz oder Personalausweis vorlegen?
Haben Sie in Ihrem Heimatland Personalpapiere wie z.b. einen Pass, Passersatz oder einen Personalausweis besessen?
Aus welchen Gründen können Sie keine Personalpapiere vorlegen?
Können Sie mir sonstige Dokumente (z.b. Zeugnisse, Geburtsurkunde, Wehrpass, Führerschein)
über Ihre Person vorlegen?
Haben oder hatten Sie ein Aufenthaltsdokument/ Visum für die Bundesrepublik Deutschland?
Nennen Sie mir bitte Ihre letzte offizielle Anschrift im Heimatland! Haben Sie sich dort bis zur
Ausreise aufgehalten? Wenn nein, wo?
Nennen Sie bitte Familiennamen, ggf. Geburtsname, Vorname, Geburtsdatum und –ort Ihres Ehepartners sowie Datum und Ort der Eheschließung! Können Sie mir Nachweise vorlegen oder
nachreichen?
Wie lautet dessen Anschrift (falls er sich nicht mehr im Heimatland aufhält, bitte die letzte Adresse dort und die aktuelle angeben)?
Haben Sie Kinder (bitte alle, auch volljährige mit Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum und
–ort angeben)? Können Sie mir Nachweise vorlegen oder nachreichen?
Wie lautet deren Anschrift (falls sich Kinder nicht mehr im Heimatland aufhalten, bitte die letzte
Adresse dort und die aktuelle angeben)? Können Sie mir Nachweise vorlegen oder nachreichen?
Nennen Sie mir bitte Name, Vorname und Anschrift der Eltern!
Haben Sie Geschwister, Großeltern, Onkel oder Tante(n), die außerhalb Ihres Heimatlandes leben?
Leben noch weitere Verwandte im Heimatland?
Wie lauten die Personalien Ihres Großvaters väterlicherseits?
Welche Schule(n), Universität(en) haben Sie besucht?
Welchen Beruf haben Sie erlernt? Bei welchem Arbeitgeber haben sie zuletzt gearbeitet? Hatten
Sie ein Geschäft?
Haben Sie Wehrdienst geleistet?
Waren Sie schon früher einmal in der Bundesrepublik Deutschland?
Haben Sie bereits in einem anderen Staat Asyl oder die Anerkennung als Flüchtling beantragt oder
zuerkannt bekommen?
Wurde für einen Familienangehörigen in einem anderen Staat der Flüchtlingsstatus beantragt oder
zuerkannt und hat dieser dort seinen legalen Wohnsitz?
Haben Sie Einwände dagegen, dass Ihr Asylantrag in diesem Staat geprüft wird?
Bitte schildern Sie mir, wie und wann Sie nach Deutschland gekommen sind. Geben Sie dabei an,
wann und auf welche Weise Sie Ihr Herkunftsland verlassen haben, über welche anderen Ländern
Sie gereist sind und wie die Einreise nach Deutschland erfolgte.
53
Deportation
Mustergefängnis?
Niedersächsischer Abschiebeknast
vorzeitig in Betrieb
Maria Wöste
D
ass die Protest-Aktionen gegen
die EXPO nicht so richtig in die
Füße kamen, war nicht weiter
schlimm. „Die EXPO floppt sich
selber“, konnten sich KritikerInnen
der Weltausstellung freuen. Nicht
darüber freuen können sich Flüchtlinge, die in Niedersachsen in Abschiebehaft genommen werden.
Denn statt wie geplant erst 2001
richtig als Abschiebehaftanstalt in
Betrieb genommen zu werden,
wird die ehemalige ZAST neben
dem Flughafen schon jetzt als Abschiebeknast genutzt. Die kräftig
geschürte, Repressionsmaßnahmen legitimierende Expo-Kriminalitäts-Phobie im Vorfeld der EXPO
hat sich ebenso als absolut irreal
erwiesen wie die Besucher-ZahlenEuphorie. Die vorläufige Nutzung
der „JVA Hannover, Abteilung Langenhagen“(wie sie offiziell heißt)
als EXPO-Knast war deshalb nicht
nötig. Hier sitzen jetzt z.b. KosovoFlüchtlinge, mit deren Abschiebung in Niedersachsen ebenso
schleichend und klammheimlich
begonnen wurde, wie der Langenhagener Knast vorzeitig seinen
Voll-Betrieb als Abschiebehaftanstalt aufnahm.
Ganz ohne Begleitmusik ging die
Inbetriebnahme aber nicht über
die Bühne. Ein Flugblatt für EXPOGegnerInnen berichtet von akzeptanzfördernden Maßnahmen:
"Am 20. 5.2000 war im Knast
Tag der offenen Tür. Ca. 2000
Hannoveraner und Langenhagener nutzten das gemischte Wetter, um zumeist in Kleinfamilienzusammenhängen mal so ein
Gefängnis von Innen zu sehen.
Eingeladen hatte die Gefängnisleitung über die Zeitung mit verharmlosenden Umschreibungen
54
der Knastrealität. Die "Unterkunft" sei während der EXPOZeit "nicht für schwere Jungs",
von "gepflegter Atmosphäre"
und "möblierten Zimmern" war
die Rede, später dann erwarte
man "Gäste aus dem Ausland",
Asylanten eben, Abgelehnte,
Kriminalisierte. Auf Info-Wänden
wurde am 20.5. geschrieben:
"Die Versorgung der zu Betreuenden wird nicht zuletzt durch
Ehrenamtliche und Sozialpädagogen ermöglicht. Zu ihren
Aufgaben gehört z.b. die Kontaktaufnahme zu Angehörigen
im Heimatland, um die Rückführung in eine soziale und erfolgreiche Bahn zu lenken."
Das liest sich zwar wie aus dem
Werbeprospekt für das Hotel „Airport House“, das die andere Hälfte
des ehemaligen ZAST-Geländes
nutzt, ist aber tatsächlich Beschreibung der Abschiebehaftanstalt
Langenhagen. Und hat mit der
Wirklichkeit von Abschiebeknästen
wenig zu tun, denn ihre subtile
Gewalt lässt sich auch mit sozialpädagogischer Betreuung und
großen Fenstern nicht aus der Welt
schaffen.
Die tatsächliche Funktion der Haftanstalt offenbart sich eindeutiger
anhand eines Geländeplans, der
im Flugblatt für EXPO-GegnerInnen skizziert wird, z.b. die „Aufnahmeabteilung: im ersten Stock
Zellen, im Erdgeschoss ein Raum
für erkennungsdienstliche Maßnahmen und Verhöre. Zur Feststellung der Identität dienen weiterhin
eine Zahnarztpraxis und zur Altersfeststellung ein Röntgenschirm für
Oberkörper- und Hand-Aufnahmen. Zur standardisierten Krebsvorsorge-Untersuchung spritzt der
Arzt hier auch einen radioaktiven
Marker in die Blutbahn. Laut seinen Angaben schlucken Häftlinge
des öfteren Messer und Gabel, um
zur Operation in ein ziviles Krankenhaus eingeliefert zu werden.
Dort ist die Flucht verhältnismäßig
einfach. Meint der Arzt.“ Da irrt
der Arzt, denn auch bei verschluckten Gegenständen werden
Abschiebehäftlinge in die chirurgische Abteilung des Haftkrankenhauses Lingen eingeliefert.
Dass Flüchtlinge in Abschiebehaft
zu verzweifelten Maßnahmen greifen und „des öfteren“ Messer und
Gabel schlucken (Arzt der Haftanstalt), dass „ein Kurde wegen eines
Hungerstreiks in die Krankenabteilung ... gebracht“ wurde, dass eine
Frau „wegen Selbsttötungsgefahr... einen Tag in einem besonders gesicherten Raum“ (HAZ
8.8.00) verbringen musste, stellt in
der offiziellen Harmonie-Rhetorik
keinen Bruch her. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung befindet
über die neue Niedersächsische
Abschiebehaftanstalt: „das Bild
vom vergleichsweise harmonischen Miteinander trüben solche
Einzelfälle kaum. Ein Mustergefängnis also?“ (HAZ, 8.8. 2000).
Auf jeden Fall ein Muster für Abschiebehaft, denn Suizidversuche
erscheinen Flüchtlingen in Abschiebehaft nicht selten als letzte
Möglichkeit, der unerträglichen
Zukunft zu entkommen. Nach einer Zählung der Antirassistischen
Initiative Berlin töteten sich 78
Menschen im Zeitraum 1. Januar
1993 bis 31. Dezember 99 selbst
angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Allein 36 Flüchtlinge starben
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
in Abschiebehaft. Mindestens 185
Flüchtlinge haben sich aus Verzweiflung und Panik vor der Abschiebung selbst verletzt oder versuchten sich umzubringen und
überlebten z.T. schwer verletzt.
Das gilt auch für Niedersachsen.
Laut Meldungen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hat
z.b. in diesem Jahr ein 17jähriger
Guineaner am 21. April in Jork
(Kreis Stade) in seiner Abschiebehaftzelle ein Feuer gelegt und dabei schwerste Verbrennungen erlitten. Am 16. Juli versuchte ein
zweiundzwanzigjähriger Kurde aus
der Türkei in der JVA Hannover das
Zelleninventar anzuzünden und erlitt eine Rauchvergiftung.
In einem Redebeitrag listet eine
Gruppe aus Hannover kollektive
Formen von Widerstand in Abschiebehaftanstalten auf. Damit
wird kein ´Widerstands´- Mythos
der ´kollektiv kämpfenden Flüchtlinge´ konstruiert, wirft doch der
Blick auf Umstände und Ausgang
der Proteste v.a. ein Licht auf die
Ausweglosigkeit der Situation von
Flüchtlingen in Abschiebehaft:
„Im Sommer 1994 kam es in der
ELWE in Kassel zur Revolte. Anfangs beteiligten sich 39 Gefangene, überwiegend Migranten.
Sie protestierten gegen die
Knastbedingungen und die Ab-
schiebehaft und forderten die
Ausreise nach Frankreich. Da die
Gefangenen eine Geisel genommen und umfangreiche Brände
im Knast gelegt hatten, gelang
es der GSG 9 vorerst nicht, den
Knast zu stürmen. In Verhandlungen stimmten die letzten 26
übriggebliebenen Gefangenen
ihrer Verlegung in den Knast
Wiesbaden zu. Als sie in den bereitstehenden Bus einsteigen
wollten, wurden sie von einem
Kommando der GSG 9 überwältigt. Die Gefangenen wurden in
verschiedene Knäste verschleppt
und schwer misshandelt. 17 von
ihnen wurden angeklagt. Ergebnis waren Haftstrafen von bis zu
fünfeinhalb Jahren. An den
Haftbedingung in der ELWE hat
sich nichts verändert.
Im Frauenabschiebeknast Neuss
führten die Kontakte der dortigen Frauenberatungsstelle in
den Knast zu dauerhaftem Protest. Dadurch wurden die Knastbedingung der Frauen zumindest in eineigen Punkten verbessert.
wurde eine Frau aus dem Haftkrankenhaus entlassen und in eine Klinik ihrer Wahl verlegt. Eine
andere Frau ist noch in Moabit,
nimmt wieder Nahrung zu sich
und erhält Psychopharmaka. Die
zwei weiteren hungerstreikeden Frauen wurden aus gesundheitlichen und sogenannten formalen Gründen aus der Abschiebehaft entlassen. In den letzten
Wochen hatten sich neben der
Antirassistischen Initiative Berlin
mehrere Prominente für die Freilassung der Frauen eingesetzt.“
Auch im Transitbereich des Flughafens Frankreich versuchten 25
Flüchtlinge Ende Juli, durch einen
gemeinsamen Hungerstreik auf ihre recht- und ausweglose Situation
im Niemandsland aufmerksam zu
machen. Einem der Hungerstreikenden, ein Iraner, wurde die Einreise auf das Bundesgebiet erlaubt,
zwei Flüchtlinge aus Sri Lanka ohne Einreise nach drei Monaten im
Transit zurückgeschoben. Die übrigen Flüchtlinge mussten den Hungerstreik schließlich aus gesundheitlichen Gründen abbrechen.
Im Frühjahr diesen Jahres gingen
im Berliner Abschiebeknast Moabit vier Frauen in den Hungerstreik. Sie protestierten gegen
ihre Inhaftierung und die befürchtete Abschiebung. Nach 61
Tagen Nahrungsverweigerung
Rassismus und Gewalt:
Flüchtlingspolitik in der Kunst
Christoph Schlingensief, Theater-Performance-Künstler,
organisierte in Wien eine Variation des „Big Brother“
für Flüchtlinge mit dem Titel: „Bitte liebt Österreich –
Erste österreichische Koalitionswoche“. Zwischen dem
11. und 17. Juni wurden neben der Wiener Staatsoper
Container aufgestellt, in die 12 Asylbewerber einzogen. Auf Bildschirmen war das Innere zu beobachten.
Die Besucher konnten (auch per Internet) darüber abstimmen, welcher Asylbewerber zur Abschiebung freigegeben werden sollte. Dem zuletzt übriggebliebenen
Flüchtling wurde ein Bleiberecht über eine Heirat mit
einer Österreicherin in Aussicht gestellt.
Für solche - zynischen -Formen der Auseinandersetzung mit der - zynischen -Flüchtlingspolitik braucht es
kein Haider-Land: Schlingensief hat die deutsche
Staatsangehörigkeit.
55
Deportation
Gemeinsam gegen Abschiebung
und soziale Ausgrenzung
Karawane-FFlüchtlingskongress in Jena vom 20. April bis zum 1. Mai 2000
Kerstin Gierth und Cornelius Yufanyi
Die ReferentInnen aus anderen
Ländern sind längst wieder zuhause und das Veranstaltungszelt abgebaut. Nicht abgebaut aber sind
die Gründe und Themen, die diesen Kongress nötig machten. In
der Medien-Debatte der letzten
Wochen über Rechtsextremismus
kommen Flüchtlinge und andere
tatsächliche oder vermeintliche
Ausländer, die häufigsten Opfer
rechtsextremer Gewalt, nicht zu
Wort. Ihre Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in
denen Faschisten und Rassisten ihre Anschlags-Ziele wählen, waren
aber Thema im Frühjahr dieses Jahres im Osten Deutschlands. Im folgenden ein Bericht über Inhalte
und Ergebnisse des Kongresses der
Karawane für die Rechte von
Flüchtlingen und MigrantInnen,
der vom 20. April bis zum 1. Mai in
Jena stattgefunden hat. (Red.)
B
ei diesem ersten Kongress von
Flüchtlings-Selbstorganisationen trafen sich Delegierte aus über
40 verschiedenen Ländern: aus Lateinamerika, Afrika, Mittlerem
Osten und Asien. Besucht haben
den Kongress etwa 600 Menschen, täglich waren es durchschnittlich zwischen 200 und 300.
Die Tage waren unter verschiedene
Themenschwerpunkte gegliedert.
Mit einem Tag für Abschlussresolutionen und Manifeste endete der
Kongress am 1. Mai in einer Kundgebungsdemo in Zusammenarbeit
mit dem DGB Ostthüringen, wo
die zuvor erarbeiteten Resultate
der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Hauptsächlich organisierten
des Kongress die Gruppen The Voice Africa Forum, der Internationale
Menschenrechtsverein Bremen,
Karawane/Kein mensch ist illegalGruppen aus Hanau und verschiedene Flüchtlingsräte.
Residenzpflicht
Schon zu Beginn des Kongresses
wurden wir damit konfrontiert,
dass viele Flüchtlinge in Deutschland, die an diesem Kongress teilnehmen wollten, durch die Bestimmung der Residenzpflicht davon
abgehalten wurden. Trotz eines
Schreibens der Bundesausländerbeauftragten Marie-Luise Beck, das
den Ausländerbehörden empfahl,
die Teilnahme an dem überaus
wichtigen Flüchtlingskongress in
Jena zu gestatten, verweigerten
viele Ausländerämter die Reisegenehmigung. Manchmal war diese
Verweigerung zusätzlich verbunden mit Einschüchterungsversuchen und der Drohungen, dass eine Teilnahme am Kongress die Abschiebung beschleunigen würde.
In Rathenow und Cottbus lag den
Foto: Karawane: Weg mit der Residenzpflicht
56
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Deportation
Ausländerbehörden sogar ein
Rundbrief des Brandenburger Innenministeriums vor, mit dem sie
aufgefordert wurden, keine Erlaubnis für eine Teilnahme auszustellen.
Dieses Gesetz der Residenzpflicht,
das seit 1982 Asylsuchenden in
Deutschland untersagt, den Landkreis in dem sie leben ohne Erlaubnis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen, existiert europaweit lediglich in Deutschland.
Es drückt exemplarisch die extreme
Art der Sonder-Behandlung von
Flüchtlingen in Deutschland aus.
Es stellt eine gravierende Verletzung menschlicher Grundrechte
dar und wird von den KongressteilnehmerInnen als Form von politischer Verfolgung betrachtet, da
Flüchtlinge ihres Rechts beraubt
sind, sich frei zu bewegen und sich
politisch auszudrücken. Die Karawane bedeutet, wie der Name
schon sagt, Bewegung. Daher
wurde schon zu Beginn des Kongresses eine Kampagne mit der
Forderung nach Aufhebung der
Residenzpflicht entwickelt. Eine
Serie von bundesweit koordinierten Protestaktivitäten gegen die
Residenzpflicht wird den Höhepunkt am 3. Oktober, dem Tag der
Wiedervereinigung Deutschlands,
finden. An diesem Tag wird die Karawane mit einer Kampagne des
zivilen Ungehorsams, u.a. Demonstrationen vor diversen deutschen
Botschaften innerhalb und außerhalb Europas, nicht nur bundesweit sondern auch international
die Aufmerksamkeit auf die scheinbar unsichtbaren Menschenrechtsverletzungen in Deutschland lenken.
„Wir sind hier,
weil ihr unsere Länder
zerstört“
Der Slogan „Wir sind hier, weil ihr
unsere Länder zerstört“ drückt eine
der zentralen Positionen der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen aus, denn
die Probleme, mit denen Flüchtlinge konfrontiert sind, haben zwei
Gesichter.
Auf der einen Seite müssen wir uns
den Abschiebungen, den rassistischen Behandlungen und der sozialen Ausgrenzung hier in
Deutschland entgegenstellen. Auf
der anderen Seite dürfen die Augen auch nicht davor verschlossen
werden, was eigentlich die großen
Migrationswellen unserer Zeit ausgelöst hat und immer noch auslöst. Die deutsche Regierung führt
den Kampf für ein Europa an, in
dem die Grenzen für politische
Flüchtlinge geschlossen werden.
Otto Schily argumentiert, dass die
Asylgesetze an sich veraltet und
unnötig sind, da die neo-liberale
Wirtschaft begleitet wird von einer
Zur Abschreckung:
Ausweisung wegen
Residenzpflicht-V
Verletzung
Anfang letzten Jahres reiste Jose
Maria Jones mit einer Delegation
der Karawane für die Rechte von
Flüchtlingen und MigrantInnen
durch mehrere Städte im Ruhrgebiet und Bayern, um für den
Flüchtlings-Kongress in Jena zu
mobilisieren. Dabei wurde die Delegation drei Mal an Tankstellen
kontrolliert. Einige Monate später
erhielt Jose Maria Jones einen
Ausweisungsbescheid:
wegen
Verstoßes gegen die Residenzpflicht. Damit habe er „die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.v.
§45 Abs. 1 AuslG maßgeblich beeinträchtigt sowie erhebliche Interessen der Bundesrepublik
Deutschland.“ Der Ausweisungsbescheid wird damit begründet,
dass durch die Aktivitäten von
Herrn Jones „andere Ausländer
davon ab(ge)halten (werden)
soll(en), Straftaten gegen die
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu begehen. (...)
Gerade im Bereich der Verstöße
gegen die räumliche Beschränkung (...) ist bei Asylbewerbern
zunehmend und in umfangreichen Maße eine Anhäufung derartiger Straftaten im Bundesgebiet
festzustellen, so dass hier eine
Ahndung mit allen Mitteln durch
die Behörden gegeben ist.“ So das
Landratsamt Wartburgkreis.
Einführung liberaler Politik in der
ganzen Welt. Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen in den
Ländern, aus denen wir kommen,
würden folglich nach und nach
verschwinden.
Die international geladenen SprecherInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Mittleren
Osten stellten in ihren Berichten
auf dem Kongress das genaue Gegenteil dar – mit der Liberalisierung der Marktwirtschaft sei die
Zerstörung unserer Herkunftsländer noch angewachsen.
Für die Flüchtlinge wird die EXPO
2000 eine verstörende Erfahrung
werden. „Die Regime aus denen
wir fliehen mußten, sei es Nigeria
oder Nepal, ...werden sich als Demokratien ausgeben und eine
Menge Wirtschaftsverträge werden dort abgeschlossen werden.“
Auf dem Karawane-Kongress wurde beschlossen, dass an den speziellen Ländertagen der EXPO die
Flüchtlinge aus den jeweiligen Ländern mit Unterstützung der gesamten Karawane das Licht auf ihre Fluchtgründe lenken werden,
um zu zeigen, das nicht alles Gold
ist, was auf der Expo glänzt. Darüber hinaus soll ein Informationsund Archivbüro zu einzelnen Ländersituationen eingerichtet werden.
Behandelt wurde an diesen Tagen
ebenfalls die Thematik von politischen Gefangenen. Unter diesen
Begriff fallen nicht nur der Teil der
Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern gegen die dortigen Regime aktiv waren, sondern auch die
Flüchtlinge hier, die vom deutschen Staat kriminalisiert werden
oder mit Abschiebehaft bedroht
sind. In diesem Kontext ebenfalls
thematisiert wurde die Isolationshaft, die in Deutschland entwickelt
wurde und nun in vielen Ländern,
vor allem der Türkei, die blutige
Folter ersetzt.
„Festung Europa“
Die Vereinheitlichung und Verschärfung der europäischen Migrations- und Asylpolitik zielt mittlerweile auch direkt auf die Herkunftsländer. Entsprechend der
EU-Aktionspläne werden alle ökonomischen und politischen Mittel
eingesetzt, um die Herkunfts- und
Transitstaaten in die Zerschlagung
der Fluchtwege einzubinden und
Rückübernahmeabkommen zu erzwingen. Die Bekämpfung der sogenannten illegalen Migration, die
Koordinierung der Abschiebemaßnahmen und eine zunehmende
Entrechtung prägen die Lebensbedingungen von Flüchtlingen und
Nicht-EU-MigrantInnen in ganz
Europa.
57
Deportation
Vor diesem Hintergrund waren auf
dem Kongress Delegationen von
Selbstorganisationen aus zehn europäischen Ländern eingeladen.
Übereinstimmend wurde die Notwendigkeit betont, gemeinsam der
weiteren Formierung der Festung
entgegenzutreten. Ein erster
Schritt besteht in der Ausarbeitung
eines europäischen Manifestes für
die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, das im kommenden
Herbst, im Rahmen von Aktivitäten
zur französischen EU-Präsidentschaft, fertiggestellt wird. Gemeinsame Kampagnen gegen die an
Abschiebungen beteiligten Fluggesellschaften wurden bereits gestartet. Und auch die gleichzeitig
stattfindenden Aktionscamps an
den Außengrenzen der Festung
Europa im Sommer richten den
Protest unmittelbar gegen ein barbarisches Grenzregime, das europaweit Tausende von Todesopfern,
vor allem ertrunkene Flüchtlinge
im Mittelmeer, zu verantworten
hat.
Soziale Ausgrenzung,
Rassismus und
Faschismus
Behördlich angeordnete permanente Polizeikontrollen von Flüchtlingen und Migranten sind Ergebnis von Sondergesetzen gegen
Flüchtlinge. Neben der Residenzpflicht spielt auch das rassistische
Asylbewerberleistungsgesetz eine
große Rolle bei sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Ungerechtfertigte Verhaftungen, Verfolgung und Misshandlungen wurden yauf dem Kongress dokumentiert und diskutiert und beschlossen, Aktionen durchzuführen, z.B.
Demonstrationen in Bahnhöfen,
um in den kommenden Wochen
diese Übergriffe öffentlich zu machen.
Polizeikontrollen
und
behördlicher Rassismus sollen mittels umfassender Fragebögen dokumentiert werden.
Projekt X in Braunschweig und Oldenburg und diverse Kasernierungslager erinnern an ein Stück
deutsche Geschichte, deren Ausgrenzungsmechanismen und Strategien der Entrechtung fatale Ähnlichkeiten aufweisen. Internationale Delegationen der Karawane besuchten in diesem Kontext das
Konzentrationslager
in
Buchenwald, das Abschiebegefäng58
nis in Untermaßfeld und ein Kasernierungslager in Ansbach/ Mittelfranken.
Frauen und Flucht/
Migration
Der Begriff des individuell politisch
Verfolgten, wie er im deutschen
Asylrecht vorkommt, ist ein Konstrukt, dass Frauen und ihre spezifischen Flucht-Gründe meistens
ausschließt. Wenn Frauen ihre Länder verlassen, weil sie als Frauen
verfolgt sind - etwa durch sexuelle
Gewalt oder durch sexistisch diskriminierende Gesetze, dann ist diese
Unterdrückung politisch und darf
nicht als „kulturelle Differenz“ gerechtfertigt werden.
Beispielsweise berichteten iranische Frauen, dass im Zuge der
Annäherung Deutschlands an die
islamische Republik Iran die Menschenrechtssituation im Iran zunehmend beschönigt und die systematische Unterdrückung der
Frauen ignoriert wird, obwohl sich
an der islamistischen Gesetzgebung nichts verändert hat. So ist
beispielsweise Auspeitschung wegen unvollständiger Verschleierung oder Steinigung von Frauen
wegen außerehelicher sexueller
Kontakte nach wie vor geltendes
Recht. Gleichzeitig ebnet die Legitimierungspropaganda den Weg
für die Massenabschiebungen von
Flüchtlingsfrauen an ihre Peiniger.
In Deutschland wurden Frauen in
den letzten Monaten für die Passbeschaffung zwangsverschleiert
oder ihre Fotos nachträglich mit
Kopftüchern retuschiert. Die Notwendigkeit der Zwangsverschleierung auch in Deutschland ist der
Beweis für die Unterdrückung aller
Frauen im Iran. Daher darf keine
Frau in den Iran abgeschoben werden!
Ein weiterer Aspekt dieses Themas
ist die Apartheid in der deutschen
Familienpolitik. Viele Paare waren
in der Vergangenheit davon betroffen, dass der deutsche Staat
mit allen Mitteln versuchte, die Ehe
mit ausländischen Partnern zu verhindern oder durch Abschiebung
zu unterlaufen. Eine schon im Vorfeld des Kongress gestartete Kampagne kämpft für Familienzusammenführung und ein Bleiberecht
für Flüchtlingsehepartner.
Gemeinsam gegen
Abschiebungen
Abschiebung an sich stellt eine
eklatante Menschenrechtsverletzung dar. Nicht nur weil dadurch
Flüchtlinge, die vor Folter und Tod
geflohen sind, in zynischer Weise
ihren Verfolgern ausgehändigt
werden, sondern auch weil Abschiebungen das Gefälle zwischen
reichen westlichen Industrieländern und dem Trikont vergrößern
und unüberwindliche Grenzen zementieren. Auf dem Kongress wurden Beispiele vorgestellt, wie
Flüchtlinge und illegalisierte Personen tagtäglich von der drohenden
Abschiebung terrorisiert werden.
Deutsche Behörden und die Botschaften der Herkunftsländer kollaborieren, um Personen, die um ihr
Überleben und für ihre Menschenrechte kämpfen, z.T. durch Massenabschiebungen loszuwerden.
Strategien für den Kampf gegen
Abschiebungen wurden auf dem
Kongress diskutiert, z.b. wird die
Karawane Aktionen auf Flughäfen
gegen die Abschiebe-Beteiligung
der Lufthansa unterstützen.
Ebenso wird eine internationale
Delegation des Karawanekongresses das „Wanderkirchenasyl“ besuchen und Unterstützungsmöglichkeiten diskutieren. Kurden aus
dem „Wanderkirchenasyl“ berichteten auf dem Kongress von ihrem
langzeitigen Kampf für ein Bleiberecht und ihrer Probleme damit,
dass die Nordrhein-Westfälische
Landesregierung lediglich die Prüfung individueller Fälle zusagte,
sich jedoch weigert, alle sich zum
Teil schon seit Jahren im Wanderkirchenasyl befindlichen Personen
zu legalisieren.
Auf dem Kongress waren viele
Flüchtlinge, die direkt von Abschiebungen in Länder, in denen ihr Leben in Gefahr ist, bedroht sind.
Auch viele Aktivisten der Karawane
droht die Abschiebung, obwohl sie
wegen ihrer politischen Aktivitäten
hier und vor ihrer Flucht in ihren
Herkunftsländern großer Gefahr
ausgesetzt sind. Dringende Aktionen wie Unterschriftensammlungen, Fax-Kampagnen und Briefe an
die Behörden wurden auf dem
Kongress im April und werden
auch in Zukunft initiiert, um diese
Flüchtlinge zu unterstützen.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kurdenverfolgung
Kurdenverfolgung
Rassismus und Gewalt:
Von Deutschland in den
türkischen Folterkeller
Zur Rückkehrgefährdung von Kurdinnen und Kurden - 2. erweiterte Auflage
M
it 13 neuen Fallschilderungen setzen der Niedersächsische Flüchtlingsrat und PRO ASYL
die Dokumentation von Verfolgungsfällen nach der Abschiebung in die Türkei fort. Sieben aktuelle Fälle wurden recherchiert
und sechs Fälle von Rückkehrern
aufgenommen, denen die erneute
Flucht nach Deutschland gelungen
ist, und die vom Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (BAFl) oder einem Gericht als politisch Verfolgte anerkannt wurden.
In allen dokumentierten Fällen liegen wieder typische Verfolgungsmuster vor. Fast alle KurdInnen begründeten ihren Asylerstantrag
damit, dass sie vor Repressalien
durch
die
Sicherheitskräfte
und/oder dem Militärdienst geflohen seien. Man habe sie zwingen
wollen, als Dorfschützer zu arbeiten und mit dem Staat zu kooperieren. Weil sie sich weigerten, seien sie misshandelt und ihre Dörfer
zerstört worden. In allen Fällen
lehnten das Bundesamt und die
Gerichte die Asylbegehren mit stereotypen Begründungen ab. Sie
verneinten eine Gruppenverfolgung, bagatellisierten das Vorbringen als “landesüblich” und “bloße
Belästigung” und verwiesen auf
die inländische Fluchtalternative.
Folgeverfahren wurden meist
nicht durchgeführt mit der Begründung, es handele sich um
“bloße Mitläufer”, deren exilpolitische Aktivitäten für die Sicherheitskräfte uninteressant seien.
Die Betroffenen wurden per Abschiebung der erneuten Verfolgung ausgesetzt.
Ahmet Angay und N.B. wurden
beispielsweise gleich auf dem
Flughafen festgenommen und 9
Tage verhört und misshandelt. Ihnen wurde vorgeworfen, in
Deutschland für die PKK demonstriert zu haben. Nach ihrer Freilassung gerieten sie erneut in die
Fänge der Sicherheitskräfte: N.B.
wurde von einem Dorfschützer,
der ihn auf MED-TV erkannt hatte,
denunziert, Herr Angay in Enez
festgenommen. Beide wurden
schwer gefoltert.
Claudia Gayer
Abdurrahman T., Ferit M. und Hüseyin Ayhanci wurden auf offener
Straße von Zivilbeamten entführt
und unter Folter verhört. Die Sicherheitskräfte unterstellten ihnen, in Deutschland für die PKK
gearbeitet zu haben, und verlangten hierüber Informationen und
Namen. Von Ayhanci ist bekannt,
dass er aufgefordert wurde, als
Agent die Exilopposition auszukundschaften. Auch bei den anderen dokumentierten Fällen spielten
bei den Festnahmen und Verhören
das tatsächliche oder unterstellte
politische Engagement der Kurden
im Ausland eine große Rolle. Dies
geht u.a. aus den Vernehmungsprotokollen der Anti-Terror-Abteilung und den Gerichtsunterlagen
hervor.
Die Kurdin Can I. wurde in Antalya
vermutlich aufgrund einer Denunziation gezielt aus einem Reisebus
59
Kurdenverfolgung
Foto: 3.Welt Saar
geholt und zur Anti-Terror-Abteilung gebracht, wo man sie unter
Folter verhörte. Ihren Angaben zufolge wurde sie unter anderem
auch zu (angeblichen) Aktivisten
von “Kirchenaktionen” in Deutschland befragt. Der Fall der Kurdin
bestärkt Befürchtungen, dass seitens der türkischen Verfolgungsbehörden ein starkes Interesse an
der Ermittlung der TeilnehmerInnen des nordrhein-westfälischen
Wanderkirchenasyls besteht, und
dass im Falle einer Abschiebung
mit politischer Verfolgung gerechnet werden muss. Erst am
21.10.99 hatte der Überläufer Vedat Yilmaz vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir das Wanderkirchenasyl als eine von der PKK
gesteuerte Aktion denunziert und
dabei auch etliche Namen genannt. Ein im Januar 2000 abgeschobener Teilnehmer des Wanderkirchenasyls, Yusuf Demir, wurde Zeugenaussagen zufolge festgenommen, verhört und gefoltert.
Er wird derzeit in der Menschenrechtsstiftung in Izmir untersucht.
Wie schwer es speziell für Frauen
ist, Asylgründe geltend zu machen, zeigen die dokumentierten
Fälle Ayse T., Z. und L. S., die von
den Sicherheitskräften nach der
Abschiebung gequält und sexuell
gefoltert wurden. Das Bundesamt
und das VG hielten das Vorbringen
der Frauen nach ihrer erneuten
Flucht zwar für glaubhaft - jedoch
nicht für asylrelevant.
Deutsche Behörden und Gerichte
haben 23 der 32 dokumentierten
60
Fälle überprüft. In 12 Fällen wurden die Betroffenen nachträglich
als Flüchtlinge gemäß Grundgesetz oder der Genfer Konvention
anerkannt. Anderen wurden Abschiebehindernisse zuerkannt oder
die Wiedereinreise gestattet. Nur
in einem einzigen Fall hält das AA
im gegenwärtigen Prüfungsstadium die Foltervorwürfe für unglaubwürdig. Das Auswärtige Amt
hat aus diesen für die deutsche
Asylpraxis verheerenden Ergebnissen mittlerweile einige Konsequenzen gezogen: In seinem neuen Lagebericht
zur
Türkei
vom
22.06.2000 korrigierte das Auswärtige Amt seine bisherige Einschätzung zur Rückkehrgefährdung von kurdischen Flüchtlingen
in einigen relevanten Punkten (s.
hierzu ausführlich die Einschätzung zum aktuellen Bericht).
Im Dezember 99 beschloss der EUGipfel auf maßgebliches Betreiben
Deutschlands hin, die Türkei in den
Status einer Beitrittskandidatin zu
erheben. Wir begrüßen dies
grundsätzlich, warnen jedoch davor, die bloße Ankündigung eines
Demokratisierungsprozesses mit
dessen Umsetzung gleichzusetzen:
In der Praxis haben sich die Bekenntnisse führender türkischer
Politiker zur Demokratisierung und
Einhaltung der Menschenrechte
bislang nicht niedergeschlagen.
Nach wie vor bestehen die rechtlichen Grundlagen, aufgrund derer
die freie Meinungsäußerung und
ein Eintreten für eine Gleichberechtigung der KurdInnen bestraft
werden können und bestraft wer-
den. Nach wie vor gilt die in der
Verfassung festgelegte Staatsdoktrin, nach der es keine anerkannten Minderheiten in der Türkei geben kann - alles davon Abweichende wird als Separatismus verfolgt.
Nach wie vor gibt es die Incommunicadohaft ohne Zugang zu einem
Rechtsbeistand, die von Menschenrechtsorganisationen als die
strukturelle Voraussetzung für Folter bezeichnet wird. Lautstark gepriesene neue Gesetze zum Schutz
der Menschenrechte entpuppen
sich bei näherem Hinsehen als reine Makulatur: Mit dem Amnestiegesetz für “Pressedelikte” zum Beispiel wurden Gefängnisstrafen von
Journalisten und Redakteuren, die
vor dem 23.04.99 verurteilt wurden, für drei Jahre aufgehoben.
Wer in diesem Zeitraum allerdings
noch einmal einen kritischen Artikel schreibt, kann sofort wieder vor
Gericht gestellt werden. Die Mehrzahl der Journalisten, die wegen
angeblicher Unterstützung illegaler Organisationen verurteilt wurden, fällt nicht unter das Gesetz.
Die rund 152 Gesetze, die das
Recht auf freie Meinungsäußerung
beschneiden, werden durch das
Gesetz nicht berührt.
Oder: Mit der Novellierung des Gesetzes zum Vorgehen bei Untersuchungen und Gerichtsverfahren
gegen Staatsbedienstete in Fällen
von Folter sollen offiziell die Strafen für folternde Staatsbedienstete
erhöht und die Ermittlungen gegen sie beschleunigt werden.
Schon im Vorfeld ließ der stellvertretende Staatssekretär im Innen-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kurdenverfolgung
ministerium, Sami Sönmez, verlauten, eine höhere Bestrafung von
Folter mache die Polizei handlungsunfähig. Grundlegende Änderungen hat das neue Gesetz
nicht gebracht: Zwar wurden die
Strafen erhöht, eine Strafverfolgung des Beschuldigten hängt jedoch noch immer von der Zustimmung seines Vorgesetzen
ab. Entsprechend wenige Verfahren werden überhaupt erst
eingeleitet.
Weitgehende
Straffreiheit für Folterer ist
an der Tagesordnung.
Während der Justizminister
Sami Türk das Gesetz trotz
allem für “revolutionär”
hält, meinte Sami Selcuk,
der Vorsitzende Richter
am Kassationsgerichtshof: “Dieses Gesetz ist
nicht einmal evolutionär
(...) Uns ist es noch nicht einmal
gelungen, das 18. Jahrhundert
einzuholen.” (IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 29, 32 und. 4445, 1999)
Der türkische Staat ist bislang noch
keinen Schritt auf die Vertretungen
der KurdInnen zugegangen. Die
einzige legale prokurdische Partei,
die HADEP, wird trotz gegenteiliger
Bekundungen von Staatspräsident
Demirel weiterhin mit Razzien sowie Festnahmen ihrer Mitglieder
drangsaliert. Mehrere (Vorstands-)
Mitglieder wurden im Februar wegen angeblicher Unterstützung der
PKK zu mehrjährigen Haftstrafen
verurteilt. Gegen die HADEP läuft
ein Verbotsverfahren. Am 19. Februar wurden drei kurdische Bürgermeister wegen angeblicher
Kontakte zur PKK verhaftet. Sie
hatten keinen Zugang zu ihren
Rechtsanwälten und wurden laut
amnesty international schwer gefoltert. Aufgrund heftiger internationaler Proteste wurden die Bürgermeister am 28.02.00 wieder
freigelassen. Die Verfahren vor
dem
Staatssicherheitsgericht
Diyarbakir wegen Unterstützung
der PKK dauern jedoch an.
Bezüglich der PKK gilt nach wie
vor: Mit Terroristen wird nicht verhandelt. So wurden die von der
PKK in die Türkei entsandten Friedensgruppen mit hochrangigen
Funktionären nach ihrer Ankunft
festgenommen und vor Gericht
gestellt.
Aus dem Jahresbericht des
IHD für 1999
geht
deren Verfolgungsopfers - der Unterstützung der PKK verdächtigt
werden oder als Spitzel geeignet
erscheinen.
Foto:
herExpo
Karaw
vor,
dass
ane Aktio
schwerwiegende Mennstag
zu Ka
schenrechtsverletzungen weiter
meru
n
S o anhalten. Im Februar 2000 wurde
lange in der Türeine friedliche Demonstration des
kei die Menschenrechte
IHD, der HADEP und anderer opnicht eingehalten, Oppositionelle
positioneller Organisationen, die
und ethnische Minderheiten weiter
unter dem Motto “Menschenverfolgt werden, ist bei Fortsetrechte im Jahr 2000” stand, gezung der bisherigen Abschiewaltsam von der Polizei aufgelöst.
bungspraxis mit weiteren Folterop250 Menschen wurden niedergefern zu rechnen.
prügelt und festgenommen.
Die recherchierten Fälle von Verfolgung nach der Abschiebung
lassen die Bemühungen deutscher
und türkischer Politiker zweifelhaft erscheinen, die Situation in
der Türkei schönzureden und sie
verbal EU-fähig zu machen. Vor
dem geschilderten Hintergrund
muss vielmehr auch weiterhin mit
der Misshandlung und politischen
Verfolgung nicht-assimilierter kurdischer Flüchtlinge gerechnet
werden, die aus der Bundesrepublik abgeschoben und - zu Recht
oder zu Unrecht - verdächtigt
werden, die Sache der PKK zu unterstützen. Exakte Kriterien dafür,
was die Verfolgung auslösen
kann, lassen sich gerade nicht finden. Die von uns recherchierten
Fälle machen deutlich, dass immer wieder auch solche Flüchtlinge ins Visier der türkischen Verfolgungsbehörden geraten, die keine herausgehobene Funktion innehatten und - z.B. aufgrund einer Denunziation oder einer belastenden Zeugenaussage eines an-
Die im Juni 2000 erschienene 2.
erweiterte Auflage der Broschüre
„Von Deutschland in den türkischen Folterkeller - Zur Rückkehrgefährdung von Kurdinnen und
Kurden“ mit allen 32 Fällen kann
gegen einen frankierten und
adressierten Rückumschlag (DIN A
5 und 1,50 DM) über die Geschäftsstelle des Nds. Flüchtlingsrats bezogen werden. Ab 10 Exemplare berechnen wir pro Exemplar 1 DM plus Versandkosten gegen Rechnung. Ab September ‘00
ist der Recherchebericht auch in
Englisch erhältlich.
61
Kurdenverfolgung
Flüchtlinge in der Türkei
PROJEKT zum Aufbau von Unterstützungsstrukturen in der Türkei
S
eit Mai 2000 führen der Nds.
Flüchtlingsrats und der IHD in
Kooperation mit der türk. Stiftung
TAV und PRO ASYL ein von der EU
gefördertes Projekt durch.
Ziel des zweijährigen Projekts ist
der Aufbau von Strukturen zur
qualifizierten Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen in der
Türkei, d.h. von ausländischen
Flüchtlingen, inländischen Vertriebenen und abgelehnten Asylsuchenden türkischer Staatsangehörigkeit, die aus der EU zurückkehren.
Die genannten Flüchtlingsgruppen
sind in der Türkei mit besonderen
Schwierigkeiten konfrontiert: Ihre
Lebenssituation ist gekennzeichnet
durch mangelnde Rechtssicherheit,
den Ausschluss von demokratischer Partizipation, wirtschaftliche
Not, Menschenrechtsverletzungen
und oftmals auch Traumatisierungen.
Bestandteil der Projektarbeit ist es,
die Informationslage über die Situation der Flüchtlinge in der Türkei und ihre Lebensumstände zu
verbessern und genauere Bewer-
tungskriterien für eine drohende
Rückkehrgefährdung abgelehnter
Asylbewerber zu entwickeln, um in
den Ländern der EU mehr Rechtssicherheit für Asylbewerber aus der
Türkei gewährleisten zu können
und potenzielle Folteropfer besser
zu schützen.
Wer detailliertere Informationen
möchte, kann sich an das TürkeiProjekt direkt wenden: Geschäftsstelle des Nds. Flüchtlingsrats
(Durchwahl Türkei-Projekt 05121 –
31600)
Schimmer von Morgenröte
im Auswärtigen Amt?
Zum neuen Türkei- Lagebericht des AA vom 22.06.00
Claudia Gayer und Kai Weber
D
er neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei
birgt zwar keine großen Überraschungen, in einigen relevanten
Punkten hat das Amt jedoch seine
bisherige Einschätzung zur Rückkehrgefährdung von KurdInnen relativiert und teilweise auch korrigiert. Zumeist ergeben sich die
Neubewertungen weniger durch
den Wortlaut als durch das Streichen ganzer Passagen.
So hieß es zum Thema Sippenhaft
im alten Bericht noch wörtlich „Es
gibt keine Sippenhaft“. Familienangehörige könnten zwar zu Ver62
nehmungen vorgeladen und auch
zwangsvorgeführt werden. Das
Recht auf Aussageverweigerung
sei aber gewährleistet. Diese haarsträubende Ansicht hat das AA
grundlegend geändert. Es gesteht
nun ein, dass es bei den Vernehmungen von Angehörigen genauso zu „Übergriffen“ kommen kann
wie bei Beschuldigtenverhören
auch. Eine Sippenhaft wird nur für
den strafrechtlichen Bereich verneint: „Es gibt keine Sippenhaft in
dem Sinne, dass Familienmitglieder, etwa von vermeintlichen oder
tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder
PKK-Sympathisanten, für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt und bestraft würden.“
Insgesamt nimmt das AA unseres
Erachtens eine Neubewertung exilpolitischer Aktivitäten vor. So wurde die Einschätzung, dass die Asylantragstellung strafrechtlich nicht
relevant sei und keine staatlichen
Repressionen nach sich zöge, er-
gänzt: „Anders mag es dagegen
sein, wenn er [der Antragsteller] im
Zusammenhang damit in Deutschland exilpolitische Aktivitäten entfaltet hat, die nach türkischem
Recht strafbar sind, und die türkischen Sicherheitskräfte davon erfahren.“ Gleichzeitig wurde die
frühere Relativierung gestrichen,
nach der sich die Sicherheitskräfte
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kurdenverfolgung
nur für die „Drahtzieher“ interessieren würden. Damit kommt das
AA zu einer durchaus realistischen
Ansicht: Exilpolitische Aktivitäten
gleich welchen Profils ziehen staatliche Repressionen nach sich, sofern sie den entsprechenden Stellen bekannt werden und strafbar
sind.
Damit gewinnt natürlich die Frage
an Bedeutung, was strafbar ist.
Hierzu liegen einige aussagekräftige Gutachten (z.B. Rumpf) und etliche Beispielfälle vor. Wir haben
zudem mit unseren Recherchen
nachgewiesen, dass die Teilnahme
an einer politischen Demonstration
ebenso strafrechtlich verfolgt wird
wie ein Engagement auf der
Führungsebene der PKK. Hüzni Almaz wurde z.B. wegen niedrigschwelliger Exilaktivitäten zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt.
Die Verurteilung wurde auch in 2.
Instanz bestätigt. Ahmet Angay ein Fall, der auch vom AA recherchiert, aber nicht im Lagebericht
dokumentiert wurde - ist kürzlich
zu 12 Jahren und 6 Monate Haft
verurteilt worden. Auch ihm wurden politische Aktivitäten in
Deutschland zur Last gelegt. Beweise lagen nicht vor - nur ein unter Folter erpresstes Geständnis.
Wenn akzeptiert würde, dass es
für die Beurteilung einer eventuell
drohenden strafrechtlichen Verfolgung eben nicht auf die Frage der
„Herausgehobenheit“ der exilpolitischen Betätigung, sondern nur
auf die Frage der Wahrscheinlichkeit eines Bekanntwerdens dieser
Betätigung ankommt, wäre dies
eine wichtige Änderung.
Erstmals findet auch das Wanderkirchenasyl in NRW Erwähnung:
Zwar hat das AA keine Erkenntnisse darüber, dass die Teilnahme am
WKA staatliche Repressionen nach
sich zieht, es schließt diese aber
auch nicht prinzipiell aus. Ausführlich wird im Lagebericht der Fall
des Yusuf D. beschrieben, der am
WKA teilgenommen hatte und
nach der Abschiebung im Januar
2000 unter Schlägen, Beschimpfungen und Drohungen zu seinem
Aufenthalt in Deutschland befragt
wurde. Yusuf habe bei der Oberstaatsanwaltschaft Izmir eine Anzeige gegen die drei Beamten ge-
stellt. In dieser, so das AA, sei eine
Teilnahme am WKA nicht erwähnt.
Das ist unseres Erachtens auch
leicht nachzuvollziehen: denn damit hätte Yusuf sich ja selbst bezichtigt und die Vorwürfe konkretisiert. Abschließend nimmt das AA
Bezug auf den Reisebericht einer
Sozialarbeiterin und gibt deren
Einschätzung wieder, dass sich das
Interesse der türk. Sicherheitskräfte
an Yusuf auf exilpolitische Strukturen, deutsche Unterstützer und
Teilnehmer des WKA bezogen habe.
mentiert ein „Gesinnungsstrafrecht“. Auch die als positiv eingestuften Gesetzesänderungen und
Amnestien erweisen sich bei näherem Hinsehen als Augenwischerei.
So setzt z.B. die Amnestie für Journalisten die Strafen nur zur Bewährung aus. Wer sich nochmals
kritisch äußert, muss die alte plus
eine eventuelle neue Strafe verbüßen. Eine Gesetzesänderung im
Herbst 99 erhöhte zwar die Strafen
für Folter, jedoch können Folterer
erst dann strafrechtlich belangt
werden, wenn deren Vorgesetzter
den Ermittlungen zustimmt (s.
hierzu Artikel „Von Deutschland in
den türkischen Folterkeller“).
Zur Frage der Gefährdung durch
belastende Aussagen von Überläufern führt das Amt aus: Personen,
die denunziert werden, sind gefährdet. Sie werden verhört und
bei Feststellung einer Straftat (insbesondere im Zusammenhang mit
der PKK) den Sicherheitsbehörden
übergeben. Strafverfahren können
drohen. Das ist zwar eine GummiFormulierung, jedoch offen für
„positive“ Auslegung (s. o.).
Weiterhin sieht das AA auch für
nicht-assimilierte Kurden keine
Gruppenverfolgung, wenngleich
das AA nun ergänzt, dass von einer Strafverfolgung wegen Verdachts der PKK-Unterstützung
„häufig Kurden ... betroffen sind“.
Kein Wort verliert das AA darüber,
dass gerade in jüngster Zeit etliche
HADEP-Politiker (z.B. Bürgermeister aus dem Südosten, Vorstandsmitglieder) in Haft gefoltert wurden.
Die beschriebenen Korrekturen
und Neueinschätzungen sind erfreulich, stellen sie doch eine
Annäherung an die Realität dar.
Die grundsätzliche Kritik an der Lageeinschätzung des AA aber bleibt
(vergl. FLÜCHTLINGSRAT, Heft
64/65, Dez99/Jan.00): In weiten
Teilen hat sich nichts an der Lageeinschätzung geändert. Noch immer ist der Bericht verharmlosend,
beschönigend und bleibt weit hinter der dramatischen Menschenrechtssituation in der Türkei
zurück:
So hält das AA weiterhin an der
konstruierten Trennung zwischen
Sicherheitskräften und Staat fest:
Ziemlich unzutreffend stellt das
Amt im allgemein-politischen Teil
fest, dass nicht das geltende Recht
und die Gesetzgebung das Hauptproblem in der Türkei sei, sondern
deren Umsetzung in die Praxis. Dabei schafft erst das geltende Recht
die strukturellen Voraussetzungen
für Folter, z.B. die Incommunicadohaft oder die mangelhaften
Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung von Folterern.
Rund 152 Gesetze beschränken allein das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Verfassung ze-
Viele von uns dokumentierten Verfolgungs- und Misshandlungsfälle
werden vom Auswärtigen Amt
schließlich einfach ignoriert: So
trifft das AA keinerlei Aussage zu
dem Fall des kurdischen Flüchtlings
Abdurrahman Kilic, der nach Ablehnung seines Asylantrags unter
akutem Abschiebungsdruck „freiwillig“ in die Türkei zurückkehrte
und misshandelt wurde. Die Kettenabschiebung des nachgewiesenermaßen aus Deutschland über
Österreich in die Türkei abgeschobenen und dort zu 18 Jahren Haft
verurteilten Ibrahim Toprak wird
ebenso unterschlagen wie die Verfolgung vieler Kurden, die nach ihrer erneuten Flucht nach GG 16
oder § 51,1 AuslG anerkannt wurden (Oguz Cifci, Abdulhalim Nayir,
N.B., Hüseyin Genc, Abdurrahman
und Ayse T., Yüksel Kücük) bzw.
Abschiebungshindernisse für sich
geltend machen konnten (Z. und
L.S.). Auch Fälle von Verfolgung
kurdischer Flüchtlinge, die erst einige Zeit nach ihrer Rückkehr in die
Türkei, allerdings unter Bezugnahme auf ihre exilpolitische Tätigkeit
63
Kurdenverfolgung
in Deutschland, von den türkischen Verfolgungsbehörden festgenommen, misshandelt und inhaftiert wurden, werden vom Auswärtigen Amt nicht genannt
(Menduh Bingöl, Ferit K., Mustafa
E., Mustafa Boylu). Unter den Tisch
fiel sogar ein Fall, den das AA
selbst recherchierte: Ahmet Angay
wurde wegen unterstellter exilpolitischer Aktivitäten im Frühjahr
2000 zu 12 Jahren und 6 Monaten
Haft verurteilt. Kein Wort verliert
das AA schließlich über den Fall
des illegal abgeschobenen Duran
Y., der bis heute auf eine Wiedereinreisemöglichkeit nach Deutschland wartet, sowie auf die von uns
dokumentierte Verfolgung von Ilhan O., Sinan Sicak und Can I.
Natürlich kann man dem Auswärtigen Amt zubilligen, dass es die
vorgelegten Unterlagen selbst prüfen will und einige Zeit dafür
benötigt. Unverständlich bleibt es
jedoch, wenn das Auswärtige Amt
auch nach abgeschlossener Überprüfung von Einzelfällen durch Gerichte oder Behörden die dort gewonnenen Erkenntnisse schlicht
nicht zur Kenntnis nimmt.
Welche Auswirkungen der neue
Lagebericht auf die Entscheidungspraxis haben wird, ist bislang noch
nicht absehbar. Klar ist, dass sich
die optimistischen Prognosen im
Herbst 99 nach „Bekanntwerden“
des letzten Berichts ja leider nicht
bewahrheitet haben: Die Chancen
für KurdInnen auf Anerkennung
als Asylberechtigte oder Konventionsflüchtlinge sind nicht größer
geworden. Im Gegenteil werden
nach unserem Eindruck an die
Glaubhaftmachung von Verfolgung zunehmend höhere Anforderungen gestellt. Neben dem Einfordern von politischen Lösungen
muss also weiterhin im Einzelfall
um die Anerkennung als politisch
Verfolgte gefochten werden. Der
neue Lagebericht bietet den EinzelentscheiderInnen und RichterInnen zumindest theoretisch größeren Spielraum für positive Entscheidungen. Bleibt zu hoffen,
dass sie diesen nutzen werden.
Delegationsbericht des IPPNW
Die Türkei auf dem Weg nach Europa?
V
om 4. bis 14.4.2000 fand die
5. ÄrztInnen-Delegationsreise
des IPPNW in die Türkei statt. Die
Delegation führte u.a. Gespräche
mit dem IHD Istanbul, der Gewerkschaft KESK, der HADEP, Vertretern
der KA-MER und der DSP in Diyarbakir. Dr. Gisela Penteker fasste die
Ergebnisse der Reise in einem Delegationsbericht zusammen.
Aus dem Vorwort:
„Die Einstellung der Kämpfe durch
die PKK und der Beschluss von Helsinki, der Türkei den Status eines
EU – Beitrittskandidaten zu verleihen, haben die politische Diskussion in der Türkei belebt und bei vielen Menschen große Hoffnungen
auf Frieden und Demokratie und
eine politische Lösung der Kurdenfrage geweckt. Auf unserer Reise
haben wir versucht, die Zeichen
des Aufbruchs, die Zeichen der
Veränderung, die Signale der Hoffnung zu finden. In vielen Gesprächen u. a. mit Ärzten, Gewerkschaftern, Menschenrechtlern, Demokraten, Bürgermeistern in Istanbul, Diyarbakir, Batman, Hasankeyf
und Izmir ließen wir uns über die
aktuelle Lage informieren. Das Fazit ist eher ernüchternd. Vom Aufbruch in eine neue Zeit ist vor Ort
64
wenig zu spüren. Die Repressalien
in den kurdischen Gebieten und
gegen die Opposition gehen unvermindert weiter. Immer noch
werden Dörfer von der Regierung
zerstört, immer noch gibt es willkürliche Verhaftungen, immer
noch wird in Polizeigewahrsam gefoltert.
Unsere Gesprächspartner mahnen
den Druck aus Europa auf die türkische Regierung an. Sie fragen
uns aber auch, was sich bei uns
verändert, und wir müssen beschämt gestehen, dass das PKK-
Verbot nicht aufgehoben ist, dass
kurdische Vereine und Zeitungen
weiterhin polizeiliche Übergriffe
erleben, dass Kurden in Deutschland weiterhin diskriminiert werden, dass Flüchtlinge aus der Türkei weiterhin abgeschoben werden, obwohl sich die Menschenrechtslage nicht gebessert hat, und
ihnen Haft und Folter drohen.“
Der vollständige 10-seitige Bericht
ist über die Geschäftsstelle beziehbar (Papierfassung und Datei).
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kurdenverfolgung
Zwischen den Fronten
Bericht über den Fall des kurdischen Fotografen Ridvan Arslan
K. H. Welder , AK ASYL Northeim
(Red.) Die kurdische Familie Arslan Arslan, sich des Auftrages zu entlefloh 1994 aus der Türkei nach digen. Seine Ausflüchte wurden jeDeutschland und lebt heute - von doch nicht akzeptiert, er musste
der Abschiebung bedroht - in sich fügen und weiter für das türkische Militär
Northeim. Ihr Asylanfotografieren.
trag wurde mit Urteil
Endgültig zwides VG Göttingen am
schen die Fron11.05.00 abgelehnt,
ten geriet Arsüber eine Petition ist
lan, als ihn die
bislang nicht entschiekurdischen Beden. Der Familienvawohner
des
ter, laut ärztlichem Atkleinen Heimattest schwer traumatiortes
(,,jeder
siert, schilderte dem
kennt jeden“)
AK Asyl Northeim,
unter Androwas er vor seiner
hung von GeFlucht in der Türkei erwalt ultimativ
leben musste. Wir geMehmet Ilüsni Kaya
aufforderten,
ben
den
Bericht Ort: Mardin/Ömerli
gekürzt und leicht Der im Juni 1993 ermordete den LeichenfoFotograf
todienst für das
überarbeitet wieder:
türkische Militär
idvan Arslan war Fotograf in und gegen kurdische Interessen zu
Ömerli, einer Kleinstadt (7000 unterlassen. Er wurde als Verräter
Einw.) etwa 120 km südlich von beschimpft, erhielt immer wieder
Diyarbakir entfernt, im Hauptge- anonyme Anrufe und Drohungen.
biet der Auseinandersetzungen Schließlich befürchtete Ridvan seizwischen Militär und PKK. Das Leid ne Ermordung. Der Entschluss zur
der Familie begann, als Ridvan Ars- Flucht war nun endgültig.
lan 1986 von türkischen Militärs
gezwungen wurde, im Kampf Im Januar 1994 floh die Familie.
getötete Soldaten sowie Tote der Herr Arslan nahm die Negativfilme
Zivilbevölkerung und kurdische aus der Endphase seines grausigen
Folteropfer zu fotografieren. Im Auftrages unter Todesgefahr heimOrt gab es noch einen anderen lich mit, so auch sein Sohn Nebil,
(kurdischen) Fotografen. Dieser der erst 1998 fliehen konnte. Der
war den Militärs als PKK - Sympa- Schock erfolgte im Mai 2000 per
thisant bekannt, ebenso seine bei- Urteil des VG Göttingen: Die Asylden Brüder, die als Zahnärzte die klage wurde abgewiesen. Kein Ankurdische Bevölkerung versorgten. spruch auf Art. 16a,1 GG, § 51,1
Inzwischen sind alle drei ermordet u.53 AuslG. Die Familie wird zur
worden (Mehmet Hüsni Kaya siehe unverzüglichen Ausreise aufgefordert! Das VG berief sich
Foto).
hauptsächlich darauf, dass die FoDie 132 Fotos, die Arslan (und spä- tos nicht veröffentlicht wurden,
ter auch sein Sohn) auf seiner folglich Arslan in der Türkei nicht
Flucht nach Deutschland schmug- bedroht sei. Dies hält der AK ASYL
gelte, zeigen fürchterlich zugerich- NORTHEIM für völlig unrealistisch:
tete, gefolterte, tote Männer, viele
von ihnen in gefesseltem Zustand. Dass die Familie aus türkischer
Laut Arslan sollten die Fotos als Sicht mit der Unterschlagung briPropaganda gegen die PKK ver- santesten Fotomaterials ein todeswendet werden, sie sollten als „Be- würdiges Verbrechen begangen
weis“ für übelste Menschenrechts- haben, müsste auch dem unvorverletzungen „kurdischer Terrori- eingenommenen Bewohner unsesten“ dienen! Mehrfach versuchte res Rechtsstaates einleuchten. Dass
die Arslans aus kurdischer Sicht als
Verräter ebenfalls aufs Äußerste
gefährdet sind, ist von den Anwälten eindrucksvoll belegt worden.
Es ist doch völlig klar, dass in einer
von Hass und Gewalt geprägten
Kleinstadt wie Ömerli das dort stationierte Militär nicht vergessen
wird, wem man vor 1994 befahl,
Gräueltaten zu dokumentieren,
wer 1994 abhaute, wer Negative
nicht ablieferte! Man wird in
Ömerli auch auf PKK-Seite nicht
vergessen, wer zum „Überläufer“
und „Verräter“ wurde, wer mit diesen fürchterlichen Fotos dem türkischen Staat Propagandahilfe leistete, ins reiche und friedliche
Deutschland verschwand!
Das Schicksal der Familie A. hat
R
Yusuf Aziz, am 01.11.1992
in Mardin/Ömerli auf der
Hauptstrasse ermordet. Seine
Kinder leben jetzt in Bremen
sich offensichtlich in der politischen Landschaft (EU-Kandidatur
usw.) zu einer Randerscheinung reduziert. Niemand hat mehr Interesse an alten Fotos mit sattsam bekannten Inhalten. Einer kurdischen
Zeitung liegen einige der Fotos vor,
sie wollten sie jedoch bislang nicht
veröffentlichen, um die aktuellen
politischen Friedensbemühungen
nicht zu gefährden. Für die Arslans
bleibt die Gefährdung aber hundertprozentig bestehen!
65
Kurdenverfolgung
Ausbürgerung bei Wehrdienstentziehung
Asylrelevanz und Abschiebungsandrohung
G
emäß Art. 25 c türk. Staatsangehörigkeitsgesetz können
Wehrpflichtige, die dem Dienstantritt ohne ausreichende Entschuldigung nicht Folge leisten, auf Beschluss des Ministerrats ausgebürgert werden. Eine Wiedereinbürgerung ist nach Ableistung des
Wehrdienstes möglich.
Die Ausbürgerung stellt nach der
Rechtssprechung des BVerwG eine
ordnungsrechtliche Sanktion dar:
Sie richte sich nicht gegen asyler-
hebliche Persönlichkeitsmerkmale
und die Motive für eine Wehrdienstentziehung seien nicht relevant. Die Frage nach politischer
Verfolgung im Hinblick auf GG 16
und § 51 AuslG sei darum gegenstandslos.
Das BAFl folgert daraus im aktuellen Einzelentscheider-Brief: Der
Asylantrag eines staatenlosen ausgebürgerten/ausgewiesenen Asylbewerbers, der lediglich über eine
Aufenthaltsgestattung nach § 55 I
AsylVf G verfügt, wird regelmäßig
abzulehnen sein. § 53 AuslG kann
geprüft werden. Bei einer Ablehnung ist die Abschiebung anzudrohen, unabhängig davon, ob
das Zielland den Betroffenen
zurücknimmt oder nicht. Kann die
Abschiebung nicht vollzogen werden, kommt allenfalls Duldung
gem. § 55 II AuslG in Betracht.
(vergl. Einzelentscheider-Brief des
BAFl 06/2000)
PDS Niedersachsen:
Für einen niedersächsischen Abschiebestop in die Türkei – sofort!
Broschüre
Bezug: LAG „Asyl- und Flüchtlingspolitik“
in und bei der PDS Niedersachsen
Struckmeyerstr. 9
30451 Hannover
Tel. 0511-4584703
Fax.: 0511-9245910
Fluchtursachen bekämpen - nicht Flüchtlinge
Aktion 3.Welt Saar
Ru 64/65 Seite 49
66
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kriegsflüchtlinge
Kriegsflüchtlinge
Foto: 3.Welt Saar
Kriegsflüchtlinge:
FRIEDEN NICHT IN SICHT
Behördlicher Umgang mit Flüchtlingen aus Bosnien und Kosov@
Bettina Stang
W
enn der Bundesinnenminister
seinen Kollegen einen Brief
schreibt, beeindruckt die das offenbar wenig: Im niedersächsischen Innenministerium reagiert
mann und frau auf den jüngsten
Brief Otto Schilys an seine Länderkollegen gelassen. Schilys Aufforderung, “fachärztlich geprüften/
chronisch traumatisierten“ Bosnien-Flüchtlingen ein Bleiberecht zu
gewähren, werde in Niedersachsen
ohnehin schon erfüllt, heißt es.
Denn immerhin sei es den Ausländerbehörden nach der aktuellen
Erlasslage “möglich”, eine Aufenthaltsbefugnis auszustellen, wenn
eine ärztliche Bestätigung für die
Notwendigkeit einer langfristigen
Therapie vorliegt. Weiteren Handlungsbedarf sieht das niedersächsische Innenministerium nicht.
Aussitzen
bis zur nächsten IMK?
Schon gar nicht in Reaktion auf
das Wunschdenken einiger Bundestagsabgeordneter, bestimmte
Gruppen von Kosov@-Flüchtlingen
von den Rückkehr-Aufforderungen
ausnehmen zu wollen. Der Bundestag hatte in seiner letzten Sitzung vor der parlamentarischen
Sommerpause mit einer überfraktionellen Initiative die Situation der
Flüchtlinge aus Bosnien und aus
dem Kosovo thematisiert. In seinem einstimmig gefassten Beschluss fordert das Parlament unter anderem die Innenminister der
Länder dazu auf, von Ausreiseaufforderungen gegenüber denjenigen, die in ihren Heimatorten zu
verfolgten Minderheiten gehören,
abzusehen. Er tritt ferner dafür ein,
denjenigen die Möglichkeit eines
längerfristig gesicherten Aufenthalts und die Aufnahme einer Arbeit einzuräumen, deren Häuser
im Kosovo zerstört und deren Existenz vor Ort nicht gesichert ist.
Dieser Beschluss wurde sowohl
von der Ausländerbeauftragten
des Bundes als auch vom UNHCR
begrüßt.
Er hat jedoch nach Aussagen des
Niedersächsischen Innenministeriums für den Vollzug „keine Konsequenzen“. Es könne nicht angehen, so das Innenministerium zur
Begründung, dass der Gesetzgeber
die Behörden zu einem Verzicht
auf Abschiebungen anhalte, jedoch das Ausländergesetz unangetastet lasse, welches einen Vollzug rechtlich möglicher Abschiebungen zwingend vorsehe. Darü67
Kriegsflüchtlinge
ber hinaus verweist das MI auf die
Beschlusslage der IMK vom
19.11.99, auf der eine „konsequente Rückführung“ aller KosovoAlbaner verabredet worden sei.
Die nächste Innenminister-Konferenz ist für November 2000 angesetzt, bis dahin gilt im Ministerium
“Aussitzen” als Devise. Rückkehraufforderungen werden deshalb
weiterhin unterschiedslos an alle
verschickt - ob Serbe, Roma, in
Seit Anfang Juli hat Niedersachsen 30 Charterplätze ab Düsseldorf zur Abschiebung in den Kosovo gebucht. Etwa 100 Flüchtlinge aus dem Kosov@ sind
nach Angaben des Innenministeriums bis Ende Juli abgeschoben worden. Auch Abschiebehaft wird inzwischen verhängt:
z.b. in der neuen Haftanstalt
Langenhagen, die entgegen der
ursprünglichen Planung schon
jetzt als Abschiebeknast genutzt
wird (Geplant war, sie zunächst
als EXPO-Knast zu belegen).
Flüchtlinge aus dem Kosov@,
die noch keine Erklärung zur
„freiwilligen Ausreise“ unterschrieben haben – und manchmal selbst dann - müssen folglich jetzt mit einer Abschiebung
und ggf. auch mit Abschiebungshaft rechnen. Angesichts
der drohenden Abschiebegefahr
sollten sie prüfen, ob sie freiwillig ausreisen, Rechtsmittel gegen eine Abschiebung einlegen
oder eine Petition stellen. Sie
müssen damit rechnen, dass sei
beim Gang zur Ausländerbehörde zwecks Duldungsverlängerung in Abschiebehaft genommen werden. Sie können in solchen Fällen versuchen, doch
noch eine freiwillige Ausreise
durchzusetzen. Eine Petition an
den nds. Landtag mit dem Appell, die freiwillige Ausreise zu
ermöglichen, hat i.d.R. aufschiebende Wirkung gegenüber
Behördenentscheidungen.
Wenn bislang kein Gericht die
Zulässigkeit einer Abschiebung
bestätigt hat, z.b. noch kein
Asylantrag
gestellt
wurde
und/oder keine negative Bundesamtsentscheidung per Eilantrag oder Widerspruch angefochten wurde, ist eine Petition
angesagt.
68
Ausbildung befindlich, traumatisiert oder den Lebensunterhalt für
eine ganze Großfamilie verdienend. Auf der nächsten IMK wird es
jedoch zu einer Diskussion um eine
weitere Staffelung der Rückkehr
geben. Niedersachsen erwägt,
dem Beispiel Schleswig-Holsteins
und Baden-Württembergs zu folgen und erwerbstätigen ausreisepflichtigen Flüchtlingen aus dem
Kosovo unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einzuräumen,
lich so lange erneut verlängert (Fotos von seinem nieder gebrannten
Haus wurden vorgelegt), bis der
Flüchtling nach abermaliger Aufforderung Anfang Juni seinen Reiseaufbruch meldete.
Flüchtlinge aus dem Kosov@, bei
denen eine Bereitschaft und Vereinbarung zur „freiwilligen Ausreise“ nicht erkennbar sei, werden
auch in Niedersachsen mittlerweile
abgeschoben.
Foto: 3.Welt Saar
bis Mitte des Jahres 2001 in
Deutschland zu bleiben, um die
Mittel für den Aufbau einer neuen
Existenz im Kosovo zu erwerben.
Primat hat nach Auskunft des MI
die “freiwillige Rückkehr”. Und die
wird beispielsweise so vorbereitet
(Brief von Anfang des Jahres):
“Sehr geehrte...
Sie werden aufgefordert, das Bundesgebiet bis zum 31.03.2000
freiwillig zu verlassen. Sollten Sie
Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht
nachkommen, werde ich Ihre Abschiebung in die Bundesrepublik
Jugoslawien (Kosovo) veranlassen,
die ich Ihnen hiermit androhe. Die
Ihnen erteilte Duldung wird über
den 31.03.2000 nicht verlängert.
Die Kosten einer Abschiebung sind
von Ihnen zu tragen.”
Nach den Erfahrungen mit der
Rückführung bosnischer Flüchtlinge besteht kaum ein Zweifel, dass
die Behörden mit solchen Formen
„psychologischer Kriegsführung“
erfolgreich sein und einen großen
Teil der Betroffenen dazu bewegen
werden, „freiwillig“ das Land zu
verlassen. In dem hier zitierten Beispiel wurde die Duldung schließ-
UNHCR: Politisch Andersdenkende in Gefahr
Über die Minderheitengruppen der
Roma, Aschkali und Serben hinaus
macht das UNHCR weitere Gruppen in Kosov@ aus, die ausdrücklich des “internationalen Rechtsschutzes” bedürfen:
“- Personen und Familien von gemischter ethnischer Herkunft
- Personen, die mit dem serbischen
Regime nach 1990 in Verbindung
gebracht werden
- Personen, die sich weigerten, sich
der UCK anzuschließen oder aus
dieser desertiert sind
- Personen, die sich kritisch über
die ehemalige UCK bzw. die frühere selbst ausgerufene “Provisorische Regierung des Kosovo”
äußern, und Mitglieder oder Anhänger politischer Parteien, die
nicht die Linie der ehemaligen UCK
bzw. der früheren selbst ausgerufenen “Provisorischen Regierung
des Kosovo” vertreten
- Personen, die sich weigern, den
Gesetzen und Vorschriften der
ehemaligen UCK bzw. der früheren selbst ausgerufenen “Provisorischen Regierung des Kosovo” Folge zu leisten.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kriegsflüchtlinge
Die Auflistung ist nicht vollständig
und es kann durchaus auch andere Personen bzw. Gruppierungen
geben, die im Kosovo ebenfalls mit
Verfolgung rechnen müssen. Kosovo-Albaner sollten daher Zugang
zum Verfahren zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft erhalten
und ihre Anträge sollten mit Sorgfalt und jeder für sich geprüft werden.”
Das Papier ist sehr aufschlussreich,
was die Etablierung einer UCK-dominierten parallelen Verwaltungsstruktur neben den Bemühungen
der UNMIK um eine Etablierung
einer “unabhängigen” Verwaltung
angeht.
Die größten Zerstörungen sind
durch verbrannte Dächer entstanden. Wo sind die Arbeitslosen, die
Dachkonstruktionen anfertigen
können? Oder gehört ein Dach
über den Kopf nicht zu einer “ersten Instandsetzung”?
Viele Hilfsorganisationen haben
noch gar nicht damit begonnen,
den Wiederaufbau der am
schlimmsten zerstörten Häuser zu
organisieren. Wie kommen die Ko-
Roma: Rechtsschutz gar
nicht erst beantragen?
Manche Rechtsanwälte raten vom
Stellen von Asyl(folge)anträgen für
Kosov@-Flüchtlinge ab - selbst bei
Roma und Aschkali. Unter Hinweis
auf die von offizieller Stelle versprochene Rücksichtnahme auf die
gefährdete Situation der Minderheiten im Kosovo kommt z.b.
Rechtsanwalt Hoffmann aus Bre-
Innenminister
widerspricht McNamara
“(Der Sondergesandte des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen, Dennis) McNamara hat sich
gegen eine zeitnahe Rückführung
der Kosovo-Albaner ausgesprochen, da viele Familien dann noch
ohne Wohnung wären. Dies ist
ausdrücklich nicht meine Haltung.
Ich sage: Menschen aus dem Kosovo, auch die Flüchtlinge, die bei
uns sind, müssen alle einen eigenständigen Beitrag zum Wiederaufbau Ihrer Heimat leisten. Es würde
ein neues Konfliktfeld geschaffen,
wenn die Last der Wiederaufbauarbeit allein denjenigen zugemutet
würde, die auch während der Kosovo-Krise (sic!) in Ihrer Heimat geblieben und nicht geflohen sind
oder nicht fliehen konnten oder
die aus den grenznahen Flüchtlingslagern Mazedoniens und Albaniens umgehend wieder zurückgekehrt sind. (...) Nach meinen Erfahrungen sind im übrigen bei einer Arbeitslosigkeit von circa 70
Prozent genügend Arbeitskräfte
vorhanden. Baumaterial ist ebenfalls problemlos zu erhalten.(...) Bei
den vergleichsweise geringen Kosten für eine erste Instandsetzung
der Häuser - 5000 DM werden
hierzu benötigt - sind diese finanziellen Hilfen (gemeint ist neben den
Reisekostenhilfen die Rückkehrhilfe von 450 DM) sicherlich eine erste Grundlage”.
Diese Rede von Innenminister Heiner Bartling vor dem Landtag bedarf eigentlich keines weiteren
Kommentars - nur so viel:
Foto: 3.Welt Saar
sten von 5000 Mark für ein abgebranntes Haus zu Stande, wenn
die Kosten für Baumaterialen fast
deutsche Höhen erreichen?
Sollten dennoch auch nur 5000
Mark für die Wiederaufbaukosten
ausreichen - wo sollen beim amtlich verordneten Arbeitsverbot in
Deutschland die restlichen 3550
Mark herkommen, die nach der
niedersächsischen Starthilfe noch
fehlen - von Schwarzarbeit oder
doch lieber von Diebstählen? (Der
Innenminister: “Wir verzeichnen
eine Verdopplung der von KosovoAlbanern begangenen Eigentumsdelikten. Das ist nicht hinnehmbar!”)
Es ist schon bemerkenswert, wie
sich ein Landesinnenminister nach
einer kurzen Informationsreise
mehr Kompetenz zuspricht, als sie
einem Vertreter des UNHCR zugebilligt wird. Wenn auch bekannt
ist, dass sich deutsche Behörden
und Gerichte gerne über Stellungnahmen des UNHCR hinwegsetzen, so sei hier doch auf ein neues
Hintergrundpapier des UN-FFlüchtlingshilfswerkes zur Lage im Kosovo verwiesen. Es ist im Internet unter www.unhcr.de/kosovo/kosovo.htm zu finden.
men zu dem Schluss: “Angehörige
von Minderheiten, insbesondere
Roma und Aschkali, werden sich in
der absehbaren Zukunft weiter in
Deutschland aufhalten können.
Für diese Aufenthaltszeit ist ein
Asyl- oder Asylfolgeverfahren nicht
erforderlich. (...) In der Beratungssituation sollte mit den Flüchtlingen detailliert die Möglichkeit zu
freiwilliger Rückkehr besprochen
werden im Hinblick auf die noch
bereitgestellten Rückkehrhilfen.
Dies schließt nicht aus, in Einzelfällen nach sorgfältiger Beratung Abschiebungsschutz gemäß § 53,6
AuslG geltend zu machen.”
Für den Flüchtlingsrat NordrheinWestfalen hat Katja Röckner mit einem offenen Brief reagiert. Sie hält
es für falsch, in Erwartung einer restriktiven Rechtssprechung den
Versuch eines Asylantrages, der
subjektiv als berechtigt und notwendig empfunden wird, erst gar
nicht zu unternehmen, und verweist dabei auf schon bestehende
positive Gerichtsbescheide in Eilverfahren. Es sei auch angesichts
der Ängste der Betroffenen oft unzumutbar, die Beratung über die
freiwillige Rückkehr in den Vordergrund zu stellen, wie das Hoffmann in seinem Artikel nahe lege.
69
Kriegsflüchtlinge
Schließlich weist sie zu Recht darauf hin, dass positive Entscheidungen nach §53 Abs. 6 AuslG nicht
nur eine dreimonatige Duldung,
sondern vielfach die Erteilung einer
Aufenthaltsbefugnis nach sich ziehen: Auch in Niedersachsen sind
die Ausländerbehörden angewiesen, bei positiven Entscheidungen
nach § 53 AuslG generell eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen.
Hoffmanns Vorwurf, hier würden
die Betroffenen, welche die komplizierten Rechtsfragen nicht verstehen könnten, in eine bestimmte
Richtung gedrängt und politisch
instrumentalisiert, geht insofern
ins Leere, als Röckner die Ängste
der Roma und Aschkali, welche eine freiwillige Rückkehr als unzumutbar empfinden und nicht
zurückkehren wollen, gerade zum
Ausgangspunkt ihrer Argumentation nimmt. Zu Recht führt Hoffmann jedoch ins Feld, dass ein ausländerrechtliches Verfahren nur so
lange möglich ist, wie das Bundesamt nicht eingeschaltet wurde. Es
kann schon aus prozessstrategischen Gründen durchaus sinnvoll
Ende Juli warnt UNHCR noch
einmal eindringlich vor einer
Rückkehr von Minderheiten
nach Kosov@. In einem
Schreiben vom 28. Juli 2000
berichtet UNHCR:
„Im Juni und Juli 2000 haben sich
die Spannungen zwischen den
Volksgruppen in Kosovo deutlich
erhöht. Die Zahl der ethnisch motivierten Übergriffe – insbesondere gegen Serben – hat erschreckende Ausmaße angenommen. Allein in den ersten zwei
Wochen im Juni forderten vorsätzliche Angriffe sechs Todesopfer und 10 Verletzte unter den in
Kosovo verbliebenen Serben.
Im Nordteil der Stadt Mitrovica
kam es in jüngster Zeit zu weiteren schweren Zusammenstößen,
Ausschreitungen und nächtlichen
Schießereien. ... Vor diesem Hintergrund spricht sich UNHCR erneut gegen die Rückführung von
ethnischen Albanern aus, die aus
dem Nordteil der Stadt Mitrovica
stammen, da sie im Kosovo zu
Binnenvertriebenen würden. Eine
Rückkehr dieses Personenkreises
70
sein, einen Asylantrag zurückzustellen und zunächst den Ausgang
des ausländerrechtlichen Verfahrens abzuwarten. Dies gilt allerdings nicht für Personen, die schon
einmal einen Asylantrag gestellt
haben. Hoffmann nimmt die Kritik
von Röckner an diesem Punkt auf
und gesteht ein, dass es sinnvoll
ist, in solchen Fällen einen Antrag
auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich § 53 AuslG zu stellen.
Ein besonderes Problem ergibt sich
aus der Tatsache, dass viele Roma
sich in ihrem bisherigen Asylverfahren als Albaner bezeichneten.
Röckner hält es für möglich, den
Gerichten und Behörden plausibel
zu machen, welchen Hintergrund
dies hat:
“Es gibt viele gute und plausible
Gründe, warum sich Angehörige
dieser Gruppen zuvor als Albaner
bezeichneten. Einerseits wurden
Foto: 3.Welt Saar
nach Nord-Mitrovica ist derzeit
aus Sicherheitsgründen nicht
möglich.
Die Zahl der –freiwilligen und unfreiwilligen- Rückkehrer aus
Deutschland in das Kosovo ist
weiterhin hoch. Aus gegebenem
Anlass appelliert UNHCR erneut
an alle für die Durchsetzung von
Ausreiseverpflichtungen Verantwortlichen sicherzustellen, dass
keine Angehörigen von Minderheiten in das Kosovo zurückgeführt werden.
Wie angekündigt hat sich UNHCR
- als Teil des Übergangs von der
akuten Nothilfe zur längerfristigen Entwicklungs- und Aufbauprogrammen – in den letzten Wochen und Monaten fast vollständig aus dem Bereich der humanitären Unterstützung im Kosovo
zurückgezogen....
- UNHCR gewährt keine Unterstützung mehr bei der Reparatur
und dem Wiederaufbau beschädigter oder zerstörter Häuser und
stellt auch kein Baumaterial mehr
zur Verfügung. Rückkehrer erhalten auch von anderen Institutionen nicht automatisch eine solche
Unterstützung, können sie jedoch
vor Ort beantragen.
- UNHCR hat keine Möglichkeiten
mehr, Rückkehrer in das Kosovo
vorübergehend in Notunterkünften unterzubringen. ... .“
Materialien:
- Update on the Situation of Ethnic Minorities in Kosovo (Feb. bis
Mai 2000) mit einer deutschen
Übersetzung der Zusammenfassung
- Eine UNHCR-Stellungnahme
speziell zur Situation der muslimischen Slawen im Kosovo
- Hinweise zur medizinischen Versorgung und zu Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo
- Studie: Zur sozialen Struktur der
bosnischen Flüchtlinge in der
Bundesrepublik Deutschland (Mai
2000)
- Rückkehrmöglichkeiten für Minderheiten angehörende Frauen
Als Kopie bei der Geschäftsstelle
zu bestellen oder im Internet
nachzulesen
www. UNHCR.de
www.un.org/peace/kosovo/pages/kosovo1.htm
www..osce.org/kosvo/
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kriegsflüchtlinge
viele von den Serben als Vertreter
der albanischen Forderungen verfolgt, so dass für ihren ersten Asylantrag die Roma- oder AschkaliZugehörigkeit nicht relevant war.
Zum anderen besteht die Identität
vor allem der Aschkali gerade in einer weitgehenden Assimilation an
die Albaner (daher auch die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung
“Zweite-Hand-Albaner”), sie sprechen albanisch als einzige Muttersprache. Auch Roma haben albanisch oft als zweite Muttersprache,
sehen sich zwar als Roma, aber
eben auch als den Albanern zugehörig.(...) Außerdem wurden
Roma und Aschkali in Kosovo zur
Zeit der Autonomie der Provinz bei
den Behörden auch oft als Albaner
bezeichnet, um die albanische Seite gegenüber der serbischen zu
stärken. Deshalb haben sie sich gegenüber Behörden, auch den
deutschen, oft aus Gewohnheit als
Albaner bezeichnet. Letztendlich
ist bei der Entscheidung über eine
mögliche Verfolgung in Kosovo
auch gar nicht die Selbstwahrnehmung entscheidend, sondern die
Wahrnehmung der Albaner. Wer
sich zwar bisher nicht als Roma
oder Aschkali gefühlt oder bezeichnet hat, dessen Verwandte
aber in den letzten Monaten aus
Kosovo vertrieben wurden, wäre
bei einer Rückkehr nach Kosovo
eindeutig gefährdet. Diese Frage
sollte bei der Rechtsberatung in
den Vordergrund gestellt werden.”
Selbst wenn es gelingt, die RomaVolkszugehörigkeit nachzuweisen,
ist eine behördliche oder gerichtliche Anerkennung von Abschiebungshindernissen jedoch wenig
wahrscheinlich. Die niedersächsische Rechtssprechung ist in dieser
Hinsicht bisher alles andere als ermutigend. In einer Entscheidung
über einen Zulassungsantrag urteilt das OVG Lüneburg, dass die
UNMIK bzw. KFOR in der Lage sei,
die Roma zu schützen: “Auch ist
allgemeinkundig, dass UNMIK einschließlich der ihr zur Verfügung stehenden internationalen
Polizeitruppe - und KFOR die Bevölkerungsgruppe der Roma mit
allen ihnen an sich zur Verfügung
stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es kann nicht die Rede davon sein, UNMIK und KFOR seien
zur Schutzgewährung nicht bereit,
sie sind auch zur Schutzgewährung prinzipiell in der Lage,
wenn es auch zu Übergriffen gegen Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Roma kommt.” Eine
“extreme Gefahrenlage” existiere
für die Roma nicht.
Sollte sich diese Rechtsprechung
durchsetzen, bleibt den Betroffenen nur die Hoffung, dass die UNMIK sich auch weiterhin weigern
wird, Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo aufzunehmen.
Kosovo:
Wie entlarve ich einen falschen Roma?
Erlass des Innenministeriums Niedersachsens vom 10.5.2000
Kai Weber
R
oma, Ashkali und andere ethnische Minderheiten dürfen zur
Zeit - im Gegensatz zu ethnischen
Albanern - nicht in den Kosovo abgeschoben werden. Aber wer ist
Roma? Sorgenvoll reibt sich der
pflichtbewusste Beamte die Stirn.
Könnte es nicht sein, dass sich der
eine oder andere nur als Roma
ausgibt, um nicht abgeschoben zu
werden? Wie also Roma und Albaner unterscheiden?
Das Problem ist nicht neu: Schon
Mitte der 90er Jahre betätigten
sich mancher Mitarbeiter von Ausländerbehörden als Rassenkundler,
um Albaner und Roma auch ordentlich auseinander zu halten.
„Die o.g. Familie hat bei Asylantragstellung angegeben, KosovoAlbaner zu sein“. heißt es etwa in
einem Schreiben der Ausländerbehörde des Landkreises LüchowDannenberg an das Bundesamt
Ende 1996. „Das äußere physiognomische Aussehen sowie die
Unterschrift im Pass (kyrillisch) weisen deutlich auf Romazugehörigkeit hin“ (s. FLÜCHTLINGSRAT Heft
60/61)
Ging es freilich damals darum, Roma-Flüchtlinge zu entlarven, die
sich als Albaner ausgaben, um als
politisch Verfolgte Anerkennung
zu finden (Kosovo-Albaner wurden
damals - im Gegensatz zu Roma als Gruppenverfolgte anerkannt),
geht es jetzt um die Entdeckung
angeblich „falscher“ Roma. Wie
1996 gehen die Behörden dabei
selbstverständlich davon aus, zwischen beiden Gruppen sei eine klare Unterscheidung möglich. Dem
widerspricht die Balkanethnologin
Stephanie Schwanders-Sievers aus
Berlin, die in einem Gutachten bereits am 16.3.97 festgestellt hat:
„Die Fragen der deutschen Seite
sind auf einen idealen Asylbewerber gerichtet, der gebildet und Akteur der nationalalbanischen Bewegung ist. Eine klare ethnische
Trennung nach hiesigen Maßstäben liegt im Kosovo zwischen assimilierten (ashkali-) Roma und Albanern nicht vor. Serbische Repressionen gegenüber albanischer Bevölkerung aber differenzieren
nicht politisch, sondern sind bekanntermaßen in allen Lebensbereichen und im alltäglich dörflichen
Kontext zu finden. ... Die moderne
Ethnologie untersucht Ethnizität,
wie eingangs angeführt und angelehnt an gesellschaftliche Realitäten, als dynamischen Prozess der
Zuschreibung und Ausgrenzung
und betrachtet sie nicht mehr - wie
ihre wissenschaftlichen Väter im
Dritten Reich - als einen unwandelbaren, naturgegebenen Zustand. ...“
Gerade im nationalistisch aufgeheizten Klima, das zur Zeit im Kosovo vorherrscht, kann ein Flüchtling schnell zum Roma gemacht
werden, selbst wenn er sich bislang nicht als solcher definierte. Es
71
Kriegsflüchtlinge
ist insofern nachvollziehbar, dass
Kosovaren, die sich bislang als Albaner betrachteten, es plötzlich
mit der Angst zu tun bekommen,
aufgrund bestimmter äußerlicher
Merkmale oder Verwandtschaften
als „Roma“ wahrgenommen und
verfolgt zu werden.
Ungeachtet solcher wissenschaftlicher Erkenntnisse und unbeirrt
zierungen darauf bestehen, einer
ethnischen Minderheit anzugehören, durchaus darauf hoffen,
im Kosovo nicht aufgenommen
und wieder nach Deutschland
zurückgeschickt zu werden. Das
niedersächsische Innenministerium
rät deshalb dazu, „Verfügungen,
Gerichtsbeschlüsse etc. , aus denen sich die Gründe für die Nichtanerkennung der Zugehörigkeit zu
dem Ergebnis besprochen worden:
Trägt ein Ausländer, der in einem
vorangegangenen Asylverfahren
angegeben hatte, Kosovo-Albaner
zu sein, jetzt vor, er sei Roma, so ist
das als Vorbringen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 AuslG zu
werten, für dessen Prüfung nach
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig ist. Der
Ausländer ist daher unter Setzung
einer angemessenen Frist und Hinweis auf §70 AuslG auf die Möglichkeit zu verweisen, eine Änderung der ablehnenden Bundesamtsentscheidung zu § 53 AuslG zu
beantragen.
Wird von dieser Möglichkeit kein
Gebrauch gemacht, ist das Vorbringen als bloße Schutzbehauptung zu werten.
durch die Entschließung des Bundestags, bei Abschiebungen in den
Kosovo zurückhaltender zu agieren, hält das niedersächsische Innenministerium jedoch daran fest,
alle Albaner jetzt möglichst schnell
in den Kosovo abzuschieben.
Flüchtlinge, die sich als Roma bezeichnen, sollen möglichst an die
Zuständigkeit des Bundesamtes
verwiesen werden. Wenn dies
nicht möglich ist, soll die RomaZugehörigkeit nach dem Willen
des Landes durch den Verband
Deutscher Sinti e.V. und anderer
Vereine überprüft werden. Unklar
bleibt, warum sich auch Betroffenenverbände dafür hergeben, derartige Klassifizierungen in „Roma“
und „Nicht-Roma“ vorzunehmen.
Allerdings traut das Land der Seriosität dieser Vereine und Verbände offenbar nicht so recht: Das Innenministerium weist ausdrücklich
auf die Schwierigkeiten hin, „trotz
vorgelegter Bescheinigung einer
der Vereine“ einen als „unglaubwürdig“ eingeschätzten Flüchtling
in den Kosovo abzuschieben.
Da die UNMIK die Aufnahme von
Albanern, die nicht aus dem Kosovo stammen, gegenwärtig ebenso
ablehnt wie Angehörige ethnischer
Minderheiten, können Betroffene,
die entgegen staatlichen Klassifi72
einer ethnischen Minderheit ergeben, den Abschiebungsunterlagen
in Kopie“ beizufügen, und vertraut
ansonsten auf die Arbeit eines
„deutschen Vermittlungsbeamten
in Pristina“. Wer Roma ist und wer
nicht, erkennt ein deutscher Beamter bekanntlich am besten.
Der Erlass des MI vom 10.5.2000,
der vom Land nicht veröffentlicht
wurde, trägt die Überschrift
„Überprüfung der behaupteten
Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten“ und hat folgenden
Wortlaut:
„Aus Anlass der mit dem Bezugserlass [vom 7.4.2000] getroffenen
Regelungen ist immer wieder die
Frage an mich herangetragen worden, wie sich die behauptete Zugehörigkeit zu einer ethnischen
Minderheit, insbesondere zu den
Roma, zuverlässig überprüfen lasse. Insbesondere in den Fällen, in
denen Betroffene, die in der Vergangenheit stets erklärt hatten,
Kosovo-Albaner zu sein, jetzt vortragen, sie seien Roma, liegt der
Verdacht nahe, dass es sich um eine bloße Schutzbehauptung handele.
Das Problem ist auf der letzten Sitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rückführung“ mit folgen-
Nur in den Fällen, in denen ein
Asylverfahren nicht durchgeführt
worden ist und das Vorbringen
auch nicht als Asylgesuch nach
§13 AsylVfG mit den sich daraus
ergebenden Konsequenzen (§18
AsylVfG) zu werten ist, hat die
Ausländerbehörde zu prüfen, ob
der Vortrag, Roma zu sein, glaubwürdig ist. Zu dieser Frage verweise ich auf die beigefügte Kurzinformation des Bundesamtes, insbesondere auf Abschnitt 3 (Asylrechtliche Würdigung von Bescheinigungen).
Weitergehende Aussagen zur Zuverlässigkeit derartiger Bescheinigungen und Seriosität der ausstellenden Vereine sind zu meinem Bedauern nicht möglich.
Ich weise darauf hin, dass neben
den in der Kurzinformation des
Bundesamtes angegebenen Vereinen auch der Niedersächsische
Verband Deutscher Sinti e.V.,
Schaumburger Str. 3, 30419 Hannover, bereit ist, eine Überprüfung
kostenlos vorzunehmen. Möglich
sein wird dies jedoch nur bei solchen Personen, die die Sprache Romani beherrschen. Bevor an diesen
Verband verwiesen wird, sollte unbedingt vorab telefonisch geklärt
werden, ob eine Überprüfung
möglich ist (Tel. 0511/ 796061,
Herr Ohl).
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kriegsflüchtlinge
tion zu Kultur, Geschichte und
Identität der Albaner und Roma im
Kosovo herausgegeben hat, die einen Fragenkatalog zur Prüfung der
Herkunft beinhaltet. Die Information kann für den Dienstgebrauch
angefordert werden unter Tel.
(0911) 943-5100/ Fax 5199.“
Wird der Vortrag, zu einer ethnischen Minderheit zu gehören,
trotz vorgelegter Bescheinigung einer der Vereine als unglaubwürdig
bewertet, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es im Falle einer
Abschiebung zu massiven Problemen bis hin zur Einreiseverweigerung kommt. allerdings ist inzwischen ein deutscher Verbindungsbeamter in Pristina tätig, der sich in
diesen Fällen um Vermittlung
bemühen wird. Dies erfordert allerdings, dass Verfügungen, Ge-
richtsbeschlüsse etc., aus denen
sich die Gründe für die Nichtanerkennung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit ergeben, den Abschiebungsunterlagen
in Kopie beigefügt werden. Auch
dann ist eine erfolgreiche Rückführung aber nicht garantiert; die
Erfahrungen mit diesem Verfahren
werden zeigen, ob es beibehalten
werden kann oder nicht.
VG Lüneburg:
Abschiebungsschutz für Roma
und Ashkali aus dem Kosovo
Ergänzend weise ich darauf hin,
dass das Bundesamt eine Informa-
(Weitere Erlasse zum Kosovo - zu
„Rückkehrprämien“ und „Rückführung“ - siehe unter Erlasse)
Kai Weber
A
uch Roma und Ashkali, die sich
als “Albaner” identifiziert haben, können bedroht sein, entscheidet das Verwaltungsgericht
Lüneburg am 16. Mai 2000 in
zwei bemerkenswerten Entscheidungen (Az. 7 A 602/97 und 7 A
533/97). Roma-Flüchtlingen, deren Asylanträge rechtskräftig abgelehnt worden waren, wurde damit Abschiebungsschutz nach §53
Abs. 6 Satz 1 AuslG gewährt.
es nicht unglaubhaft, wenn der
Kläger zu 1. in der mündlichen
Verhandlung angegeben hat, er
habe sich stets als Albaner gefühlt
und es sei nicht maßgeblich gewesen, ob er Rom sei oder nicht. ... Er
hat ... nachvollziehbar und glaubhaft bekundet, die Frage der Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe habe erst Bedeutung
erlangt, nachdem die Verhältnisse
im Kosovo sich verändert hätten.”
In der Begründung führt die zuständige Richterin aus, sie sei überzeugt, dass die Kläger Angehörige
des Volks der Roma bzw. der Ashkali sind, denn: “Bei den Roma im
Kosovo handelt es sich nicht um eine einheitliche Gruppe. ...
Während die sogenannten “ethnischen Roma” sich stets selbst als
Roma identifiziert haben, haben
sich die Ashkali stets als Albaner
identifiziert und nahe der albanischen Bevölkerung gelebt, obschon sie von den ethnischen Albanern gesondert behandelt werden. ... Unter Berücksichtigung
dieser Umstände ist die frühere Behauptung der Kläger, sie seien albanische Volkszugehörige, zu sehen. Sie steht der Einschätzung,
dass es sich vorliegend um Angehörige der Roma - hier der Ashkali - handelt, nicht entgegen.
Denn die assimilierten “albanischen Roma” sind aufgrund der albanischen Sprache, muslimischen
Religion und kulturellen Assimilation aus der serbischen Außensicht
ethnisch nicht von anderen Albanern zu unterscheiden. Deshalb ist
Im Folgenden führt die Richterin
sodann aus, warum die Betroffenen entsprechend den Vorgaben
des Bundesverwaltungsgerichts
“gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der ex-
tremen Gefahr ausgesetzt wären,
mangels ausreichender Existenzmöglichkeit an Hunger oder
Krankheit zu sterben” (Urteil vom
17.10.1995 - 9 C 9.95 - BBerwGE
99, 324). Auch eine inländische
Fluchtalternative verneint das Gericht. Das Niedersächsische OVG
habe in seinem Beschluss vom 30.
März 2000 (Az. 12 L 4192/99) eine derartige extreme Gefahr verneint, die gegenteilige Einschätzung „des UNHCR von diesem Tag
dürfte dem OVG jedoch bei seiner
Entscheidung noch nicht bekannt
gewesen sein“.
(Die Urteile bzw. eine kurze Zusammenfassung können bei der
Geschäftsstelle abgerufen werden)
Niedersachsen: abgeschobene
Roma zurückholen?
(Red.) Am 3. August wurde eine Roma-Familie mit drei erwachsenen Söhnen
aus Duderstadt (Niedersachsen) nach Kosov@ abgeschoben, obwohl ein Familienmitglied im Vorstand der Organisation
Roma Union Pralipe ist. Der Landkreis
Northeim hatte trotz schriftlicher Bestätigung ihre Roma-Zugehörigkeit nicht geglaubt, denn die Familie hatte - wie so viele andere - erst vor kurzem ihre Identität
als Roma preisgegeben. Vorher hatten sie
als muslimische Bosnier sowie einmal als
Kosovo-Albaner einen Asylantrag gestellt.
Nach ihrer Ankunft in Pristina wurde
die Roma-Familie aus Duderstadt beschimpft und bedroht, der UNHCR vor Ort
nahm sie unter seinen Schutz, weil die “Si-
cherheit der Familie nicht gewährleistet”
sei. Die Gesellschaft für bedrohte Völker
hatte heftig gegen die bevorstehende Abschiebung protestiert.
Das niedersächsische Innenministerium
hatte sich bis zum 7.8. noch hinter die
Abschiebungsentscheidung des Landkreises gestellt, am 8.8. stimmte das MI aber
einer Wiedereinreise der Abgeschobenen
zu, weil es die Gefährdung der Familie
nicht verantworten wolle. Die Familie sollte eine Aufenthaltsbefugnis erhalten.
Mittlerweile war die Familie aber vom UNHCR in einem UNHCR-Flüchtlingslager bei
Sarajevo untergebracht worden - und das
Nds. Innenministerium sieht keine Notwendigkeit mehr, die Familie zurückzuholen, denn in dem Lager seien sie doch vor
Übergriffen geschützt.
73
Kriegsflüchtlinge
Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten
Der Bundestag hat am 30. Juni 2000 einstimmig folgenden Antrag beschlossen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Krieg und Genozid im ehemaligen Jugoslawien haben Anfang der 90er Jahre
mehr als 350.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Bosnien und Herzegowina
nach Deutschland gebracht. Es bestand
Einigkeit, dass der Großteil nicht auf immer, sondern auf Zeit verbleiben sollte
und, sowie es die Situation zulässt, wieder in seine Heimat zurückkehren sollte.
Die Rückkehr der Flüchtlinge, die ab
1996 einsetzte, ist von den Zahlen her
beeindruckend. Über 300.000 sind aus
Deutschland wieder ausgereist. Dabei
gab es hervorragende Projekte und abgestimmte Maßnahmen zwischen Bund,
Ländern und Kommunen, welche diese
Rückkehr
erleichtert
haben.
Die Innenministerkonferenz hat sich
größtenteils daran gehalten, dass sog.
“Problemgruppen” vorerst nicht zur
Ausreise aufgefordert werden. Die etwa
50.000 verbliebenen Bosnier gehören
weitgehend dieser Gruppierung an. Die
Innenminister haben zunächst “Problemfälle” von Flüchtlingen bei der
Rückführung ausgenommen, z.B. dann,
wenn es sich um Traumatisierte, ehemalige Lagerhäftlinge oder Zeugen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag
handelte. Diese Personen sind jedoch
seit kurzem ebenfalls von zwangsweiser
Rückführung bedroht.
Auch die Rückkehr der Kosovo-Albaner,
die teilweise weit vor der Zeit des Kosovo-Krieges als Gastarbeiter oder als Asylsuchende nach Deutschland gekommen
sind, tritt jetzt in ein entscheidendes Stadium. Nach Ankündigungen der Innenminister von Bund und Ländern sollen
ausreisepflichtige Personen bis zum Ende des Jahres in den Kosovo “zurückgeführt” werden, wobei mit zwangsweisen
Rückführungen in größerem Umfang ab
Frühjahr diesen Jahres begonnen werden soll. Ausgenommen werden sollen
Angehörige bedrohter Minderheiten wie
z.B. Serben, Roma und Aschkali.
Seit März/April diesen Jahres wird die
überwiegende Mehrheit der heute “geduldeten” Flüchtlinge aus Bosnien und
Herzegowina oder aus dem Kosovo unterschiedslos aufgefordert, Deutschland
kurzfristig zu verlassen. In der Praxis wird
74
auf die Zugehörigkeit zu einer bedrohten Minderheit nicht immer Rücksicht
genommen. Unberücksichtigt bleibt
auch die Frage, ob bei Opfern schwerer
Menschenrechtsverletzungen die Rückkehr an den Ort der Verfolgungen zumutbar ist. Im Falle traumatisierter
Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina
werden z.T. sogar fachärztliche Beurteilungen durch pauschale amtsärztliche
Beurteilungen der eigenen Behörden ersetzt; fachärztliche Diagnosen werden
dadurch gegenstandslos.
II. Der Deutsche Bundestag fordert
die Bundesregierung auf,
sich - auch gegenüber den Bundesländern - dafür einzusetzen, dass gegenüber folgendem Personenkreis in Zukunft
keine Ausreiseaufforderungen verbunden mit der Androhung der Abschiebung ausgesprochen werden, und falls
bereits Ausreiseaufforderungen ergangen sind, diese widerrufen werden:
2. Roma und Aschkali, die überall Minderheit und fast überall Gejagte sind.
Im Rahmen einer Einzelfallprüfung, die
mit den Behörden des Heimatlandes und
den internationalen Organisationen vor
Ort abgestimmt werden sollten, müssen
aus unserer Sicht folgende Minimalkriterien berücksichtigt werden:
1. Die Sicherheit für Rückkehrwillige, die
einer ethnischen/religiösen Minderheit
angehören.
2. Die Sicherheit vor Minen.
3. Die Existenzmöglichkeit für die Person
oder Familie, um ein Mindestmaß sozialer Überlebenschancen zu gewährleisten.
4. Der Zustand des Gebäudes im Heimatort, in das die Person zurückkehren soll
bzw. geplante oder schon durchgeführte Rekonstruktionsprogramme.
1. Behinderte, Kranke, alleinstehende Alte, Mütter mit Kleinkindern sowie unbegleitete Minderjährige
2. Traumatisierte mit fachärztlicher Beurteilung
3. Ehepaare, die verschiedenen Ethnien
angehören und deshalb jetzt in ihrer
früheren Heimat nicht gemeinsam leben
können
4. Lagerinsassen, die während des Bürgerkriegs oder des Genozids inhaftiert
waren
5. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die sich der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Aggressionen und Verbrechen entzogen haben
6. Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen,
insbesondere des Haager Tribunals
7. Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind und die weitgehend integriert sind
Für Personen, die aus den oben genannten Gründen nicht in ihre Heimat
zurückgeschickt werden können, müssen nach einer Einzelfallprüfung, die mit
Kenntnis der tatsächlichen Situation vor
Ort erfolgen muss, Möglichkeiten für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem
gesicherten Rechtsstatus in Deutschland
geschaffen werden. Traumatisierte mit
fachärztlicher Beurteilung, Lagerinsassen
und integrierte Jugendliche sollten auch
eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung bekommen. Insofern wird der
Bundesinnenminister aufgefordert, die
gegenwärtige Praxis der Innenminister
der Länder durch die Möglichkeit eines
dauerhaften Bleiberechts zu ergänzen,
also entsprechende Empfehlungen in die
Innenministerkonferenz einzubringen.
Auch sollte ihnen unverzüglich die Erwerbsmöglichkeit gestattet werden, die
am stärksten zur Integration führt und
insbesondere den jungen Menschen eine
eigenständige Lebensperspektive bietet.
sich einzusetzen, dass folgende Gruppen
wegen der Verhältnisse vor Ort von den
Ausreiseaufforderungen ausgenommen
werden, sofern die Betroffenen nicht
freiwillig zurückkehren wollen:
Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
Schwarz-Schilling, Heide Mattischeck,
Claudia Roth (Augsburg), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ....(sowie 226
weitere Abgeordnete)...
1. Minderheiten, deren Heimat früher
oder erst heute mehrheitlich von einer
anderen Ethnie bewohnt werden, die
sich gegen die Rückkehr dieser heutigen
Minderheit wehrt.
Aus: Deutscher Bundestag; 14. Wahlperiode; Drucksache 14/3729; 30.06.2000
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kriegsflüchtlinge
In-Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik
Die Praxis
Kai Weber
(Red.) Die 70jährige Kosovarin Frau
R., die seit 8 Jahren in Deutschland
lebt, soll aus dem Ostfriesland abgeschoben werden. Auf Flüchtlinge wie Frau R. bezog sich die Bundestags-Entschließung für humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik, doch nützt ihr der einstimmige Beschluss wenig. Die einstimmige Entschließung quer
durch alle Fraktionen ist als politische Willensbekundung und demonstrativer Akt ungewöhnlich.
Wenn daraus jedoch keine praktischen Konsequenzen für die
Flüchtlingspolitik resultieren, entlarvt sich die Resolution als doppelmoralische Legitimations-Kulisse.
Für das gute Gewissen, als sanftes
Ruhekissen, auf dem eine Härtefallklausel weiterhin ausgesessen
und die Abschiebepolitik gnadenlos vollzogen wird..
Frau R. hat in ihrer Heimatstadt Pec
sowie im restlichen Kosovo keine
sozialen Bindungen mehr. Ihr
Mann starb 1995. Drei Kinder sind
im Kosovo getötet worden, eine
Tochter starb in Bosnien. Ihre noch
lebenden Kinder halten sich in
Deutschland oder in den USA auf.
Frau R. besitzt keine finanziellen
Rücklagen und ist aufgrund ihres
hohen Alters nicht in der Lage,
ihren Lebensunterhalt selbst zu
verdienen. Sie hat weder ein Haus
noch eine Wohnung und wäre im
Kosovo ganz auf sich allein gestellt.
Damit träfen für sie die neuen „Humanitären Grundsätze in der
Flüchtlingspolitik“ (Beschlusstext
siehe oben) idealtypisch zu. Frau R.
würde unter Ziffer II des Beschlusses fallen. Danach sollen „gegenüber folgendem Personenkreis in
Zukunft keine Ausreiseaufforderung verbunden mit der Androhung der Abschiebung ausgesprochen werden, und falls bereits
Ausreiseaufforderungen ergangen
sind, diese widerrufen werden:
1. Behinderte, Kranke, alleinstehende Alte, Mütter mit Kleinkin-
dern sowie unbegleitete Minderjährige“. (...)
Im Rahmen einer Einzellfallprüfung, die mit den Behörden des
Heimatlandes und den Internationalen Organisationen vor Ort abgestimmt werden sollten, müssen
aus unserer Sicht folgende Minimalkriterien berücksichtigt werden:
(...)
3. Die Existenzmöglichkeit für die Person
oder Familie, um ein
Mindestmaß an sozialer
Überlebenschancen zu gewährleisten.
den zu einem Verzicht auf Abschiebungen anhalte, jedoch das
Ausländergesetz unangetastet lasse, welches einen Vollzug rechtlich
möglicher Abschiebungen zwingend vorsehe. Darüber hinaus verweist das niedersächsische Innenministerium auf die Beschlusslage
der IMK vom 19.11.99, auf der ei-
4. Der Zustand des
Gebäudes im Heimatort, in das die Person
zurückkehren
soll
bzw. geplante oder
schon durchgeführte
Rekonstruktionsprogramme.
Für Personen, die aus oben genannten Gründen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können, müssen nach Einzelfallprüfung, die mit Kenntnissen der
tatsächlichen Situation vor Ort erfolgen muss, Möglichkeiten für einen längerfristigen Aufenthalt mit
gesichertem
Rechtsstatus
in
Deutschland geschaffen werden
(...).“
Am 16.04.1997 schon war eine
Landtagseingabe für Frau R. gestellt worden. Diese wurde am
28.03.1998 unter Hinweis auf die
amtsärztlich festgestellte Reisefähigkeit abgelehnt. Angesprochen auf die oben zitierte Entschließung des Deutschen Bundestags
erklärte das niedersächsische Innenministerium gegenüber dem
niedersächsischen Flüchtlingsrat
vor zwei Wochen lediglich, diese
habe auf die konkrete Abschiebungspraxis keine Auswirkungen.
Es könne nicht angehen, so das Innenministerium zur Begründung,
dass der Gesetzgeber die Behör-
Foto: 3.Wlt Saar
ne „konsequente Rückführung“ aller Kosovo-Albaner verabredet
worden sei.
Auch Frau R. hat mittlerweile
(4.7.2000) eine Abschiebungsandrohung erhalten. Der Flüchtlingsrat hat unter Verweis auf den
wörtlichen Text der Bundestagsentschließung eine Petition beim
niedersächsischen Landtag eingereicht und aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht für die
Bundesrepublik Deutschland eingefordert. Darin heißt es: „Wir
können nicht glauben, dass der
einstimmig gefasste Beschluss des
Deutschen
Bundestags
vom
6.7.2000 ohne jede Bedeutung für
die alltägliche Praxis bleibt, und
möchten Sie bitten zu prüfen, ob
hier - ggfs. in Form eines Wiederaufgreifens des Verfahrens auf Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG durch
das Bundesamt - eine erneute Einzelfallprüfung im Sinne des Bundestags-Beschlusses herbeigeführt
werden kann.
75
Kriegsflüchtlinge
Roma aus dem Kosovo:
Im Zweifel für die Abschiebung?
Theoretischer Abschiebeschutz, niedersächsische Realität
Rechtsanwältin Christina Bremme , Bremen
An den niedersächsischen Innenminister
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf Anregung der Gesellschaft für
bedrohte Völker möchte ich Ihnen
die Bedrohung durch eine mögliche
Abschiebung der Familien XXXX
(zwei Erwachsene und vier Kinder)
und YYYY (ebenfalls zwei Erwachsene und vier Kinder) aus dem
Landkreis Diepholz schildern.
76
Eilverfahren vortragen müssen (obwohl sie seinerzeit als Albaner verfolgt wurden – die Sachlage ist Ihnen bekannt). Die Gerichtsverfahren sind nach wie vor anhängig, alle Personen werden (noch) geduldet, wobei nur noch kurzfristige
Duldungen erteilt werden, z.T. mit
dem Zusatz: „freiwillige Ausreise
soll ermöglicht werden“.
Beide Familien hatten im ersten
Asylverfahren hier angegeben, Albaner zu sein. Nachdem im Sommer 1999 immer schlimmere Nachrichten über die Verfolgung von Roma im Kosovo bekannt wurden,
stellten beide Familien im Frühherbst Asylfolgeanträge, die jeweils
abgelehnt wurden. Hiergegen wurde Klage vor dem VG Hannover erhoben, Verbunden mit dem Antrag
auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 V VWGO. Bereits im November 1999
lehnte das Gericht alle Eilanträge
ab. Die Entscheidungen stützen
sich dabei hauptsächlich auf die
verbesserte Situation im Kosovo,
die die Verfolgung ethnischer Albaner beendet habe. Soweit die Antragsteller nunmehr vortragen, Roma zu sein, so sei dies sowohl unglaubhaft als auch verspätet, denn
sie hätten diese Tatsache bereits im
Das zuständige Ausländeramt hat
beide Familien versucht, zu einer
„freiwilligen“ Ausreise zu ermuntern und verweist ebenfalls in beiden Fällen darauf, die Familien sollten unter Nachweis ihrer Identität
als Roma Asylfolgeanträge stellen,
obwohl dort bekannt ist, dass dies
bereits geschehen ist. Beide Familien haben eine Bescheinigung des
Schalomdiakons Nicolaus von Holtey über ihre Zugehörigkeit zu den
Roma vorgelegt, was die zuständigen Sachbearbeiter jedoch nur zu
der Bemerkung veranlasste, für das
Ausländeramt seien sie nach wie
vor Albaner. Es wurde ihnen zwar
mitgeteilt, sie müssten ihre ethnische Zugehörigkeit nachweisen, jedoch nicht bekannt gegeben, wie
und wo eine solche Bescheinigung
zu erlangen wäre. Duldungen werden nur noch kurzfristig erteilt.
Asyl für jugoslawische
Deserteure!
nach § 51 Absatz 1 Ausländergesetz kommen und Bleiberecht erhalten.
Die Bundesregierung einem Antrag der PDS auf Asyl für jugoslawische Deserteure am 10.5. 2000
zugestimmt. Innenminister Schily
hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge angewiesen, entsprechend zu
verfahren. Etwa 250 Kriegsdienstverweigerer aus dem früheren Jugoslawien sowie etwa 130 Deserteure werden vermutlich in den
Genuss des sog. “kleinen Asyls”
Die PDS sieht darin ein
ermutigendes Signal
auch für Deserteure
und Kriegsdienstverweigerer anderer Armeen, z.B. für kurdische Deserteure in der
türkischen Armee und
für russische Deserteure, die am Tschetschenien-Krieg nicht teilnehmen wollen. Bisher hat-
Letztlich haben beide Familien keine Möglichkeit, der Abschiebung
zu entgehen, denn im Hinblick auf
die Entscheidung des Nieders. OVG
vom 08.03.2000 (12 L 778/00), in
dem Roma aus dem Kosovo sowohl
der Flüchtlingsstatus nach § 51
AuslG, als auch die Feststellung von
Abschiebehindernissen nach § 53
AuslG versagt wird, entfällt auch
die Möglichkeit, einen neuen Eilantrag bei Gericht unter Hinweis auf
die vorliegenden (neuen) Stellungnahmen des UNHCR sowie des aktuellen Rundschreibens des BMI zu
stellen. Im Hinblick hierauf wird
auch das Bundesamt keine anderweitige Entscheidung fällen.
Auf Anfrage hat mir das UNHCR in
Berlin bestätigt, dass eine Übernahme der betroffenen Familien durch
die Behörden im Kosovo nicht geschehen wird. Eine Abschrift dieses
Schreibens wird daher an das UNHCR sowie auch an die Niedersächsische Ausländerbeauftragte versandt werden. Zwischenzeitlich liegen mir auch Bescheinigungen des
Niedersächsischen Deutscher Sinti
e.V. über die ethnische Zugehörigkeit zum Volk der Roma vor, die ich
in der Anlage in Kopie beifüge (Originale liegen mir vor). Diese Vorgehensweise ist von Ihrem Ministerium selbst vorgeschlagen worden.
Andere Möglichkeiten des Nachweises stehen meines Wissens nach
nicht zur Verfügung.
Entgegen dem eindeutigen Beschluss der IMK sollen aus Ihrem
Land Angehörige der verfolgten
Minderheit der Roma in den Kosovo abgeschoben werden. Diese Tatsache wird auch in der Öffentlichkeit nicht ohne Reaktion bleiben.
ten sich deutsche Asylbehörden
beharrlich geweigert, Desertion
als Asylgrund anzuerkennen.
Foto: Michael Brockhaus
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
Asylbewerberleistungsgesetz
Rassismus und Gewalt:
Flüchtlingsproteste bundesweit
aus: mailinglist kein mensch ist illegal; Pro Asyl InfoNetz, Zusammenstellung der Redaktion
(Red.) In verschiedenen Städten
der Bundesrepublik finden zur Zeit
Proteste und Hungerstreiks von
Flüchtlingen gegen ihre Lebensbedingungen und rassistische Behandlung statt. Die Proteste richten sich sowohl gegen das Asylbewerberleistungsgesetz (Gutscheine
oder Fresspakete statt Bargeld, unzureichende medizinische Versorgung) als auch gegen die Residenzpflicht, die Flüchtlinge dazu
zwingt sich innerhalb bestimmter
Ortschaften aufzuhalten. Während
die Debatte um Rechtsextremismus bundesweit großes Thema in
den Medien ist, sind die Flüchtlingsproteste nur in den Lokalmedien präsent – wenn überhaupt.
Werden Flüchtlinge gefragt zu
ihren Erfahrungen mit Rassismus
und Gewalt, sind sie es, die die
Verbindung aufzeigen zu staatlicher Flüchtlingspolitik, zum „Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft“. Die Prozesse alltäglicher
Ausgrenzung, Abwertung und
Stigmatisierung, die sie zur Ziel-
scheibe rassistischer Gewalt stilisieren, erleben sie täglich am eigenen
Leib.
Im folgenden dokumentieren wir
die uns bekannten Proteste.
Leipzig und andere
Orte in Sachsen
Kahina e.V.
Alle 1500 BewohnerInnen der Leipziger Asylbewerberheime protestierten in den letzten Monaten
gegen ihre rassistische Sonderbehandlung. Als den Flüchtlingen im
Asylheim
Liliensteinstraße
15/Grünau, die nach § 2 Abs.1
Bargeld statt Sachleistungen bekommen könnten, Anfang Juni
2000 wieder Pakete angeliefert
wurden, traten sie in einen Streik:
Sie verweigerten die Paketannahme sowie die Annahme des Taschengeldes. 10 Tage lang verweigerten mehrere Flüchtlinge die
Nahrungsaufnahme. Dem Streik in
Grünau schlossen sich auch zahlreiche Flüchtlinge in anderen Asylheimen an, so in Taucha, Markkleeberg, Raschwitzer Straße usw.
In Taucha, ein Heim, wo die Flüchtlinge durch ein Magazin versorgt
werden, befanden sich 10 Flüchtlinge über zwei Wochen lang im
Hungerstreik. Eine Frau musste
stationär im Krankenhaus behandelt werden. Flüchtlinge in der Torgauer Straße verliehen durch eine
Straßenblockade ihren Forderungen Nachdruck.
In den Heimen bildeten die Flüchtlinge Räte zur Leitung der Aktionen. Mitte Juni wurde einer der
Sprecher aus Grünau gewaltsam
durch die Polizei in ein Asylheim
nach Grimma umverteilt.
Am 8. Juni einigten sich das Regierungspräsidium und die Stadt Leipzig darauf, den Flüchtlingen der
betreffenden Personengruppe (§2
Abs.1) die Sozialhilfe auszuzahlen.
77
Asylbewerberleistungsgesetz
Allerdings beinhaltete der Kompromiss die Einschränkung, dass
nur Flüchtlinge mit einer Aufenthaltsgestattung, d.h. die deren
Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, Bargeld
erhalten. Wer eine Duldung hat,
dessen Fall müsse überprüft werden, und zwar dahingehend, ob
delegierte Flüchtlinge den Vertreter/inne/n von elektronischen und
Printmedien ihre Forderungen erläuterten. Am 6.Juli fand eine Demonstration durch die Stadt Leipzig statt. Mehr als 600 Flüchtlinge
und Unterstützer/innen beteiligten
sich an dieser Demonstration.
Foto: Karawane
die derzeitige tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise selbst verschuldet ist oder nicht. Eine Überprüfung fand bis Ende Juni noch
immer nicht statt. So erhielten von
über 1000 Flüchtlingen nicht einmal 100 Flüchtlinge Bargeld. Die
anderen Flüchtlinge sind “geduldete”, d.h. das Verfahren ist
rechtskräftig abgeschlossen und
aus humanitären, rechtlichen oder
persönlichen Gründen kann keine
Abschiebung erfolgen. Das betrifft
z.B. zahlreiche Flüchtlinge aus Afghanistan, Libanon und Jugoslawien.
Ende Juni schlossen sich immer
mehr Flüchtlinge zusammen und
bildeten ein die Heime übergreifendes Koordinierungsgremium.
Das Koordinierungsgremium beschloss, in der ersten Juliwoche
verschiedene Aktionen zu machen.
Es wurde ein Forderungskatalog
ausgearbeitet, der eine Arbeitserlaubnis für alle, Bargeld statt Sachleistungen für arbeitslose Flüchtlinge, kostenlose Deutschkurse, die
Abschaffung der Residenzpflicht,
freie Arztwahl und eine Verbesserung der Wohnbedingungen beinhaltet. Am 3.Juli wurde gemeinsam wieder ein Paketannahmestreik ausgerufen. Am 3.Juli fand
eine Pressekonferenz statt, auf der
78
Bisherige Ergebnisse
Die Streiks und die Gespräche der
PDS-Abgeordneten mögen bewirkt
haben, dass der sächsische Innenminister Klaus Hardrath öffentlich
überlegte bereit zu sein, Gutscheine statt Pakete zu gewähren. Das
erste Mal ist es gelungen, nicht nur
die Flüchtlinge eines einzelnen
Asylheims in Leipzig und Umgebung zu mobilisieren, sondern die
Flüchtlinge mehrerer Heime. Dabei
liegen Initiative und die Koordinierung der Aktionen in den Händen
der Flüchtlinge. Erstmals ist es gelungen, in einem hohen Maße die
lokale und regionale Presse für die
Belange der Flüchtlinge zu interessieren. Die PDS/Sachsen engagiert
sich in einem bisher nicht dagewesenen Maße für die Belange der
Flüchtlinge. Die Bereitschaft linker
Kreise in Leipzig, die Flüchtlinge zu
unterstützen, ist relativ groß, was
sich in den Spenden und in der Beteiligung an der Demonstration
am 6.Juli niederschlägt. Wichtig ist
zu bemerken, dass die Aktionen
mit der Forderung nach Geld-stattSachleistungen begonnen haben
und zu der Hauptforderung “Arbeitserlaubnis” fanden. Der Koordinierungsrat der Flüchtlinge lehnt
es außerdem ab, eine Trennung
zwischen Flüchtlingen entspre-
chend der Aufenthaltstitel vorzunehmen. Der Forderungskatalog
gilt für alle.
Probleme
Nach der Demonstration wächst
der Druck auf einzelne Flüchtlinge,
die sich besonders engagieren. Im
Heim Torgauer Straße luden Wohnungsamt und Heimleitung einzelne Flüchtlinge vor. Sie sollten bei
einem Termin, an dem die Ausländerbehörde sowie eine SPD-Abgeordnete der Landtagsfraktion
Sachsen teilnahmen, Rechtfertigung über ihre Aktivitäten ablegen. Ihnen wird Verstoß gegen die
Heimordnung vorgeworfen. Dieser
Vorwurf wird damit begründet,
dass diese Personen andere Flüchtlinge aufgehetzt hätten sowie dass
sie die Kantine, in der die Gemeinschaftsverpflegung geschieht, geschlossen hätten. Im übrigen kann
nach mehrmaliger Ermahnung eine zwangsweise Umverteilung erfolgen. Angesichts der ablehnenden Haltung des Leipziger Regierungspräsidiums herrscht unter
den Flüchtlingen momentan Uneinigkeit darüber, welche Forderung
sie fortan in den Mittelpunkt stellen sollen, d.h. was überhaupt realistisch ist. Außerdem gibt es sehr
verschiedene Ansichten darüber,
mit welchen Aktionsformen den
Forderungen Nachdruck verliehen
werden sollte.
Der Leipziger Flüchtlingsrat hält
die Forderungen der Flüchtlinge
für zu weitgehend und stellt sich
deshalb nicht hinter den gesamten
Katalog. Die aktivsten Unterstützer/innen der Flüchtlinge, nämlich
einige PDS-Abgeordnete sowie der
Verein Kahina werden bereits von
verschiedenen Stellen angefeindet,
die eigentlichen “Drahtzieher” der
Aktionen zu sein. Hinter diesem
Vorwurf versteckt sich neben parteipolitischen Ambitionen auch ein
latenter Rassismus: Flüchtlinge seien angeblich nicht in der Lage,
selbst Aktivitäten zu entwickeln
und zu koordinieren.
Perspektiven
Das momentane Interesse der
Presse muss genutzt werden, um
systematisch die unmenschlichen
Verhältnisse in den Asylheimen öffentlich zu machen. Forderungen
wie die nach Aufhebung der Resi-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
denzpflicht und die nach einer Arbeitserlaubnis für alle müssen in einen bundesweiten Kontext gestellt
werden. Die Flüchtlinge müssen eine Struktur aufbauen, mit der sie
auch noch in den nächsten Monaten agieren können. Es muss
tatsächliche Unterstützung über
den bisherigen Unterstützerkreis
hinaus gefunden werden.
Grimma
Den Leipziger Aufständen gegen
unzumutbaren Lebensbedingungen und gegen die Lebensmittelversorgung (Gutscheine, Fresspakete, überteuerte Waren) schließen
sich auch Flüchtlinge in anderen
sächsischen Heimen an: in Doberschütz und Eilenburg, in Chemnitz
und auch in Grimma. Hier befinden sich ebenfalls Flüchtlinge im
Hungerstreik gegen die Ausgabe
von Gutscheinen und die rassistische Behandlung. Auch Schwangere und Kinder beteiligen sich an
dem Protest.
- Wir wollen keine Esspakete, die
schon stinken
- Wir verlangen ein Taschengeld,
mit dem wir unseren Bedarf auch
decken können.
- Wir fordern mehr Sauberkeit und
Hygiene im Heim. Die Gesundheit
unserer Kinder steht auf dem Spiel.
- Die Flüchtlingskinder, die in die
Schule gehen, bleiben wegen der
schlechten Lebensumstände im
Heim hinter den anderen Kindern
zurück
- Wir verlangen die Aufhebung des
Verbots den Landkreis zu verlassen.
- Wir verlangen die Aufhebung der
Gebühren für die Bewilligung, die
man zum Verlassen des Landkreises braucht.
Singen, den 15.5.2000
In anderen Gemeinden ist es
durch Protest gelungen, Druck auf
die Stadt auszuüben, so dass dort
wieder Gutscheine bzw. Geld eingeführt wurden. Deswegen ist es
notwendig, vielfältig gegen diese
bevormundende Regelung zu protestieren. Ein Mittel soll eine Demonstration am 9. September
sein.
Singen
Baden-Württemberg
Bis auf zwei Kranke protestieren
Mitte Mai alle Bewohner eines
Flüchtlingswohnheims in Singen
mit einem unbefristeten Hungerstreik gegen die unwürdigen Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Sie verweigerten die
Annahme der Essenspakete: Die
Zusammensetzung dieser Pakete
entspricht in keinster Weise den
Bedürfnissen der Menschen, ihr Inhalt ist nicht ausreichend und oft
verdorben, beim Fleisch fehlt die
Kennzeichnung durch ein Verfallsdatum. Seit Montag, dem 15. Mai,
sitzen die hungerstreikenden
Flüchtlinge zusammen vor dem
Wohnheim in der Bohlinger
Straße, wo sie mit Transparenten,
T-shirts und einem HungerstreikZelt ihren Forderungen Nachdruck
verleihen.
se ausreichen. Mit dieser diskriminierenden, entmündigenden Maßnahme wird den Flüchtlingen die
Möglichkeit genommen ihren Einkauf auf ihre individuellen und kulturellen Bedürfnisse abzustimmen.
Die Flüchtlinge aus der Tackenweide reagierten auf die Einführung
dieser Regelung, indem sie zwei
Wochen die Paketannahme verweigerten. Durch ein generelles
Arbeitsverbot für Flüchtlinge (SGB
III,AEVO) wird diesen die Möglichkeit genommen, von finanziellen,
staatlichen Zuwendungen unabhängig zu werden. Ausgenommen
von dieser Regelung ist lediglich
die sog. “gemeinnützige Arbeit”
zu der einige Flüchtlinge verpflichtet werden und die mit nur zwei
Mark(!) pro Stunde entlohnt wird.
Ansonsten droht Sanktionierung
durch Taschengeld- und Paketentzug.
Emmerich
Junge Linke Wesel
Seit Mitte Juni bekommen Flüchtlinge in Emmerich ihre Nahrungsmittel in Form von Lebensmittelpaketen zugewiesen. Faktisch bedeutet das, dass ihnen eigenständiges
Einkaufen untersagt wird, da die
lediglich 80 DM (Taschengeld) pro
Person im Monat für den Lebensunterhalt nicht einmal ansatzwei-
Doch unser Protest richtet sich
nicht “nur” gegen die Verpflegung
der Flüchtlinge durch Lebensmittelpakete, denn Rassismus ist in
vielen Gesellschaftsbereichen zu
finden und für Flüchtlinge und MigrantInnen zu spüren. Dieser alltägliche Rassismus dient mit als
Scharfmacher für rechtsextremistische Schlägertrupps. Diese neonazistischen Trupps treten in Emmerich und anderen niederrheinischen Gebieten zunehmend offener und zunehmend gewalttätiger
auf. Innerhalb von zwei Monaten
starben bundesweit 8 Menschen
als Opfer rassistischer und faschistischer Taten.
Forderungen der hungerstreikenden Flüchtlinge:
Wir sind Menschen und wollen leben wie Menschen.
- Wir wollen wie Menschen behandelt werden
- Wir fordern das Recht auf Arbeit,
auf eine Arbeitserlaubnis
79
Asylbewerberleistungsgesetz
Ahaus
UWG Jugend Ahaus
Bereits seit über zwei Jahren werden die Ahauser AsylbewerberInnen von der CDU-Fraktion im Rat
der Stadt Ahaus und dem Ahauser
Bürgermeister dazu gezwungen in
einem eigens für sie eingerichteten
Lebensmittel-”Shops” einzukaufen. Die Flüchtlinge müssen in diesem Laden einkaufen weil sie kein
Geld ausgezahlt bekommen. In
dem Shop wird ihnen beim Kauf
das Geld elektronisch über ein
Computersystem abgebucht.
Die Stadt Ahaus gibt dabei für den
Betrieb des “Shops” mehr aus als
sie für eine Versorgung durch Gutscheine oder Bargeld bezahlen
müsste.
Foto: Lars Klingbeil
Behördenwillkür, die Behandlung
als Menschen zweiter Klasse, Abschiebungen, rassistische Kampagnen von etablierten Parteien, wie
die CDU-Doppelpasskampagne,
die an die Fremdenangst der Bevölkerung appellierte, oder Aussagen wie die vom Emmericher Bürgermeister , Horst Boch, der sich
kürzlich in einem NRZ-Interview
beliebter Vorurteile gegen Flüchtlinge bediente, indem er behauptete, sie hätten durch die Pakete
nun nicht mehr so viel Geld zum
“verzocken”, sind nur einige Bei-
spiele.
Bei den Flüchtlingen handelt es
sich um Menschen, die gezwungen wurden, ihre Herkunftsländer
(Türkei, Afrika, Kurdistan, Irak) zu
verlassen und zu flüchten, sei es
vor Folter, Naturkatastrophen, Armut oder imperialistischen Kriegen, die oftmals von der BRD
durch Waffenlieferungen und
Know-How unterstützt werden.
Diesen Menschen sollte die Möglichkeit geboten werden, hier mit
den gleichen Rechten leben zu
können.
LASSEN WIR SIE NICHT ALLEINE !
Demonstration:
Selbstbestimmung statt Ausgrenzung - Geld statt Esspakete!
9.9. 2000 um 13.00 Uhr am Emmericher Hbf
Schluss mit der Entmündigung und Diskriminierung der Flüchtlinge
- Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!
- Arbeitsverbot aufheben!
- Ausreichend Wohnraum für Flüchtlinge!
- Geld statt Lebensmittelpakete!
- Rassismus entgegentreten !
Junge Linke Wesel, c/o Antifa-Büro, Herzogenring 4, 46483 Wesel
Tel/Fax: 0281/300 90 74, Email: [email protected],
www.jungdemokratinnen.de/wesel
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Die Behandlung der Flüchtlinge ist
menschenunwürdig. Sie berichteten mehrfach von abgelaufenen
Haltbarkeitsdaten, überhöhten
Preisen, einer mangelnden Auswahl und verschimmeltem Gemüse. Hinzu kommt, dass durch den
Shop den Migranten die Möglichkeit genommen wird in anderen
Läden einzukaufen. Diese Tatsache
und der Fakt, dass auch Deutsche
nicht in den Asylbewerbershop
dürfen offenbart eine rassistische
Ausgrenzungspraxis mit dem Ziel
der Vertreibung und Sündenbockfunktionalisierung der AsylbewerberInnen.
Nun haben die Flüchtlinge den
Mut gefunden zu streiken und eine kritische Leserbriefdiskussion
wurde in der Regionalzeitung geführt. Die UWG-Fraktion hat daraufhin das Thema erneut auf die
Tagesordnung des Rates gesetzt.
Sie fordert die Abschaffung des
Shops.
Nähere Infos:
www.uwg-ahaus.de/uj
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
Niedersachsen:
Hungerstreik in Hagen
Maria Wöste
M
itte August hungert er schon
einen Monat. Seit dem 18.
Juli befindet sich der Flüchtling Ehsan Mehdizadeh aus dem Iran im
Hungerstreik: im Flüchtlingswohnheim Höhenweg in Hagen bei Osnabrück. Ehsan Mehdizadeh protestiert gegen die Folgen des wohl
alltäglich-schikanösesten Sondergesetzes für Flüchtlinge in
Deutschland: gegen die Zwangsarbeit, die mit dem Asylbewerberleistungsgesetz begründet wird und
die Gutscheinregelung, die sich
aus der Niedersächsischen Interpretation des Asylbewerberleistungsgesetz ableitet. Seine Forderungen: Keine Zwangarbeit bei
gleichzeitigem Arbeitsverbot. Und
Bargeld statt Gutscheine, so wie
die Flüchtlinge im nahegelegenen
Münster. Münster liegt in Nordrhein-Westfalen, dort hat die Landesregierung keine Gutschein-Ausgabe verordnet.
Die Gründe für Ehsan Mehdizadehs verzweifelten Protest sind
nicht ungewöhnlich - für Flüchtlinge nicht ungewöhnlich. Sein Taschengeld wollte das Sozialamt
Ehsan Mehdizadeh erst wieder
auszahlen, wenn er die verordnete
Zwangsarbeit abgeleistet hätte.
Nach 14 Stunden „gemeinnütziger
Arbeit“ auf dem Bauhof verlangte
er seinen Stundenlohn von 2 DM,
um die Anwaltsrate zu bezahlen.
Das Geld wurden ihm jedoch verweigert, ebenso die volle Leistungsauszahlung – die würde er
bekommen, wenn er 50 Stunden
der erpressten Tätigkeit abgeleistet
hätte. Auch bekäme er nicht 340
DM, sondern nur 295 DM monatlich. Für E. Mehdizadeh festigte
das den Eindruck, es ginge nur um
Schikane. Als „Schikane“ erlebt er,
was von politischer Seite mit dem
Asylbewerber-Abschreckungsgesetz auch beabsichtigt ist. Als E.
beschließt, in den Hungerstreik zu
treten, teilt er dies den Behörden
mit. Als ein Pressebesuch bekannt
wird, werden plötzlich Bauarbeiten
im Heim erledigt, die schon lange
eingefordert waren.
Auch in seinem Asylverfahren hat
Herr Mehdizadeh Erfahrungen mit
der Sonderbehandlung in der Asylgesetzgebung gemacht. Ein Brief
über die Ablehnung seines Asylverfahrens ereichte ihn in Hagen
nicht, obwohl er sich dort aufhielt.
Der Postzusteller ließ ihn mit dem
Vermerk „Empfänger unbekannt
verzogen“ zurückgehen – so versäumte er die 14-tägige Widerspruchsfrist gegen den Bescheid.
Wegen falscher Rechtsmittelbelehrung ließ das Oberverwaltungsgericht gegen die Entscheidung des
Osnabrücker Verwaltungsgerichts
jedoch die Berufung zu. Eine Unterschrift unter einen
Brief an die iranische
Botschaft hatte die Ausländerbehörde ihm mit
der Drohung abgepresst, andernfalls Ausweispapiere nicht zurückzubekommen.
Ehsan
Mehdizadeh war im
Iran wegen Verweigerung des Kriegsdienstes
6 Monate inhaftiert. Er
floh, als beim Verteilen
von Flugblättern über
Arbeiter- und Frauenrechte einer
seiner Mitstreiter mit Waffengewalt verhaftet wurde.
vom Landkreis angekündigten Psychiater, sondern nur eine menschenwürdige Behandlung.“ Die
Sozialdezernentin hatte ihm lediglich den Vorschlag anzubieten, die
Zwangsarbeit z.b. in einem Altenheim und nicht mehr im Bauhof
abzuleisten. Das wäre alles, worauf sie Einfluss nehmen könne.
Den angekündigten Durststreik hat
Ehsan Mehdizadeh vorläufig ausgesetzt. Bevor er bewusstlos werde, wolle er dem Leiter des Hagener Sozialamts mitteilen, dass
dieser keinerlei Verfügung über
seinen lebenden Körper haben
Seele brennt,
doch im Körper Eiszeit
Die lokalen Behörden hatten Ehsan
Mehdizadeh bislang nur ein Gespräch mit dem sozialpsychiatrischen Dienst und mit der Sozialdezernentin zu bieten. Der örtliche
Grünen-Fraktionsvorsitzende und
ein - iranischer - Professor aus
Osnabrück, die ihn besuchten,
stellten fest: „Der hungerstreikende Asylbewerber braucht nicht den
dürfe.
Den Körper einsetzen, um die Seele nicht sterben zu lassen, um die
Selbstachtung und Gesundheit zu
retten, das haben in den letzten
Wochen und Monaten viele
Flüchtlinge in ganz Deutschland
gemacht. Alles sei „ganz normal“
gelaufen auch in diesem Fall, sagen die lokalen Behördenvertreter.
Stimmt. Das ist ganz normaler Alltags-Rassismus für Flüchtlinge in
Deutschland dieser Tage.
Foto: Karawane
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Asylbewerberleistungsgesetz
Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat
kein mensch ist illegal
The Voice Africa Forum
Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen
Iranische Gemeinde (Kargah e.V.)
Nds. Flüchtlingsrat e.V. Lessingstraße 1, 31135 Hildesheim
Kontaktadresse:
An den nds. Innenminister
Herrn Heiner Bartling
Clemensstr. 17
Geschäftsstelle Nds. Flüchtlingsrat
Lessingstr. 1
31135 Hildesheim
Tel.:
0 51 21 / 1 56 05
Fax:
0 51 21 / 3 16 09
E-mail: [email protected].
30169 Hannover
Hildesheim, 21.8.2000
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Innenminister,
seit nunmehr vier Wochen befindet sich der iranische Flüchtling Ehsan Mehdizadeh aus Osnabrück in einem
unbefristeten Hungerstreik. Er wendet sich mit seinem verzweifelten Protest gegen die menschenunwürdigen
Bedingungen, denen er ebenso wie viele andere Flüchtlinge unterworfen ist:
o Nach wie vor gilt für Flüchtlinge ein absolutes Arbeitsverbot. Gleichzeitig werden die Betroffenen jedoch
mit der Drohung weiterer Leistungskürzungen gezwungen, sog. „gemeinnützige Arbeit“ zu leisten, die
nicht bezahlt, sondern mit einer sog. „Aufwandsentschädigung“ in Höhe von 2 DM pro Stunde vergütet
wird. Ein solcher Arbeitszwang ohne Arbeitsrecht erscheint uns nicht nur verfassungsrechtlich fragwürdig,
sondern auch vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte mehr als problematisch.
o Flüchtlinge erhalten nach dem „Asylbewerberleistungsgesetz“ für mindestens 3 Jahre reduzierte Sozialleistungen, die rund 25% niedriger bemessen sind als der Sozialhilfesatz, der das Existenzminimum markiert.
Diese gekürzten Sozialleistungen können, soweit Sachleistungen nicht in Frage kommen, in Form von Gutscheinen oder Bargeld gewährt werden. Die in Niedersachsen übliche Ausgabe von Gutscheinen statt Bargeld stellt eine zusätzliche Diskriminierung von Flüchtlingen dar, die nicht durch das Gesetz gefordert ist.
Im Hinblick auf das bestehende Arbeitsverbot für Flüchtlinge haben Sie sich dankenswerterweise mehrfach
auch öffentlich für eine Aufhebung desselben eingesetzt. Dass es bis heute nicht zu einer Rücknahme des Arbeitsverbots gekommen ist, hat die Bundesregierung zu verantworten, die sich bis heute nicht zu diesem
Schritt durchringen konnte.
Wir können Sie deshalb nur bitten, erneut beim Bundesarbeitsministerium die Abschaffung des Arbeitsverbots anzumahnen und im Übrigen dafür Sorge zu tragen, dass die Betroffenen nicht weiterhin zu
Zwangsarbeiten verpflichtet und erpresst werden.
Auch das Asylbewerberleistungsgesetz kann von der Landesregierung nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Die Landesregierung hat jedoch bei seiner Umsetzung einen erheblichen Gestaltungsspielraum, insbesondere in der Frage der Art und Form der Leistungsgewährung. Das niedersächsische Innenministerium hat
sich 1997 dazu entschieden, die Kommunen im Wege der Weisung zur Ausgabe von Gutscheinen statt Bargeld an Flüchtlinge zu zwingen. Viele niedersächsische Kommunen (u.a. Hannover, Göttingen, Hildesheim,
Osnabrück,...) haben sich lange gegen die Einführung von Gutscheinen gewehrt. Die Gutscheinausgabe ist
nicht nur diskriminierend, sondern auch teuer, da das Gutscheinsystem die kommunalen Kassen zusätzlich belastet. Auch für die (Einzel-) Händler vor Ort entstehen zusätzliche Kosten. Nur wenige Bundesländer fahren
in dieser Frage einen derart rigiden Kurs. In allen benachbarten Bundesländern stellt das Land den Kommunen zumindest frei, welche Leistungsform sie je nach den Umständen anwenden wollen, oder gewährt den
Betroffenen flächendeckend Bargeld.
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FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
Für Flüchtlinge bedeutet das Leben mit Gutscheinen Bevormundung (keine freie Wahl der Geschäfte und Artikel), Demütigung und sichtbare Abstempelung als unerwünschte Personen. Jeder Einkauf wird zur Praxisprüfung im Kopfrechnen, da eine Bargeldrückgabe nur begrenzt möglich ist. Und der Spießrutenlauf bei wartender Kassenschlange beginnt, wenn die erlaubt Wechselgeldmenge unterschritten ist. Kassierer/-innen werden durch das Gutscheinsystem zu Ordnungskräften gemacht, die den Einkauf ihrer Gutschein-Kunden überprüfen sollen. Viele alltägliche Dinge können mit Gutscheinen nicht bezahlt werden, z.B. Buskarten, Briefmarken, Telefonkarten, Kopfschmerztabletten und insbesondere die für Flüchtlinge unverzichtbaren Rechtsanwälte. In vielen Kommunen gibt es kommerzielle Gutscheinhändler, die die Notlage der Flüchtlinge ausnutzen und Flüchtlingen die Gutscheine unter Wert abkaufen.
Im Gegensatz dazu solidarisieren sich zahlreiche Menschen mit den Gutscheinempfängern, tauschen Gutscheine im Verhältnis 1:1 in Bargeld um und setzen sich für die Abschaffung des Gutscheinsystems ein. Mindestens 20 organisierte Umtauschinitiativen von Flüchtlingen, Migranten und Deutschen gibt es in Niedersachsen. In Anerkennung der Verdienste für die Demokratie hat der Deutsche Bundestag die Hildesheimer
Gutscheinumtausch-Initiative im Dezember 1999 sogar mit dem „Förderpreis DEMOKRATIE LEBEN“ ausgezeichnet. „Öffentlichkeit und politisch Verantwortliche sollen ... auf die diskriminierenden und demütigenden
Wirkungen des Gutscheinsystems aufmerksam gemacht werden“, heißt es dazu in der Laudatio des Bundestags.
Die Anhörung des landesweiten „Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und für interkulturelle Verständigung“
im Dezember 1999 hat noch einmal bestätigt, dass das Gutscheinsystem die Ausgrenzung von Flüchtlingen
fördert und dem latenten und offenen Rassismus in Teilen der Bevölkerung neue Nahrung gibt. Wenn es der
Landesregierung ehrlich ist mit der Absicht, fremdenfeindliche Gewalt und Rassismus zu bekämpfen, sollte sie
auch dafür Sorge tragen, dass Flüchtlinge wie Ehsan Mehdizadeh nicht weiterhin auf administrative Weise
diskriminiert und stigmatisiert werden. In diesem Sinne appellieren wir an Sie,
dafür Sorge zu tragen, dass der hungerstreikende Iraner Ehsan Mehdizadeh angesichts seines besorgniserregenden Gesundheitszustands sofort Bargeld statt Gutscheine erhält,
den Ausführungserlass des Landes zum AsylbLG zurückzunehmen und den Kommunen die Ausgabe von
Bargeld statt Gutscheinen an Flüchtlinge wieder zu ermöglichen.
sich langfristig dafür einzusetzen, dass das „Asylbewerberleistungsgesetz“ abgeschafft wird.
In der Hoffnung auf Ihre Unterstützung verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Aus unserer Reihe: Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft
Jeder Bürger wird zum
Grenzwächter
Red.
I
n Hemmingen wandte sich ein
Jurist wegen der Aktion „Wertgutscheine statt Bargeld“ in seiner
Kirchengemeinde an die Bezirksregierung. In Hemmingen gehen
Mitglieder der Umtausch-Initiative
mit den Flüchtlingen gemeinsam
einkaufen – die Flüchtlinge bezahlen mit Gutschein und vor dem Laden kaufen die UmtauscherInnen
ihnen die Waren wieder ab. Der Jurist fragte an, wie es denn sein
könne, dass Deutsche die Gutscheine umtauschten, das sei doch
rechtswidrig und laufe den gesetzlichen Absichten zuwider. Die Denunziation war erfolgreich, die Bezirksregierung befragte den Land-
„Die Umtauschinitiative will dazu beitragen, Flüchtlingen, die nach Gesetzeslage lediglich Gutscheine erhalten, durch die Verfügung über Bargeld „ein Stück Menschenwürde“ zurückzugeben. Durch das Projekt
wird praktische Solidarität gelebt, indem Bürger Geld gegen Gutscheine tauschen. Öffentlichkeit und politisch Verantwortliche sollen auf diese Weise auf die diskriminierenden und demütigenden Wirkungen des
Gutscheinsystems aufmerksam gemacht werden. Langfristiges Ziel ist
die Abschaffung der Gutscheinregelung.“
kreis Hemmingen und
griff dann den Kirchenvorstand an. Sie wurden aufgefordert, ihre
Aktion
einzustellen,
denn sie stelle eine „Unterminierung gesetzlicher Regelungen für Aus der Laudatio des Dt. Bundestages zur Verleihung des Förderpreis DEMOAsylbewerber“ dar. Es KRATIE LEBEN an die Umtauschinitiative Hildesheim
handele sich „nicht um
ein Kavaliersdelikt oder um einen nal-Zeitung veröffentlicht worden
tolerierbaren zivilen Ungehorsam, war, geschah nichts mehr. Die Resondern um eine unrechtmäßige daktion empfiehlt für solche Fälle:
Verwertung der Gutscheine“, so Lesen Sie, was der Deutschen Bunder Vorwurf der Bezirksregierung. destag dazu zu sagen hat. Er
Nachdem ein Leserbrief von Mit- spricht nicht von Kavaliers-Delikt,
gliedern der Umtausch-Gruppe so- sondern von - preiswürdigem wohl in der Lokal – als auch Regio- „Demokratie Leben“.
83
Asylbewerberleistungsgesetz
Gutschein-Betrug: Wer sind die Betrogenen?
Ein Kommentar
Omwenyeke E. Sunny
Mitglied von The VOICE, Africa Forum, Wolfsburg
International Human Rights Association, Bremen
Übersetzung aus dem
Englischen:
Britta Marquart
Vorbemerkung:
Im Januar 2000 wird in Wolfsburg
Anklage wegen Betrugs gegen
zwei Männer und eine Frau erhoben, einer davon Asylbewerber:
„Sie sollen Asylbewerbern Warengutscheine unter Wert abgekauft
und mit einer von der Stadt zwischengeschalteten Firma die volle
Summe abgerechnet haben. ... Der
Stadt gegenüber stellten sie dann
die gesamte Summe für angeblich
gelieferte Lebensmittel und Kosmetikartikel in Rechnung. ... Die
Stadt soll ihr Geld so schnell wie
möglich zurückbekommen.“
(Wolfsburger Allgemeine Zeitung,
21.1. 2000)
fahren gegen sie eingestellt wird,
wenn sie eine Geldbuße bezahlen zwischen 100 und 500 DM, zahlbar an den niedersächsischen Judoverband.
(Red.)
Kommentar
Die Geschichte eines angeblichen
betrügerischen Ex-Chefs eines Kosmetikstudios in Wolfsburg und seiner beiden angeblichen Komplizen
bezüglich “Gutscheinen”, erschienen am 21. Januar in der Wolfsburger Allgemeinen, spricht für
Fragen über das System auf, welches das “Herz” der unpassenden,
diskriminierenden und unmenschlichen Behandlung aufzeigt, der
Asylsuchende in Deutschland und
besonders in Niedersachsen ausgesetzt sind.
Die Umstände betrachtend und
die Tatsache, dass einiges auf dem
Spiel steht, möchte ich mich mit
dem ´Warum` und ´Warum
Nicht` dieser “Saga” nicht befassen. Anders gesagt, ist dieser Kommentar nicht als Rechtfertigung
oder Verurteilung dieser fortlau-
Am 15.2. 2000 werden die drei
Gutschein-Händler verurteilt – zwischen einem Jahr und einundzwanzig Monaten Haft lautet das
Urteil. Den Gewinn sollen sie
„zurückzahlen“ – an wen, bleibt in
der Presse unklar. Unsere Nachfrage ergibt: an das Sozialamt der
Stadt Wolfsburg.
Der Autor dieses Kommentars lebt
als Flüchtling in einem Wolfsburger Wohnheim und bekommt
ebenfalls Gutscheine. Wenige Tage
nachdem er den Beitrag eingereicht hat, erhalten 11 seiner Mitbewohner im Heim Vorladungen
bei der Polizei: als Beschuldigte sollen sie wegen „Beihilfe zum Betrug“ vernommen werden. Eine
Nachfrage beim zuständigen Sozialamt ergibt, dass gegen ca. 70
Flüchtlinge aus Wolfsburg ermittelt wird. Es sind dies Flüchtlinge,
deren Gutscheine über die Firma
der Verurteilten abgerechnet wurden. Ihre Namen wurden über die
Registriernummern der Gutscheine
ermittelt. Wenige Wochen später
erhalten die Flüchtlinge Post von
der Staatsanwaltschaft. Mit dem
Angebot, dass das Ermittlungsver84
Foto: Lars Klingbeil
sich und ruft ganz sicher nach einem Kommentar. Man kann nicht
nur kategorisch darüber klagen, in
welchem Umfang das “vortreffliche” System der “Gutscheine” missbraucht und ausgenutzt wird
(von wem und wievielen, das weiß
nur Gott allein), egal ob vorsätzlich
oder nicht, die Bemühungen des
Staatsanwaltes, hier Recht zu
schaffen, können allenfalls als gut
gemeinte Versuche angesehen
werden. Auf jeden Fall wirft diese
gerade enthüllte skandalöse Geschichte eine Reihe von kritischen
fenden Geschichte gemeint. Ich
möchte hier nur einige Punkte aus
der Sicht eines Asylbewerbers klarstellen.
Zuallererst ist es sehr unglücklich,
dass einige Asylbewerber direkt
oder indirekt in die ausbeuterischen Handlungen einiger schmutziger Individuen verwickelt sind.
Jedoch wirft diese Geschichte die
Frage auf, welche Rechtfertigung
es für die Ausgabe von “Gutscheinen” anstatt von Bargeld für Asylsuchende es überhaupt gibt – die-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
se befinden sich ohnehin auf der
untersten Stufe der sozialen Leiter
und werden auch weiterhin von
zahlreichen und stadtbekannten
Personen, die auf der Grundlage
von “Gutscheinen” gute Geschäfte machen, ausgenutzt. Seit Jahren
schon fordern Asylsuchende und
(wohlmeinende) Unterstützer dazu
auf, diese diskriminierende und
demütigende Praxis abzuschaffen.
Doch trotz der offensichtlichen
Unzulänglichkeiten besteht die Regierung auf der Fortsetzung dieser
Praxis. Es gibt kaum ein nachvollziehbares Argument für die Gutscheinausgabe, zumal sie teurer
und arbeitsintensiver ist. Dieses
unhaltbare System, das Flüchtlinge
ausnutzt und unterdrückt, hat keinen anderen Grund, als von staatlicher Seite her Flüchtlingen ihre
Rechte zu verweigern.
Ich habe dieses schon bei anderen
Gelegenheiten festgestellt: Wenn
es keine “Gutscheine” gäbe, gäbe
es auch nichts, was unter Wert zu
verkaufen wäre! Und weiter: denjenigen, die die Hauptlast der
staatlichen Asylpolitik tragen, wird
das simple Recht verwehrt, zu
wählen was sie kaufen möchten,
auch in Läden, die Gutscheine verweigern.
Und während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sicherlich die Geschäfte und den Missbrauch durch die Angeklagten
beenden werden, habe ich keinen
Zweifel daran, dass dieses Modell
schon vielfach kopiert wurde und
in vielen anderen Orten, in denen
die Gutscheinausgabe praktiziert
wird, Anwendung findet. Ich kann
nicht abschätzen, ob der Staatsanwalt oder irgendeine der betroffenen Behörden hofft, einem weiteren Vorkommen dieses häßlichen
Szenarios vorzubeugen, aber man
kann sicher sein, dass diese einzelne gerichtliche Verfolgung kein Ende dieser Ausbeutung herbeiführen wird. Ich müsste mich
schon sehr täuschen, wenn die
Bemühungen der Staatsanwaltschaft ein Ende der gängigen Ausnutzung von Flüchtlingen bewirken sollten, die durch die von
staatlicher Seite ausgegebenen
“Gutscheine” erst möglich gemacht wird.
Sollte nur ansatzweise ein Interesse an der Lösung dieses Problems
existieren, so müsste man das Problem an der Wurzel packen. Das
bedeutet, dass die gängige Praxis
so umgewandelt werden muss,
dass es keinerlei Möglichkeiten
gibt, aus der Not und der Lage von
Flüchtlingen Kapital zu schlagen.
Es wird sicherlich Stimmen geben,
die Flüchtlinge als kriminell einstufen, weil sie ihre “Gutscheine” in
Bargeld umtauschen – selbst unter
Wert. Aber diese Leute wissen
womöglich nicht, dass es hier in
Wolfsburg und in vielen anderen
Städten Flüchtlinge gibt, denen die
Bargeldleistung (sog. Taschengeld)
auf 10 – 20 Mark monatlich
gekürzt wurde, warum, wissen allein die Behörden. Wie sollen
Flüchtling in diesem Fall Geld für
zum Beispiel Briefporto oder Busfahrscheine bezahlen - hier werden
keine “Gutscheine” akzeptiert.
Und obwohl die Flüchtlinge weniger als das festgelegte Minimum
an Sozialhilfe erhalten, verlieren sie
durch den Umtausch von “Gutscheinen” noch zusätzlich.
Vor diesem Hintergrund ist es nur
klug, vernünftig und logisch, die
Ausgabe von “Gutscheinen” sofort
zu beenden, erstens um das Recht
auf freie Wahl für die Flüchtlinge
wieder herzustellen und zweitens
um das alltägliche Ausnutzen zu
minimieren, das derzeit so offenkundig ist.
Aus unserer Reihe:
Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft
Jede Kassiererin wird zur Grenzwächterin
Rosemarie Müller, Umtauscherin
A
ls 1997 die Gutscheinaktionen
in Cuxhaven begannen, stellten sich sofort einige Kassiererinnen des Supermarkts Comet
(gehört zur Kette Metro) dagegen,
obwohl der Filialleiter sich mir gegenüber zunächst einverstanden
erklärt hatte. Er ließ sich von einer
Kassiererin überzeugen, dass es illegal für Einheimische sei, Gutscheine für geduldete Flüchtlinge
umzutauschen. Die Kassiererinnen
unterhielten sich in meinem Beisein darüber, dass sie alle unterschrieben hätten, von Einheimischen keine Gutscheine entgegenzunehmen.
Nach einer Eingabe von 10 Kunden erlaubte der Filialleiter dann
den Umtausch, was einige Kassiererinnen veranlasste, ihrem Ärger
gegen die mit Gutscheinen kaufenden Kunden durch Bemerkungen wie „Schweinerei“ u.ä. Luft zu
machen. Im Frühjahr diesen Jahres
erschien an zwei Kassen eine vergrößerte Kopie eines Zeitungsberichts, wonach Menschen mit Gutscheinen DM 120 000 ergaunert
hatten.
Anfang Mai wurde eine Umtauscherin zum dritten Mal beim Filialleiter vorstellig und mahnte ihn,
den diskriminierenden Artikel zu
entfernen, oder zum Ausgleich einen Zeitungsbericht daneben zu
hängen, in welchem von kriminellen „deutschen“ Betrügereien auf
höchster bundesdeutscher Ebene die Rede
war (Es ging um die
Spendenaffäre). Der Filialleiter argumentierte daraufhin , dass er allein zu
entscheiden habe, was er in
seinem Geschäft aufhänge.
Auf mein Argument, dass er
bei solch diskriminierenden Verhalten mich und andere als Kunden verlieren würden entgegnete
er, dass es ihm auf en paar Kunden
nicht ankäme.
Der diskriminierende Aushang
wurde dennoch Ende Juni entfernt.
85
Asylbewerberleistungsgesetz
Erste Erfahrungen mit § 2 AsylbLG im Landkreis Hildesheim
Das Privileg der Benachteiligten
Andrea Kothen
S
eit dem 1. Juni 2000 kommt
§ 2 AsylbLG zur Anwendung.
Flüchtlinge, die bereits über einen
Zeitraum von drei Jahren die abgesenkten Leistungen des AsylbLG
erhalten haben, sollen unter bestimmten Voraussetzungen Leistungen analog BSHG erhalten.
Dies gilt zunächst für alle Flüchtlinge, die sich auch nach 3 Jahren
noch im Asylverfahren befinden.
Für die geduldeten Flüchtlinge erweist sich die neue Regelung vornehmlich als Luftnummer.
In der Praxis erfüllen etliche geduldete Flüchtlinge die Dreijahresfrist.
Dennoch stellte z.B. das Sozialamt
der Stadt Hildesheim nach Prüfung
durch die Ausländerbehörde von
450 Fällen gerade mal 25 auf Leistungen analog BSHG um. In den
meisten dieser Fälle, so die Aussage des Sozialamts, sei die Ausländerbehörde der Ansicht, dass eine
freiwillige Rückkehr in die betreffenden Länder möglich sei und daher eine Anwendung von § 2
Abs.1 AsylbLG ausscheide. In anderen Landkreisen und Städten
sieht es kaum besser aus.
Afghanen z.B. erreichen bei manchen Sozialämtern relativ umstandslos die Umstellung, andere
Ämter verweisen auf die Möglichkeit einer freiwilligen Rückreise
und verweigern Leistungen nach
§ 2 AsylbLG. In einer dritten Variante wird die Unzumutbarkeit einer freiwilligen Rückreise nach Afghanistan zwar nicht bestritten,
aber darauf verwiesen, dass laut
Erlass (s. u. Service) eine Umstellung nach § 2 AsylbLG nur für die
Personen erfolgen könne, die im
Besitz einer Duldung nach § 55
Abs,2 AuslG seien. Die Betroffenen
hätten aber nur eine Duldung
nach § 55,4 AuslG erhalten.
Leistungen nach § 2 AsylbLG erhielt der Betroffene wegen einer
Unterbrechung der tatsächlichen
Bezugsdauer dennoch nicht. Wie
immer bei der Praxis von Leistungskürzungen ist auch hier zu befürchten, dass weitere ähnliche
rechtswidrige Bescheide nach § 1a
ergangen sind, die ihr (Spar-) Ziel
auf Kosten von Flüchtlingen nicht
verfehlt haben, da die Betroffenen
sich nicht zur Wehr gesetzt haben.
Aus Kalkül oder - der Eindruck
drängt sich manchmal auf - aus
schlichter Verwirrung wird die Umstellung nach § 2 und die damit
verbundene Prüfung der Ausländerbehörden in mehreren Fällen
offenbar zum Anlass genommen,
für bestimmte Personen gleich eine
Kürzung nach § 1a AsylbLG vorzunehmen. Dies geschieht häufig unter Hinweis auf die Ausreisepflicht
und ohne jede weitere Begründung, so beispielsweise im Fall eines Irakers. Auf Nachfrage erklärte
die zuständige Sachbearbeiterin,
dass sowohl eine Abschiebung als
auch eine freiwillige Rückreise in
den Irak aufgrund fehlender Verkehrswege derzeit nicht möglich
sei, dass aber aufgrund der Passlosigkeit des Antragstellers eine Kürzung nach § 1a rechtmäßig erfolgt sei. Diese Argumentation
wurde allerdings nach erfolgter Eilantragstellung zurückgenommen.
Im Landkreis Hildesheim stellten
Flüchtlinge diverse Eilanträge - mit
bislang niederschmetternder Bilanz: In fast allen bekannt gewordenen Entscheidungen des VG
Hannover wurde den Betroffenen
ein Anspruch auf Leistungen nach
§ 2 abgesprochen. Grundsätzlich
vertritt das VG die Auffassung,
dass folgende Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen:
• 36monatiger tatsächlicher Leistungsbezug nach § 3
• Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise
• Unmöglichkeit der Abschiebung
aus rechtlichen, humanitären oder
persönlichen Gründen bzw. aus
Gründen des öffentlichen Interesses.
(Beschluss vom 11.7.2000 - 7 B
2839/00 und ergänzend vom
17.7.2000 - 7 B 3076/00).
Zu beachten ist hierbei, dass die
faktische Unmöglichkeit der Abschiebung vollkommen irrelevant
ist. Denkbar wäre also beispielsweise eine Verweigerung des Anspruchs auf Leistungen nach § 2
im Falle der Unzumutbarkeit der
freiwilligen Ausreise, da gleichzeitig die Abschiebung lediglich an
der fehlenden Verkehrsanbindung
scheitert. Die Unzumutbarkeit der
freiwillige Ausreise kann (!) nach
Auffassung des Gerichts allerdings
gleichzeitig ein Abschiebungshindernis (z.B. persönlicher oder humanitärer Art) darstellen.
Foto: 3.Welt Saar
86
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Asylbewerberleistungsgesetz
Im Einzelnen sind uns inzwischen
folgende Entscheidungen des VG
Hannover bekannt geworden:
• Der Eilantrag einer afghanischen
Familie aus Kabul wurde abgelehnt. Die freiwillige Ausreise nach
Afghanistan sei auf dem Landweg
über Pakistan oder Turkmenistan
möglich und im vorliegenden Fall
auch zumutbar (nicht zumutbar
wäre es beispielsweise für Frauen
und Kinder ohne männliche Begleitung). Eine Rückkehr in Regionen
außerhalb
Kabuls
sei
grundsätzlich zumutbar, sofern
dort familiäre Auffang-Strukturen
bestehen. Die Kläger hätten diesbezüglich die Unzumutbarkeit einer freiwilligen Rückkehr nicht
ausreichend dargelegt. (AZ: 7 B
2966/00) In Asylverfahren wird die
Bedrohung durch die Taliban-Herrschaft in weiten Teilen Afghanistans nicht bestritten. Afghanische
Flüchtlinge werden aber regelmäßig auf die Möglichkeit verwiesen, außerhalb der Talibangebiete
Schutz zu finden.1 Was asylrechtlich als Vorwand dafür herhält,
Flüchtlingen aus Afghanistan die
Anerkennung zu verweigern, wird
hier - aus sozialrechtlicher Perspekive - völlig auf den Kopf gestellt,
indem behauptet wird, die Flüchtlinge könnten freiwillig in die von
den Taliban beherrschten Gebiete
zurückkehren. Im Übrigen hatte
nicht einmal der Beklagte in diesem Verfahren darauf bestanden,
die Unmöglichkeit einer freiwilligen Ausreise individuell zu begründen. Die Ausländerstelle hatte
auf Anfrage des Gerichts erklärt,
dass sie eine freiwillige Ausreise
nach Afghanistan derzeit für unzumutbar hielte.
• Auch im Fall einer Roma-Frau
aus dem Kosovo nimmt das VG
Hannover an, dass die Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise individuell nicht genügend glaubhaft
gemacht wurde. Der “bloße Hinweis” auf die Volkszugehörigkeit
und die Stellung eines Asylfolgeantrages sah das Gericht als nicht
ausreichend an. Zwar stehe durch
die Stellung eines Asylfolgeantrags
und der deshalb nicht ergangenen
Abschiebungsandrohung augenblicklich ein rechtlicher Grund entgegen, nicht aber der freiwilligen
Ausreise. (AZ:7 B 3296/00) Einen
Anlass, die Warnungen von UNMIK oder UNHCR betreffend eine
Rückkehr der Roma im Kosovo zur
Kenntnis zu nehmen bzw. sich mit
der nds. Erlasslage auseinanderzusetzen, die die Abschiebung von
Roma derzeit nicht zulässt, sah
das Gericht offenbar nicht.
• Bei neu geborenen Kindern gilt
nach Auffassung des VG eine eigene Dreijahresfrist, auch dann,
wenn die Eltern Leistungen nach §
2 AsylbLG erhalten. Für die minderjährigen Antragsteller, die erst
im Oktober 1999 geboren sind, ist
ein Anspruch nach § 2 AsylbLG
ausgeschlossen worden, da sie
noch nicht über eine Dauer von 36
Monaten Leistungen nach § 3 erhalten hatten. Im Übrigen entspräche es dem Gleichheitsgrundsatz, so das Gericht, “wenn
differenziert nach der Dauer des
tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet auf jede Person die Fristenregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG gesondert angewandt und
damit Ungleiches ungleich behandelt wird.” (7 B 3184/00) Hier erübrigt sich wohl jeder weitere Kommentar.
• Der Antrag eines in Mazedonien
geborenen Mannes albanischer
Volkszugehörigkeit wurde abgelehnt. Er hatte zuletzt im Kosovo
gelebt und sich vergeblich um die
Ausstellung eines Passes bemüht.
Die Passlosigkeit der Kläger begründe lediglich ein tatsächliches
Abschiebungshindernis, kein recht
liches oder humanitäres, so das
Gericht. Die Unmöglichkeit der
Passbeschaffung sei in der Weigerung der Konsulate der BR Jugoslawien und Mazedoniens begründet, Passpapiere auszustellen. Daher ließen sich die fehlenden Papiere ebensowenig als persönliches
Abschiebungshindernis klassifizieren. Auf die Frage, ob die Antragsteller ihren Aufenthalt selbst zu
vertreten haben, komme es nicht
an. (AZ: 7 B 3076/00)
Diese Argumentation dürfte für
viele potentielle Betroffene eine
entscheidende Hürde bei der Gewährung von Leistungen nach § 2
darstellen. Ungeachtet der Tatsache, dass weder die freiwillige Ausreise noch eine Abschiebung möglich ist, und obwohl der Betroffene
seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist, wird er auf unbestimmte Zeit auf die abgesenkten
Leistungen nach § 3 AsylbLG verwiesen.
• Gleiches traf einen Kläger mit
ungeklärter Staatsangehörigkeit,
dem sowohl die syrische und die
irakische als auch die libanesische
Botschaft keine Papiere ausstellten.
Hier liege lediglich ein rein tatsächliches Abschiebungshindernis vor,
das in § 2 Abs. 1 nicht genannt
sei. Obwohl der Kläger freiwillig allen Anordnungen zur Feststellung
von Identität und Staatsangehörigkeit Folge geleistet hatte, wurde
sein Antrag abgelehnt. Weiter erklärte das Gericht Folgendes:
“Denkbare, sich daraus in wenigen
Einzelfällen ergebende Härten - etwa
wenn
trotz
intensiver
Bemühungen des Ausländers um
den Nachweis seiner Staatsangehörigkeit und um Reisedokumente sein Heimatstaat grundlos
derartige Papiere verweigert (...),
so dass wegen nur tatsächlicher
Abschiebehindernisse der Ausländer quasi unbegrenzt von der Regelung des § 2 AsylbLG ausgenommen bliebe - können durch
Maßnahmen des Ausländerrechts
(= Erteilung einer Befugnis, d.
Verf.) ausgeglichen werden.” (AZ
7B 3044/00)
Diese Argumentation erscheint geradezu zynisch. Das Gericht verweist hier hilfebedürftige Flüchtlinge auf Ansprüche, die sie eben
nicht geltend machen können, solange sie hilfebedürftig sind. Die
Befugnis wird nach allgemeiner
Praxis nämlich nur dann erteilt,
wenn keine staatlichen Leistungen
bezogen werden. Dass sich in diesem Fall die Frage einer Umstellung nach § 2 AsylbLG überhaupt
stellt, ist eine Konsequenz des restriktiven Umgangs der Ausländerbehörden bei der Erteilung von
Aufenthaltsbefugnissen. Hier werden gerade die Personen, deren
Rückkehr und Abschiebung objektiv nicht möglich ist und die dennoch keine Befugnis erhalten, im
Kontext der Leistungsgewährung
zusätzlich bestraft.
• Positiv entschied das VG Hannover einzig bei einem geduldeten
Ehepaar aus dem Kosovo. Die Ausländerstelle hatte aufgrund einer
psychiatrischen Erkrankung der
Frau bestätigt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30
Abs.3 und 4 vorlägen, eine Befugnis könne ihr aber aufgrund Sozialhilfebezuges nicht erteilt werden.
Das Sozialamt lehnte den Antrag
87
Asylbewerberleistungsgesetz
auf Leistungen nach § 2 unter Hinweis auf die Erlasslage mit der Begründung ab, die Antragstellerin
verfüge nur über eine Duldung
nach § 55,4 AuslG. Die Unzumutbarkeit der freiwilligen Rückkehr
war unstreitig. Das Gericht entschied, dass aufgrund der Feststellungen der Ausländerbehörde eine
Duldung nach § 55,2 AuslG i.V. m.
§ 53 Abs. 6 S. 1 zu erteilen sei. Damit läge in der Erkrankung der Antragstellerin sowohl ein persönliches als auch ein rechtliches Abschiebungshindernis vor, das zum
Bezug von Leistungen nach § 2
AsylbLG berechtige. (AZ: 7 B
2839/00)
Gerade dieses positive Beispiel verdeutlicht noch einmal, welche
weitgehenden Bedingungen bei
der Umstellung nach § 2 AsylbLG
erfüllt sein müssen.
In mehreren der o.g. Fälle wird
derzeit versucht, eine positive Entscheidung des OVG herbeizuführen, hier liegen allerdings noch
keine Beschlüsse vor. Bislang ergibt
sich aus alledem, dass die Auslegung des § 2 AsylbLG von allen beteiligten Stellen derart restriktiv
ausfällt, dass sich glücklich schätzen darf, wer überhaupt die Bedingungen für Leistungen nach § 2
AsylbLG erfüllt. Sollte es sich ursprünglich um eine Regelung handeln, die die abgesenkten Leistungen nach dem AsylbLG grundsätzlich befristet, so erscheint in der
Praxis nun die Nichtbefristung im
Normalfall festgeschrieben. Eine
Anpassung der Leistungen gemäß
BSHG, die eigentliche “Normalisierung”, wird zum Vorrecht einzelner. Die nicht nur von Behörden
gern gebrauchte euphemistische
Formulierung der “Privilegierung”
dieser Personen macht in dieser
Hinsicht einen traurigen Sinn. Die
ursprüngliche Rechtfertigung des
Asylbewerberleistungsgesetzes,
die auf das “Existenzminimum”
abgesenkten Leistungen seien
durch ihre zeitliche Begrenzung
akzeptabel, erweist sich einmal
mehr als Feigenblättchen, das den
tatsächlichen Intentionen einer
dauerhaften Diskriminierung zum
Zwecke der Abschreckung und des
Vergraulens von Flüchtlingen
kaum im Wege steht.
1 Neuesten Meldungen zufolge wird
sich daran jetzt endlich Grundlegendes
ändern: Das Bundesverfassungsgericht
hat den Taliban eine quasi-staatliche
Gebietsgewalt zugesprochen und insofern die geltende Rechtsprechung zur
Korrektur gezwungen (vgl. Länderberichte in diesem Heft).
Berlin: Aushungerpolitik zuende?
Presseerklärung des Flüchtlingsrat Berlin, 18. Juli 2000
A
m 13. Juli 2000 hat das Berliner Abgeordnetenhaus mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90
/ Die Grünen und PDS den Senat
aufgefordert, unverzüglich neue
Ausführungsvorschriften zur Anwendung des novellierten Asylbewerberleistungsgesetzes zu erlassen. Damit wurde endlich ein politisches Signal gegen die rechtswidrige Politik des Aushungerns von
Flüchtlingen durch einige Bezirksämter in dieser Stadt gesetzt.
Bisher waren ca. 3000 Flüchtlinge
vom vollständigen Entzug sozialer
Leistungen betroffen, weiteren
Tausenden wurden die Leistungen
gekürzt, d.h. der einzige Barbetrag
(Taschengeld) von 80,00 DM / Monat gestrichen. Die Flüchtlinge unterliegen zugleich einem gesetzlichen Arbeitsverbot. Sie werden
durch die Sozialhilfestreichung obdach– und mittellos. Durch den
Entzug jeglichen Bargeldes können
sie z.B. keine BVG – Karten kaufen
und werden so faktisch zum
„Schwarz – Fahren“ gezwungen.
Selbst bei schweren akuten und
88
schmerzhaften Krankheiten werden ihnen Krankenbehandlungsscheine verweigert.
Die betreffenden Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien, Jugoslawien oder dem Libanon können auf
Grund vorliegender Abschiebungshindernisse nicht zurück kehren
und sind im Besitz ausländerrechtlicher Duldungen. Auf den Umweg
des Leistungsentzugs sollte ihre
Ausreise durchgesetzt werden. In
der politischen Debatte wurde
jetzt von CDU – Abgeordneten kolportiert, dass es sich um sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge handeln würde, die nur Kosten verursachen würden. Ihnen sei gesagt,
dass die Flüchtlinge vor Krieg und
Vertreibung geflohen sind. Sie
konnten daher auch keine Einreisevisa erwerben, so dass die jüngste
Forderung der CDU nach einer Verordnung zur Leistungsverwehrung
bei illegal eingereisten Ausländern
zynisch und menschenverachtend
ist. Die Unterstellung eingereist zu
sein „um Sozialhilfe“ zu erlangen
war für die Sozialämter das
Hauptargument für die willkürliche Leistungsverweigerung bzw.
–kürzung. Angesichts der geschilderten Fluchtgründe ist es nur zu
begrüßen, dass entsprechend des
aktuellen Beschlusses des Abgeordnetenhauses die Beweislast
dafür nun bei den Behörden liegt.
Außerdem ist diese Behauptung
generell diskriminierend und unterstützt rassistische Vorbehalte
gegenüber Flüchtlingen. Mit dem
erwähnten Beschluss des Abgeordnetenhauses soll nun künftig sichergestellt werden, dass alle
Flüchtlinge in dieser Stadt ein Mindestmaß an sozialer und medizinischer Versorgung erhalten.
Der Flüchtlingsrat Berlin fordert
den Senat auf, den Beschluss des
Abgeordnetenhauses umgehend
durch Erlass einer neuen Ausführungsvorschrift, an die die Bezirksämter gebunden sind, umzusetzen. Von der Bundesregierung
fordern wir die Aufhebung des Arbeitsverbots und die Abschaffung
des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes. Wir können
nur all jenen zustimmen, die die
Würde des Menschen nicht als Frage des Geldes empfinden.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Geteilte Medizin
Geteilte Medizin
Flüchtlinge sind von der regulären
Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Einige Ärztinnen und Ärzte,
Hebammen, Physio- und PsychotherapeutInnen stellen sich den
gesetzlichen Einschränkungen entgegen. Sie behandeln Menschen ohne
Aufenthaltsstatus und Flüchtlinge,
denen die Behörden eine angemessene
Versorgung verweigern, unentgeltlich.
Das ist keine Lösung.
Jeder muß ein Recht auf medizinische
Betreuung haben.
Die gesetzliche Ausgrenzung von
Flüchtlingen können wir nicht
hinnehmen!
Menschenwürde
ist unteilbar –
Gesundheit für alle
Kampagne für die uneingeschränkte medizinische Versorgung von Flüchtlingen
Rassismus und Gewalt:
Ärztlich attestierter Rassismus
Hannover. Eine 66-jährige Frau ließ
sich einen verbalen rassistischen
Angriff von einem Arzt mit einem
Attest legitimieren. Die Frau hatte
in einem InterRegio einen Afrikaner mit den Worten angepöbelt:
„Gehen Sie zur Seite, ich kann
Schwarze nicht ausstehen!“ Den
Zugbegleitern teilte sie mit: „Was
will der Neger im Zug, ich habe eine Allergie gegen Schwarze.“ Der
Kameruner erstattete Strafanzeige,
die Frau erhielt einen Strafbefehl
über 900 DM wegen Beleidigung.
Sie jedoch legte Einspruch ein und
präsentierte bei der Verhandlung
vor dem Amtsgericht ein „Attest“.
Darin bescheinigt ihr ein Hamburger Arzt, dass die Frau „glaubwürdig auf die Nähe von Menschen
mit schwarzer Hautfarbe mit psychosomatischen Beschwerden“
reagiere.
Eine Medizinerin, die diese Meldung in der Zeitung gelesen hatte,
reagierte. Sie schickte nebenstehenden Brief an den IPPNW, den
Marburger Bund und die Bundesärztekammer.
Die Ärztekammer Hamburg antwortete Anfang Juni und teilte die
„Sehr geehrte Damen und Herren,
im Göttinger Tageblatt vom 27.5. 2000 habe ich lesen müssen, dass ein
Hamburger Arzt eine offen und beleidigend rassistisch auftretende Frau
mittels eines ärztlichen Attestes in Schutz genommen habe. Er habe attestiert, die Frau reagiere „glaubwürdig“ mit psychosomatischen Beschwerden auf die Nähe von Menschen mit dunkler Hautfarbe.
Wenn sich dies tatsächlich so zugetragen haben sollte, ist dies ein Skandal ersten Ranges!
Es ist nicht zu fassen, dass sich Personen, die elementare ethische
Grundsätze mit Füßen treten und die Würde und Gleichwertigkeit aller
Menschen missachten, hinter dem Leid seelisch Kranker verstecken. Sicherlich kann sich nur ein „krankes“ Herz und Hirn zu Sprüchen wie „Ich
habe eine Allergie gegen Schwarze“ hinreißen lassen, die dahinterstehende „Krankheit“ ist aber keine bemitleidenswerte psychosomatische,
sondern übler Rassismus in Reinkultur. Diese „Krankheit“ allerdings ist
erschreckenderweise in der Mitte unserer Gesellschaft tief verankert.
Umso wichtiger wäre es, dass sich Ärztinnen und Ärzte, die sich der Gesundheit (im Sinne der WHO) und der Menschlichkeit verpflichtet haben, gegen jede Form von Menschenverachtung und Rassismus wenden. Das Verhalten des Hamburger Arztes steht dem Rassismus seiner
„Patientin“ in nichts nach und beleidigt die Berufsehre der gesamten
Ärzteschaft.
Ich bitte sie um eine deutliche und öffentliche Stellungnahme zu den
obengenannten Vorgängen. Die Zeit zu schweigen ist lange vorbei!
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Silke Reineke
(Mitglied des IPPNW/Marburger Bundes)
89
Geteilte Medizin
Empörung der Medizinerin aus
Niedersachsen. Fall und Arzt waren ihnen jedoch unbekannt, aber:
„Wir werden jetzt alles tun, um
dieses herauszufinden, damit der
betroffenen Arzt berufsrechtlich
und berufsgerichtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.
Rechtsgrundlage hierfür ist der §
16 unserer Berufsordnung für
Hamburger Ärzte, in der die Pflicht
zur Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei Ausstellung ärztlicher Atteste verankert ist. Allem Anschein
muss es sich hier um ein Gefälligkeitsattest handeln, so dass eine
Berufspflichtverletzung vorliegt,
die nach einer berufsgerichtlichen
Verurteilung verlangt. Sie sehen
daraus, dass die Ärztekammer
Hamburg Ihrer politischen und
rechtlichen Bewertung in vollem
Umfang zustimmt. Ich werde mit
unserem Pressesprecher darüber
reden, inwieweit neben einer berufsrechtlichen Verfolgung die von
Ihnen angeregte öffentliche Stellungnahme zum jetzigen oder einem späteren Zeitpunkt möglich
und sinnvoll ist. ...“ (Ärztekammer
Hamburg, 9.6. 2000).
Todesurteil auf Raten?
Landkreis Gifhorn will schwerkranken
Dialyse-PPatienten abschieben
Kai Weber
D
er Landkreis Gifhorn will einen
schwerkranken Dialysepatienten und seine Familie in den Libanon abschieben, obwohl die Abschiebung für den Familienvater
Lebensgefahr bedeuten würde.
Ein fachmedizinisches Gutachten
besagt, dass der Betroffene aufgrund diverser Erkrankungen „aus
flugmedizinischer Sicht als normal
reisender Flugpassagier nicht als
flugreisetauglich anzusehen“ ist.
Um die Abschiebung dennoch
durchführen zu können, will der
Landkreis den Libanesen in Begleitung eines Arztes auf der Bahre
transportieren und ihm - auf Empfehlung der Deutschen Botschaft für ein Jahr die lebenswichtigen,
im Libanon jedoch unerschwinglichen Medikamente mitgeben. Eine solche, mit humanitären Maßstäben kaum in Einklang zu bringende Vorgehensweise würde
letztlich darauf hinaus laufen, ein
„Todesurteil auf Raten“ auszusprechen.
Der seit 1992 in der Bundesrepublik lebende Flüchtling erkrankte
1995 an einer schweren Niereninsuffizienz und muss sich dreimal
wöchentlich für 5 Stunden einer
Dialysebehandlung unterziehen.
Ein Abbruch der Dialysebehandlung würde nach Aussagen des
90
Foto: novum Flughafeb Hannover
Facharztes „mit Sicherheit den
Tod des Patienten innerhalb kurzer Zeit zur Folge haben“. Auch
wenn der Libanese den Flug in
den Libanon überlebte, wäre eine
weitere medizinische Versorgung
ohne Hilfe von außen kaum gewährleistet.
Zwar gibt es auch im Libanon eine
Reihe von Dialysestationen. Die libanesische Familie (Vater, Mutter,
drei Kinder) hat im Libanon jedoch keine Verwandten oder sonstige soziale Bindungen und wäre
nicht in der Lage, die teuren Me-
dikamente zu kaufen. Aufgrund
der Erkrankung ist dem Familienvater die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit objektiv kaum möglich.
Rechtsanwalt Waldmann-Stocker
aus Göttingen hat sich jetzt mit
einer Petition an den niedersächsischen Landtag gewandt und gefordert, der Familie eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären
Gründen zu erteilen. Darüber hinaus stellte er einen Antrag auf
Wiederaufgreifen des Verfahrens
beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Geteilte Medizin
Oldenburg:
Apartheid in der Röntgenabteilung
Schwangere geröntgt - ohne Schutz , ohne Aufklärung
Maria Wöste
F
lüchtlinge, die in die ZAST Oldenburg/Blankenburg kommen,
werden geröntgt, ihnen wird Blut
abgenommen – Routine-Untersuchungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes. In der ZAST befindet
sich eine Außenstelle des Gesundheitsamtes Oldenburg mit Röntgenapparat und Untersuchungsräumen - Routine-Ausstattung. Was
es bislang aber offenbar nicht gab
sind Bleiwesten und andere
Schutzvorkehrungen, die im „normalen“ Gesundheitssystem selbstverständlich sind. Bleiwesten wurden erst nach Intervention durch
einen externen Arzt angeschafft,
nachdem die schwangere Kurdin
Sükran K., die ohne Schutz
geröntgt wurde, eine Abtreibung
vornehmen ließ. Im normalen Gesundheitssystem wird vor einer
Röntgen-Untersuchung immer gefragt, ob eine Schwangerschaft
vorliegt und dann i.d.R. nicht
geröntgt. Dolmetscher sind aber
in der ZAST nach Angaben des Gesundheitsamtes
grundsätzlich
beim „Aufklärungsgespräch“ nicht
anwesend. Wenn unklar sei, ob eine Schwangerschaft vorliegt, werde diese Frage “per Gestik” geklärt.
Im Januar diesen Jahres wurde Sükran K. im Rahmen der routinemäßigen Aufnahme-Untersuchungen in der ZAST Blankenburg
geröntgt, ohne Bleischutz. Auch
als ihr Mann geröntgt wurde, war
sie bei ihm im Röntgen-Raum.
Nach wenigen Tagen wurde sie erneut zum Röntgen bestellt. Warum die zweite Röntgenaufnahme
notwendig geworden war, erklärte
niemand. Auf dem Rückweg von
der Gesundheitsstation traf sie eine Bekannte, der sie erzählte, das
sie soeben vom Röntgen käme. Die
Bekannte war entsetzt: Frau K. sei
doch schwanger, ob sie nicht wisse, dass Röntgen schädlich für das
Kind sei, es behindert auf die Welt
komme. Frau K. war fassungslos.
Sie suchte den Arzt erneut auf,
machte ihm mit Zeichensprache
deutlich, dass sie schwanger sei.
„Darauf wirkte er, seinem Gesicht
nach, sehr erstaunt.“ Frau K. wird
an einen ambulanten Arzt überwiesen, wo das erste Mal ein Dolmetscher zugegen ist. Frau K.. „Ich
sagte, dass ich sehr viel Angst hätte, sehr große Schuldgefühle hätte
und nicht weiterwisse. Er sagte,
dass er die Abtreibung selbst nicht
vornehmen würde, sondern in einem Krankenhaus unter Vollnarkose, und dass ich keine Angst zu haben brauche“. Nachdem eine Beratungsstelle – mit Dolmetscher – die
Indikation zur Abtreibung bestätigt hat, wird die Abtreibung in
einem Krankenhaus durchgeführt.
Die Nachuntersuchungen von Frau
K. durch die Ärztin des Gesundheitsamtes und einen hinzugezo-
berleistungsgesetz - und Illegalisierten grundsätzlich - medizinische Versorgung verweigert wird.
Die „Geteilte Medizin“ greift auch,
wenn bei Flüchtlingen routinemäßig – ohne Aufklärung und
Entscheidungsmöglichkeiten
–
Röntgenaufnahmen vorgenommen werden. Und ebenfalls, wenn
bei einem „Aufklärungsgespräch“
kein Dolmetscher vorhanden ist,
eine Schwangerschaft nicht abgeklärt wird. In einer „normalen“ Praxis hätten sich Patientinnen längst
darüber beschwert, wenn es keine
Schutzwesten gäbe. In der regulären Gesundheitsversorgung
gibt es Aufklärungsgespräche und
Röntgenpässe, müssen Frauen unterschreiben, dass sie nicht
schwanger sind.
Foto: Lars Klingbeil
genen Frauenarztes blieben ohne
Befund. Ein unabhängiger Frauenarzt, den Sükran K. Ende Mai wegen starker Schmerzen aufsuchte,
stellte jedoch eine anormale
Schwellung des Uterus fest und
wunderte sich, dass dies erst jetzt
von ihm und nicht von anderen
Ärzten festgestellt wurde. Frau K.
erstattete Strafanzeige.
Und so bilanziert Sükran K.: „Ich
habe jedes Mal, wenn ich bei Ärzten war, gesagt, dass sie mich
zwingen, das Kind abzutreiben.
Schließlich haben sie mich zweimal
geröntgt. Später habe ich erfahren, dass es sogar gefährlich für eine schwangere Frau ist, sich nur im
Röntgenraum zu befinden.“
Unter der „Geteilten Medizin“ haben Flüchtlinge nicht nur zu leiden, wenn ihnen nach Asylbewer91
Geteilte Medizin
Traumatisierte I:
Kriminalisierung von Ärzten und Flüchtlingen
M
Zusammengestellt
von der Redaktion
it der Repressionskeule hat in
Berlin die Staatsgewalt zum
Gegenschlag ausgeholt. Der Polizeiärztliche Dienst hatte fast allen
traumatisierten BosnierInnen, die
bis dato ein Bleiberecht wegen einer attestierten Traumatisierung
erhalten hatten um sich einer Therapie zu unterziehen, die Traumatisierung „aberkannt“. In einem
Schnellverfahren waren sie – ohne
qualifizierte Dolmetscher, teilweise
mit Übersetzung durch die eigenen Kinder – durch ÄrztInnen des
Polizeiärztlichen Dienstes „begutachtet“ worden, die z.T. nicht einmal FachärztInnen waren. Keines
dieser Gutachten des polizeiärztlichen Dienstes hielt bislang einer
Überprüfung durch die Gerichte
statt, eine wissenschaftliche Untersuchung fällt ein vernichtendes Urteil über die fachlichen Standards
(vgl. Geteilte Medizin. FLÜCHTLINGSRAT 68, S. 45). Trotzdem
werden die betroffenen Flüchtlinge abgeschoben, die behandelnden MedizinerInnen und die
Flüchtlinge kriminalisiert. (Red.)
“Für das Verwaltungsgericht Berlin
muss das Vorgehen des polizeiärztlichen Dienstes „als offensichtlicher, durch nichts zu rechtfertigender ärztlicher Kunstfehler
angesehen werden“.
„Davon unbeeindruckt ermittelt
die Berliner Staatsanwaltschaft wegen des Ausstellens unrichtiger
Gesundheitszeugnisse gegen zwei
niedergelassene Ärzte, die rund
600 Flüchtlingen eine Traumatisierung attestiert haben. Allerdings
konnte der Vorwurf der Gefälligkeitsatteste nicht belegt werden.
Vielmehr wurde in bislang zehn
Fällen von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen die ursprüngliche Diagnose über eine
Kriegstraumatisierung bestätigt.
Dennoch hat die Polizei die Praxis
der Ärzte durchsucht und die Patientenakten beschlagnahmt. Gegen die betroffenen Patienten wird
ebenfalls ermittelt. Ihnen wird vorgeworfen, unrichtige Gesundheitszeugnisse zu gebrauchen und damit gegen das Ausländergesetz zu
verstoßen. Offenbar genügen der
Staatsanwaltschaft die umstrittenen polizeiärztlichen Gutachten als
Grundlage für ein Ermittlungsverfahren. „Ich halte das für ungeheuerlich“, sagt der Rechtsanwalt
der beschuldigten Ärzte. Hier werde nach einem Weg gesucht,
Flüchtlinge zu kriminalisieren. Damit erhöhe man den Druck auf die
Betroffenen, „die Segel zu streichen“
Traumatisierte II:
Die beschuldigten Ärzte sind überzeugt, dass in Berlin versucht wird,
die Medizin für die Politik zu instrumentalisieren. Den Vorwurf,
dass sie rund 600 Patienten eine
Traumatisierung attestiert haben,
erklären sie damit, dass es neben
den Institutionen wie dem Behandlungszentrum für Folteropfer
in Berlin nur zwei Fachärzte gebe,
die Serbokroatisch, die Muttersprache der Patienten, sprechen –
Voraussetzung für eine angemessene Therapie. „Wir sind von der
Flüchtlingsproblematik überrollt
worden,“ sagt einer der Ärzte, die
in ihrem Praxisalltag feststellen,
dass sich der Gesundheitszustand
ihrer Patienten verschlechtert, je
länger deren unsicherer Aufenthaltsstatus andauert. Zusätzlich
belastend, teils retraumatisierend,
seien die Untersuchungen beim
Polizeiärztlichen Dienst. ... Ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Polizeiärztinnen, denen vorgeworfen
wurde, Patientendaten an die Kriminalpolizei weitergegeben zu haben, verlief ergebnislos.”
(Auszug aus „Zwischen Staatsraison und Patientenwohl“, Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9.Juni 2000)
Foto: Nazi - Aufmarsch
Ärztetag gegen
Abschiebung
A
uf dem 103. Deutschen Ärztetag verlangten die 250
Delegierten, Flüchtlingen einen gesicherten Aufenthaltstatus zu geben, solange sie wegen der Nachwirkungen von Folter und Verfolgung behandlungsbedürftig
seien. Dazu müsse es Untersuchungen von unabhängigen Ärzten geben, die ausreichend mit posttraumatischen Belastungsstörungen vertraut seien. Wenn ärztliche Stellungnahmen sich für eine Behandlung aussprechen, müsse bei der oft schwierigen Entscheidung zwischen Bleiberecht und Abschiebung im Zweifel zugunsten des Bleiberechts entschieden werden
92
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Geteilte Medizin
Traumatisierte III:
Schily gegen Abschiebung
B
undesinnenminister
Schily
schreibt am 26. 5. 2000 an die
„Sehr geehrten Kollegen“:
„Anknüpfend an unsere Gespräche
mit Herrn Bürgermeister a.D. Hans
Koschnik in Görlitz und unser Kamingespräch in Düsseldorf möchte
ich Ihre Aufmerksamkeit erneut
auf die Frage der aufenthaltsrechtlichen Behandlung traumatisierter
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina sowie dem Kosovo lenken.
Zu diesem Fragenkomplex erreichen mich in jüngster Zeit vermehrt Eingaben aus Kreisen der
Kirchen und Wohlfahrtsverbände,
in denen beklagt wird, dass auch
schwertraumatisierte
Personen
und ehemalige Lagerhäftlinge zur
Ausreise aufgefordert
werden und ihnen die
Abschiebung angedroht wird. Schon diese Androhung, erst
recht aber die erzwungene Rückkehr führe bei den Betroffenen regelmäßig zu einer Retraumatisierung und mache mühevoll erreichte Behandlungserfolge
wieder zunichte. In vielen Fällen sei
zudem eine ausreichende Anschlussbehandlung nicht sichergestellt.
Im Interesse der medizinischen Behandlung sollte meines Erachtens
von der Erteilung auf drei Monate
befristeter Duldungen grundsätzlich abgesehen und der gesetzliche
Rahmen ausgeschöpft werden.
Foto: Nazi - Aufmarsch
Im Übrigen sollte bei chronisch
traumatisierten Menschen eine
Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. Dabei gehe ich davon aus,
dass sich diese schwere Form der
Traumatisierung medizinisch konkret beurteilen lässt und als Anknüpfungspunkt für die Erteilung
einer Aufenthaltsbefugnis sachgerecht ist.“
(siehe
auch
„Humanitäre
Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“)
Traumatisierte IV:
Keine Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien
D
er gemeinsame Expertenausschuss zum deutsch-bosnischen Rücknahmeabkommen hat
seine Einschätzungen zu den Behandlungsmöglichkeiten traumatisierter Personen in Bosnien-Herzegowina revidiert. In der abgestimmten Niederschrift der 9. Sitzung des Expertenausschusses
vom 11. bis 12. Mai 2000 in Berlin
wird konstatiert, die erwartete Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten sei bisher nicht eingetreten.
Noch bei seiner vorletzten Sitzung
im Oktober 1999 hatte der Expertenausschuss
die
Erwartung
geäußert, dass sich die Möglichkeiten der therapeutischen Behandlung in Bosnien-Herzegowina im
Jahre 2000 verbessern würden.
Dem widersprachen UNHCR, Auswärtiges Amt, die deutsche Botschaft und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, die Traumatisierte betreuen und therapieren. Dennoch hatten die meisten
Innenministerien der Länder unter
Verweis auf die Einschätzung des
Expertenausschusses ihre Ausländerbehörden angewiesen, Flüchtlinge, die bisher nicht in intensiver
fachärztlicher Betreuung stehen
bzw. erst in der letzten Zeit ihre
Traumatisierung gegenüber Therapeutinnen und Therapeuten offenbarten, auf die angeblich ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien zu verweisen und
zur Ausreise aufzufordern. In einigen Bundesländern haben die Abschiebungen
traumatisierter
Flüchtlinge bereits begonnen.
Pro Asyl kritisierte die Ergebnisse
des Expertenausschusses. So werde eine Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten traumatisierter
Personen ohne jegliche Grundlage
nunmehr einfach für den kommenden Herbst in Aussicht gestellt. Auch sei es inakzeptabel,
dass die Leiterin der deutschen Delegation, Ministerialdirigentin Cornelia Rogall-Grothe, bei der Sitzung des Expertenausschusses in
den Raum gestellt habe, man kön-
ne eine qualifizierte Weiterbehandlung durch die Erteilung von
Duldungen bis zu 12 Monaten ermöglichen. Damit falle sie hinter
die Position von Bundesinnenminister Schily zurück.
Ebenso wie UNHCR und Wohlfahrtsverbände fordert PRO ASYL
eine abschließenden Bleiberechtsregelung für die nur noch etwa
37.000 ausreisepflichtigen Flüchtlinge aus Bosnien. Die Länderinnenministerien seien aufgefordert,
die auf den bisherigen Aussagen
des Expertenausschusses basierenden Erlasse, die Traumatisierte zur
Ausreise auffordern, aufzuheben.
(aus: Presseerklärung Pro Asyl 29.
Juni 2000. Die Abgestimmte Niederschrift des Gemeinsamen Expertenausschusses gemäß Artikel 9
des deutsch/bosnisch-herzegowinischen Rückübernahmeabkommens vom 11.05. bis 12.05. 2000
in Berlin kann über die Geschäftsstelle von PRO ASYL bezogen werden)
93
Geteilte Medizin
Traumatisierte V:
Hauptsache weg
D
as Bundesinnenministerium
führt Erhebungen in den Bundesländern (auch Niedersachsen)
durch, um die Zahl der schwer
traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina
festzustellen. Diese Erhebung erfolgten „im Interesse eines gezielten Aufbaus von Therapieeinrichtungen in Bosnien-Herzegowina“.
Der Versuch, so die politischen For-
derungen nach Bleiberecht und
Behandlung für schwer Traumatisierte zu unterlaufen, verhinderten
auch in der Vergangenheit auf den
Innenministerkonferenzen regelmäßig eine entsprechende Bleiberechtsvereinbarung. In Niedersachsen gilt immer noch der Erlass aus
dem Frühjahr letzten Jahres, wonach schwer Traumatisierte nicht
abgeschoben werden sollen. Was
Hannover:
Schutzimpfungen für Flüchtlinge
Flüchtlinge, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, bekommen Krankenscheine nur auf
Nachfrage beim Sozialamt ausgehändigt. Die Krankenscheine
enthalten in vielen Kommunen
den Aufdruck: „Nur bei akuter
und schmerzhafter Erkrankung“.
Neben allen anderen Konsequenzen verhindert dieser Aufdruck
auch die Versorgung von Flüchtlingen mit Schutzimpfungen und
Vorsorge-Untersuchungen. Spezielle Krankenscheine dafür werden
ihnen nicht ausgehändigt. Die
Ständige Impfkommission (STIKO)
gibt demgegenüber Empfehlungen aus, wonach in den Erstauf-
nahme-Einrichtungen für Flüchtlinge schon die Grundimmunisierung mit den in Deutschland vorgesehenen Standard-Impfungen
erfolgen sollte. In Hannover
brachte die PDS eine Anfrage in
die Ratsversammlung ein, wie
denn die Versorgung mit Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen mit diesem Aufdruck
zu vereinbaren sei und verlangte
die Tilgung dieses problematischen Stempels und die quartalsweise Ausgabe von Krankenscheinen. Das Sozialamt Hannover versicherte Ende Juni, dass die Kosten
für amtlich empfohlene Schutzimpfungen trotz Aufdruck über-
nicht verhindert, dass ihre Traumatisierung angezweifelt und dennoch Abschiebungen versucht
werden. So geschehen bei einem
Jugendlichen aus dem Landkreis
Uelzen im Mai diesen Jahres. Erst
in letzter Minute stoppte das Innenministerium auf Intervention
des Flüchtlingsrates die Abschiebung – der Jugendliche wurde aus
dem Flugzeug geholt (vgl. Krankhafte Angst vor Abschiebung. In:
Geteilte Medizin, FLÜCHTLINGSRAT 68). (Red.)
nommen würden. Die Verwaltung
will dies nun gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung klarstellen, schließlich gebe es ein „öffentliches Interesse“ an den – allerdings freiwilligen – Impfungen.
Der Aufdruck auf den Krankenscheinen habe das Ziel, die Einreise von Flüchtlingen zum Zwecke
der Krankenbehandlung zu vermeiden (Nach HAZ vom 23. 6.00).
Nach unseren Erfahrungen dient
der Aufdruck vor allem der Vertreibungspolitik und kommunalen
Einsparinteressen auf Kosten der
Flüchtlinge. (Red.)
(Der Ratsantrag kann bei der Geschäftsstelle abgerufen werden)
Keine Operation wegen fehlender Deutschkenntnisse
E
ine schwer herzkranke Türkin ist
von einer Herzklinik in Bad
Oeynhausen nicht in die Warteliste
für Herztransplantationen aufgenommen worden. Begründung:
schlechte
Deutschkenntnisse.
Nachdem ihr zunächst zugesagt
worden war, sie werde in die Warteliste aufgenommen, erhielt sie
im Februar 2000 eine Ablehnung,
wonach: „... insbesondere unter
Berücksichtigung der sozialen Lage
und der nicht vorhandenen
Sprachkenntnisse eine Indikation
zur Herztransplantation als nicht
94
gegeben“ angesehen werde. Die
Nachbetreuung nach Herztransplantationen ist lebenswichtig. Soziokulturelle Probleme, große
Sprachdefizite verhinderten nach
Ansicht des verantwortlichen Mediziners in der Herzklinik eine ausreichende Nachsorge – wie die Erfahrung zeige. PatientInnen, die
bestimmten Risiko-Gruppen angehören (Raucher, Alkoholiker),
würden ebenfalls wegen geringerer Überlebenschancen nicht auf
die Liste gesetzt. Die fließend
deutsch sprechende Tochter versi-
cherte der Herzklinik, dass sie rund
um die Uhr als Dolmetscherin für
die Mutter zur Verfügung stehe.
Doch die Mediziner in Bad Oeynhausen ließen sich nicht umstimmen. Mittlerweile wurde Frau E.
jedoch vom Herzzentrum Münster
in die Warteliste aufgenommen –
vermittelt durch einen Oberarzt
der Uniklinik Gießen, der Mitbegründer der Türkisch-Deutschen
Gesundheitsstiftung ist.
(Red.)
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Ehe und Familie
Ehe und Familie
Rassismus und Gewalt:
Prügel als Abschiebungsgrund
Bettina Stang
D
ie Geschichte der Kurdin A. ist
geeignet, auch hartgesottenen
Kennern der behördlichen Ignoranz gegenüber menschlichem
Leid die Haare zu Berge stehen zu
lassen. A. reist im August vergangenen Jahres mit einem Visum zur
Familienzusammenführung
zu
ihrem Ehemann nach Deutschland
ein. Die Ehe wurde durch die Eltern
der Brautleute arrangiert, A. war
sie nur widerwillig eingegangen.
A. wird eine auf ein Jahr befristete
Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Seit Oktober liegt A. mit schweren
Verletzungen im Krankenhaus,
nachdem sie sich vor der Gewalttätigkeit ihres Mannes durch einen
Sprung aus dem Fenster rettete.
Verdacht auf Querschnittslähmung. Noch im Krankenhaus erreicht sie ein Brief der Ausländerbehörde: Wegen Sozialhilfebezugs
habe sie trotz ihrer Heirat ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland verwirkt. “Sie nehmen seit dem
1.12.1999 Sozialhilfeleistungen in
Anspruch. Ihre befristete Aufenthaltserlaubnis ist somit mit der Inanspruchnahme von Sozialhilfe er-
loschen.” Die Kurdin, so stellt die
Sachbearbeiterin fest, habe ihren
Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung im übrigen
zu spät gestellt und halte sich illegal in Deutschland auf: “Aufgrund
der verspäteten Beantragung gilt
ihr Aufenthalt gemäß §69 i.V.m. §
42 des Ausländergesetzes (AuslG)
bis zur Entscheidung über den Antrag nicht als erlaubt oder geduldet.”
Damit nicht genug. Der Antrag auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei außerdem abzulehnen.
“Sie haben sich im Oktober 1999
bei einem Sprung aus dem Fenster,
durch den Sie sich vor erneuten
Schlägen durch Ihren Ehemann
retten wollten, erhebliche Verletzungen zugezogen. Daher leben
Sie derzeit in der Klinik für..., mithin derzeit von Ihrem Ehemann getrennt(...) Es ist nicht davon auszugehen, dass Sie im Anschluss an
Ihren Klinikaufenthalt zu Ihrem
Ehemann zurückkehren und die
eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufnehmen werden. Da aufgrund Ihrer Trennung keine eheli-
che Lebensgemeinschaft mehr besteht, beabsichtigen wir, Ihren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abzulehnen und Sie
unter Fristsetzung und Androhung
der Abschiebung zur Ausreise aufzufordern.(...) Wir weisen Sie darauf hin, dass es Ihnen nach § 70
Abs.1 S.1 Ausländergesetz (AuslG)
obliegt, Ihre Belange und für Sie
günstige Umstände, soweit Sie
nicht offenkundig oder bekannt
sind, unter Angabe nachprüfbarer
Umstände unverzüglich geltend zu
machen...”. (Hervorhebungen von
der Redaktion)
Mit diesem Schreiben - elf Tage vor
Inkrafttreten des reformierten §19
AuslG - wollte die Behörde offenbar der neuen Gesetzgebung zuvorkommen. Nach der Neufassung
eines eigenständigen Aufenthaltsrechtes ausländischer Ehegatten ist
die Ausreiseaufforderung eindeutig unrechtmäßig. Der Inhalt des
neuen Gesetzes war schon lange
bekannt - der Bundestag beschloss
die Gesetzesänderung schon im
März! Der böse Wille ist unverkennbar.
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Ehe und Familie
INFO
Die Neufassung des § 19 sieht vor:
- eigenständiges Aufenthaltsrecht
bereits nach zwei Jahren ehelicher
Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet und
- im Fall einer "besonderen Härte"
schon vorher (ohne Fristsetzung).
Eine "besondere Härte" liegt
gemäß der Begründung der Gesetzesinitiative dann vor, wenn
- einer der Ehegatten physisch
oder psychisch misshandelt wird,
- das in der Ehe lebende Kind vom
Ehegatten sexuell misshandelt
wird,
- bei einer Rückkehr ins Herkunftsland "gesellschaftliche Diskriminierung" eine eigenständige Lebensführung unmöglich machen,
- im Herkunftsland der Kontakt mit
dem eigenen Kind(ern) "willkürlich"
untersagt wird oder der Frau im
Herkunftsland eine Zwangsabtreibung droht.
Das Wohl "eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes" ist nach
der neuen Gesetzesfassung ebenfalls als "schutzwürdiger Belang"
anzusehen.
Laut Gesetzesbegründung soll "insbesondere Alleinerziehenden" die
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift "nicht
deshalb versagt werden, weil sie
wegen der Betreuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf den
bezug von Sozialhilfe angewiesen
sind". Entsprechend ist der Bezug
von Sozialhilfe grundsätzlich kein
Hindernis. Sozialhilfebezug kann
aber dann zur Verweigerung der
Aufenthaltserlaubnis führen, wenn
die Behörden meinen, hierfür sei
die (der) Betroffene verantwortlich.
§19 Abs. 1 Satz 3 lautet: "Zur Vermeidung von Missbrauch kann die
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in den Fällen des Satzes 1
Nr.2 (im Falle der besonderen Härte) versagt werden, wenn der Ehe-
gatte aus einem von ihm zu vertretenden Grund auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe angewiesen ist."
Nach Auskunft des niedersächsischen Innenministeriums liegt eine
Verwaltungsvorschrift des Bundes
noch nicht vor. Im Erlass des Ministeriums wird deshalb nur darauf
verwiesen, dass die alten Verwaltungsvorschriften aufgehoben sind
und alles weitere bis zur Erstellung
neuer Vorschriften dem neuen Gesetzestext zu entnehmen sei.
"Auch in Fällen, in denen bereits
rechtskräftig oder unanfechtbar
die Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts abgelehnt
wurde, ist auf Antrag nach der
neuen Rechtslage erneut zu entscheiden; es sei denn, die Ausländerin oder der Ausländer ist oder
war nicht nur vorübergehend unbekannten Aufenthalts", heißt es
im Ausführungserlass des MI vom
29.06.2000.
Apartheid
T. u. J.Paul
Familienglück I :
Eheleute unter dem Argwohn der Behörden
Bettina Stang
W
ird bei binationalen Eheschließungen das Schnüffeln
in privaten Angelegenheiten zur
Routineübung? Fälle, wo Visa verweigert, Aufenthaltserlaubnisse
nicht verlängert und trotz (beabsichtigter) Eheschließung Abschiebungen eingeleitet werden, scheinen seit der Neufassung des Eheschließungsgesetzes deutlich zuzunehmen. Drei Beispiele:
„Deutschland kein Einwanderungsland“
Der Nigerianerin B. wird die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis nach drei Jahren Ehe mit einem
Deutschen allein aus dem Grund
verweigert, weil dieser wiederholt
angeblich “ohne triftigen Grund”
aus der gemeinsamen Wohnung
ausgezogen war - 16 Monate insgesamt. Sie und ihre beiden Kinder
werden nach einem Aufenthalt
96
von zehn Jahren in Deutschland
zur Ausreise aufgefordert. Die Ausländerbehörde behauptet, es bestehe - trotz erfolgter Heirat - nur
eine „Begegnungsgemeinschaft“
(was immer das ist) und erwidert
auf den Widerspruch des Rechtsanwalts:
“In diesem Zusammenhang sind
nämlich Ihre Ausführungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer und
Erwerbstätigkeit unerheblich.(...)
Es besteht ferner ein öffentliches
Interesse daran zu verhindern, dass
sie (die Nigerianerin B.) die nur
zum Zwecke der Familienzusammenführung erlangte Aufenthaltserlaubnis dazu benutzt, sich in
das wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und sich hier dauernd niederzulassen. Dabei ist insbesondere zu
berücksichtigen, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwan-
derungsland ist, und es somit
pflichtgemäßer Ermessensausübung entspricht, Ausländern die
weitere Anwesenheit im Bundesgebiet zu verwehren, die durch
ihren Aufenthalt zu den wirtschaftlichen und sozialen Problemen beitragen können.(...) In diesem Zusammenhang ist es unerheblich,
dass die Kinder im Bundesgebiet
geboren sind.(...) Ich verkenne
nicht, dass sich die Kinder bei der
Rückkehr nach Nigeria unter Umständen an etwas andere Lebensumstände gewöhnen müssen.
Dies sind jedoch allgemeine Härten, die jede Ausreiseverpflichtung
mit sich bringt.”
Das Verwaltungsgericht bestätigt
diese skandalöse Entscheidung der
Ausländerbehörde. Auch der angeordnete Sofortvollzug der Ausweisung wird vom Verwaltungsgericht nicht beanstandet. Frau B. er-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Ehe und Familie
leidet in dieser Situation einen Nervenzusammenbruch und muss in
die Psychiatrie eingewiesen werden. Die behandelnden Ärzte stellen das Vorliegen einer Reiseunfähigkeit fest und verhindern so
die Durchführung der Abschiebung. Erst das Oberverwaltungsgericht ordnet im Eilverfahren die
aufschiebende Wirkung der Klage
wieder an: Bis zur Entscheidung im
Hauptsacheverfahren besteht Abschiebeschutz. Die Tatsache, dass
der Ehemann vorübergehend
außerhalb der gemeinsamen Wohnung lebte, sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts
noch nicht als “Scheitern der Ehe”
zu deuten. Auszugehen sei vielmehr von einer aktuellen Versicherung des Ehemanns, dass die Ehe
aufrecht erhalten wird.
Oldenburg: In den Fluss gehetzt
In Oldenburg wird der Algerier C.
nach einem Gerichtstermin von der
Polizei in einen Fluss gehetzt, aus
dem er schließlich vor dem Ertrinken gerettet werden muss. C. gilt
als ausreisepflichtig, sein Aufenthalt als illegal, obwohl er eine Heirat mit einer Deutschen vorbereitet. Dem Paar wurde vom Standesamt unterstellt, nur eine Scheinehe
zu beabsichtigen und mit dieser
Begründung die Eheschließung
verweigert. Dagegen klagten sie,
es kommt zu einem Landgerichtstermin, bei dem das Gericht feststellt, dass einer Heirat grundsätzlich nichts im Wege stehe. Vor den
Türen des Gerichts warten Polizeibeamte, um C. in Abschiebehaft
zu nehmen – die Ausländerbehörde hatte von dem Gerichtstermin
erfahren. Freunde des Paares werfen sich zwischen Polizei und C.. C.
flüchtet in die Hunte und wird
nach seiner “Rettung” aus dem
Fluss in Haft genommen. Erst auf
Intervention des Flüchtlingsrates
wird er wieder aus der Haft entlassen – die Ausländerbehörde war
von dem positiven Ausgang des
Gerichtverfahren nicht unterrichtet
worden. Mittlerweile ist das Paar
verheiratet.
Ein hoffentlich nur vorläufig erschreckendes Ende nahm folgendes Heiratsdrama, das sich im ohnehin in seinem Umgang mit Asylsuchenden besonders übel beleumdeten Thüringen abspielte:
Abschiebung trotz Ehe schließung - verschwunden
Im März wird der Nigerianer John
Paul im Haus seiner Schwiegereltern in Thüringen verhaftet und
drei Monate später aus der Abschiebungshaft heraus abgeschoben. Seitdem hat seine Frau nichts
mehr von ihm gehört, niemand
weiß, wo er sich befindet. Die
deutsche Botschaft kann nur mitteilen: Aufenthalt unbekannt, die
nigerianischen Behörden hätten
mitgeteilt, dass Herr Paul „nach
Überprüfung der Fahndungslisten
aus dem Gewahrsam der Immigration entlassen worden sei“. Das
Auswärtige Amt hatte Frau Paul jedoch nach der Abschiebung bestätigt, dass gegen ihren Mann ein
nigerianischer Haftbefehl bestehe.
Das Paar hatte sich kennengelernt,
als John Paul in Thüringen in einem Asylbewerberheim wohnte.
Sie heirateten schließlich in Frankreich, nachdem John Paul mehrfach in Thüringen von Rechtsradikalen überfallen wurde. Eine Ausweisungsverfügung, die gegen ihn
erlassen wurde, erreicht ihn nie.
Arglos reiste John Paul wieder
nach Deutschland ein und meldeten sich in der Ausländerbehörde.
Dort wurde P. mitgeteilt, die Ausweisungsverfügung gegen ihn sei
immer noch maßgeblich, er halte
sich illegal in Deutschland auf, die
Heirat in Frankreich ändere nichts
daran. Wenige Tage darauf wurde
P. verhaftet. Anwaltlich schlecht
beraten, konnte Frau Paul in den
drei Monten Abschiebungshaft für
P. letztlich nichts erreichen. Mit
den Behörden erlebte sie ein wahres Katz-und-Maus-Spiel. Sie bekam Fehlinformationen über den
Aufenthaltsort ihres Mannes oder
ihr wurden Informationen verweigert. Einmal ließ sich die Abschiebung noch am Flughafen Frankfurt
verhindern. Doch schließlich wurde ihr Mann doch abgeschoben,
ohne dass die Behörden sie darüber informierten. Jetzt versucht eine neue Rechtsanwältin, Licht in
die Sache zu bringen.
Selbst wenn John Paul in Nigeria
wiederauftaucht, wieder nach
Deutschland kommen könnte er
nur, wenn die Abschiebungskosten
bezahlt sind - von dem Ehepaar
Paul. Und die automatische Wiedereinreisesperre nach einer Abschiebung müsste nachträglich befristet werden, dann wäre eine
Duldung wegen der Heirat möglich, so die Ausländerbehörde heute. Doch - bislang sei aus Nigeria
kein solcher Antrag eingegangen.
Nähere Informationen und Fax-Kampagne: Menschenrechtsverein Bremen
www.humanrights.de
Familienglück II:
Gemeinsames Kind und Ausreisepflicht
D
em ausländischen Elternteil eines minderjährigen deutschen
Kindes ist zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das besagt §23
AuslG. Doch die Ausländerbehörden argumentieren, dass die illegale Einreise das Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung verwirkt,
und berufen sich hier auf § 8 AuslG.
Nach §8 AuslG darf eine Aufenthaltserlaubnis nur bekommen, wer
legal in das Bundesgebiet eingereist ist. Allein diejenigen illegal
Eingereisten, die im Bundesgebiet
eineN DeutscheN heiraten, sind
von dieser Bestimmung u.U. ausgenommen (§9 AuslG). Was aber
machen diejenigen, die Kinder mit
Aufenthaltsberechtigten/Deutschen haben, aber nicht verheiratet sind - etwa weil die Papiere
nicht beschafft werden können?
Nach Auffassung der Ausländerbehörden müssen sie zur Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis noch
einmal ins Heimatland reisen, um
nachträglich ein Visum - zur Familienzusammenführung - einzuholen.
Grundsätzlich hat das Bundesverwaltungsgericht schon 1997 (Informationsbrief Ausländerrecht
97
Ehe und Familie
1998, S. 276ff) festgestellt, dass
der Schutz von Ehe und Familie
höher zu bewerten sei als die deutschen Einreisebestimmungen. Deshalb könne bei Härtefällen, in denen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht möglich ist, auch
eine Aufenthaltsbefugnis nach
§30,3 AuslG erteilt werden: Und
zwar dann, wenn eine Ausreise ins
Heimatland zur nachträglichen
Einholung eines Einreisevisas - etwa mit Blick auf den grundgesetzlich verbürgten Schutz von Ehe
und Familie - “unzumutbar” erscheint. Eine Aufenthaltsbefugnis
ist ein weitaus schwächerer Status
als eine Aufenthaltserlaubnis. Sie
sieht beispielsweise die Erteilung
einer Arbeitserlaubnis ohne Rücksicht auf den Arbeitsmarkt erst
nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Deutschland vor. Immerhin
kann die Befugnis aber nach zwei
Jahren - auch bei illegaler Einreise,
sagt das MI in einem weiter unten
näher erläuterten Erlass - in eine
Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden.
Nur wenige Behörden scheinen
dieser Kann-Bestimmung nachzukommen. Die Regel ist immer
noch, dass der unverheiratete Elternteil zur Ausreise aufgefordert
wird. Das Auswärtige Amt hat deshalb die zuständigen Landesbehörden schriftlich aufgefordert,
diese Möglichkeiten stärker zu nutzen. Moniert wird, dass „die Mehrheit der Bundesländer sich leider
stoßes gegen das Visumverfahren
im Rahmen des Familiennachzugs
ausdrücklich aus, so kommt die Ermächtigung einer grenznahen
Auslandsvertretung in Betracht.”
Dies soll aber nach Auffassung des
Auswärtigen Amtes die Ausnahme
bleiben: “Die Ausländerbehörden
sollen aber ihre rechtliche Handhabe ausschöpfen und ihre eigene
Verwaltungstätigkeit nicht vorschnell durch Verweis auf die Ermächtigung einer grenznahen
Auslandsvertretung entlasten.” Der größte Pferdefuß wird bei einem solchen Verfahren im übrigen
die voraus gesetzte legale Einreise
ins Nachbarland sein.
Niedersachsen hat mit einem eigenen Erlass vom 7. Mai 1999 auf
das BVerwG-Urteil reagiert und für
mit Deutschen verheiratete Ehepartner Bedingungen formuliert,
bei deren Vorliegen die Heilung
von Visumsverstößen möglich ist.
Doch für unverheiratete ausländische Elternteile ergibt sich aus dem
Erlass kein Vorteil. Mit Deutschen
verheiratete Ausländer müssen bei
Nichterfüllung der im Erlass genannten Härtegründe weiterhin
mit einer Abschiebung rechnen.
Auch unverheiratete binationale
Paare mit einem deutschen Kind
sind unter bestimmten Umständen
in Gefahr, durch Abschiebung getrennt zu werden, obwohl das
neue KJHG das Recht des Kindes
auf Erziehung durch beide Elternteile betont. Zwei Beispiele:
* L. aus Togo, wohnhaft
in Sachsen-Anhalt, hat
mit S. aus Helmstedt ein
gemeinsames
Kind.
Während S. studiert,
kümmert sich L. um die
Tochter. Dazu hat er den
ihm zugeteilten Landkreis verlassen. L. hält
sich also unerlaubt in
Helmstedt auf. Eine Umverteilung ist beantragt,
doch das Verfahren ist
langwierig, und die
Chancen
stehen
schlecht.
nicht dazu bereit fand, in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zum Ausländergesetz eine klarstellende Regelung aufzunehmen.”
Die Ausländerbehörden sollen, so
das AA, eine sorgfältige Prüfung
vorzunehmen. “Schließt eine Ausländerbehörde als Ergebnis ihrer
Prüfung eine Heilung des Ver98
Eine Rechtsanwältin beantragt
schließlich die Aufenthaltserlaubnis für den Vater. Die Stadt Magdeburg antwortet, dass die illegale
Einreise die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zulasse.
Später verweist die Ausländerbehörde Magdeburg auf die Zu-
ständigkeit Helmstedts, das “die
tatsächliche Verhältnisse in seinem
Bezirk, hier etwa die Frage danach,
ob der Antragsteller tatsächlich in
Lebensgemeinschaft mit seiner
Verlobten und dem gemeinsamen
Kind lebt, im Zweifel wegen der
Ortsnähe einfacher beurteilen”
könne als die “auswärtige Behörde”. Die Stadt Helmstedt erklärt
sich jedoch ebenfalls für unzuständig, da L. in Helmstedt nicht gemeldet sei. Über das weitere
Schicksal der Familie ist dem
Flüchtlingsrat nichts bekannt.
* der Nigerianer I., Mitglied von
The Voice in Jena, hat mit seiner
deutschen Verlobten eine gemeinsame Tochter. Die Papiere für eine
Heirat werden seit Monaten von
der Deutschen Botschaft in Lagos
zur Bearbeitung gesammelt. Bis eines der Papiere bearbeitet war,
hatte das andere schon seine Gültigkeit verloren und musste von
Verwandten I.s neu besorgt werden - der gewöhnliche Horror von
binationalen Heiratswillligen.
Die Mutter H. hat in Hamburg eine
Ausbildung begonnen, aber I. darf
sich aus seinem alten Wohnort
nicht ummelden. Besuche in Hamburg müssen zuvor von der Behörde in der nächsten Kreisstadt genehmigt werden. I. betreut die gemeinsame Tochter also an seinem
Wohnort in Thüringen. Selbst nach
einem Krankenhausaufenthalt des
Kleinkindes darf I. nicht in Hamburg bleiben, sondern muss für die
Weiterbehandlung neue Ärzte in
seiner näheren Umgebung aufsuchen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen
reicht im thüringschen Landtag eine Petition für das Paar ein, die abgelehnt wird: Der Mann habe zwar
grundsätzlich nach §23 das Recht,
seine Tochter in Deutschland zu
betreuen, müsse zuvor aber ausreisen. I. fürchtet in Nigeria seine Verhaftung. Außerdem ist ungewiss,
wann die Botschaft soweit ist, ein
Visum zu erteilen.
Anfang diesen Jahres wird I.
schließlich in der elterlichen Wohnung seiner Verlobten verhaftet
und zur nigerianischen Botschaft
nach Bonn gefahren. Da diese keine Reisepapiere ausstellt, muss er
wieder frei gelassen werden. Der
Ausgang des Familiendramas ist
noch ungewiss.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Ehe und Familie
Der „Fall Sürül“ und die Folgen
Neue Kindergeld- und Erziehungsgeld-Ansprüche
Kai Weber
Anspruch auf Kindergeld und Erziehungsgeld unabhängig vom Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
oder -b
berechtigung für ArbeitnehmerInnen türkischer, tunesischer,
algerischer,
marokkanischer
Staatsangehörigkeit, Konventionsflüchtlinge, (jugoslawische Staatsangehörige)
D
er Europäische Gerichtshof
(EuGH) hat in einem Verfahren
der Familie Sürül mit Urteil vom
4.5.1999 - Rs C-262/96 (Sürül) entschieden, dass ArbeitnehmerInnen mit türkischer Staatsangehörigkeit aufgrund der Regelung des Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses
(ARB)
EWG/Türkei Nr. 3/80 Anspruch auf
Gleichbehandlung bei der Gewährung von Familienleistungen
(hier: Kindergeld) haben. Voraussetzung dafür ist dem EuGH zufolge allein die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1
ARB Nr. 3/80, auf den Aufenthaltsstatus kommt es nicht an. (Urteil abgedruckt in: Informationsbrief Ausländerrecht InfAuslR 78/99, S. 324-330).
Das EuGH-Urteil ist damit auch für
Personen mit Aufenthaltsbefugnis
oder -bewilligung sowie für Flüchtlinge mit Aufenthaltsbefugnis,
Aufenthaltsbewilligung oder Duldung von Bedeutung. Allerdings
bestreitet die Bundesregierung mit
mehr als fragwürdiger Begründung weiterhin die Anwendbarkeit
des EuGH-Urteils auf nicht anerkannte Flüchtlinge und verweist
zur Rechtfertigung auf einen Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts vom 16.12.1999. Das Bundessozialgericht will mit seiner
Vorlage an den EuGH ausdrücklich
festgestellt wissen, ob die Entscheidung vom 4.5.99 auch auf
Personen Anwendung findet, die
als Flüchtlinge eingereist und später als ArbeitnehmerInnen beschäftigt wurden. Die Chancen für
eine positive Entscheidung stehen
gut. Flüchtlinge, die die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne der
unten gemachten Ausführungen
erfüllen, sollten daher unbedingt
einen Antrag auf Kindergeld stellen und ggfs. bei Ablehnung
Rechtsmittel einlegen.
Der EuGH hat in seinem Urteil vom
4.5.1999 festgestellt, dass die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne
des Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80
dann vorliegt, wenn die betreffende Person „auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen
oder besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert
oder freiwillig versichert ist, ohne
dass es darauf ankommt, ob sie in
einem Arbeitsverhältnis steht“.
Das bedeutet, dass nicht nur diejenigen türkischen ArbeitnehmerInnen, die in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen, diese Arbeitnehmereigenschaft erfüllen.
Auch wenn für einen Elternteil Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt werden, ist die „Arbeitnehmereigenschaft“ gegeben. Gleiches gilt, wenn türkische Staatsangehörige regelmäßig und auf Dauer eine geringfügige Beschäftigung
mit einem Verdienst bis 630,- DM
ausüben, da diese Beschäftigungen seit dem 1.4.1999 der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung unterliegen. Die Rechte
aus der Arbeitnehmereigenschaft
stehen auch den EhepartnerInnen
zu, selbst wenn diese nicht selbst
im System der sozialen Sicherheit
versichert sind, sofern der/die andere Ehepartner/in entsprechend
versichert ist. Unter Umständen er-
füllen auch SozialhilfeempfängerInnen die geforderten Bedingungen, wenn sie (z.B. aufgrund einer
geringfügigen
Beschäftigung)
selbst Mitglied einer Krankenversicherung sind, deren Kosten vom
Sozialamt lediglich übernommen
werden. Ein Anspruch könnte u.U.
sogar dann gegeben sein, wenn
im Rahmen einer „gemeinnützigen
Beschäftigung“ über die Gemeindeunfallversicherung die Risiken eines Arbeitsunfalls abgedeckt werden.
Die Ausführungen zum
Kindergeld- und Erziehungsgeldanspruch
wurden zusammengestellt aus Aufsätzen
von Bernd Tobiassen
und Georg Classen und
ergänzt um eigene Recherchen.
Auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs können sich
nicht nur türkische ArbeitnehmerInnen berufen, sondern auch Konventionsflüchtlinge sowie WanderarbeitnehmerInnen und ihre Familienangehörigen aus Marokko, Algerien und Tunesien. Für geduldete Staatsangehörige aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien
(also
z.B.
auch
Bosnier/innen) hat das Bundessozialgericht einen Anspruch unabhängig vom ausländerrechtlichen
Status auf Grund des dt.-jugoslawischen Sozialabkommens sogar
explizit festgestellt(s. Urteil des
Bundessozialgerichts vom 12.04.
2000 / Az. B 14 KG 3/99 R, IBIS e.V.
C1552).
In
der
amtlichen
DURCHFÜHRUNGSANWEISUNG
ZUM
KINDERGELD wird der Kindergeldanspruch unabhängig vom Besitz
einer Aufenthaltsgenehmigung
nur für Konventionsflüchtlinge sowie türkische ArbeitnehmerInnen
bestätigt (s. Kasten). Positiv: Bei
Konventionsflüchtlingen reicht für
den Anspruch auf Kindergeld die
Rechtskraft der Flüchtlingsanerkennung, auf die Ausstellung des
Konventionspasses und Erteilung
der Aufenthaltsbefugnis kommt es
nicht an.
99
Ehe und Familie
“DA 62.4.2 Flüchtlinge und Asylberechtigte
(1) Anerkannte Flüchtlinge sind aufgrund des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl. 1953 II S. 59
und des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 28. September 1954
über die Rechtsstellung der Staatenlosen, BGBl. 1976 II S. 473, Deutschen gleichgestellt, die im Inland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Dies bedeutet, dass für Flüchtlinge vom Zeitpunkt der Anerkennung durch unanfechtbaren Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder von der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen an die zusätzlichen Voraussetzungen des § 62
Abs. 2 EStG [=Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung; Anmerkung Georg Classen] nicht erfüllt sein müssen.
...
DA 62.4.3 Staatsangehörige aus einem anderen EWR-Staat, der
Schweiz und der Türkei
Das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung gilt nicht für Staatsangehörige des Europäischen
Wirtschaftsraumes (EWR) und die sie begleitenden Familienangehörigen. Nach den Rechtsvorschriften der EU i.V.m. dem EWR-Abkommen
haben diese Personen, wenn sie im Inland wohnen, unter denselben
Voraussetzungen Anspruch auf Kindergeld wie Deutsche. Dasselbe gilt
für Staatsangehörige der Schweiz aufgrund des deutsch-schweizerischen Abkommens über Soziale Sicherheit sowie für türkische Arbeitnehmer i.S. des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom
19.9.1980. Eine Person ist dann Arbeitnehmerin i.S. dieses Beschlusses,
wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder
besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
Zum Europäischen Wirtschaftsraum gehören neben der Bundesrepublik
Deutschland folgende Staaten: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Liechtenstein, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und
Spanien.”
aus: DA Einkommenssteuergesetz, Bundessteuerblatt 2000 Teil I, S. 648
f. zu §62 EStG, Kindergeld - Anspruchsberechtigte - IBIS e.V. C1556.
100
Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes: Erziehungsgeld für
ab 1.1.2001 geborene Kinder anerkannter Konventionsflüchtlinge
gesetzlich geregelt
Flüchtlingsanerkennung, auf die
Ausstellung des Konventionspasses
und Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung kommt es also nicht
mehr an.
Mit dem am 7.Juli 2000 vom Bundestag in 2. und 3. Lesung verabschiedeten, im Bundesrat nicht zustimmungspflichtigem,
am
1.1.2001 in Kraft tretenden GESETZ ZUR ÄNDERUNG DES BUNDESERZIEHUNGSGELDGESETZES
werden umfassende Änderungen
des Erziehungsgeld- und urlaubsrechtes vorgenommen. In § 1
BErzGG wird klargestellt, dass
auch Ausländer Ansprüche haben,
für die das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes unanfechtbar
festgestellt worden ist (Konventionsflüchtlinge). Weitere Verbesserung: Für Konventionsflüchtlinge
und Asylberechtigte zählt der Anspruch künftig ab Rechtskraft der
Allerdings: Für Kinder, die vor dem
1.1.2001 wurden, sind die Vorschriften des BErzGG in der bis
zum 31.12.2000 geltenden Fassung weiter anzuwenden (Übergangsvorschriften - § 24 BErzGG
neu). Ansprüche vor dem
1.1.2001 geborener Kinder von
Konventionsflüchtlingen müssen
daher wie bisher gerichtlich geltend gemacht werden, vgl. dazu
UNHCR “Bundeserziehungsgeld
für Flüchtlinge nach der GK”, IBIS
e.V.: C1409 sowie die Stellungnahme der Europäischen Kommission
“Persönlicher Anwendungsbereich
der VO 1408/71”, IBIS e.V.: C1410,
sowie die Rechtsprechungsübersicht Classen, Entscheidungen zum
Flüchtlingssozialrecht (s.u.).
Niedersächsisches Ministerium für
Frauen, Arbeit und Soziales: Anspruch auf Erziehungsgeld für ArbeitnehmerInnen aus der Türkei,
Marokko, Tunesien und Algerien
Das Niedersächsische Ministerium
für Frauen, Arbeit und Soziales
(MFAS) hat das EuGH-Urteil in einem Erlass vom 10.10.1999 umgesetzt und die zuständigen Erziehungsgeldstellen darüber informiert, dass türkische Staatsangehörige, die die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des ARB Nr.
3/80 erfüllen, Anspruch auf die
Gewährung von Erziehungsgeld
haben. In einem Erlass vom
20.3.2000 hat das MFAS zudem
noch einige Anwendungshinweise
konkretisiert. Die Arbeitnehmereigenschaft muss nachgewiesen
werden. Sie liegt vor, wenn
•eine Bescheinigung der Krankenkasse präsentiert wird, aus der zu
entnehmen ist, seit wann und bis
zu welchem Zeitpunkt ein Beschäftigungsverhältnis besteht
und ob für dieses Beschäftigungsverhältnis Sozialabgaben entrichtet wurden,
•Leistungsnachweise über den Bezug von Arbeitslosengeld oder hilfe vorliegen,
•eine Bescheinigung oder Bestätigung des Rentenversicherungsträgers über Kindererziehungszeiten
ausgestellt wird,
•Leistungen in Krankheitsfällen
für SozialhilfeempfängerInnen
nicht als „Sachleistung“ erbracht,
sondern Beitragszahlungen zur
gesetzlichen Krankenversicherung
vom Sozialamt übernommen und
an die Krankenkassen abgeführt
werden. Eine Familienversicherung
nach § 10 SGB V reicht zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft aus
Bei Trennung/Scheidung sowie
eheähnlichen
Gemeinschaften
muss die antragstellende Person
selbst die Bedingungen erfüllen.
Schließlich stellt der Erlass klar,
dass nicht nur türkische StaatsbürgerInnen sich auf die Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs berufen können, sondern auch
„Wanderarbeiter und ihre Familienangehörigen aus Marokko und
Algerien sowie ... Tunesien“
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Ehe und Familie
In einem Nachtrag vom 30. Mai
2000 stellt das MFAS jedoch einschränkend fest:
„Eine Abstimmung innerhalb der
Bundesregierung (BMA, BMI,
BMFSFJ) zu den Auswirkungen des
Urteils Sürül auf Bezug von Erziehungsgeld hat ergeben, dass weder eine Aufenthaltsgestattung
noch eine Duldung ausreichende
Aufenthaltstitel sind, die auch
nach Ergehen des vorgenannten
Urteils zur Leistung berechtigen.
Dies gilt auch für die Fälle der fiktiven Aufenthaltsgestattung nach
§69 Abs. 3 AuslG. ... Bei Türken,
Marokkanern, Algeriern und Tunesiern, die im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis sind, ist zu prüfen,
ob die Aufenthaltsbefugnis nach
den §§30 und 31 AuslG gemäß
Anordnung nach §32 AuslG erteilt
worden ist. In diesen Fällen ist das
Antragsverfahren bis zur Klärung
mit dem Einverständnis des Berechtigten auszusetzen.“
Mit anderen Worten: Flüchtlinge
sollen - entgegen den früheren Erlassen des niedersächsischen Mini-
steriums für Frauen, Arbeit und Soziales - so lange vom Erziehungsgeldanspruch ausgeschlossen bleiben, bis der Europäische Gerichtshof über den Vorlagebeschluss des
Bundessozialgerichts
vom
16.12.1999 entschieden hat. Treibende Kraft ist hier die Bundesregierung, die auf Zeit spielt und alles daran setzt, den Kreis der Anspruchsberechtigten so klein wie
möglich zu halten. Flüchtlinge ohne Anerkennung sollen auch weiterhin keine Leistungen erhalten.
Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 4.5.1999, die
ohne Ansehen der Einreisemotive
lediglich auf die Arbeitnehmereigenschaft als solche abstellt, erscheint diese Haltung mehr als
fragwürdig. Flüchtlinge, die als
„ArbeitnehmerInnen“ im Sinne der
Entscheidung des EuGH vom
4.5.1999 zählen, sollten daher unbedingt Anträge auf Kindergeld
und Erziehungsgeld stellen und bei
Ablehnung dieser Familienleistungen den Rechtsweg bestreiten.
Eine Langfassung des Aufsatzes
von Bernd Tobiassen zum Kindergeldanspruch für türkische Arbeit-
„Goldener Folterknecht“
nehmerInnen kann bei der Uni Oldenburg - Projekt Migrationssozialarbeit - (E-mail:
[email protected]) bestellt oder unter:
www.proasyl.de aus dem „Infonetz Asyl“ von PRO ASYL, Infomappe 36, abgerufen werden.
Die Texte von Georg Classen, dem
wir auch die folgenden Hinweise
verdanken, sind unter folgender
Adresse abrufbar:
http://www.proasyl.de , Verzeichnis “aktuell”
Die Neufassung des BErzGG zum
download (vom Bundesfamilienministerium) als word-datei:
http://195.227.51.240/infoc/download/gesetz_neu_internet1.doc
Die von Georg Classen verfasste
ausführliche Rechtsprechungsübersicht “Entscheidungen zum
Flüchtlingssozialrecht” ist zum download als Word-Datei erhältlich
unter:
http://www.dim-net.de/start/Urteile2.doc
Die unter einer IBIS e.V. -Nummer
erfassten Dokumente können gegen Erstattung der Kosten bestellt
werden: IBIS e.V., Donnerschwerstr. 12, 26123 Oldenburg,
FAX: 0441-9849606
E-Mail: [email protected]
Dieter Hildebrandt kommentierte die drohende Abschiebung einer kurdischen Familie in die Türkei in der Scheibenwischer-Sendung vom 12. April (ARD) mit den Worten:
„Eine kleine Zwischenfrage sei gestattet: Was für Menschen sind eigentlich in der Ausländerbehörde in Wiesbaden, die einen Kurden, der schon zweimal halbtot der Folter in der Türkei entkommen ist, Abdulcabbar Akyüz, wieder verhaftet hat und ein drittes Mal hingeschickt hat und
dann nachher noch Frau und Kinder nachgeschickt hat? Da
frage ich mich, was sind das für Menschen? Und dann
meinen sie noch, es wäre eine große Heldentat gewesen,
jedenfalls tun sie so. Wollen diese Damen und Herren vielleicht nachträglich noch in die SS eintreten, oder gehören
sie zu den Leuten, die, ohne geprügelt zu werden , immer
laut schreien, sie wären stolz darauf, Deutsche zu sein?
Oder sind es gar keine, vielleicht sind sie sogar rechtsradikale Türken und man weiß es nicht? Der Ministerpräsident
dieses Landes, Koch, jedenfalls bekommt dafür seine erste
Kochmütze und der türkische Geheimdienst wird ihm
demnächst des goldenen Folterknecht überreihen am Bande – ich gratuliere!“
Der Wiesbadener Oberbürgermeister hat ein anderes Verständnis von Satire und stellte Ende Juni Strafantrag gegen
Hildebrandt, aus „allen rechtlichen Gründen“. Besonders
schlimm fand er die „erschreckende Wirkung“, die die
bundesweite Ausstrahlung der Sendung ausgelöst habe:
es waren Briefe bei der Ausländerbehörde eingegangen,
deren Verfasser ihre Beurteilung des Handelns der Ausländerbehörde durch Hildebrands Beitrag bestätigt sahen.
Besonders schlimm finden wir dagegen die erschreckende
Wirkung, die das Handeln von Schreibtischtätern in diesem
Land auslöst. (Red.)
101
Ehe und Familie
Freie Wohnortwahl für
Konventionsflüchtlinge
Kai Weber
Bundesverwaltungsgericht: Konventionsflüchtlinge haben im
gesamten Bundesgebiet Anspruch auf ungekürzte Sozialhilfe
D
as Bundesverwaltungsgericht
hat in zwei Urteilen vom
18.5.2000 (5 C 29.98 und 5 C
2.00) entschieden, dass Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention auch dann Anspruch
auf volle Sozialhilfe haben, wenn
sie in ein anderes Bundesland gezogen sind. Das Europäische Fürsorgeabkommen, das als Spezialvorschrift dem Bundessozialhilfegesetz vorgehe, sichere auch Konventionsflüchtlingen am jeweiligen
Aufenthaltsort im Bundesgebiet
ungekürzte Sozialhilfe zu.
Das Urteil gibt nicht jedem Konventionsflüchtling das Recht auf einen Umzug unter allen Umständen: Gibt z.B. ein anerkannter
Flüchtling ohne wichtigen Grund
ein bestehendes Arbeitsverhältnis
auf und zieht in ein anderes Bundesland, verhält er sich möglicherweise „sozialwidrig“ i.S.d. §25 BSHG. Auch Umzugskosten dürften
nach allgemeinem Sozialhilferecht
nur dann zu übernehmen sein,
wenn der Umzug (z.B. zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit) erforderlich ist. Konventionsflüchtlinge, die
Sozialhilfe beziehen, dürften jedoch nach erfolgtem Umzug in jedem Fall einen Anspruch auf Hilfe
zum Lebensunterhalt am neuen
Aufenthaltsort haben. Der Erlass
des
Innenministeriums
vom
15.07.1998, der vorsieht, dass jede Aufenthaltsbefugnis bei ihrer
Erteilung oder Verlängerung mit
der Auflage zu versehen ist, den
Wohnsitz im Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde zu nehmen, ist insofern mehr als problematisch. Das niedersächsische Innenministerium hat den Erlass bislang nicht zurückgezogen, weil
das Bundesverwaltungsgericht die
Rechtmäßigkeit von räumlichen
Beschränkungen der Aufenthaltsbefugnis für Konventionsflüchtlinge offen lässt und nur die Verweigerung von Sozialhilfeleistungen
für rechtswidrig erklärt.
Ein Konventionsflüchtling, der aus
gutem Grund umziehen will, dem
aber eine wohnsitzbeschränkende
Auflage in seinem Pass eingestempelt wurde, sollte daher wie folgt
vorgehen:
Kindeswohl nach Kurdistan?
Generalstaatsanwaltschaft stellt Verfahren gegen
Ausländeramts-LLeiter ein
M
itte 1998 hatte sich die
15jährige Sevim Demir bei
den Behörden beklagt, sie werde
von ihrem Bruder Lokman Demir
"schlecht behandelt" und wolle "zu
ihren Eltern in die Türkei" zurückkehren. Der Leiter der Ausländerbehörde ließ Sevim Demir daraufhin eine (rechtsungültige) Rücknahme des Asylantrags unterschreiben und organisierte hinter
dem Rücken des Rechtsanwaltes
die "freiwillige Ausreise". Das Jugendamt wurde gar nicht erst eingeschaltet, und der Vormund des
Mädchens wurde absichtlich nicht
informiert. Die Ausländerbehörde
wäre laut Anweisung aus dem niedersächsischen Innenministerium
102
überdies gehalten gewesen, sich
zu vergewissern, dass eine Auffangstruktur für das Mädchen vorhanden ist. Ihr war aus der Ausländerakte bekannt, dass der Vater
von Sevim als politischer Häftling
seit 1994 im Gefängnis sitzt und
der Aufenthaltsort der Mutter ungewiss war. Dennoch informierte
sich die Ausländerbehörde in keinster Weise über die Verhältnisse
vor Ort und schickte Sevim unbegleitet auf die Reise: Sevim musste
sich über Hunderte von Kilometern
alleine nach Nusaybin durchschlagen. Dort stellte sie fest, dass ihre
Mutter ebenfalls verfolgt und festgenommen wurde. In einem Brief
an ihren Bruder Lokman aus No-
1. Widerspruch einlegen gegen die
wohnsitzbeschränkende Auflage
2. Durchführung des Umzugs an
den neuen Wohnort
3. Antrag auf Sozialhilfe am neuen
Wohnort unter Bezugnahme auf
die o.g. Entscheidung des BVerwG
4. Bei Ablehnung des Sozialhilfeantrags: Widerspruch und Eilantrag an das Verwaltungsgericht
Sofern die Umzugskosten nicht
selbst getragen werden können,
wäre ggfs. vor der Durchführung
des Umzugs ein Antrag an das Sozialamt am alten Wohnort zu stellen und bei Ablehnung ein Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht anzustrengen. Die Durchsetzung der Übernahme von Umzugskosten dürfte jedoch ungleich
schwieriger sein als die Durchsetzung eines Sozialhilfeanspruchs
am neuen Wohnort, da die mit
dem Umzug verbundenen zusätzlichen Kosten sozialhilferechtlich
begründet werden müssen.
vember 1999 heißt es: "Ich habe
keine Verwandten, aber ich habe
nur eine alte Oma, die ist sehr
krank und ich arbeite alleine hier.
Wir haben kein Haus, kein Essen,
keine Sachen und wir sind sehr unglücklich..."
Auf Antrag des Flüchtlingsrates
wurde deshalb ein Ermittlungsverfahren wegen Kindesentziehung
gegen den Leiter der Ausländerbehörde des Landkreises Verden,
Herrn Gerd Depke, eingeleitet. Der
Flüchtlingsrat warf dem Ausländerbehördenleiter vor, das Kindeswohl missachtet zu haben und
hinter dem Rücken von Jugendamt
und Vormund mit List die Rückführung organisiert zu haben.
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle entschied jetzt mit Beschluss
vom 13.06.2000, das Ermittlungsverfahren einzustellen.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kirchenasyl
Kirchenasyl
Kirchenasyl
ist ein
Dazwischentreten
Hans-Peter Daub
Am Morgen des 25. Februar wurde der 17-jährige Kurde Hakki Yildirim von der Polizei gewaltsam
aus dem Kirchenasyl in Lilienthal
herausgeholt und nur wenige Tage
später in die Türkei abgeschoben.
Hiergegen richtete sich eine Protestdemonstration am 18.03.2000
in
Lilienthal.
Stellvertretend
drucken wir den Redebeitrag von
Pastor Hans-Peter Daub ab. HansPeter Daub ist Mitarbeiter im Ökumenischen Netzwerk Asyl in der
Kirche in Niedersachsen.
D
iese Demonstration drückt
einen dreifachen Protest aus:
1.
gegen die Abschiebung eines
Menschen in die Türkei und
damit die Leugnung der Menschenrechtssituation und der
Lebensbedingungen in der
Türkei
2.
gegen die Abschiebung eines
Jugendlichen von 17 Jahren
und damit einen klaren Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
3.
gegen den wiederholten
Bruch eines Kirchenasyls in
Niedersachsen
1. Zum ersten Punkt haben vor mir
verschiedene Redner gesprochen.
Mir ist in der Ergänzung dazu vor
allem wichtig: Ein humanes Asylrecht fragt nach den konkreten Lebensbedingungen, denen Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland ausgesetzt sind. Welche das für Hakki
Yildirim sind, hat der Bericht von
Stefan Schmidt deutlich gemacht:
Leben in einem Bürgerkriegsgebiet, permanente Bedrohung
durch „Sicherheits“-Kräfte, die
drohende Einberufung in die türkische Armee, die „Option“ als Dorfschützer im Auftrag des türkischen
Regimes gegen die eigenen kurdischen Landsleute ein bescheidenes
Auskommen zu fristen, jetzt aber
zunächst vor allem Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, Depression. Wir
protestieren gegen ein staatliches
Handeln, das nach Anlässen und
Rechtfertigungen sucht, Flüchtlinge außer Landes zu schaffen, und
dabei die konkreten Bedingungen
ignoriert und die Verhältnisse in
den Ländern, in die abgeschoben
wird, schönredet.
2. In der Konvention über die
Rechte des Kindes, die seit 1989
143 Staaten der Erde ratifiziert haben – nach langem Hin und Her
1992 auch die Bundesrepublik
Deutschland - lautet Artikel 1: „Im
Sinne dieses Übereinkommens ist
ein Kind jeder Mensch, der das
achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat.“ Der inhaltlich für die
ganze Konvention maßgebliche
Artikel 3 beginnt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen,
gleichviel ob sie von öffentlichen
oder privaten Einrichtungen der
sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden,
ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu
berücksichtigen ist.“ Artikel 22 redet explizit von der Situation geflüchteter Kinder und Jugendlicher: „Die Vertragsstaaten treffen
geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das
die Rechtsstellung eines Flüchtlings
begehrt oder nach Maßgabe der
anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des
innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe
bei der Wahrnehmung der Rechte
erhält, die in diesem Übereinkommen... festgelegt sind, und zwar
unabhängig davon, ob es sich in
der Begleitung seiner Eltern oder
einer anderen Person befindet
oder nicht.“
103
Kirchenasyl
Im Fall von Hakki Yildirim beharren
die Behörden auf der Behauptung,
dass alles nach Recht und Ordnung vorgegangen sei. Wer sich
mit Asylverfahren auskennt weiß,
dass das nicht mehr heißt, als dass
das Handeln sich mit juristischen
Kunstgriffen gegenüber dem Text
des geschriebenen Rechts rechtfertigen kann. Es ist aber völlig offensichtlich, dass ein solches Handeln
nichts, aber auch gar nichts mit
dem Geist und dem Sinn eines humanen Rechts zu tun hat, wie es
beispielhaft in den zitierten Artikeln der Kinderrechtskonvention
zum Ausdruck kommt. „Das Wohl
des Kindes/des Jugendlichen vorrangig zu berücksichtigen“ – an
welcher Stelle, in welchem Augenblick behördlichen und staatlichen
Handelns gegenüber Hakki Yildirim
hat dieser Rechtsanspruch auch
nur den Hauch von Bedeutung gehabt?
Ich weiß, dass es in Lilienthal und
anderswo Mensche gibt, die sagen
wegen des Wohles ihrer Kinder
hätte so mit Hakki Yildirim verfahren werden müssen. Ich kenne die
Vorwürfe nur vom Hörensagen,
kann darum nichts bestätigen oder
zu Recht rücken. Wenn andere
Kinder Angst gehabt haben oder
geschädigt wurden, ist das
schlimm und muss geklärt werden.
Aber unsere Gesellschaft ist ihrem
Anspruch nach keine Rachegesellschaft und lehnt Strafe anders als
zu Zwecken der Reintegration und
Resozialisierung mit guten Gründen ab. Es spricht manches dafür,
dass Hakki Yildirim überhaupt im
Kirchenasyl zum ersten Mal die Erfahrung gemacht hat, dass sich Erwachsene intensiv mit seinem
Schicksal auseinandersetzen und
sich vorbehaltlos für ihn einsetzen.
Wir sind hier, um gegen eine Mentalität des Abschiebens zu protestieren, die längst nicht mehr allein
Flüchtlinge trifft, sondern auch sogenannte schwierige Jugendliche
aus der Mitte unserer Gesellschaft.
Wie so oft ist auch in dieser Frage
Asyl ein Kristallisationspunkt für
Probleme, die unsere Gesellschaft
hat auch ganz ohne Flüchtlinge.
Integration heißt nicht Gleichheit
und nicht Anpassung, sondern
dass sich eine Gesellschaft auf den
mühevollen Versuch einlässt, miteinander ein Auskommen zu finden. In den 20er Jahren plädierten
Alt-Nazis dafür, Juden und Jüdin104
nen nach Madagaskar zu verfrachten. Apartheidsideolgen entwarfen
Homelands für Menschen, deren
gesellschaftliche Integration sie
verweigerten. Wer schwierige Jugendliche ins Ausland verfrachtet,
folgt denselben verführerischen
Ideen der Trennung und Apartheid. Wir werden uns dieser Mentalität entschieden entgegenstellen
und auch gegen den kalten Zeitgeist in diesem Land für eine Kultur
der Integration eintreten.
3. Wir sind hier, um gegen den
Bruch eines Kirchenasyls zu protestieren. Das ist deutlich nachgeordnet, weil Kirchenasyl kein
Selbstzweck ist, sondern Einsatz
für jeweils konkrete Menschen. Allerdings ist die Abschiebung von
Hakki Yildirim auch in dieser Hinsicht ein ungeheuerlicher Vorgang.
Das Innenministerium behauptet,
es hätte sich nicht um einen sakralen Raum gehandelt bzw. Vertreter
der Kirchengemeinde hätten Hakki
erst angesichts des Polizeieinsatzes
in den Gottesdienstraum entkommen lassen. Diese Diskussion und
Argumentation ist absurd und zynisch. Niemals behaupten Kirchengemeinden unantastbare, sakrale
Räume. Wir in den Kirchenasylinitiativen bestreiten auch zu keiner
Zeit, dass das Recht dieses Landes
an allen Orten angewendet werden soll. Es geht nicht um rechtsfreie Räume, sondern um das Engagement eben für den Erhalt einer an der Menschenwürde orientierten Rechtsordnung. Ein aufgeklärtes, humanes Gemeinwesen
wird nicht leichtfertig über den
Einspruch des Gewissens einer
großen Zahl seiner MitbürgerInnen
hinweggehen. Und das sind ja keine Leute, die willkürlich ein Ehrenwort oder ihre eigene politische
Überzeugung über geltendes
Recht stellen, sondern das sind
Menschen, die danach fragen, was
der Artikel 1 des Grundgesetzes in
diesem Land heute konkret heißt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie klingt dieser Grundsatz unserer Rechtsordnung angesichts der Bilder von einem mit
Fuß- und Handfesseln gebundenen 17-jährigen Jugendlichen,
dem nichts anderes vorgehalten
wird als seine Herkunft aus einem
fremden Land. Kirchenasyl ist kein
Raum, sondern das sind Christinnen und Christen, die etwas davon
wissen, dass sich Humanität immer
zu allererst an der Haltung gegenüber Fremden erweist. Wenn
es im Evangelium von Jesus selbst
heißt: Ich bin fremd gewesen, und
ihr habt mich aufgenommen bzw.
eben nicht aufgenommen, - dann
verweist das auf diesen ganz
grundsätzlichen und unverbrüchlichen Zusammenhang. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich
regelmäßig am deutlichsten an
ihrem Verhältnis zu den Fremden.
Mit dieser Demonstration weisen
wir den Zynismus zurück, der den
Buchstaben zweit- und drittrangiger Gesetze gegen den Sinn und
die Grundlagen unserer demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsordnung auszuspielen versucht. Wir appellieren
an alle Verantwortlichen in den
Gerichten, Verwaltungen und Parlamenten, sich auf diese Grundlagen zurückzubesinnen. Kirchenasyl
ist ein Dazwischentreten, um Zeit
zur Orientierung zu gewinnen,
Orientierung an dem, was für unser Zusammenleben wirklich wichtig ist: das Recht und die Lebenschancen der Menschen.
Foto: Lars Klingbeil
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kirchenasyl
Braunschweig:
Pastoren auf der Anklagebank
Präzedenzfall: Wegen Kirchenasyl als Schlepper angeklagt
Presseerklärung Nds. Flüchtlingsrat; PRO ASYL; BAG Asyl in der Kirche vom 28.4.2000
„N
icht die Unterstützer des
Kirchenasyls gehören auf
die Anklagebank, sondern die
deutsche Asylpraxis!“ Mit diesen
Worten kommentierte PRO ASYLSprecher Heiko Kauffmann die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte der BRD aufgrund eines
Kirchenasyls ein Verfahren gegen
zwei Pastoren nach dem sogenannten „Schlepper-Paragraphen“
eröffnet wurde. Wegen „täterschaftlichen Einschleusens von
Ausländern“ müssen sich vor dem
Amtsgericht Braunschweig ein Pastor und eine Pastorin der evangelisch-reformierten
Gemeinde
Braunschweig verantworten, die
einer pakistanischen Flüchtlingsfamilie seit über 3 Jahren Kirchenasyl
gewähren. PRO ASYL unterstützt
die Pastoren auch finanziell über
seinen Rechtshilfefonds. Das im Januar 2000 beim Amtsgericht
Braunschweig eröffnete Verfahren
wurde zunächst unterbrochen, um
die Position des nds. Innenministeriums zum Braunschweiger Kirchenasyl einzuholen, und soll
demnächst fortgesetzt werden.
Parallel bat der niedersächsische
Flüchtlingsrat das nds. Justizministerium um eine Stellungnahme zu
diesem Präzedenzfall.
Das Niedersächsische Justizministerium, vertreten durch Oberstaatsanwalt Dr. Hackner, hat sich
in einer Einlassung gegenüber der
niedersächsischen Ausländerkommission mit Schreiben vom
24.3.2000 ausdrücklich hinter die
Ermittlungen gestellt und dies mit
einer
angeblich
geänderten
Rechtslage begründet: Nach einer
Änderung des § 92a AuslG, die am
30.10.1997 in Kraft getreten ist,
mache sich, so Staatsanwalt Hackner, nunmehr auch derjenige strafbar, der weniger als fünf Ausländer
dabei unterstütze, ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bleiben. Eine Verurteilung nach § 92a
Abs. 1 AuslG kann eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine
Geldstrafe nach sich ziehen.
Fakt ist jedoch, dass die pakistanische Familie, der die evangelischreformierte Kirche in Braunschweig
Kirchenasyl gewährt, aus 8 Personen besteht. Eine Änderung der
Rechtslage ist insofern für die hier
vorliegende Konstellation gar nicht
eingetreten. „Offenkundig sind die
von Oberstaatsanwalt Hackner angeführten rechtliche Aspekte also
nur vorgeschoben: Tatsächlich
handelt es sich um einen kaum ka-
Bischöfin: Kirchenasyl nicht illegal
Die Hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann forderte vor der
Synode der evangelischen Landeskirche in Hannover ein flexibles Einwanderungsgesetz und ein Asylgesetz, das den Notfällen gerecht werde. Das jetzige Asylrecht erfülle nicht den Verfassungsgrundsatz von der
Unantastbarkeit der Menschenwürde, kritisierte die Bischöfin:
„Grundsätzlich halte ich das Kirchenasyl nicht für ein illegales Mittel.“
Wenn die Gemeinde die Kirchenasylfälle transparent gestalten, sei der
Aufenthaltsort den Behörden bekannt und damit kein Abtauchen in die
Illegalität gegeben.
Auch andere Kirchenvertreter kritisierten die jetzige Fassung des Asylrechts. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte sei in der Bundesrepublik 1993 „ massiv eingeschränkt“ worden,
erklärte der Leiter des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses zur
„Woche der ausländischen Mitbürger“ in Frankfurt. Gefordert sei die
uneingeschränkte Umsetzung des internationalen Flüchtlingsrechts in
Deutschland. (nach epd-Wochenspiegel 21/2000)
schierten Versuch, die KirchenasylBewegung durch juristische Verfolgung
und
Kriminalisierung
einzuschüchtern“, so Norbert
Grehl-Schmitt vom Vorstand des
nds. Flüchtlingsrat. Aus „Respekt
und Rücksichtnahme“ gegenüber
den Kirchenasyl gewährenden Gemeinden wolle das Land nicht in
sakrale Räume gewaltsam eindringen, erklärte das nds. Innenministerium noch 1999. Von Respekt
und Rücksichtnahme ist jedoch in
der Stellungnahme des Justizministeriums nichts zu spüren: Für
denkbar hält Oberstaatsanwalt Dr.
Hackner auch die Anwendung der
weiteren Absätze der §§ 92a, 92b
AuslG gegen Kirchenasylgemeinden, z.B. wegen „bandenmäßig
begangener Verstöße“. Eine Verurteilung kann eine Freiheitsstrafe bis
zu 10 Jahren nach sich ziehen.
Wird Kirchenasyl demnächst als organisierte Kriminalität gewertet?
Dass in Niedersachsen offenbar
mit besonderer Härte gegen
Kirchenasylgemeinden vorgegangen wird, legt die Statistik über
den bisherigen Umgang der deutschen Verfolgungsbehörden mit
Kirchenasyl zumindest nahe: „Uns
ist bislang kein einziger Fall einer
Verurteilung von Pastoren/-innen
oder sonstigen Unterstützern/innen von Kirchenasyl bekannt. Den
Erkenntnissen der Bundesarbeitsgescheinschaft Asyl in der Kirche
zufolge hat es bundesweit rund 35
Ermittlungsverfahren nach § 27
StGB wegen „Beihilfe“ zum illegalen Aufenthalt von Flüchtlingen
gegeben, die sämtlichst eingestellt
wurden“, erklärte Hildegard Grosse von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“. In zwei
Fällen erfolgte die Einstellung mit
der Auflage von Bußgeldern. Gegen die jetzt angeklagten Braunschweiger Pastoren war ein Ermittlungsverfahren im Dezember 1997
zunächst sanktionslos eingestellt,
dann aber 1999 neu eingeleitet
worden. In Ausübung ihrer Glau-
Asyl
ist keine
Handelsware
105
Kirchenasyl
Foto: Göttingen 29.1.2000, Lars Klingbeil
bensverantwortung und im Rückgriff auf christliche Tradition und
Lehre gewähren Kirchengemeinden Flüchtlingen seit Jahren Unterkunft, Verpflegung und Betreuung
in ihren Räumen. In vielen Fällen
konnte so die drohende Abschiebung verhindert, ein humanitäres
Bleiberecht oder sogar eine Asylanerkennung erreicht werden.
Auch gegenüber anderen Kirchenasyl gewährenden Gemeinden hat
sich die Gangart der Justizbehörden deutlich verschärft: Mehrere
Kirchengemeinden erhielten unmissverständliche
Drohungen,
man werde bei Fortsetzung des
Kirchenasyls über einen von den
Behörden gesetzten Zeitpunkt hinaus mit strafrechtlichen Mitteln gegen die Kirchengemeinden vorgehen. Mit der Gewährung einer
sanktionsfreien „Schonfrist“ trägt
die Staatsanwaltschaft allerdings
der Tatsache Rechnung, dass die
weitaus meisten Kirchenasyle zu
einem Aufenthaltsrecht für die
aufgenommenen Flüchtlinge führten. „Die Defizite der deutschen
Asylpraxis werden gerade auch
durch den erfolgreichen Ausgang
der überwiegenden Mehrheit der
Kirchenasyle nachdrücklich belegt“, so PRO ASYL - Sprecher Heiko Kauffmann. Der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“
zufolge waren 1999 26 der 39 Kirchenasyle erfolgreich. Eines davon
im niedersächsischen Sandhorst
bei Aurich. Dort erhielt eine kurdische Familie nach 941 Tagen im
Kirchenasyl endlich den zunächst
verweigerten Flüchtlingsstatus zugesprochen.
Hintergrund:
Die bereits 1989 eingereiste pakistanische Familie, die sich seit Dezember 1996 im Braunschweiger
Kirchenasyl befindet, gehört der
Glaubensgemeinschaft
der
„Ahmadiyya“ an, welche in Pakistan verfolgt und unterdrückt
wird. Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde der Asylantrag 1996
rechtskräftig abgelehnt. Ende
1996 beantragte die Familie daraufhin die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach der damaligen
Bleiberechtsregelung für Personen
mit langjährigem Aufenthalt.
Trotz prominenter Unterstützung
durch den damaligen Landtagsabgeordneten und heutigen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel
und entgegen eindeutiger Zusagen aus dem Innenministerium
wurde die gestellte Petition für ein
Bleiberecht der Familie in Deutschland im Mai 1997 schließlich mit
der Begründung abgelehnt, die Familie habe zu wenig Arbeitstätigkeiten nachgewiesen und sei
nicht hinreichend wirtschaftlich integriert. Seither bemüht sich die
Familie mit guten Chancen um eine Weiterwanderung nach Kanada. Eine Entscheidung über die Erlaubnis zur Einreise nach Kanada
steht unmittelbar bevor.
Nachtrag
Mittlerweile hat die Familie, die in
Braunschweig im Kirchenasyl ist,
eine Vorab-Zusage aus Kanada erhalten. Bis die Weiterwanderung
jedoch endgültig geklärt ist, wird
es noch dauern. Das Niedersächsische Justizministerium zeigt sich
von dieser Perspektive unbeeindruckt. Das Verfahren gegen die
Pastoren wird fortgesetzt.
Spenden zur Unterstützung der
Kirchengemeinde wegen der „Sonderausgaben“ durch den Prozess
und die Kosten für das lange Kirchenasyl:
Konto-Nr. 21 373-306, BLZ 250
100 30, Postbank Hannover, Ev.ref. Gemeinde Braunschweig,
Stichwort „Kirchenasyl“
Foto: Lars Klingbeil
106
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Kirchenasyl
Wanderkirchenasyl:
Gefangen in der Unmenschlichkeit
aus der mailinglist von kein mensch ist illegal
V
or einem Jahr erhielt das Wanderkirchenasyl den Aachener
Friedenspreis. Die Auszeichnung
galt dem Mut, mit dem 450
Flüchtlinge aus der Türkei, unterstützende katholische und evangelische Kirchengemeinden und die
Kampagne kein mensch ist illegal
für elementare Menschenrechte
eintreten. Seit Amtsantritt von
Schily und Fischer hat sich die dt.
Innen- und Außenpolitik kaum verbessert. Im Gegenteil. Im Frühjahr
2000 wurden die ersten Friedenspreisträger in die Türkei abgeschoben: Yusuf Demir wurde direkt bei
Ankunft in Istanbul verhaftet, zum
Wanderkirchenasyl verhört und
misshandelt. Er muss sich derzeit
vor Polizei und Militär verstecken.
2 Kinder wurden Fatma Bag per
Abschiebung
entrissen.
Ihre
Schicksale sind typisch für ca.
30.000 jährliche Abschiebungen.
Illegale Menschen im Kirchenasyl
leben in einer Art offenem Gefängnis: Bei Aufgreifen durch die Polizei
sind sie jederzeit von Abschiebung
in die Türkei bedroht. In Duisburg
wurde z.B. Anfang Juli das Kirchenasyl der Roma-Familie Zumberov aus Makedonien polizeilich
abgeräumt. Im Wanderkirchenasyl
leben noch fast 300 Menschen seit
2 ½ Jahren in ungewisser Situation. Perspektivlosigkeit und fehlender Schutz machen psychisch
krank. Schlaflosigkeit, schwere Depressionen,
Traumatisierungen
und gravierende psychosomatische Störungen bis hin zur Suizidgefährdung sind einige Folgen.
kirchenasyl reicht jedoch bei weitem nicht! Wir brauchen Unterstützung!
Wir brechen auf zum politischen
Protest gegen die repressiv fortgesetzte Flüchtlingspolitik rotgrüner
Regierungsmehrheiten. Unter dem
Motto „Gefangen in der Unmenschlichkeit - wir brechen auf!“
organisierte die Aachener Gruppe
des Wanderkirchenasyls am 26.
August mit Unterstützung aus anderen NRW- Städten zu einem
„Protestmarsch mit demonstrativen Inszenierungen zum Wanderkirchenasyl“ in NRW
(aus dem Aufruf zum Protestmarsch).
Erneut Flüchtling aus dem Wanderkirchenasyl in Abschiebehaft
Nach Asylfolgeanträgen und anderen
Individualmaßnahmen
während des Kirchenasyls im Rahmen des bestehenden Ausländerrechts verhält sich die individuelle
Situation der WanderkirchenasylTeilnehmerInnen wie folgt:
Von den 477 haben mittlerweile
47 ein dauerhaftes/langfristiges
Bleiberecht, 4 Menschen wurden
abgeschoben, 145 sind weiter “illegal” geblieben, die restlichen
Flüchtlinge verfügen lediglich über
kurzfristige Duldungen.
Und die sind kein dauerhafter
Schutz, wie das jüngste Beispiel
zeigt:
Am 16. August 2000 wurde Mehmet Sagir von der Kölner Polizei
verhaftet. Obwohl er eine Bescheinigung über seine Teilnahme am
Wanderkirchenasyl vorwies, und
obwohl noch eine Klage im Asylverfahren vor dem Verw.Gericht
Köln läuft, wurde er am nächsten
Tag in das Abschiebegefängnis
nach Büren transportiert.
Sollte Mehmet Sagir abgeschoben
werden, befürchten wir das
Schlimmste: Laut aktuellem Lagebericht des Auswärtigen Amtes
über die Türkei sind Flüchtlinge aus
dem Wanderkirchenasyl in der Türkei gefährdet. Dort wird ausführlich über die Misshandlungen von
Yusuf Demir, der aus dem Wanderkirchenasyl Anfang diesen Jahres
abgeschoben wurde, berichtet: In
Bezug auf den Bericht der Betreuerin von Yusuf Demir stellt der Lagebericht fest:
Wir brechen auf !
Das Wanderkirchenasyl und andere Initiativen zeigen: Sowohl die
politische Isolation, als auch die
wirtschaftliche und soziale Gefangenschaft illegalisierter Menschen
kann aufgebrochen werden. Das
erfolgreich errungene Bleiberecht
für einige Flüchtlinge im Wander-
Foto: Grenzcamp 2000
107
Kirchenasyl
“... dass sich das Interesse der türkischen Polizei an Yusuf Demir in
den Verhören auf Informationen
über exilpolitische Strukturen kurdischer Aktivisten und deutscher
Unterstützer sowie weiterer Teilnehmer des Wanderkirchenasyls
gerichtet habe...“
Trotz dieses neuen Lageberichtes
und zahlreicher Dokumentationen
von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Flüchtlingsräten über schwerste Menschenrechtsverletzungen an abgeschobenen Flüchtlingen setzen gewissenlose deutsche Beamte das Leben von Flüchtlingen weiter aufs
Spiel. Wie glaubwürdig sind PolitikerInnen, die öffentliche Kampagnen zum Schutz von Flüchtlingen
starten aber die menschenrechtsverletzende Abschiebemaschinerie
Foto: Lars Klingbeil
nicht anhalten?!
Seit dem 21.Januar 1998, dem Beginn der „Protestaktion gegen Abschiebung in die Türkei“ in der Antoniterkirche in Köln, beteiligt sich
Mehmet Sagir aktiv am Wanderkirchenasyl. Er nahm teil an Demonstrationen, Hungerstreiks und gab
Interviews, in denen er auch den
türkischen Staat wegen der Kurdenverfolgung anklagt. “Ich verstehe die Logik des deutschen
Staats und der europäischen Länder nicht. Auf der einen Seite wird
die Türkei aufgrund der genannten
Gründe(Folter und Menschenrechtsverletzungen) nicht in die EU
aufgenommen und auf der anderen Seite werden Waffen an die
Türkei verkauft, weshalb Menschen flüchten müssen oder getötet werden.“ (Mehmet Sagir in
„Rückmeldung“, Zeitung des ASTA
der Uni Köln , Februar 98)
Zeigen Sie Zivilcourage, setzen Sie
sich für das Leben von Mehmet Sagir ein!
Faxen Sie an:
Innenminster O. Schily:
0188 86812926
Innenminister Behrens::
0211 8713355
Ausländerbehörde Bergisch-Gladbach: 02202 142810
Geschändet: Menschenkette am Jüd. Friedhof Göttingen
Kirchenasyl in Tübingen
Seit dem 1.8.2000 gibt es nun auch
in Tübingen ein Kirchenasyl für eine kurdische Familie. Sieben katholische und evangelische Gemeinden
Tübingens haben beschlossen, Familie Güler abwechselnd Schutz vor
ihrer drohenden Abschiebung zu geben und sich hinter ihre Forderung
nach einem Bleiberecht zu stellen.
Wir begrüßen den couragierten
Schritt des Arbeitskreises “Kurdenasyl” (Ev. Eberhardsgemeinde/Kath.
St. Michael-Gemeinde, Ev. Bonhoefergemeinde, Ev. Martinsgemeinde,
Ev. Stephanusgemeinde, ESG,
KHG), der Familie Schutz und Solidarität in seinen Kirchenräumen anzubieten.
108
Seit Sommer letzten Jahres versucht
ein Zusammenschluss aus mehreren
Gemeinden Württembergs zusammen mit kein mensch ist illegal
Gruppen aus Tübingen und Stuttgart, kurdische Flüchtlinge in ihrem
Kampf gegen drohende Abschiebungen zu unterstützen. Während
letztes Jahr noch die Androhung eines politischen Kirchenasyls für eine Gruppe von 15 Flüchtlingen ausreichte, die Kirchenhierarchie zum
Handeln und das Innenministerium
zum Einlenken zu bewegen, waren
alle bisherigen juristischen, politischen und kirchendiplomatischen
Versuche für Familie Güler erfolglos. (siehe Frankfurter Rundschau
vom Freitag 4.1. 2000 zum Kirchenasyl: “Ein Gnadenakt ohne Gnade”)
Auch wenn das Tübinger Kirchenasyl nun auf die kleine einjährige
Kampagne von einigen Kirchengemeinden und kein mensch ist illegal
gegen die rigorose Abschiebepolitik
Baden-Württembergs und für einen
Abschiebestopp in die Türkei aufbauen kann, ist verstärkter politischer Druck auf die Landesregierung notwendig.
Tübinger Initiative kein mensch ist
illegal
c/o Frauen International Tübingen
Ammergasse 14—72070 Tübingen
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Länderberichte
Länderberichte
Ausführliche Hinweise und Berichte
zur Situation in Herkunftsländern unter:
http://www.asyl.net
Photo: 3.Welt Saar
Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen veranstaltete an
mehreren Nationentagen auf der EXPO in Hannover Protestaktionen, mit denen
sie auf die reale politische Situation in den jeweiligen Herkunftsländern von Flüchtlingen hinwiesen. Informationen: www.humanrights.de
Hoffnung für Flüchtlinge aus Afghanistan und
anderen Bürgerkriegsländern
Bundesverfassungsgericht kippt die Asylrechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zur Verfolgung durch Bürgerkriegsparteien
F
lüchtlinge aus Afghanistan und
anderen Bürgerkriegsländern,
die in ihren Asylverfahren in
Deutschland gescheitert sind, dürfen jetzt Hoffnung auf Asylschutz
hegen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zu Afghanistan gekippt hat.
In der am 10. August 2000 ergangenen Entscheidung heißt es: “Das
Bundesverwaltungsgericht hat den
Beschwerdeführern Asylrecht auf
Grund einer zu eng gefassten Begrifflichkeit für die Erscheinungsform der quasi-staatlichen Verfol-
gung versagt, die zudem letztlich
politische mit staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung vollkommen gleichsetzt; es hat damit die
Anforderungen an das Vorliegen
politischer Verfolgung im Sinne
von Artikel 16a, Abs. 1 überspannt.”
Das Bundesverfassungsgericht rügt
das Bundesverwaltungsgericht mit
der Bemerkung, die Frage der
Staatlichkeit der Verfolgung dürfe
nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal
des “politisch” Verfolgten betrachtet und nach “abstrakten staats-
theoretischen Begriffsmerkmalen” Presseerklärung Pro Asyl
geprüft werden. PRO ASYL be- 18.8. 2000
grüßt diese deutliche Orientierung
des Bundesverfassungsgerichts an
der konkreten Schutzbedürftigkeit
von Flüchtlingen.
Das Bundesverwaltungsgericht
hatte bislang die Auffassung vertreten, dass eine Herrschaftsorganisation nur dann zu politischer
Verfolgung fähig sei, wenn sie auf
einer nach innen und außen völlig
stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruhe. In einem andauernden Bürgerkrieg, der die
Herrschaftsmacht immer wieder in
109
Länderberichte
Frage stelle, gebe es eine solche
nicht. In der Praxis bedeutete diese
Rechtsprechung: Obwohl die Taliban den weitaus größten Teil des
Territoriums Afghanistans seit
sechs Jahren beherrschen und
staatliche Strukturen weithin existieren, gibt es dort nach den
Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts keine politische Verfolgung.
PRO ASYL zeigt sich erfreut darüber, dass die schlichte Formel: “Im
Bürgerkrieg keine politische Verfolgung” in dieser Form keinen Bestand mehr haben kann.
!
Neue Chance
für abglehnte
afghanische
Flüchtlinge
Immerhin stellt das Bundesverfassungsgericht in der aktuellen Entscheidung fest: “Die Frage, ob in
einer Bürgerkriegssituation dem
Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei
politische Verfolgung ausgehen
kann, beurteilt sich folglich maßgeblich danach, ob diese zumindest in einem “Kernterritorium” ein
solches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität (...) tatsächlich errichtet hat.” Eine anhaltende militärische Bedrohung schließe dies
nicht zwingend aus.
Die Verfassungsbeschwerden der
betroffenen Afghaninnen und Afghanen, die von dem Frankfurter
Asylrechtsexperten Dr. Reinhard
Marx vertreten und unter anderem
aus dem Rechtshilfefonds von PRO
ASYL unterstützt wurden, haben
vermutlich weitreichende Konsequenzen für vergleichbare Fallkonstellationen. Die Sachen sind
zunächst an das Bundesverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Dessen Aufgabe ist es, nach den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts den Begriff der “quasistaatlichen Verfolgung” zu präzisieren.(Aktenzeichen: - 2 BvR
260/98 – 2 BvR 1353/98)
Nachtrag:
Bundesverfassungsgericht
fordert Bundesamt zur
Durchführung von Asylfolgeverfahren für afghanische Flüchtlinge auf
Mit Schreiben vom 18.08.2000
hat Bundesverfassungsrichter Dr.
Broß vom 2. Senat das Bundesamt
zur Durchführung von Asyl-Folge-
Demokratische Republik Kongo:
„Afrikanischer Weltkrieg“
Abschiebestopp gefordert
S
eit fast zwei Jahren tobt in Zentralafrika ein Krieg, dessen humanitäre und wirtschaftliche Folgen schwer zu beziffern sind: es
wird geschätzt, dass dieser Krieg
seit August 1998 bereits 1,7 Millionen Menschen das Leben gekostet hat (laut ICR = International
Rescue Committee), dass täglich
um die 2.600 Menschen infolge
des Krieges sterben, dass die Zahl
der „displaced persons“ 1,1, Millionen Personen beträgt, dass ca.
280 000 Personen ins Exil mussten,
hauptsächlich in die Nachbarländer. Da die Wirtschaft des Landes
gänzlich zusammengebrochen ist,
lebt ein Großteil der Bevölkerung
unter katastrophalen Lebensbedingungen. Die Zeitung Le Monde
sprach in der Ausgabe vom
6.4.2000 von einem „Afrikanischen Weltkrieg“. Dass unter diesen Umständen die Menschen110
rechte keine Rolle mehr spielen, ist
nicht verwunderlich. Mehrere kongolesische Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten im März
2000 einen Bericht für die von verschiedenen kirchlichen Organisationen geplante „Nationale Anhörung (Consultation nationale).
Die Liste der dort aufgeführten
Verletzungen der Menschenrechte
ist lang.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein hat eine Dokumentation zur
Menschenrechtssituation in der
D.R. Kongo zusammengestellt (Bezug: Geschäftstelle). Am 15.8. 00
hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen – ebenso wie die Flüchtlingsräte anderer Bundesländer – angesichts der Lage in der D.R. Kongo
einen Abschiebestopp beim niedersächsischen Innenminister eingefordert.
anträgen aufgefordert. Wörtlich
bittet Dr. Broß das Bundesamt um
Prüfung, ob es "dem Anliegen der
Beschwerdeführer dadurch Rechnung zu tragen vermag, dass es
Asylfolgeverfahren anhand des im
Kammerbeschluss
dargelegten
Maßstabs unter Berücksichtigung
der gegenwärtigen Lage in Afghanistan durchführt; auf den Kammerbeschluss vom 8. Oktober
1990 - 2 BvR 643/90 - (InfAuslR
1991, 20 = NVwZ 1991, 258) sei
hingewiesen." In einem ergänzenden Schreiben an RA Freckmann
(Hannover) teilt Dr. Broß unter Bezugnahme auf eine weitere anhängige Verfassungsbeschwerde wörtlich mit: "Es wird - auch mit Blick
auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) - angeregt, beim Bundesamt unter
Hinweis auf den Kammerbeschluss
vom 10. August 2000 einen Asylfolgeantrag zu stellen." Alle afghanischen Flüchtlinge, deren Asylanträge wegen des angeblichen Fehlens einer "quasi-staatlichen Verfolgung" abgelehnt wurden, sollten
jetzt unter Hinweis auf die Entscheidung vom 10.8.2000 einen
Asylfolgeantrag stellen!
Yeziden aus Georgien
Yeziden aus Georgien sind in
Deutschland akut von Abschiebung bedroht. In den Niederlanden, in Frankreich und Belgien dagegen werden sie als politische
Flüchtlinge anerkannt; grundsätzlich werden sie in diesen Staaten
nicht an ihr Verfolgerland ausgeliefert. In den letzten Wochen erhielten Yeziden – nach unseren Kentnissen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – reihenweise
Ausreiseaufforderungen. Dagegen
organisiert sich Widerstand:
Demonstration :
Bleiberecht für Yeziden
am 9. September, 12 Uhr in Detmold, Auftakt:
Ameide/Bruchberg
Eine mehrere hundert Seiten lange
Dokumentationen, die den Lagebericht des AA widerlegt, ist von
ibz zusammengestellt worden.
Informationen:
Internationales Beratungszentrum
(ibz)/Antidiskriminierungsbüro,
Elisabethstr. 8; 32756 Detmold;
Tel.: 05231/38811;
Fax: 05231/39953;
e-mail:
[email protected]
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
Service
Urteile: Infomappe 5 B
auf der homepage des Nds. Flüchtlingsrat www.nds-fluerat.org
Papierfassungen können bei der Geschäftsstelle bestellt werden
Erlasse und Verwaltungshinweise
Erlass des MI zum neuen Einbürgerungsrecht
Die Verwaltungsvorschriften des Bundes
umfassen 84 Seiten. Bezugsadresse:
www.bmi.bund.de/themen/index.html
oder
www.bundesausländerbeauftragte.de
Ergänzungen zur Bleiberechtsregelung
gem. IMK vom 19.11.1999:
Mit Erlass vom 11.04.2000 hat das MI
klargestellt, dass Familien mit Kindern
auch dann eine Aufenthaltsbefugnis
nach der Bleiberechtsregelung zu erteilen ist, wenn die Kinder inzwischen volljährig geworden sind und kein weiteres
minderjähriges Kind zu der Familie
gehört.
Das nds. Innenministerium hat im Juni
2000 einen Erlass herausgegeben, nach
dem Asylerst- oder -folgeanträge von
vietnamesischen Staatsbürgern, die
zwischen 8.3.1999 und 31.1.2000 in
zeitlichem Zusammenhang mit der Bekanntgabe des Rückführungstermins
gestellt wurden, nicht mehr als „missbräuchlich“ im Sinne des ursprünglichen Erlasses vom 10.12.1999 gelten.
Inkrafttreten § 19 AusländerG
(s. im Kapitel „Ehe und Familie“)
MI: Keine Möglichkeit der Passbeschaffung für jugoslawische Staatsangehörige
Mit Rundschreiben vom 29.06.2000
stellt das Nds. Innenministerium klar,
dass jugoslawische Staatsangehörige
ohne gültigen Pass "derzeit keine Möglichkeit" besitzen, einen Pass "in zumutbarer Weise zu erlangen". Die Betroffenen hätten daher Anspruch auf die Ausstellung eines Ausweisersatzes (§39
AuslG). Heiratswillige jugoslawische
Staatsangehörige könnten nicht mehr
zwecks Ausstellung eines jugoslawischen Passes an das Generalkonsulat
verwiesen werden.
Hintergrund: Das BMI hat den Ländern
mitgeteilt, dass auch die Zahlung von
Gebühren für die Ausstellung und Verlängerung jugoslawischer Pässe durch
jugoslawische Auslandsvertretungen
dem Finanzembargo der EU gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien unterliegen. Zwar hat die Bundesregierung eine
Ausnahmegenehmigung bei der Europäischen Kommission beantragt; über
diesen Antrag wurde jedoch bislang
nicht entschieden. Die UNKIK stellt zwar
Heiratsurkunden, Sterbeurkunden, Geburtsurkunden, Ledigkeitsbescheinigungen und Bestätigungen über die
Existenz einer Person aus, jedoch keine
Pässe, da dies ein Eingriff in die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik Jugoslawien darstellen würde. Das serbische
"Passport Office" in Pristina stellt offenbar nur Reisepässe für im Kosovo lebende Personen aus.
Kosovo: „Rückführung von Kosovo-A
Albanern“
Erlass des MI vom 7.4.2000
(weitere Erlasse s. im Kapitel „Kriegsflüchtlinge“)
Seit dem 7.4.2000 sind Abschiebungen
von Kosovo-Albanern in den Kosovo
„auch ohne Wonhsitznachweis“ möglich. Ausgenommen von Abschiebungen sind vorerst nur andere ethnische
Gruppen, konkret genannt werden Serben, Roma und Ashkaeli. Kosovo-Albaner, die straffällig geworden sind (Verurteilung ab 50 Tagessätze) oder nach
dem 11.6.1999 eingereist sind, sollen
vorrangig abgeschoben werden. Persönliche Belange (z.b. Beendigung einer
begonnenen Ausbildung, bestehende
Arbeitsverhältnisse pp.) können bei der
Festlegung der Ausreisefrist berücksich-
Kai Weber
tigt werden, wenn die Bereitschaft zur
freiwilligen Ausreise glaubhaft gemacht
wird. In der Regel soll dies jedoch nur
möglich sein, wenn keine öffentlichen
Mittel in Anspruch genommen werden.
Duldungen „zur sozialverträglichen
Auflösung von Arbeitsverhältnissen“
sollen dem Erlass zufolge grundsätzlich
nicht über den 31.10.2000 hinaus erteilt werden.
Mittlerweile hat sich nach telefonischer
Auskunft des MI jedoch herausgestellt,
dass eine Rückkehr aller Kosovo-Albaner
in diesem Jahr nicht durchzusetzen sei.
Auf der nächsten IMK werde es daher
eine Diskussion um eine weitere Staffelung der Rückkehr geben. Niedersachsen erwäge, dem Beispiel SchleswigHolsteins und Baden-Württembergs zu
folgen und erwerbstätigen ausreisepflichtigen Flüchtlingen aus dem Kosovo unter bestimmten Umständen die
Möglichkeit einzuräumen, bis Mitte des
Jahres 2001 in Deutschland zu bleiben,
um die Mittel für den Aufbau einer neuen Existenz im Kosovo zu erwerben.
Rückkehrprämien für Kosovo-A
Albaner
Erlass des MI vom 11.07.2000 (und
13.4.2000)
Zur „Förderung der freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen aus dem Kosovo“
hat das Land auf Beschluss des Kabinetts zusätzlich 7 Mio DM bereitgestellt. Damit werden in Niedersachsen
Mittel auf der Grundlage der REAGund GARP-Programme wie folgt ausgezahlt:
a) im Rahmen der REAG-Förderung:
Kosten für die Fähre von Italien nach Albanien einschl. Mautgebühren in Höhe
von pauschal 180 DM pro Person und
300 DM pro PKW, jedoch nur bis zu
1.100 DM pro Familie.
Reisebeihilfen (150 DM für Erwachsene
111
Service
und Jugendliche, 75 DM für Kinder bis
zu 12 Jahren, maximal 750 DM pro Familie),
Gepäckkostenzuschuss (150 DM für Erwachsene und Jugendliche, 75 DM für
Kinder bis zu 12 Jahren, maximal 750
DM pro Familie),
Benzinkostenzuschuss (bei Rückreise
mit dem Privat-PKW) in Höhe von 400
DM pro Fahrzeug (max. 2 Fahrzeuge
pro Familie) oder
Übernahme der Beförderungskosten
mit dem Flugzeug, Bahn oder Bus
b) Nach dem GARP-Programm erhalten
freiwillige Rückkehrer höhere Überbrückungshilfen: Erwachsene 1000 DM
(bisher 450 DM), Kinder bis 12 Jahre
550 DM (bisher 225 DM), Familien maximal 4.500 DM (bisher 1.350 DM).
Diese Leistungen werden erst im Kosovo ausgezahlt.
Die aufgestockten Mittel können bis
zum 31.12.2000 beantragt werden. Die
Rückkehrhilfen werden nicht mehr gewährt, „wenn bereits ein konkreter Termin zur zwangsweisen Rückkehr festgelegt worden ist
Aufenthaltserlaubnisse für Berufssportler/innen und Trainer/innen
Erlass vom 13.04.2000
Dieser Erlass des MI regelt, unter welchen
Voraussetzungen
Berufssportler/innen und Trainer/innen nach
§5 Nr. 10 der Arbeitsaufenthaltsverordnung (AAV) eine Aufenthaltserlaubnis
zu Arbeitszwecken in Niedersachsen erhalten können.
Leistungen nach §2 AsylbLG
Erlass des MI vom 28.04.2000
(s. Asylbewerberleistungsgesetz)
Der Ausführungserlass des MI zum §2
AsylbLG, der seit dem 1.6.2000 erstmals seit der Verschärfung des Gesetzes
im Jahr 1997 zur Anwendung kommt,
regelt die Frage, welcher Flüchtling unter welchen Voraussetzungen nach
dreijähriger Leistungskürzung einen Anspruch auf Leistungen analog dem BSHG hat. Dabei geht es im wesentlichen
um folgende Festlegungen:
a) Wann gilt die 3-Jahres-Frist als abgelaufen?
Das Land vertritt hierzu den Standpunkt, dass die Wartefrist bei Unterbrechung des Leistungsbezugs wegen endgültiger Ausreise und Wiedereinreise
sowie bei einer Unterbrechung durch
Zeiten, in denen der Betroffene untergetaucht war, von Neuem beginnt. Zeiten, in denen der Betroffene eigenes
Einkommen erzielt oder sonstige Leistungen Dritter erhalten hat, sollen
ebenso wenig auf die Wartezeit angerechnet werden wie Zeiten des Leistungsbezugs nach §1a AsylbLG oder
Zeiten, in denen gar keine Leistungen
beantragt und bezogen wurden. Bei
Asylfolgeantragstellung ohne vorangegangene Ausreise beginnt die Wartefrist nicht von Neuem.
Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
vom 27.02.1996 -BVerwG 1 C 41.93 (InfAuslR 1996, 294) legt das MI mit
diesem Erlass fest, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Führung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft in
Deutschland unter folgenden Voraussetzungen zu gewähren ist:
b) Wer erhält nach 3 Jahren Leistungsbezug gem. §3 AsylbLG Leistungen
gem. § 2 AsylbLG?
Der Gesetzestext besagt, dass Leistungen nach §2 AsylbLG zu gewähren sind,
wenn weder die freiwillige Ausreise
noch die Abschiebung erfolgen kann,
weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen. Dies gilt für alle Flüchtlinge mit einer Aufenthaltsgestattung (Flüchtlinge im Asylverfahren)
sowie für Flüchtlinge mit einer Duldung
nach § 55 Abs. 2 AuslG, „wenn zugleich die Tatbestandsvoraussetzungen
des § 30 Abs. 3 oder 4 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erfüllt
sind“.
1. Es liegt eine gefestigte, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft vor (Einzelfallprüfung, keine zwingenden Mindestzeiten)
2. Es liegt ein öffentlich bekundeter
Partnerschaftsvertrag vor, der eine ausreichende wirtschaftliche Absicherung
für den Fall der Trennung regelt.
3. Die Führung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft in einem anderen Land ist unzumutbar. Dies gilt
grundsätzlich immer für Deutsche und
EU-Angehörigen mit Aufenthaltserlaubnis. Drittstaatenangehörige müssen besondere Umstände (z.b. Bestrafung im
Herkunftsland pp.) geltend machen
4. Die Einreise muss legal erfolgt und
auch sonstige Regelversagungsgründe
nach §7,2 AuslG, §8 AuslG dürfen nicht
vorliegen. Ggfs. muss eine Verpflichtungserklärung nach §84 AuslG vorgelegt werden, dass keine öffentlichen
Mittel in Anspruch genommen werden.
In der Praxis bringen viele Sozialämter
die normierten Voraussetzungen für
Leistungen nach §1a AsylbLG und §2
AsylbLG durcheinander. Vereinfacht gesprochen: Leistungen nach §2 AsylbLG
werden gewährt, wenn weder eine Abschiebung noch eine freiwillige Ausreise
unter zumutbaren Bedingungen möglich ist. Bei der Anwendung von §1a
AsylbLG kommt es hingegen auf die
Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise
nicht an, sondern nur auf die Motive
der Einreise sowie auf die Frage, ob die
Abschiebung aus Gründen nicht möglich ist, die der Flüchtling zu vertreten
hat.
Das Visum muss weiterhin bei der deutschen Botschaft im Ausland beantragt
werden, welches die örtliche Ausländerbehörde jedoch danach befragt, ob gegen die Erteilung eines Visums Einwände erhoben werden. Die Aufenthaltserlaubnis wird zunächst auf ein Jahr befristet und bei Fortbestehen der Lebensgemeinschaft um jeweils 2 Jahre verlängert. Nach 5 Jahren kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach den
§§24 und 27 AuslG erteilt werden. §19
AuslG findet ausdrücklich keine Anwendung. Besondere Bedingungen gelten
für Personen mit Aufenthaltsbewilligung bzw. Aufenthaltsbefugnis.
Auswärtiges Amt:
Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in einzelnen Ländern
(Lageberichte):
112
Aufenthaltsrechtliche Behandlung von
Ausländerinnen und Ausländern in
gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften
Erlass des MI vom 23.03.2000
Albanien 3/2000; Afghanistan 1/2000;Angola 12/99; Äthiopien 4/2000; Algerien 1/2000; Bangladesch 1/2000; Bosnien
– Herz. 1/2000; Eritrea 4/2000; Irak 10/99; Kongo 3/2000;
Ad-hoc-Lagebericht Kosovo 2/2000; Lettland 1/2000; Mazedonien, 2/2000; Pakistan 1/2000; Somalia 2/2000; Syrien
1/2000 Sri Lanka 4/2000 und Ad-hoc-Lagebericht 7/2000;
Togo 1/2000; Türkei 6/2000;Tschetschenien 2/2000;
Bezug über Nds. Flüchtlingsrat, Geschäftsstelle
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
Material, Veranstaltungen, Aktionen
Andrea Kothen
„Es sagt ja keiner, dass wir keine Ausländer annehmen...“
Zugangsbarrieren für Flüchtlinge und Migrant/innen im System der sozialen Regeldienste.
VAS-Verlag Frankfurt 2000; ISBN 3-88864-289-2, 29,80 DM
„Selbstverständlich würden wir auch
Einwanderer und Flüchtlinge beraten.“
Das sagen fast alle Mitarbeiter/innen
von sozialen Beratungsstellen, wenn sie
zu ihrer beruflichen Praxis befragt werden. Nach wie vor sind Migrant/innen
im System der sozialen Regeldienste jedoch deutlich unterrepräsentiert. Das in
diesem Jahr neu erschienene Buch „Es
sagt ja keiner, dass wir keine Ausländer
annehmen...“ von Andrea Kothen analysiert die Ausgrenzungsmechanismen,
denen Flüchtlinge und Migrant/innen in
den sozialen Regeldiensten unterworfen sind.
Der erste Teil des Buches gibt zunächst
einen Überblick über die historische
Entwicklung von Arbeitsmigration und
Flucht in Deutschland und den politischen Umgang damit sowie die Entstehung und Entwicklung der Spezialdienste für Flüchtlinge und Migrant/innen.
Der zweite Teil des Buches greift die
Fachdiskussion um eine „Interkulturelle
Öffnung“ der sozialen Regeldienste auf.
Die Analyse von zwölf Interviews mit
Mitarbeiter/innen sozialer Beratungsstellen zeigt, dass auch wohlmeinende
Menschen – Pädagog/innen, Psycholog/innen und Sozialwissenschaftler/innen - nicht gegen ausgrenzende Denkmuster gefeit sind. Dem / der Leser/in
wird detailliert vorgeführt, wie Ausgrenzung funktioniert, wie sie legitimiert und aufrechterhalten wird.
Die Mitarbeiter/innen der Regeldienste,
so ein zentrales Untersuchungsergebnis, schreiben Flüchtlingen und Migrant/innen vielfältige Defizite zu, die
deren mangelnde Teilhabe und unbefriedigend verlaufende Inanspruchnahme der Dienste begründen sollen. In
vielen Beschreibungen werden Migrant/innen, häufig nur unterschwellig,
als ängstlich, gehemmt unselbständig
oder hilflos dargestellt. Auch andere
Defizitzuschreibungen an die Adresse
von Migrant/innen lassen sich in den
Äußerungen der befragten Mitarbeiter/innen finden: Mangelnde Qualifikation, sprachliche Inkompetenz (soll
heißen mangelnde Deutschkenntnisse),
mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit
zur Integration, d.h. der selbst verschuldete bzw. kulturell verursachte Ausschluss aus dem System der sozialen
Dienste.
Alternative Wahrnehmungen, die
Fähigkeiten von Flüchtlingen und Migrant/innen sichtbar werden lassen, erscheinen dem gegenüber nur selten
und auch nur für speziell zugewiesene
Bereiche. Nur vereinzelt werden auch
solche Umstände in den Blick genommen, die auf gesellschaftliche Bedingungen (rechtliche Lage, Diskriminierung, Rassismus usw.) abzielen. Bestehende Schwierigkeiten resultieren i.d.R.
aus dem „Fremdsein“ von Flüchtlingen
und Migrant/innen und werden als individuelle und individuell veränderbare
verstanden und damit pädagogisiert.
Die aktive Rolle, die die Beratungsstelle
in ihrem Verhältnis zu den Klient/innen
spielt, wird gänzlich unterschlagen.
Konsequenterweise sehen die Mitarbeiter/innen der Dienste keinen Bedarf,
selbst aktiv zu werden: Angesprochen
auf die konkreten Möglichkeiten einer
„interkulturellen Öffnung“ ihrer Beratungsstelle nennen sie eine Reihe von
Gründen, nach denen dies in letzter
Konsequenz abzulehnen ist: Fehlende
Mittel und Kapazitäten, fehlender Bedarf auf Seiten der Migrant/innen,
Überforderung durch migrationsspezifische Fragestellungen, fehlendes Interesse an der Berücksichtigung von Migrant/innen, gar die Vermeidung einer
unerwünschten Bevorzugung von Migrant/innen.
Öffnung beinhalten eine Akzeptanz des
Status Quo der Benachteiligung von
Flüchtlingen und Migrant/innen. In den
Einstellungen und Denkweisen der Mitarbeiter/innen der sozialen Dienste spiegelt sich die zum Teil politisch provozierte und gewollte gesellschaftliche
Ausgrenzung von Migrant/innen wieder
- und dies, obwohl eine ausgrenzende
Haltung und Praxis dem Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen gar nicht entspricht. Die Analyse zeigt, dass auch
scheinbar wohlwollende Äußerungen
nicht im Widerspruch zu ausgrenzenden Denkmustern stehen, sondern ein
notwendiger Bestandteil davon sind
und als solcher - unbewusst und ungewollt - dazu dienen, eigene Verantwortlichkeiten zu negieren und anderen zuzuschieben, seien es Ämter, Spezialdienste oder, nicht zuletzt, Flüchtlingen
und Migrant/innen selbst.
Das Buch kann Menschen, die sich für
Flüchtlinge und Migrant/innen einsetzen, Einsichten in die Schwierigkeiten
einer „Interkulturellen Öffnung“ vermitteln. Zahlreiche Zitate der „ganz normalen Ausgrenzung“ können Grundlage
für Gespräche und Auseinandersetzung
mit den lokalen Regeldiensten sein und
so dabei helfen, das Thema „Interkulturelle Öffnung“ an die Regeldienste heranzutragen. Schließlich ist das Buch interessant für alle Menschen in sozialen
Berufen, in Beratungsstellen und bei
Behörden, da es die Bewusstmachung
der eigenen Mitwirkung an Ausgrenzungsprozessen ermöglicht. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Ausgrenzungsmechanismen ist ein erster
Schritt für eine wirkliche „interkulturelle
Öffnung“ der Gesellschaft.
Schlussfolgerung: Die Erklärung und Legitimierung der gegebenen Situation
wie auch die Argumente gegen eine
113
Service
Material
Zusammengestellt von
Justus
Reuleux
Thomas von der Osten-Sacken, Thomas
Uwer, WADI e.V.: „...keinen staatlichen
Sanktionen unterworfen“. Eine Analyse
der Mängel im aktuellen Lagebericht
des Auswärtigen Amtes zum Irak.
8/2000, ca. 100 S., Förderverein PRO
ASYL e.V. - Arbeitsgemeinschaft für
Flüchtlinge -, PSF 160624, 60069
Frankfurt/M., Tel.: 069/ 230688,
Fax:069/ 230650.
Untersuchungsgegenstand ist der Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum
Irak. An diesem Lagebericht üben die
Autoren scharfe Kritik, da die Quellenauswertung und viele relevante Informationen über frühere Verfolgungspraktiken des irakischen Regimes unberücksichtigt bleiben. Des weiteren behandeln die Verfasser des Lageberichtes fälschlicherweise die regelhafte Verfolgungspraxis des irakischen Regimes
weiterhin als Ausnahme und spekulieren über deren „Wahrscheinlichkeit“.
Gewalt aber ist im Irak keine Ausnahme, sondern vielmehr die „normale“
Verkehrsnorm zwischen staatlichen Institutionen und der Bevölkerung. Als
grundlegendes Problem kritisieren die
Autoren, dass die Darstellung der Menschenrechtslage im Irak trotz einer ungewöhnlich breiten Palette an Informationsmöglichkeiten lückenhaft, ungenau, mit Mutmaßungen und an vielen
Stellen äußerst euphemistisch ausfällt.
Weiterhin werden dem Verfasser fragwürdig gezogene Schlüsse und die
Sachverhaltsschilderungen vorgehalten.
Versteht sich der Lagebericht etwa als
Reflektor der Interessenlage europäischer Abschottungspolitik ?
Recherche: Situation der Menschenrechte, Rückgefährdung und Anwendung gem.§54 AuslG in D.R.KONGO,
Broschüre: 31.7.2000; Flüchtlingsrat
Schleswig-Holstein e.V., Oldenburger
Str.25, 24143 Kiel, Ansprechpartner:
Herr Martin Link - Tel.:0431/ 735000,
040/ 526000, Fax: 0431/ 736077
Der Schwerpunkt dieser Arbeit ist eine
Einschätzung über den Anwendungsbedarf des §54 AuslG für Flüchtlinge
aus der D.R. KONGO , gleichzeitig soll
die Recherche zu einer Einleitung des
Konsultationsverfahren im Bund und in
den Ländern führen
Asyl-Beratungsstellen 2000/2001 Buch
DM 24,80 ISBN 3-86059-485-0, zusätzlich erhältliche CD DM 12,-.
Die Neuausgabe enthält die aktuellen
Adressen aller Flüchtlingsberatungsstel-
114
len der Wohlfahrtsverbände, von amnesty international und weiteren Hilfsorganisationen, Flughafensozialdienste,
die Rechtsberater, die Beratungsstellen
in den Erstaufnahmeeinrichtungen und
die Erstaufnahmeeinrichtungen selbst.
Hubert Heinhold: Recht für Flüchtlinge
3. vollständig überarbeitete Neuausgabe, Großformat, 350 S., kart., DM
29,80 ISBN 3-86059-495-8, in englischer und französischer Übersetzung
DM 24,80.
Der bewährte Leitfaden des erfahrenen
Asyl-Anwaltes jetzt endlich in der Lange
erwarteten Neuausgabe 2000. Das
Buch enthält auf aktuellem Stand alles,
was Haupt- und Ehrenamtliche über
das Asylverfahren wissen sollten. Viele
Regelungen des allgemeinen Ausländerrechts betreffen Flüchtlinge unmittelbar. Der vorliegende Leitfaden vermittelt deshalb auch das notwendige ausländerrechtliche Grundwissen. Erläutert
werden Rechtswege, Fristen, die Grundlagen des materiellen Asylrechts in einer
auch für NichtjuristInnen verständlichen
Form. Außerdem: Flughafenverfahren,
Abschiebungshaft, Zustellungsfrage,
Datenschutz.. Neben ausführlichen Hilfestellungen, Formularen etc. sind auch
alle relevanten Gesetze wiedergegeben
Dankwart und Angelika von Loeper
Handbuch der Asylarbeit Aktualisierte
Fassung von Dezember 1999, 800
großformatige Seiten, mit Ordner, ISBN
3-86059-469-9 (kostenloses Prospekt
anfordern)
Das umfassende Informations- und Arbeitsbuch aus der Praxis für die Praxis.
Neben Hintergrundartikeln, Erfahrungsberichten, Einführungen und Kommentaren kompetenter Fachleute, allen relevanten Gesetzestexten, Kurzübersichten
und vielfältigen Hilfestellungen enthält
das Handbuch zahlreiche konkrete Arbeitsmittel: Checklisten, Formulare,
Adressen, Schaubilder, Übersichtstabellen, fremdsprachige Informationen, ein
Lexikon der Fachbegriffe, weiterführende Literatur usw.. Eine Registerleiste,
zusätzliche Marginalien und Piktogramme sowie ein Stichwortverzeichnis erleichtern das Auffinden.
Stefan Keßler: Ratgeber-Soziale Beratung von Asylbewerbern 2. völlig überarbeitete Auflage 6/2000; 50 S., ISBN 3934004-03-2, Verlag: IBIS-Interkulturelle Arbeitsstelle e.V., Alexanderstr.48,
26121 Oldenburg, Tel.: 0441/ 884016,
Fax: 0441-9849606. Herausgeber: Informationsverbund Asyl / ZDWF e.V.,
Königswinterer Str.29, 53227 Bonn,
Fax: (0) 228/ 4221132.
Dieser Ratgeber ist sowohl an „Einsteiger“ als auch an erfahrene Berater gerichtet. Als Leitfaden gibt er einen
Überblick über wichtige Fragen bei der
sozialen Betreuung von Asylsuchenden.
Die Lage der als politisch Verfolgte Anerkannten (Art.16a Abs.1 GG) oder wegen drohender Verfolgung Abschiebeschutz genießenden „Konventionsflüchtlinge“ (§51 Abs.1 AuslG) sowie
die besonderen Probleme der „Geduldeten“ und der sog. „Illegalen“ bleiben
weitgehend ausgeklammert .
Roland Kugler, Der Weg zum Deutschen
Pass Ein Rechtsratgeber 1999. LamuvTaschenbuch 269, 159 Seiten.
Das Buch ist als Überblick über das
Staatsangehörigkeitsrecht, insbesondere für Beratungsstellen von Einbürgerungsinteressenten, gut geeignet. Enthält außerdem: wesentliche Gerichtsentscheidungen, Text des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) und weitere wichtige Rechtsvorschriften.
Film in verschiedenen Sprachen:
Rund um das neue Staatsangehörigkeitsrecht Video S-VHS, VHS ca. 60 min
Initiative für ein Internationales Kulturzentrum e.V., Bettfedernfabrik 1, 30451
Hannover, Tel.:0511/ 440484, Fax:
0511/ 4583728
Der Film richtet sich an Menschen mit
nicht-deutscher Herkunft und gibt ihnen Informationen über die seit dem
1.Januar 2000 neu bestehenden Gelegenheiten, sich einbürgern zu lassen.
Im Film werden die wichtigsten Änderungen des neuen Einbürgerungsrechtes in Arabisch, Bosnisch, Kurdisch, Persisch, Dari und Türkisch übersetzt, zusammengefasst und erklärt.
Auf besonderen Wunsch und Anfrage
hin stellt die IIK eine Kopie dieser Videoaufnahme zur Information von Migranten/innen und Einwanderern in anderen
Städten zur Verfügung.
Peter Kühne, Harald Rüßler Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland Campus 2000, 654 Seiten, 98,DM, ISBN 3-593-36485-9
Seit Ende der 80er-Jahre ist eine deutliche Zweiteilung des Anteils nicht-deutscher Einwanderer in die Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen. Neben
die Arbeitsimmigrant(inn)en aus den
Anwerbeländern treten nun vorrangig
Fluchtimmigrat(inn)en.
Die Autoren analysieren die Situation
derjenigen Flüchtlinge, die sich bereits
seit Jahren in der Bundesrepublik aufhalten und, soweit nicht „anerkannt“,
unter Bedingungen extremer sozialräumlicher Isolierung und rechtlich-admi-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
nistrativer Ausgrenzung leben. Fragen
der Arbeitsmarktintegration wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt.
Ausgehend von aktuellen asyl- und arbeitsmarktpolitischen Diskursen plädieren die Autoren für eine Politik nachholender Anerkennung und sozialer Integration.
Ordnung“ und viertens die „Verantwortung der Völker am Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen“. Darin mit
behandelt wird die Frage nach der Bedeutung und aktuellen politische Relevanz der genannten „Charta“-Inhalte
für die Außenpolitik der Berliner Republik.
Heinz Fassmann, Reiner Münz (Hg.)
Migration in Europa 1945-2000
Aktuelle Trends, soziale Folgen, politische Reaktionen 1997. 483 Seiten, 88,DM, ISBN 3-593-35609-0
Dieser Band ist eine umfassende Informationsquelle zum Thema Migration in
und nach Europa mit einer Fülle von
Daten, Grafiken und Übersichtskarten
von Wanderungsströmen. Nach einer
gesamteuropäischen Übersicht werden
in dreizehn Länderkapiteln die aktuellen
Ab- und Zuwanderung sowie die Migrationsströme der letzten Jahrzehnte
dargestellt.
Pro Asyl e.V., Verfolgte Frauen schützen! Materialien zum Umgang mit geschlechtsspezifischer Verfolgung und
Flüchtlingsfrauen in der Bundesrepublik
Deutschland und anderen Ländern. Pro
Asyl e.V., Frankfurt 1998, 210 Seiten
Der Reader enthält grundlegende Quellen wie z.B. Beschlüsse des Bundestages
und der Frauenministerinnenkonferenz,
Empfehlungen der Härtefallkommission
des Landes Nordrhein-Westfalen, die
kanadischen Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Verfolgung, Beschlüsse des
UNHCR usw.
Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald (Hg.) 50 Jahre Bundesrepublik –
50 Jahre Einwanderung, Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte 1999.
341 Seiten, geb., 58,- DM, ISBN 3-59336369-0
Jörg Stolz, Soziologie der Fremdenfeindlichkeit, Theoretische und empirische Analysen, 2000. 336 Seiten, 78,DM, ISBN 3-593-36471-9
Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr.
90 Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im vereinten Deutschland:
Erscheinungsformen und Gegenstrategien, 88 Seiten, 12/1999, ISBN 3-86077788-2
Holger Kuhr: „Geist, Volkstum und Heimatrecht“. Zur Aktualität der “Charta
der deutschen Heimatvertriebenen”
vom 5. August 1950 Broschüre zum 50.
Jahrestag der Verkündung der „Vertriebenen-Charta“, 64 Seiten, 7,- DM, Bestellung:
GNN-Verlagsgesellschaft
Schleswig-Holstein/Hamburg, Neuer
Kamp 25, 20359 Hamburg, Tel.:
040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21
oder über E-mail: [email protected]
In der Broschüre werden die vier zentralen politischen und ideologischen Kernaussagen, die in der “Charta” enthalten
bzw. mit ihr transportiert werden, kritisch analysiert: Es sind dies erstens der
postulierte „Gewaltverzicht“, zweitens
die „Heimat“-Ideologie mit der Forderung nach einem „Recht auf die Heimat“, drittens die Europakonzeption als
„wahrhaft übernationale politische
Pro Asyl e.V.: Die Würde des Menschen
ist Ausweisbar Broschüre von Pro Asyl
zum Tag des Flüchtlings am 29.9.2000
Bezug: Flüchtlingsrat Niedersachsen,
Geschäftsstelle
Synopse zur „Altfallregelung” Flüchtlingsrat Schleswig Holstein. In: Schlepper 10
Abschiebehaft: 73 Tage Hungerstreik
des Algeriers Moussa Moussaoui Dokumentation, April 2000, 5 DM plus Versand.
Arbeitsgemeinschaft für Menschen in
Abschiebehaft Mannheim. Bestellung
bei : Bücherladen Neckarstadt, Kobellstraße 17, 68167 Mannheim, Tel:: 0621
- 377729
Folter – An der Seite der Überlebenden
300 Seiten, 24,- DM, ISBN 3- ???39283
Das Buch dokumentiert die schwierige
und komplizierte Arbeit des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin.
Es berichtet von den Belastungen, denen die Helfenden selbst ausgesetzt
sind, von der Schwierigkeit, Folter zu
diagnostizieren, sowie von den häufig
unlösbar erscheinenden Problemen, zu
Folteropfern einen therapeutisch wirksamen Kontakt aufzubauen zu können.
Refugio München: Verfolgung, Flucht –
und dann? 138 Seiten, 23,80 DM, ISBN
3- ???-500
In diesem Buch werden Therapieeinrichtungen, Formen der Krisenintervention
und Beratung dargestellt. Deutlich
wird, wie abhängig die Arbeit mit Folterüberlebenden von der Gesetzgebung
ist.
Ralf Weber:Extremtraumatisierte Flüchtlinge in Deutschland, Asylrecht und
Asylverfahren 1998. 225 Seiten, 39,80
DM, ISBN 3-593-36118-3
Neben der Darstellung der Grundbegriffe wird das deutsche Asylrecht und
–verfahren und –ausführlich – der
Stand der Folterforschung beschrieben.
Den Schwerpunkt bildet die Untersuchung von Asylverfahren von gefolterten Flüchtlingen und ebenfalls die Bedeutung der Folterbiographie analysiert.
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein: Der
Schlepper Nr. 11/12 Schwerpunkt: Traumatisierung Bezug für 7,- DM über Nds.
Flüchtlingsrat
Susanne Czuba-Konrad: Integration
Eine Pädagogische Handreichung
Grenzüberschreitung, Bd. 1, 168 Seiten, Paperback, Fadenheftung, DIN A4,
29,80 DM, ISBN 3-86099-182-5, Auslieferung ab September 2000
Gerade die Schule ist ein Ort, an dem
Integration zum umfassenden Lernziel
wird. Der Band enthält vielfältige Anregungen, um das Thema Integration auf
lebendige Weise schulform- und jahrgangsstufenübergreifend im Unterricht
zu vermitteln. LehrerInnen der Sekundarstufen I und II, DozentInnen und TutorInnen finden zahlreiche Hintergrundinformationen, Texte aus Literatur
und Praxis, Lernaufgaben und Gruppenspiele, didaktisch aufbereitet und
mit methodischen Anregungen versehen.
Wegweiser zur Anerkennung der im
Herkunftsland erworbenen Bildungsnachweise Hrsg. Zukunfts-Werkstatt
e.V. Göttingen, IBKM Universität Oldenburg. AMFN Verlag. 2000.
Der Wegweiser enthält in einer übersichtlichen Gliederung Informationen
zum Schul- und Ausbildungssystem, zu
Anerkennung von mitgebrachten Abschlüssen und Qualifikationen, sowie
die erforderlichen Kontaktstellen mit
Adressen bezogen auf das Land Niedersachsen. Ebenfalls ist ein Abschnitt zum
Bereich Studium aufgenommen.
A.Hadeed, B.Sacher, S.Sljoka, R.Zinner:
Zur schulischen Situation zugewanderter Kinder und Jugendlicher am Beispiel
allgemeinbildender Schulen in Göttingen. Hrsg. Projektverbund „Migration
und Schule“. AMFN Verlag. 1999.
Der Projektverbund ist in einer einjährigen Studie der Frage nach den Ursachen der Benachteiligung von Kindern
und Jugendlichen im deutschen Schulsystem am Beispiel von Göttingen nach115
Service
gegangen. Interessant an dieser Studie
ist, dass Eltern, Lehrerinnen und Lehrer,
Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen. Neben konkreten Statistiken und
den Ergebnissen der ExpertInnen-Befragungen, die in Themenblöcken gut gegliedert zusammengefasst sind, ist in
der Studie auch das Modell der interkulturellen Albanischule beschrieben.
Im Anhang finden sich Fragebögen und
Erlasse, aus denen sich die Vergabe von
Geldern für Sondermaßnahmen ableiten.
Bereits ein kurzer Blick auf die Schaubilder verdeutlicht einen konkreten Handlungsbedarf: Fast 25 % der Schülerinnen und Schüler mit ausländischem
Pass verlassen die allgemeinbildenden
Schulen in Stadt und Landkreis Göttingen ohne jeglichen Abschluß. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit
deutschem Pass, die ohne Abschlußzeugnis ins Berufsleben eintreten müssen, liegt dagegen nur bei 3,2 %. Alarmierend ist, dass sich trotz umfangreicher Fördermaßnahmen der Landesregierung diese negative Bilanz in den
letzten 15 Jahren verstärkt hat. Die Studie fragt nach den Ursachen für diese
Entwicklung, die fast zwangsläufig zu
Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug und
Ausgliederungsprozessen bei Migranten-Jugendlichen führt.
In ihrem Resümee halten die Autoren
fest, dass für die Beseitigung der Ursachen der hohen Schulabbrecherquote
unbedingt das Zusammenarbeiten von
Eltern, Schulen, Schulverwaltung und
Politik und Verwaltung auf Landes- und
kommunaler Ebene erforderlich ist.
Wichtiges Ziel ist hierbei, die eigenverantwortlichen Teilhabe der EinwohnerInnen nichtdeutscher Herkunft am Bildungsweg ihrer Kinder (und sich selbst)
im Rahmen ihrer Partizipation an der
Gestaltung ihrer Lebensbereiche und ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwohl zu fördern. Konkret bedeutet dies,
dass die Schulen neue Wege der Ansprache und der Kommunikation mit
zugewanderten Eltern finden müssen.
Dazu gehört gezielte Informations- und
Aufklärungsarbeit über das deutsche
Schulsystem sowie über die Rechte und
Handlungsmöglichkeiten der Eltern. Dabei können lokale Migrantinnenvereine
gezielt einbezogen werden. Insgesamt,
so das Schlußwort der Studie, läßt sich
zur schulischen Situation von zugewanderten Kindern und Jugendlichen konstatieren, dass die interkulturelle Realität diese Gesellschaft in Schulstrukturen, Lehrplänen und Lehrerausbildung
nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Zwar gilt die Schule als Spiegelbild der
Gesellschaft; das Schulsystem jedoch er116
weist sich als zu schwerfällig, um auf
gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können. Auch in der Zukunft
aber bleibt die Öffnung der Schulen eine unverzichtbare Voraussetzung interkultureller Pädagogik.
VAMV-Bundesverband e.V: Allein erziehende Migrantinnen Der Bezug der kostenlosen Broschüre ist gegen Einsendung von Porto z.B. beim Landesverband alleinerziehender Mütter und Väter e.V., Bocksmauer 19, 49074 Osnabrück, möglich.
In dieser Broschüre, eine Tagungsdokumentation, hat sich der Verband alleinerziehender Mütter und Väter mit den
Problemen von allein erziehenden Migrantinnen beschäftigt und deren
rechtliche Situation problematisiert. Im
Bereich der Migration fordert der VAMV
für alle sich in Deutschland tatsächlich
aufhaltenden Eltern und Kinder ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Trennung und Scheidung
unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Der Nachzug von minderjährigen
Kindern zu einem in Deutschland lebenden Elternteil muß unbürokratisch
möglich sein. Regionale Adressen zu
den über 200 Beratungs- und Informationsstellen des VAMV sind über den
Bundesverband, als Ansprechpartner,
erhältlich. VAMV-Bundesverband e.V.,
Beethovenalle 7, 53173 Bonn, Tel.:
0228/352995, Fax: 0228/358350
Menschenrechtsreport Nr. 23: Unter
den Augen der KFOR: Massenvertreibung der Roma, Aschkali und KosovoAgypter
Bestellung über Tel.: 0551/49906-11
In der fünften Auflage ist der Dokumentationsteil bis März 2000 aktualisiert worden. Auch die „Bestandsaufnahme gefährdeter Siedlungen der Roma und Aschkali“ wurde überarbeitet
und liegt jetzt in einer Fassung vor, in
der die Volksgruppen differenzierter angegeben und die Ortsnamen in albanischer und serbischer Fassung enthalten
sind. Die Forderungen des im Januar
2000 neu gegründeten „Forums der
Roma, Aschkali und Ägypter aus dem
Kosovo“ sind in dem Report aufgenommen, außerdem Informationen und Dokumente zur aufenthaltsrechtlichen Situation der Minderheitsangehörigen
aus dem Kosovo in Deutschland.
Helmut Dietrich, Eberhard Jungfer: Kosovo - Der Krieg gegen die Flüchtlinge
FFM Heft 7, VLA 2000, ca. 100 Seiten,
12.- DM, ISBN 3-922611-79-6
Zum ersten mal setzte die Europäische
Union während des NATO-Krieges ge-
gen Jugoslawien und um den Kosovo
eine Flüchtlingspolitik durch, an der die
verschiedenen Schengener und andere
Gremien gearbeitet hatten: Flüchtlingsbewegungen sollten regionalisiert, d.h.
bereits in der Herkunftsregion aufgehalten werden. Die NATO errichtete nahe
am Kriegsgeschehen stacheldrahtumzäunte Lager und machte mit vereinter
NGO-Hilfe aus Flüchtlingen Heimatvertriebene.
In dem Heft wird die Lagerpolitik
während des Krieges in den Zusammenhang der EU-Politik gegenüber Südosteuropa gestellt. Die Verwaltung der displaced persons wird zum wichtigsten
Baustein des entstehenden Protektorats
auf dem Balkan. Strategie- und Konzeptpapiere zum neuen Hinterhof
Westeuropas werden in dem Heft kurz
vorgestellt.
Torsten Jäger, Jasna Rezo: Zur sozialen
Struktur der bosnischen Kriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland
5/2000, Bezug: Pro Asyl, Postfach
160624, 60069 Frankfurt am Main,
Tel.: 069/230688, Fax: 069/230650, EMail: [email protected]
Die „top-down“- Struktur der Studie resultiert aus der – über den Willen zur
Darlegung der sozialen Struktur der
bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge in
der Bundesrepublik Deutschland hinausgehenden – Intention der Verfasser,
die Rückführungspolitik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Kriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzogowina
zunächst in einen europäischen Gesamtkontext zu stellen, um anschließend gemeinsame Verhaltensweisen
der Bundesländer der Bundesrepublik
Deutschland aufzuzeigen und die gewonnenen Erkenntnisse anschließend
an der konkreten Rückführungspolitik
einzelner Städte zu überprüfen.
Italien, Legalisierung der Flüchtlinge –
Militarisierung der Grenzen? FFM Heft
8, VLA 2000, ca. 80 Seiten, 12.- DM,
ISBN 3-922611-82-6
Die italienische Gesellschaft hat sich bis
vor kurzem selbst als immigrantenfreundliches Land dargestellt, die Regierung legalisierte in den vergangenen
Jahren den Aufenthalt von über
300.000 Clandestini, die überwiegend
in der süditalienischen Landwirtschaft
und in den norditalienischen Fabriken
arbeiten. Doch je stärker die italienische
Wirtschaft Albanien als Billiglohnland
nutzte und der italienische Staat seinen
Führungsanspruch in der Adria und in
Albanien durchsetzte, desto häufiger
kam es zu regelrechten Hetzkampagnen gegen albanische Flüchtlinge in
Italien.
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
In dem Heft wird ausführlich auf die
innergesellschaftlichen Veränderungen
durch den Wechsel in der Flüchtlingspolitik eingegangen. Thema sind u.a.
die Bürgerinitiativen, die sich früher um
soziale Belange gekümmert haben, nun
aber zur sozialrassistischen Säuberung
der Innenstädte übergegangen sind.
Jan Niessen, Susan Rowlans: Die Amsterdamer Vorschläge, Einflußnahme
auf die Asyl- und Einwanderungspolitik
4/2000, ISBN 1-901833-04-6
Bettina Hartmann: Illegal in Berlin 127
Seiten, Bezug; Erzbistum Berlin Migrationsfragen, Tübinger Str. 5, 10715 Berlin,
Tel.:
030/85784142,
Fax:
030/85784137
Illegal in Berlin ist ein Projekt, das vor allem mit journalistischen Mitteln arbeitet: „Illegale“ kommen darin zu Wort
und schildern die Hintergründe ihrer
Immigration, ihren Alltag als „heimliche
Menschen“ in Berlin und ihre Zukunftserwartungen. Diesen Beiträgen sind
Gespräche mit legal hier lebenden Ausländern und Deutschen gegenübergestellt. Die Momentaufnahmen vom Leben „Illegaler“, die sich aus den Interviews und Portraits dieser Broschüre ergeben, sollen ein Beitrag sein zu einer
vertieften Auseinandersetzung mit diesem Problem in Kirche und Staat – ein
Beitrag zu der politischen und sozialen
Debatte über Illegalität, ein ethischer
Reflexionsimpuls, der die menschenrechtlich fragwürdige Situation der Betroffenen nicht aus den Augen verliert.
Lohneinforderung für illegal Beschäftigte. Hinweise. (Handzettel) Bezug:
Flüchtlingsrat, Geschäftsstelle
Tagungsdokumentationen von Migration DGB Vertrieb: Toennes Satz + Druck
GmbH, Niermannsweg 1-5, 40699 Erkrath, Tel.: 0211/92008-26, Fax:
0211/92008-38,
E-Mail: [email protected]
Globalisierung und Migration Dokumentation der Arbeitstagung von Juni
1999 über die Bedeutung von internationalen Konventionen für Wanderarbeitnehmer/-innen
Migration und Prekäre Beschäftigung
Dokumentation der Workshops „Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in
prekären Beschäftigungsverhältnissen:
Möglichkeiten der gewerkschaftlichen
Ansprache und Einbeziehung“ von Mai
1999
Basisinformationen/ Argumentationshilfen zu HIV und AIDS für Rechtsberater
in Abschiebeverfahren für HIV-infizierte
Asylbewerber
9 Seiten, Kopie erhältlich über Nds.
Flüchtlingsrat
Vortrag für die Rechtsberaterkonferenz
in Berlin am 19.5.2000
Rolf Meinhardt, Winfried Schulz-Kaempf: Informationsdienst Migrationssozialarbeit in Niedersachsen Nr. 1/2000
Rundsendung Juli 2000 Bezug für 10,DM von Universität Oldenburg, Institut
für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, Koordinationsstelle
Migrationssozialarbeit in Niedersachsen, Postfach 2503, 26111 Oldenburg,
Tel.:
0441/7984009,
Fax:
0441/7982239, E-Mail: [email protected],
Internet:
www.uni-oldenburg.de/fb1/ibkm
Rechtliche und soziale Bedingungen für
Flüchtlinge in Ländern West-, Zentralund Ost-Europas. Mai 2000, 340 Seiten. Hrsg.: Europ. Kommision, Dänischer Flüchtlingsrat. Bezug: Danish Refugee Council, Borgergade 10, DK-130
Copenhagen K, Tel.: +45-33735000,
Fax:
+45-33328448,
E-Mail:
[email protected], Preis DKK 100 (ca. 25 DM);
Runterladen: www.drc..dk oder als Kopie bei Nds. Flüchtlingsrat (gegen Unkosten)
Aufkleber: kmii und deportation class
Bestellungen: k.m.i.i., c/o Druckluft, Am
Förderturm 27, 46049 Oberhausen. Geliefert wird nur gegen Spende/Vorkasse
Film: Willkommhöft für blinde Passagiere!, I prefer to see That again! Video
VHS 33 Minuten, 29,50.- DM + Porto
Vertrieb: Stroux, Schäferstrasse 18,
20357 Hamburg, Fax: 040/41356670
Der Film von Marily Stroux, zeigt eine
Aktion im Hamburger Hafen, um blinde
Passagiere willkommen zu heißen, die
im November 1999 stattfand.
[über die grenze]: Grenzcampfilm 45
min, VHS, für 30.- DM zu bestellen bei:
[email protected] oder Tel. 01728910825
Der 45min-Film zum Grenzcamp der
Kampagne “kein Mensch ist illegal” ist
ein kleines Meisterwerk.
Links zum Thema Migration:
http://www.bonn.iz-soz.de/themen/migration/
Aktionen, Veranstaltungen
AKTIONCOURAGE fordert und fördert
die gesellschaftliche Teilhabe und politische Mitbestimmung von Menschen
ausländischer Herkunft. AKTIONCOURAGE ist ein Zusammenschluss von engagierten Bürgern unterschiedlicher
Kulturen und Identitäten aus allen Regionen der Welt in Deutschland und
sucht Mitglieder und Fördermitglieder.
Projekte von AKTIONCOURAGE sind
Schule ohne Rassismus, Ausländische
Betriebe bilden aus, Interkulturelles Management in deutschen Betrieben, Ausländer und Polizei begegnen sich, Integration von Muslimen und muslimischen Organisationen, Seniorenarbeit
mit Migranten, Fluchtursachenbekämpfung
Adresse: AKTIONCOURAGE e.V., Postfach 2644, 53016 Bonn, Tel.: 0228213061, fax: 0228-262978, E-Mail: [email protected],
www.aktioncourage.org
INFOTEGRA Ein Projekt der Uni-Oldenburg, unterstützt vom Land Niedersachen und der EU, dass sich um die berufliche Integration von Flüchtlingen
und MigrantInnen in Niedersachen
kümmert. Tel.: 0441/683712 E-Mail: [email protected] , www.uni-oldenburg.de/zww
AGEF – Arbeit für Kosova und Bosnien
Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der
Entwicklungszusammenarbeit. Im Rahmen eines von der Europäischen Union
geförderten Projekts kann das AGEF
den in Deutschland oder einem andern
EU-Land lebenden Flüchtlingen aus Kosova seit Februar 2000 Unterstützung
bei der beruflichen Wiedereingliederung anbieten.
Das Projekt umfaßt eine Jobbörse zur
Stellenvermittlung nach Kosova, ergänzend hierzu eine Vermittlung von einzelnen hochqualifizierten Kandidaten
auf Praktikumsplätze noch vor der
Rückkehr, ferner Bewerbungstrainings
und Seminare für Existenzgründer.
So sucht z.B. AGEF ständig geeignete
Fachkräfte mit Berufserfahrung und
guten Deutschkenntnissen aus dem
Kreis der albanischen Flüchtlinge und
vermittelt diese an Firmen, die ein Interesse haben am Aufbau von Geschäftskontakten ins Kosovo.
AGEF Königswinterstraße 1 10318 Berlin, Tel.: 030/501085-21, Fax: 030/
5097804, E-Mail: [email protected], [email protected], www.agef.de, www.getjobs.net,
Antirassistische Demonstration: Sa.
16.9.2000, Soest, Treffpunkt 11 Uhr am
Soester Hauptbahnhof.
Anlaß ist der Todestag des Marokkaners
Rachid Sbaai, der am 30. August 1999
117
Service
in dem Abschiebegefängnis Büren ums
Leben kam. Rachid Sbaai starb unter
ungeklärten Umständen bei einem
Brand in seiner Arrestzelle, in die er
während einer siebentägigen Isolationshaft gesperrt war.
Seminar: S7 Sozialpolitik und Migration
– grenzüberschreitende Sozialleistungen 30.10-1.11.2000, im DGB-Bildungszentrum Niederpöcking, Anmeldung: DGB-Bundesvorstand, Referat
Migration, Postfach 110372, 10833
Berlin, Tel.: 030/24060742, Fax:
0211/4301134
Das Seminar will über „alte“ wie „neue“
soziale Risiken in Zusammenhang mit
grenzüberschreitender Migration informieren. Es geht zunächst vor allem um
Arbeitslosigkeit, Armut, individuellen
Notlagen sowie Diskriminierungen und
Ausbeutung. In einem zweiten Schritt
sollen soziale Rechte, Schutz- und Sicherungsregelungen dargestellt und
kritisch in Hinblick auf ihre Funktion beleuchtet werden. In einem dritten
Schritt geht es um die Frage der Weiterentwicklung sozialer Rechte und Möglichkeiten der Umsetzung in Betrieb und
Politik. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehören: Pflegeversicherung,
Krankheit im Ausland, Arbeitslosigkeit –
aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung, insb. EUGH.
S6 Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
– Anti-Rassismus-Training 2 2.104.10.2000, in der ÖTV-Bildungsstätte
Berlin-Wannsee, Anmeldung: DGB-Bundesvorstand, Referat Migration, Postfach 110372, 10833 Berlin, Tel.:
030/24060742, Fax: 0211/4301134
Schwerpunkte des Seminars werden
Diskussionen über die Ursachen von
Fremdenfeindlichkeit und ihre möglichen Prävention sein, sowie Übungen
zur Wahrnehmung von diskriminierendem Verhalten und zum gewaltfreien
Einschreiten gegen Angriffe.
Kongress: Streit um Einwanderungspolitik - Zwischen Bevölkerungsschwund
und Überfremdungsangst, zwischen
ökonomischem Kalkül und humanitären
Prinzipien 26.9.2000 im Freizeitheim
Vahrenwald, Vahrenwalderstr. 92,
30165 Hannover, Anmeldung: NLPD,
Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover,
Tel.:
0511/3901-277/294,
Fax:
0511/3901290, www.nlpd.de
In den nächsten Jahrzehnten kommt es
in Deutschland zu einer dramatischen
Änderung des Bevölkerungsaufbaus,
die Rückwirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche haben wird. Vor diesem
Hintergrund beginnt in der Bundesre118
publik die Diskussion über eine langfristig angelegte Einwanderungspolitik.
Erstmals deutet sich hierbei eine Veränderung der Perspektive an vom begehrten Wohlfahrtsland zu einem Land, das
international um qualifizierte Migranten konkurrieren muß.
Die demographische Änderungen und
ihre Folgen für zentrale Politikbereiche
sind Thema eines ersten Arbeitsabschnittes, Renommierte Fachleute gehen sodann der Frage nach, ob und wie
Einwanderung zur Lösung von Zukunftsproblemen beitragen kann, welche
Konflikte hierbei entstehen können und
welche Integrationsangebote von Seiten der Aufnahmegesellschaft gemacht
werden müssen. Journalisten und Politiker vertreten abschließend die unterschiedlichen weltanschaulichen Leitbilder und Interessen, die im Politikfeld
Migration aufeinander stoßen.
Tagung: Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft 27.-29.9.2000
Landesstelle Unna-Massen, Wellersbergplatz 01, 59427 Unna, Tel.:02303/
954-0, Fax: 02303/ 954-401. Anmeld.
für Übernachtungsplätze unter Tel.:
02303/954-100. Veranstalter: Werkstatt Weiterbildung. Anmeldung: bis
zum 08.September beim Landeszentrum für Zuwanderung NRW, PSF
110426, 42664 Solingen, Frau Andrea
Müller, Fax: 0212/ 2323918. Innerhalb
des Landeszentrums für Zuwanderung
NRW erhalten Sie weitere Auskünfte im
Sachgebiet Weiterbildung und Service,
Kelderstraße 06, 42697 Solingen; bei
Frau Dr. Sabine Jungk: Tel.: 0212/
2323930/931 und Herr Jan Motte Tel.:
0212/ 2323931.
Die Einwanderungsgesellschaft ist eine
der zentralen Herausforderungen für
Politik und Gesellschaft im 21.Jahrhundert. Das Landeszentrum für Zuwanderung NRW stellt im Rahmen der zweiten
WERKSTATT WEITERBILDUNG innovative Modelle politischer Bildung in der
Einwanderungsgesellschaft vor. Sie sollen Anregungen geben für die Praxis
und Anlass für konzeptionelle, methodische und politische Diskussionen.
Theoretisch-konzeptionelle Ausführungen sollen die einzelnen Inhaltsforen zu
folgenden speziellen Themen und Ansätzen in einen größeren Gesamtkontext einbetten:
-Information, Orientierung, Partizipation durch politische Bildung Teil I, II, Migrations-Geschichte(n) I: Historischbiografische und kulturelle Ansätze in
der politischen Bildung,
-Migrations-Geschichtee(n) II: Rundfunk und Ausstellungen als Medien der
politischen Bildung.
6. Landesweite Konferenz von MigrantInnen und Flüchtlingen in Niedersachsen „Was heißt schon Integration? –
Partizipationsmöglichkeiten auf dem
Prüfstand“
Veranstalter: AMFN, AG KAN und NLPB
11.11.2000 Niedersächsischer Landtag,
Hannover, Informationen: Nds. Landeszentrale für politische Bildung, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover, Tel.:
0511/3901-277/294,
Fax:
0511/
3901290, E-Mail: [email protected]
Migrantinnen und Migranten formulieren ihre Vorstellungen von Integration
zwischen eigenen Anpassungsleistungen und Partizipationsangeboten der
Aufnahmegesellschaft. Dabei spielen
die Bereiche Arbeit, Schule, Lebensbedingungen der 2. und 3. Generation sowie Antidiskriminierungsmaßnahmen
eine zentrale Rolle.
Tagung: Professionelles Handeln in Konfliktsituationen in der Flüchtlingsarbeit
11.-13.10.2000 AWO-Tagungszentrum
Haus Humboldstein, 53424 RemagenRolandseck, Veranstalter: AWO-Akademie Helene Simon, AWO-Bundesverband e.V., Anmeldung: AWO-Akademie
Helen Simon, Postfach 410163, 53023
Bonn, Fax: 0228/6685-209, Infos: Maria Krumrey, Fachbereich Migration
beim AWO-Bundesverband e.V., Oppelner Str. 130, 53119 Bonn, Tel.:
0228/6685257, www.awo.org, E-Mail:
[email protected]
Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften sind ungeliebte Nachbarn. Oft
schon im Vorfeld der Unterbringung
und Betreuung in speziell errichteten
Unterkünften entstehen in Städten und
Gemeinden Schwierigkeiten, weil Nachbarschaften die Anwesenheit von
Flüchtlingen in ihrem Wohnumfeld zu
verhindern versuchen. Aber auch die
Formen der oft langen Unterbringung
in großen und vielfach schlecht ausgestatteten Einrichtungen sind häufige
Ursache weiterer vielschichtiger Probleme, die für die Beratungsarbeit ständig
neue Herausforderungen bedeutet. Die
Art und Weise, wie die Beratung, Unterbringung und Betreuung der ausländischen Flüchtlinge in den einzelnen
Kommunen verwirklicht wird, weisen eine erhebliche Bandbreite auf.
Woche der ausländischen Mitbürger /
Interkulturelle Woche 23. September
2000 in Hannover: 10.00 Uhr - Interkulturelles Fest des Ausländerbeirates
um die Marktkirche, 15.00 Uhr - Ökumenischer Gottesdienst in der Marktkirche, 16.30 Uhr - Empfang im Neuen
Rathaus, Gobelinsaal
Veranstalter: Ökumenischer Vorberei-
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
tungsausschuss, die Stadt Hannover,
der Ausländerbeirat der Landeshauptstadt Hannover und die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen.
Vortrag: Die Türkei auf dem Weg nach
Europa? Eindrücke einer Reise im April
2000 geschildert von Dr. med. Gisela
Penteker Vorstandsmitglied der IPPNW
Veranstaltung organisieren über den
Nds. Flüchtlingsrat!
Ausstellung: Flüchtlingsalltag in Niedersachsen Nur noch digitalisiert, als CDRom bei der Geschäftsstelle des Niedersächsischen Flüchtlingsrat, 10 DM
Fortbildungsreihe Flüchtlingsrat
EU-Beitritt Ungarns – das Ende eines
liberalen Flüchtlingsschutzes??
12.9.2000 Referent: Lazlo Lehel, Geschäftsführer des ökumenischen Hilfswerks Ungarn
Die praktizierte Flüchtlingspolitik Ungarns konnte sich bislang in Europa im
positiven Sinn als human und effektiv
beurteilen lassen. Mit den EU-Beitrittsbemühungen muß nun jedoch befürchtet werden, dass auch Ungarn in die Festung Europas eingebunden und seine
Außengrenzen zu einem Bollwerk gegen Flüchtlinge ausgebaut werden. Die
Abschottung Ungarns als primäres
außenpolitisches Ziel vornehmlich der
westeuropäischen EU-Länder dürfte
auch innerhalb des Landes erhebliche
Nachteile für den Flüchtlingsschutz mit
sich bringen, - Grund genug, der Frage
nachzugehen, ob bereits jetzt die Weichen für eine solche Abschottungs- und
Abschreckungspolitik in Ungarn gestellt
werden und wie darauf reagiert wird?
(Anmeldung s.u.)
Flüchtlingsschutz in den EU-Beitrittsländern Polen, Tschechien und Slowakei –
eine Bestandsaufnahme 5.12.2000 Referent: Dominique John, Mitarbeiter der
Forschungsstelle Flucht und Migration
e.V.
Im Verlauf der Debatte um eine gemeinschaftliche Asylpolitik der EU sind
die Binnen- und Außengrenzen der o.g.
Beitrittsländer strategisch bedeutsame
Faktoren des Ausgrenzungs- und Abschottungswillens Westeuropas geworden. So wurden und werden diese
Grenzgebiete mit großem personellen
und finanziellen Aufwand zu einem
neuen „Eisernen Vorhang“ aufgebaut.
Äußerungen aus dem politischem
Raum, Asylverfahren künftig nur noch
an den Außengrenzen der EU durchzuführen, zeigen die Brisanz dieser Entwicklung. Die Einhaltung und Anwendung der GFK besitzt dabei nicht die erste und oberste Priorität.
Anmeldung über: Caritasverband f.d.
Diözese Osnabrück e.V., Referat Migration/Ausländische Flüchtlinge, Norbert
Grehl-Schmitt Johannisstraße 91,
49074 Osnabrück
EU-PProjekt “Lokales Kapital für soziale Zwecke”
EU-Gelder für Klein-Projekte zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration von Aussiedlern, Ausländern, LangzeitarbeitsEms!
losen, Kindern und Jugendlichen im Regierungsbezirk Weser-E
Angesprochen sind Initiativen der Selbsthilfe, Gruppen, Vereine und einzelpersonen, die neue Wege und Ideen zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration von ausgegrenzten Mitbürgern weiterentwickeln und erproben wollen. Besonders innovative Projekte sollen gefördert werden, um die Lebensbedingungen der genannten Zielgruppen zu verbessern. Kleinere
Projekte, die sogenannten “Mikro-Projekte”, können mit in der Regel bis zu 20.000 DM gefördert werden.
Informationen und Beratung:
LEB Bezirksbüro
Frau Gabriele Wosnitza (Projektleitung)
Drosselweg 2, 49134 Wallenhorst
Tel.: 05407-2091 + 895726
Fax: 05407-31888
Mobil: 0171-2115270
E-Mail: [email protected]
LEB Projektbüro Westerstede
Tel.: 04488-862233
Fax: 04488-862209
Außerdem informieren sie alle LEB - Bezirksbüros, die Bezirksregierung sowie die Sozialämter in den Landkreisen und Städten in Weser-Ems
Widerspruch, Heft 39:
Rechtspopulismus - Arbeit und Solidarität
204 S., Fr./DM 21, im Buchhandel oder Widerspruch, Postfach, CH - 8026 Zürich, Tel./Fax 0041
(0)1-273 03 02, [email protected];
www.widerspruch.ch
In Westeuropa tragen die Regierungslinken, die sozialdemokratischen Parteien, die Grünen und die
Gewerkschaften politische Mitverantwortung am
Erstarken des modernen Rechtspopulismus. Worin
bestehen die Probleme, Chancen und Perspektiven
einer sozialen Demokratiepolitk, einer solidarischen
Arbeits- und Sozialpolitik, die das Terrain nicht den
Rechten überlassen?
The VOICE e.V. Africa Forum, Human Rights Group,
Schillergäßchen 5, 07745 Jena, Tel.: 03641-665214 / 449304,
Fax:03641-423795 /42027
E-mail:[email protected].
Kto.Nr.: 231633 905, BLZ: 860 100 90, Postbank Leipzig
Following the resolutions and declaration of the Karawane congress in
Jena which took place from the 21st April to 1st May, 2000, with participants from 24 nationalities from all the continents, the 3rd of October was planned as the day of exposure of the civil disobedience in
Hannover against the Residenzpflicht for refugees. This is coming after
regional actions were carried out on the 8th of July against this discriminative law by Karawane groups in over 12 different cities. The campaign against residenzpflicht was initiated during the congress mobilisation by The VOICE Africa Forum, a refugee self-organised human
rights group in coordination with the Karawane for the rights of refugees and migrant. We are calling for solidarity and financial support for
the actions against residenzpflicht. (C.Y.)
For more information contact :www.humanrights.de
119
Service
Terminliste
12.09.
16.09.
19.09.
21.09.- 22.09.
26.09.
02.10 - 4.10.
03.10.
22.10. - 27.10.
25.10.
26.10.
27.10.
30.10. - 01.11.
04.11.
11.11.
17. - 19.11.
05.12.
Flüchtlingsrat-Fortbildungsveranstaltung: EU-Beitritt Ungarns – das Ende eines liberalen Flüchtlings
schutzes??; mit Lazlo Lehel, Geschäftsführer des ökumen. Hilfswerks Ungarn; nähere Infos: Flüchtlingsrat
Antirassistische Demonstration in Soest
Expo-Nationaltag: Nepal/ Karawane-Kettenkampagne
Karawane - Demo in Bonn Keine Botschafts-Kollaborationen bei Abschiebungen!
Kongress der Landeszentrale für polit. Bildung: „Streit um Einwanderungspolitik ...“, Freizeitheim Var
renwald; nähere Infos: Flüchtlingsrat
Seminar des DGB: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus – Anti-Rassismus-Training 2; Referat Migration;
nähere Infos: Flüchtlingsrat
Expo-Nationaltag: Deutschland/ Karawane: Aktionstag gegen Residenzpflicht
Informationsreise in die Tschechische Republik; Veranstalter: Nds. Flüchtlingsrat und VNB
Expo-Nationaltag: Togo/ Karawane-Kettenkampagne
Expo-Nationaltag: Nigeria/ Karawane-Kettenkampagne
Expo-Nationaltag: Iran/ Karawane-Kettenkampagne
Seminar des DGB: Sozialpolitik und Migration – grenzüberschreitende Sozialleistungen. DGB-Referat Mi
gration; nähere Infos: Flüchtlingsrat
Flüchtlingsrat-Sitzung in Wolfsburg, 13.00 Uhr
6. Landesweite Konferenz von MigrantInnen und Flüchtlingen in Niedersachsen: „Was heißt schon Inte
gration... ?“ Veranstalter: AMFN, AG KAN und NLPB; nähere Infos: Flüchtlingsrat
Klausurtagung des Flüchtlingsrat (?); Ort ist noch unklar
Flüchtlingsrat-Fortbildungsveranstaltung: Flüchtlingsschutz in den EU-Beitrittsländern Polen, Tschechien
und Slowakei – eine Bestandsaufnahme; mit Dominique John, FFM; nähere Infos: Flüchtlingsrat
weitere Infos betr. die Kettenkampagne der Karawane zu den jeweiligen Nationaltagen:
Internationaler Menschenrechtsverein Bremen, Wachmannstr. 81, 28207 Bremen, Tel. 0421 - 5577093,
Fax 0421 / 5577094, [email protected], http://www.humanrights.de/ The Voice e.V., Schillergäßchen 5, 07745 Jena,
Tel. 03641 / 665214, Fax 03641 / 423795, [email protected]
Mitglieder
120
FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000
Service
Materialliste Niedersächsischer Flüchtlingsrat
Bezug: Nds. Flüchtlingsrat, Lessingstr. 1, 31135 Hildesheim Tel.: 0 51 21 / 15 605, Fax: 0 51 21 / 31 609,
E-mail: [email protected]
1996
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 31/32 (Heimliche Menschen - Illegalisierte Flüchtlinge)
10,00 DM
10,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 38/39 (Flüchtlingsalltag und Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen)
„Katalog zur Ausstellung mit Texten zu Migration, Rassismus und Flüchtlingsarbeit sowie 48 Bilddokumenten“
1997
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 41 (Festung Europa - Ausländerrecht - „Rückführung“)
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 42/43 (Bürgerkriegsflüchtlinge - Bosnien - Kosovo)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 44/45 (Kurdenverfolgung - Kirchenasyl - Härtefallregelung)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 46/47 (AVE MARIA für die Menschlichkeit) „Kirchenasyl“
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 48/49 (Kein Mensch ist illegal) Bilanz der nds. Flüchtlings-Sozialpolitik 1997
vergriffen
1998
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 50 (Forderungen an die neue Landesregierung)
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 51 (Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa)
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 52 (Rassismus und Strategien gegen Rassismus)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 53/54 (Einmal Folter und zurück)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 55 (Die Grenze) „Flüchtlingsjagd in Schengenland“
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 56/57 (20 DM für Kirchenasyl !?)
12,00 DM
1999
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 58 (Ausländerrecht) Grundlagen für die Praxis
15,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 59 (Das Leistungsrecht) Grundlagen für die Praxis
15,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 60/61 (Grenzen auf für Flüchtlinge)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 62 (Die soziale und rechtliche Situation von Flüchtlingen)
15,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 63 (Reise in den Tod)
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 64/65 (JAHRTAUSENDWENDE)
12,00 DM
2000
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 66 (Leitfaden für Flüchtlinge)
(Kopie des vergriffenen Originals)
10,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 67 (Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz in Niedersachsen)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 68 (Geteilte Medizin)
12,00 DM
Von Deutschland in den türkischen Folterkeller, 2.erw. Auflage
geg. frank. u. adrs. Rückumschlag/ ab 10 Stück 1 DM/Expl.
Weitere Materialien
Zur Kampagne gegen (Flug-)Abschiebungen sind bei der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrat zu beziehen:
Tragetaschen (Plastik) mit Aufdruck: „Deportation class. Lufttransaction spezial“ (blau-orange, optisch sehr ansprechend)
Stück 20 Pf
Wichtiger Hinweis für Flugreisende - Faltblatt von Pro Asyl
Internationale Sicherheitsstandards, Doppelseitiges Flugblatt mit Rotem Rand, offizieller Eindruck, doppelseitig bedruckt,
kartoniert, Stück 15 Pf
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 53 (02/1993)
3,00
Rechtsberaterkonferenz: Art. 16a GG und seine
Folgen
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 55 (12/1993)
3,00
Rechtsberaterkonferenz: „Das neue Asylrecht“
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 57 (09/1994)
5,00
Asylum in Germany
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 61 (07/1995)
5,00
Verantwortung verlagern - Die Sanktionen gegen
Beförderungsunternehmen in der EU und Nord-Amerika
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 62 (10/1995)
3,00
Abschiebungshaft in Deutschland - Rechtliche
Aspekte
DMDMDM
DMDM-
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 65 (01/1997)
Flüchtlinge, Verfassungsrecht und Menschenrechte
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 67 (03/1997)
„Unschuldig im Gefängnis?“ - Zur Problematik der
Abschiebehaft
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 69 (05/1997)
Familienzusammenführung von Flüchtlingen in
Deutschland
ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 71 (02/1998)
Die Gemeinschaftsunterkunft für asylsuchende
Flüchtlinge - Rechtsverhältnisse ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 72 (05/1998)
Traumatisierte Flüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland
5,00 DM5,00 DM
3,00 DM5,00 DM5,00 DM-
121
Petition für die Abschaffung des "Gutscheinsystems"
Auf Weisung der Landesregierung von 1998 geben alle Kommunen Niedersachsens die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) an Flüchtlinge nur noch in Form von Gutscheinen bzw. Chipkarten anstelle von Bargeld aus.
Die Kommunen tun dies vielfach gegen ihren Willen, da das Gutscheinsystem die kommunalen Kassen zusätzlich belastet.
Auch für die (Einzel-) HändlerInnen vor Ort entstehen zusätzliche Kosten.
Für Flüchtlinge bedeutet das Leben mit Gutscheinen Bevormundung (keine freie Wahl der Geschäfte und Artikel), Demütigung und sichtbare Abstempelung als unerwünschte Personen. Jeder Einkauf wird zur Praxisprüfung im Kopfrechnen, da
eine Bargeldrückgabe nur begrenzt möglich ist. KassiererInnen werden durch das Gutscheinsystem zu OrdnungshüterInnen
gemacht, die den Einkauf ihrer Gutschein-KundInnen überprüfen sollen. Viele alltägliche Dinge können mit Gutscheinen
nicht bezahlt werden, z.B. Buskarten, Briefmarken, Telefonkarten, Kopfschmerztabletten und insbesondere die für Flüchtlinge unverzichtbaren RechtsanwältInnen. In vielen Kommunen gibt es kommerzielle GutscheinhändlerInnen, die die Notlage der Flüchtlinge ausnutzen und Flüchtlingen die Gutscheine unter Wert abkaufen.
Im Gegensatz dazu solidarisieren sich zahlreiche Menschen mit den GutscheinempfängerInnen, tauschen Gutscheine im
Verhältnis 1:1 in Bargeld um und setzen sich für die Abschaffung des Gutscheinsystems ein. Mindestens 20 organisierte
Umtauschinitiativen von Flüchtlingen, MigrantInnen und Deutschen gibt es in Niedersachsen. Darüber hinaus schaffen
Flüchtlinge untereinander vielfach privat Solidaritäts-Tauschnetze.
Wir finden es unerträglich, Flüchtlinge aus offen erklärtem Abschreckungswillen zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren und so den latenten und offenen Rassismus in der Bevölkerung zu schüren. Das AsylbLG ermöglicht sowohl die Gutschein- als auch die Bargeldausgabe. Alle Nachbarländer Niedersachsens haben auf den Zwang zur Gutscheinausgabe verzichtet und den Kommunen die Wahl gelassen.
Wir fordern daher die Landesregierung Niedersachsens auf, die Weisung von 1998 zurückzunehmen und den Kommunen so die Ausgabe von Bargeld an Flüchtlinge wieder zu ermöglichen.
Name
Adresse
Unterschrift
initiiert vom Niedersächsischen Plenum gegen rassistische Sondergesetze. Bitte zurücksenden an:
Plenum c/o Umtauschinitiative Hildesheim, Lessingstr. 1, 31134 Hildesheim, Tel. 05121 / 13 28 20, Fax 05121 / 39448