als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
Transcrição
als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
ISSN 1433-4488 H 43527 Ausgabe 4+5/00 Heft 69/70 Aug./Sept.2000 FLÜCHTLINGSRAT Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen Debatten: Rassismus Angriffe in Niedersachsen Mauer gegen Flüchtlinge Appelle von Flüchtlingen Asyl Asylrecht philosophisch Asylrecht realistisch Einwanderung Einwanderung ökonomisch Einwanderung globalistisch Editorial "Ihr werdets nicht vermuten, wir sind die Guten!" Wer hätte gedacht, dass diese alte Demo-Parole der Linken eines Tages auf breite Zustimmung stößt? Wer hätte gedacht, dass die Bildzeitung, bekannt für ihre rassistischen Hetzartikel, irgendwann Leitartikel gegen Rechts und eine Porträt-Reihe von Menschen ohne deutschen Pass bzw. mit "ausländischer" Optik bringt? Wer geglaubt, dass das Bundesverfassungsgericht argumentativ auf "die gewaltbereiten Göttinger autonomen Gruppen" zurückgreift, um eine Nazi-Demo zu verbieten? Wer, dass AktivistInnen von kein Mensch ist illegal und anderer antirassistischer Initiativen, sonst nur unter Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes leidend, bundesweit zum "Liebling der Medien" werden (S.41)? Flüchtlinge fehlen nicht nur dieser Aufzählung. Sie kommen in der Mediendebatte über Rassismus, Faschismus und Gewalt von Rechts nicht zu Wort. Die Flüchtlinge aus Rathenow, die nach zahlreichen rassistischen Angriffen mit ihrer Forderung nach Verlegung in ein westliches Bundesland früher für bundesweite Medienaufmerksamkeit gesorgt hatten (Seite 5), die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen auf ihrem Kongress in Jena (Seite 56), die unglaublich vielen - auch in Niedersachsen - hungerstreikenden Flüchtlinge gegen Gutscheine, Fresspakete und Arbeitsverbot (Seite 77 u. 81): sie alle stellen die Verknüpfung zwischen staatlicher Ausgrenzungspolitik und Rassismus her. Das aber sind die Anteile an der "Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft", die tunlichst in der medialen und parteipolitischen Debatte ausgespart werden. "Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft" ist nicht nur, wenn Politiker Hetze schüren - nur drei Prozent von Flüchtlingen als "asylwürdig" ansehen (Schily), Zuwanderer in solche die "nützen" und solche, die "ausnützen" bzw. "belasten" einteilen (Seite 17, 27), eine Mauer um ein Flüchtlingswohnheim bauen (Seite 8), den Asyl- und Sozialmissbrauch in großem Stil anprangern (Seite 15). Eine Politik der Apartheid, die die Haupt-Zielscheibe Rechter als zu bekämpfende, zu vertreibende, abzuschreckende Gruppe von Menschen konstruiert, fällt ebenfalls darunter. Die durch Sondergesetze jeden Tag - im Alltag, von jedem und jeder zu beobachten- deutlich macht: diese Menschen sind eine "Sonder"-Gruppe, haben von Gesetzes wegen weniger Rechte: an jeder Ladenkasse (Seite 84 und 85), auf jedem Bahnhof (Seite 12), in der Röntgenabteilung (Seite 91). Sie sind potentiell verdächtig: bei jeder Eheschließung mit Angehörigen der privilegierten Kaste, sie werden immer im Zug und auf der Straße kontrolliert, während BGS und Polizei an (optisch) Deutschen vorbeigehen. Nicht nur, dass der staatlich institutionalisierte, zur Flüchtlingspolitik geronnene Rassismus in der Debatte nicht auftaucht, muss misstrauisch machen. Die Versuche, den Anti-Rassismus inhaltlich zu besetzen und ihn staatlich zu "domestizieren", erinnern zu sehr an die rot-grüne Methode der "Bomben für Menschenrechte". Das öffentlich Positionieren gegen staatliche Umarmungsversuche und Begriffsbesetzungen wird verdammt schwierig, wenn es doch die eigenen Forderungen sind, die da plötzlich den Beifall von der falschen Seite finden. Das Beispiel Ludwigshafen macht die Grenzen deutlich: "Rassisten morden, der Staat schiebt ab", das dürfen Zivilcouragierte nicht sagen. Das längst überfällige öffentliche Erschrecken über rechte Gewalt ist nicht aus gesellschaftlicher Bewegung entstanden, sondern regierungsamtlich verordnet. Sicherlich und hoffentlich werden mehr Menschen auch in diesem Land jetzt sensibilisiert für das Ausmaß rechter Gewalt und den Verbreitungsgrad rechten Denkens. Der einen oder anderen Initiative wird die Debatte die - evtl. vorher wegen politischer Unliebsamkeit gestrichene - Finanzierung sichern. Die Ergebnisse der öffentlich inszenierten Debatte aber rechtfertigen jedes Misstrauen gegenüber Zweck und Perspektive. Ausgerechnet der BGS z.B. soll verstärkt zum Schutz von Flüchtlingen eingesetzt werden - der BGS, dessen Hauptaufgabe im Aufspüren von Illegalisierten und Flüchtlingen außerhalb ihres Aufenthaltsbereichs besteht (S. 56), gegen den zahlreiche Strafanzeigen von Flüchtlingen wegen Körperverletzung im Amt vorliegen. Ein ganzer Katalog an Repressions- und Überwachungs-Instrumentarien soll verschärft werden, was sich bislang nicht legitimieren und durchsetzen ließ, schafft der "Ruck gegen Rechts": Video-Überwachungen, Kontrolle des Internet, juristische Schnellverfahren, Post-Kontrolle usw. . Gewalt gegen Flüchtlinge lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen. Aber heute findet sich der ermordete Alberto Adriano auf dem Titelblatt, wo vor einem Jahr Aamir Aageeb abgebildet war - bei der Abschiebung ermordet. Die Mörder von Adriano sind dieser Tage zu Höchststrafen verurteilt worden, die Mörder von Aamir Aageeb haben noch kein "Gesicht gezeigt". Vielleicht bringt Günther Beckstein die flüchtlingspolitischen Anteile des Einheits-Taumels gegen Rechts am treffendsten auf den Punkt: "Auch der Ausländer, der morgen abgeschoben wird, muss sich heute auf unseren Straßen sicher fühlen" (Seite 41). Maria Wöste 2 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 IMPRESSUM Titel: FLÜCHTLINGSRAT Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen Ausgabe: 4+5/00 – Heft 69/70 August - September 2000 Herausgeber, Verleger Redaktionsanschrift: Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V. Lessingstr.1 31135 Hildesheim Tel: 05121-15605 Fax: 05121-31609 [email protected] Postbank Hannover, Kto.: 8402-306, BLZ 250 100 30 Verantwortlich und ViSdP: Maria Wöste c/o Geschäftsstelle Redaktion dieser Ausgabe: Claudia Gayer, Dietmar Lousée, Justus Reuleaux Betina Stang, Kai Weber, Maria Wöste Layout Justus Reuleaux Druck: Druckerei Lühmann Bockenem 1-3 Tausend, August 2000 Erscheinungsweise: 8 Hefte im Jahr auch als Doppelnummer Bezugspreis: Jahres-Abonnement incl. Versandkosten 120 DM (im Mitgliedsbeitrag enthalten) ISSN 1433-4488 © Förderverein Nds. Flüchtlingsrat e.V. Alle Rechte vorbehalten Manuskripte: Wir freuen uns über Manuskripte und Zuschriften. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Materialien wird jedoch keine Haftung übernommen. Im Falle des Abdrucks kann die Redaktion kürzen. Manuskripte sollten als Datei (Diskette oder email) geliefert werden. Wir arbeiten mit MSWORD Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Mit finanzieller Unterstützung der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen Titelfotos: Bernd Grueninger/ version Trauerkundgebung für Alberto Adriano, Dessau, 14.6.2000 INHALT R A S S I S M U S U N D G E WA LT Appell der Flüchtlinge in Rathenow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .5 Celle:Mauer gegen Flüchtlinge (R.Winter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8 LK Helmstedt: Hilferuf von Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11 Stade: Geschehen im Saal dominieren Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12 GRUNDRECHT AUF A SYL UND EINWANDERUNG “Asylmissbrauch” in Bremen (ARAB/IMRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 Anmerkungen zur Asyldebatte (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17 Asylrecht realistisch: Asyl in Deutschland(G. Werner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 Asylrecht philosophisch: “Wir, das Volk” (S. Benhabib) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 Einwanderung ökonomisch: “Nützliche” Zuwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27 Einwanderung globalistisch: Gute Karten, schlechte Karten (FSchneider) . . . . . . . .30 Asylrecht doch noch: Anerkannt (Red.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .32 FESTUNG EUROPA Krokodilstränen um tote MigrantInnen (M. Holzberger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35 Angriff auf Europas sans papiers (kmii) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40 Grenz-Camp:Sklaven mit Computrkenntnissen (kmii) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Festung Flüchtlings-Lager (R. Andreesen/M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43 Kriminalisierung und Beratung von Flüchtlingen (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . .44 DEPORTATION Grenzen (Wolf-Dieter Narr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 Deportation class: Lufthansas Abschiebegschäft versalzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 Cloppenburg: ABH als Identitätsverschleierer (J. Sürig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53 Hannover: Mustergefängnis? Abschiebeknast vorzeitig in Betrieb . . . . . . . . . . . . .54 Karawane Flüchtlings-Kongress (K. Gierth/C. Yufanyi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56 KURDENVERFOLGUNG Von Deutschland in den türkischen Folterkeller (C. Gayer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59 Neuer Türkei-Lagebericht (C. Gayer/K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62 Zwischen den Fronten (K. Welder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65 Ausbürgerungbei Wehrdienstentziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66 KRIEGSFLÜCHTLINGE Flüchtlinge aus Kosova und Serbien: Frieden nicht in Sicht (B.Stang) . . . . . . . . . . .67 Wie entlarve ich einen falschen Roma - Nds. MI (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . .71 Abschiebungsschutz für Roma? (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .73 Bundestag: Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten . . . . . . . . .74 ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ Flüchtlingsproteste bundesweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77 Niedersachsen: Hungerstreik in Hagen (M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .81 Wolfsburg: Gutschein-Betrug - Wer sind die Betrogenen (O. Sunny) . . . . . . . . . . .84 §2 AsylbLG: Das Privileg der Benachteiligten (A. Kothen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .86 G E T E I LT E M E D I Z I N Hannover: Ärztlich attestierter Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89 Gifhorn: Todesurteilauf Raten? (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .90 Oldenburg: Apartheid in der Röntgenabteilung (M. Wöste) . . . . . . . . . . . . . . . . .91 Traumatiserte Flüchtlinge (Redaktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92 EHE UND FAMILIE Prügel als Abschiebungsgrund - § 19 geändert (B. Stang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .95 Apartheid: Eheleute unter Argwohn/Ausreisepflicht trotz Kind (B.Stang) . . . . . . . .96 Neue Kindergeld- und Erziehungsgeld-Ansprüche (K. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . .99 Freie Wohnortwahl für Konventionsflüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 KIRCHENASYL Kirchenasyl ist ein Dazwischentreten (H-P Daub) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 Braunschweig: Pastoren auf der Anklagebank (Flüchtlingsrat) . . . . . . . . . . . . . . .105 Wanderkirchenasyl: Gefangen in der Unmenschlichkeit (kmii) . . . . . . . . . . . . . . .107 LÄNDERBERICHTE Afghanistan: Bundesverfassungsgericht kippt Bürgerkriegsrechtsprechung . . . . .109 S E R V I C E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111 3 S o l i d a r i t ä t s e r k l ä r u n g E in Sondereinsatzkommando der Polizei schießt in Braunschweig am 10. 12. 99 - zynischerweise dem Tag der Menschenrechte - auf den bulgarischen Flüchtling Zdravko Nikolov Dimitrov. Die angeblichen „Notwehr-Schüsse“ auf Dr. Nikolov fallen, als dieser unter Selbstmord-Drohungen sich dagegen wehrt, wegen einschlägiger Foltererfahrungen in Abschiebehaft genommen und einem Amtsarzt zwangsvorgeführt zu werden. Der kommunistische Physiker Nikolov war 1992 in Sofia in einem psychiatrischen Gefängnis von Ärzten und Polizisten gefoltert lingsrat schon seit Jahren zusammen. Gemeinsam haben wir 1998 eine Publikation über Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen in der deutsch-polnischen Grenzregion herausgebracht. Ein Mitarbeiter des FFM wird im Zusammenhang mit der polizeilichen Großaktion verhaftet, ihm wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Last gelegt. Die Straftaten, an denen er angeblich beteiligt gewesen sein soll, sind strafrechtlich längst verjährt wie die Staatsanwaltschaft selbst mitteilt. Bei den Vorwürfen geht es ausnahmslos um Anschläge, die und Entrechtung bei Flüchtlingen legitimiert und exerziert wurden, sind mittlerweile hinlänglich bekannt. Dafür ist Berlin mit seiner Umsetzungspraxis des Asylbewerberleistungsgesetzes inklusive Aushungern und Obdachlos-Aussetzen von Flüchtlingen ein schauriges Beispiel. sich gegen „Vollstrecker der deutschen Asylpolitik“ richteten. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen unterstützt die Forderung, den Mitarbeiter des Forschungszentrum Flucht und Migration und die anderen beiden Festgenommenen sofort freizulassen. Dass in dieser Stadt jetzt mit durchsichtigen aber trotzdem funktionstüchtigen Mechanismen der Spaltkeil an die kritische (füchtlings)politische Öffentlichkeit gesetzt wird, verdient unser aller Empörung. Foto: 3.Welt Saar worden, es bestand eine attestierte, akute Retraumatisierungs- und Suizid-Gefahr. Am 20.12. 99 stirbt Zdravko Nikolov Dimitrov an seinen Schussverletzungen. Einen Tag vor seinem Tod durchsucht ein Großaufgebot an polizeilichen Spezialeinheiten den Berliner MehringHof nach Sprengstoffdepots. Neben anderen Initiativen sind hier zahlreiche MigrantInnenSelbstorganisationen und flüchtlingspolitische Initiativen beheimatet, unter anderem das Forschungszentrum Flucht und Migration (FFM). Mit dem FFM arbeitet der niedersächsische Flücht4 In einer Zeit, in der der deutsche Bundesinnenminister laut über die Abschaffung der Reste des Asylrechts sinniert, wird ein Flüchtling erschossen - von Angestellten des Staates. Und in dieser Zeit werden einige Initiativen und deren Mitarbeiter, die staatliche (Flüchtlings)Politik kritisch analysieren und kommentieren, öffentlich als Terroristen gebrandmarkt, kriminalisiert, inhaftiert. Die Mechanismen, mit denen Ausgrenzung und Stigmatisierung vorbereitet und hemmungslose Leistungsverweigerung Solidaritätserklärung des Flüchtlingsrat Niedersachsen, 23.12. 1999 weitere Inormationen: www.freilassung.de FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Rassismus und Gewalt Rassismus und Gewalt Foto: Rostock - Lichtenhagen 1992 ”Why do you blame the man on the street who beats, what about the law and the law makers?” Appell der Flüchtlinge in Rathenow I m Februar hatten Flüchtlinge aus Rathenow (Kreis Haveland/Brandenburg) in einem offenen Brief ihre Verlegung in ein anderes Bundesland gefordert, nachdem mehrere von ihnen Opfer rassistischer Angriffe geworden waren. Der Brief löste öffentliche Diskussionen aus, die rassistischen Angriffe gingen aber – trotz erhöhter lokaler Polizeipräsenz – nicht zurück. Ende April schickten 116 Flüchtlinge erneut einen Brief an den Bundeskanzler, Bundestag und andere offizielle Stellen. Sie benennen hier Gründe für die rassistische Gewalt, die in der aktuellen öffentlichen Diskussion nicht auftauchen. Flüchtlinge kommen in der Debatte über Rassismus und rechte Gewalt – außer als Opfer-Zahl – nicht vor und fast nie zu Wort. Darum drucken wir ihren Brief – in der Original-Version – ungekürzt ab. (Red.) Honourable Statesmen, We the asylum seekers in Rathenow have the honour most respectful to present our claims. We have thought it very wise that the silent scribble of the pen is stronger than the thunderous sound of the gun. We believe strongly in the power of argument and not the argument of power. Our claims have reduced us to the level of secondclass citizens and have made some Germans to consider us as valueless to the extent of always beating us mercilessly. From these racist attacks we incure serious body injuries to the extent of death. We consider these attacks racist because of the words that always come out from the mouth of the aggressors. Example: “Foreigner, what do you want here, we hate you because you are a foreigner, we are fighting for our land, you should go back to your land and fight all the foreigners there.” Respectful Ladies and Gentlemen, before we proceed, we wish to use this golden opportunity to make clear a point. Many people have always considered the asylum seekers as outcasts of society, as people who have nothing to contribute to the growth of the society, as people who left their various countries because of poverty, as people without any sense of direction, as criminals and not as humanbeings who left their various homes because their lives were at stake. Honourable Ladies and Gentlemen, we are appealing to you to consider the asylum seekers as human-beings like yourselves without any barrier in any domain -colour-, nationality or continent. It is a disgrace for us to be writing in English after living in Germany for a long time. WHY? Because we do not have the possibility as asylum seekers to study in Germany. In order to enrich the society, knowledge should be distributed. When one has knowledge and distribute it, he or she enriches the society without losing a grain of his or her knowledge. When there is a lighted candle in a room, and people come with candles and light their candles from this one candle, the flame of the single candle does not reduce but on the contrary the Landkreis Stade 21.01.2000 Auf ein von 42 Flüchtlingen bewohntes Haus in Harsefeld wird ein Brandanschlag verübt, bei dem aber niemand verletzt und nur geringer Sachschaden angerichtet wird. Drei Personen sollen anschließend mit einem weißen VW Golf in Richtung Buxtehude geflüchtet sein. 25.01.2000 Die Polizei fasst fünf Täter, die an dem Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in Harsefeld am 21.1. beteiligt waren. Die Täter sind geständig, "eine rechtsextreme Motivation sei aber nicht erkennbar", so ein Polizist vom Staatsschutz. 27.01.2000 In der Nacht zum 28.1. werden in Horneburg mehrere Stellen (u.a. Realschule, Bahnhof, Kirche, ein Geschäft) mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert, an einem Geschäft, dessen Inhaber aus der Türkei stammt, werden die Fensterscheiben zertrümmert. 5 Rassismus und Gewalt 30.1.2000 Abends greifen 15 bis 20 Neonazis - mit Ketten, Holzlatten und Flaschen bewaffnet - am Bremervörder Bahnhof eine Gruppe von mit dem Zug eintreffenden Bundeswehr-Soldaten an, von denen sie nach einer Auseinandersetzung in der örtlichen Diskothek Haase am 20. Januar bereits Prügel bezogen hatten. Die Soldaten können mit leichten Verletzungen fliehen. room becomes bright. Examples are the present U.S.A. secretary of state who went to America as an asylum seeker and Mr.Schultze who left Germany and went to America as an asylum seeker. He ended up as a senator in America. WHY? They met a selfless society in the distribution of knowledge. This is just to name a few. From these two examples, you will agree with us that some of us are like the biblical stone. We have something in us that others do not have. The slaves from MENDI, Sierra-Leone, could express themselves and demystify the mystery that surrounded the Spanish ship, THE AMISTAD, in 1839, because they were offered the opportunity to learn. Before we proceed, we will use this opportunity to express our profound gratitude to some officials and organisations in the state of Brandenburg for the Mitte Februar 2000 role they have played to arrest the racist In Neuenkirchen bei Horneburg wird ein assaults on us which have not receded 28-jähriger Türke aus Hannover von drei but have instead increased. Neonazis zusammengeschlagen. Zuvor hatten die drei eine Frau veranlasst, per Honourable Ladies and Gentlemen, altInternet einen ausländischen Freund zu hough some of these officials have set suchen, worauf sich der Mann aus Hanthe foundation to solve the problems of nover meldete. Unter einem Vorwand racism we are facing, the physical and wurde er in eine Neuenkirchener Wohpsychological torture we undergo, they nung gelockt, wo ihm dann u.a. das Naalso appealed to us that they have limisenbein zertrümmert und er - am Boden ted powers to handle our social deliegend - getreten wurde. Er konnte mit mands as asylum seekers. That is why as einem angehaltenen Auto entkommen. asylum seekers, we find it appropriate Die Täter werden zwar daraufhin festgeto personally present our claims to you. nommen, aber nach kurzem wieder entThese claims have contributed for the lassen, weil "die rechtlichen Voraussetracist attacks we undergo. zungen für den Erlass eines Haftbefehls nicht vorliegen", so der Stader PolizeiSome of our colleagues took a trip to sprecher John. Dieser Vorfall wird erst some of the asylum camps in the state drei Monate später im Stader Tageblatt of Brandenburg to share with the other (20.5.) bekannt. asylum seekers our miseries. The report Beteiligt an der Tat ist Lars Hildebrandt, is drab, hollow, blick and degrading. der Haupttäter des Überfalls auf eine KuFrom their report, we discovered that tenholzer Flüchtlingswohnung am asylum seekers are imprisoned for their 19.5.1999. “Political and religious ideas” back at their various countries. In fact, an undefined prison sentence. 16.2.2000 In einem Interview mit dem Wochenblatt erklärt der Stader Polizeisprecher John, trotz einer Häufung von neofaschistischen Schmierereien und Anschlägen sowie bekanntgewordener "Stahlhelm"-Aktivitäten: "Nein, der Kreis ist keine rechte Hochburg." 6 Honourable Ladies and Gentlemen, if you have two friends, one is always sharing your point of view and the other can at times criticise you, PLEASE, “the praise singer friend” is not a good friend. We are appealing to [use] your High offices to improve the social conditions of the asylum seekers in your country. If it is a law, we hold strongly that this law is outdated to suit the taste of time. We are in a new Millenium. Let us avoid a situation where posterity will judge somebody negatively or point a finger at somebody for his or her inhuman treatment towards his fellow human-being. Who ever knew, the almighty Papon Maurice who had all the powers to arrest and deport about 1500 Jews in camps of Nazis exterminationwill one day have a rusty, sordid and dradful future. Plato, the philosopher, once said: “The foreigner, isolated from his fellow country men and his family, should be the subject of greater love on the part of men and of gods. So all precautions must be taken in order that no wrong be committed against foreigner”. Honourable Ladies and Gentlemen, in our various countries, we fought against bad governance to the risk of our lives. Had it been we were in some European countries or Arnerica, some of our names will be handed down to posterity as those who practised those sublime of all virtues-disinterested patriotism and unshrinking courage to stand firm against dictatorship. On the contrary, we were hunted away because of our ideas. Ladies and Gentlemen, we do not know how you are going to receive our appeal but we know we are playing our rational role. William Shakespeare once said, “The world is a stage where every body has a role to play”. OUR CLAIMS 1 - NO FREEDOM OF EDUCATION: Respectful Ladies and Gentlemen, we strongly believe that there are no barriers to the acquisition of knowledge. We are shocked to see that because somebody is an asylum seeker he cannot go beyond a certain level of elementary education, he cannot further his education, he cannot learn any profession. How can people live in asylum prisons for one to ten years without educational facilities. Such an indiscriminate creation of exclusive privileges tends rather to destroy a particular class of people than to construct. For the fact that we are unable to express our selves to the Germans, some of them consider us as pest to the society and their response is to attack us mercilessly. Some Germans think we are fools. 2 - NO FREEDOM OF MOVEMENT: We are puzzled than angry to the fact that we have defined territorial jurisdiction that we cannot go beyond without permission. At times a ministerial order can rule this federal law. Example was on the 20.04.2000 that some of our colleagues were supposed to go to an International Congress of Refugees in FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Rassismus und Gewalt Jena. The almighty Minister of internal affairs in the state of Brandenburg circulated a ministerial order not to give any body permission to go to Jena. Are we living in a military regime? Are we living in a dictatorial regime as back in our various homes? Are we living in a state of emergency? Is that his definition of democracy? - NO freedom of association, NO freedom of movement? Why should we always live on the margin? Our cry although is like a teaspoon of water thrown into the sea. We know we are not living, we are barely surviving. lf you can put the nail on our coffins, we shall no more live to see or to hear dictatorship. That apart, the question now is, why should we at any moment need permission to travel within Germany? Did we seek asylum in Germany or in Haveland? We are born free but every second we are in chains. If the Police arrest anybody out of his territorial jurisdiction, he or she is expected to pay the sum of 125.-DM. How can you tax somebody who is not working to pay 125.-DM? How can you punish somebody who have the right to 80.-DM cash per month to pay the sum of 125.DM? 3 - NO FREEDOM OF WORK: Another bomb in the road is we do not have the freedom to work. In our identity card, it is clearly stated “Erwerbstätigkeit nicht gestattet”. In this case, you cannot be employed by any body or carry on any personal activity that can raise money. What do you think will become of a human being that cannot go to school, that cannot move freely and that cannot work? Always eating and sleeping in one room. Many of us have developed nerves problems, gastric and psychological problems because of this inhuman treatment. Worst of all we are hated by some Germans who believe their taxes are used on us. That is why they attack us. Why do you blame the man on the street who beats, what about the law and the law makers? We strongly believe that racism stems from the law. 4 - NO FREEDOM OF COMMERCE: One of the root causes of racism is the manner in which our shopping system is organised. Example is in the state of Brandenburg. The medium of exchange is with vouchers or Smart Cards. We do not have access to money. In a month, we are given the vouchers to the tune of 310.-DM and money is just 80.-DM cash. Or one can do shopping with the Smart Card to the tune of 310.-DM. With these systems, we have defined shops, defined goods to buy. For instance, there are Asians or Africans. We have special food stuff that are found in special shops in towns and these shops do not accept the vouchers. Secondly, in the shops that we are allowed to buy, it is very easy for somebody to identify us with vouchers. This create a lot of problems. We cannot use these vouchers or Smart Cards out of our territorial juridiction. We want our monthly payment in cash. Why? Because at the end of each month, we have to [pay] our lawyers 50.-DM, we have to write our family members back at our countries, some asylum prisons are not in the same town with the social welfare office. To go there, we have to pay transport too and fro, we have to pay penalties from Police control. With 80.DM, it is impossible to meet up these demands. Anfang März 2000 Die Grundschule in Ahlerstedt und das Harsefelder Rathaus werden mit Hakenkreuzen, SS-Runen und anderen faschistischen Parolen besprüht. März 2000 Schwerpunkte des 40 Mitglieder umfassenden JN-Landesverbandes (NPD-Jugendorganisation) liegen nach Aussage des niedersächsischen Verfassungsschutzberichtes für 1999 in den Regionen Buxtehude und Diepholz. We always create long lines with our vouchers in shopping centres. This has always made people to be annoyed with us: As if that is not enough, we are forced to buy to the tune of 90% with our vouchers. It is clearly stated on the vouchers that one cannot receive a balance of more than 10%. Where is the freedom of commerce? Finally, the vouchers have expiring dates. We are forced to use these vouchers within a specific time of not more than one month. The dates are usually stated on the vouchers. 18.3.2000 Nachdem bereits für Ende Februar ein Nazi-Rock-Konzert in Wesel (Kreis Harburg-Land) geplant war, wird am 17.3. ein Tostedter Neonazi durch Messerstiche schwer verletzt - angeblich von einem russlanddeutschen Jugendlichen. Am 18.3. suchen etwa 20 Neonazis die Auseinandersetzung mit der Polizei, nachdem ihre Demonstration in der Nähe einer vorwiegend von Russland5 - OUR ASYLUM PRISONS ARE MOSTdeutschen bewohnten Siedlung verboLY IN FOREST: ten wurde. As it has been seen, most of our asylum prisons are found in forest. Many people always asked why is it that most of the asylum seekers live mostly at the outskirts of the town? To those who cannot ask, they have built it in their minds that we are good for the forest with the 7.4.2000 animals. When they see us in town, it is Mit einem massiven Aufgebot verhindert an embarrassment. They point fingers die Polizei in Tostedt eine von der NPD at us, they look at us with racist eyes angekündigte Demonstration sowie eine and they attack us with their normal Gegenkundgebung. slogan “foreigner what are you doing here”? In some of our camps, we find it difficult to reach the towns. We are strange to some Germans because they 12.4.2000 cannot understand us. Einen erheblichen "Aufwärtstrend" bei rechtsextremistischen Straftaten gab es In our prisons, we have spaces smaller in Stade. Waren es 1998 noch 62 Taten, as six quadrametre. So many people so gab es im folgenden Jahr 88. Das ist share one room. The German shepherd eine Zunahme von 42 Prozent. (Aussadogs are respected more than asylum gen bei Vorstellung der Kriminalstatistik seekers. The dog is entitled to a space 1999) 7 Rassismus und Gewalt 22.4.2000 Unter dem Schutz eines starken Polizeiaufgebotes demonstrieren rund 100 Neonazis in Tostedt mit rassistischen Parolen. Antifaschisten erhalten Platzverweise. Die JN (Jungen Nationaldemokraten) hatten die Kundgebung angemeldet. Zunächst war sie von der Kreisverwaltung Harburg-Land verboten worden. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht hatten das Verbot bestätigt, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte sie schließlich genehmigt. 20.5.2000 Der "Runde Tisch" in Kutenholz veranstaltet ein Jahr nach dem Überfall auf fünf Flüchtlinge in Kutenholz-Aspe (19.5.1999) eine Aktion mit gelben Schleifchen vor einem Einkaufsmarkt. Kein Wort im Stader Tageblatt über die Opfer, die mittlerweile in Apensen wohnen, sie waren zu dieser Aktion nicht eingeladen. above eight quadrametre but asylum seekers about six quadrametre and even that they do not have. All these aspects have made some Germans to consider us as outcasts of the society. Are we not human-beings? Respectful Ladies and Gentlemen, our problems are many. We cannot write all down. If really asylum seekers wants to describe their situation, we always use the picture of two men standing in front of us. One is holding the Holy Bible and a knife at his back. He gives the Bible to the other man, as he takes it, turns to go, the other man stabs him from the back with the knife. Respectful Ladies and Gentlemen, we are appealing to you to use your high offices and reverse this situation. While thanking you for reading, we hope you will answer to our cry for a better life. THANKS. Your sincerely asylum seekers, RATHENOW: 26. April 2000. Foto: Klingbeil Göttingen: 29.1.2000 In Celle baut man eine Mauer gegen Flüchtlinge Nazis können nur noch das „lasche Vorgehen der Justiz“ beklagen RALF WINTER Ende Mai 2000 In Stade-Hahle werden zwei Männer aus der Türkei von zwei Neonazis mit neofaschistischen Parolen beschimpft und belästigt. Die Täter werden von der Polizei zwar gestellt, über Konsequenzen berichtet das Wochenblatt (24.5.) aber nicht. 30.5.2000 Im Prozess gegen die Täter vom 19.5.1999 (Überfall auf fünf Flüchtlinge in Kutenholz-Aspe) wird Lars Hildebrandt zu 18 Monaten Gefängnis, die übrigen vier Angeklagten zu Bewährungstrafen verurteilt. Allen wird mehr oder weniger geglaubt, dass sie 8 „Im übrigen würde ich mir wünschen: Wer als Asylbewerber in diesem Lande das Gastrecht durch Straftaten missbraucht, muss damit rechnen, ausgewiesen zu werden.“1 Es kann heute nicht mehr überraschen, diesen Satz aus dem Munde eines Sozialdemokraten zu hören. Irritieren mag vielleicht einzig, dass es sich bei Jens Rejmann nicht nur um den Vorsitzenden der Celler SPD-Ratsfraktion, sondern auch um den Leiter der gewerkschaftsnahen Heimvolkshochschule Hustedt handelt und diese wiederum seit drei Jahren mit EU-Mitteln ein Projekt mit dem Titel „Integration contra Nationalismus“ durchführt.2 Der SPD-Politiker positionierte sich mit seiner Äußerung im Zentrum einer von Presse und Politik initiierten Kampagne gegen schwarzafrikanische Asylbewerber. Die neonazistische „Kameradschaft 73 Celle“, um die es am Ende dieses Artikels kurz gehen soll, kann da auf ihrer „Heimat-Seite“ im Internet nur zustimmen, um einzig das „lasche Vorgehen der Celler Justiz“ zu beklagen. Zu Beginn diesen Jahres wurde die Celler Öffentlichkeit mal wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es auch in der niedersächsischen Provinz AsylbewerberInnen gibt. Wie immer, wenn sich die Lokalpresse des Themas annimmt, mit negativer Konnotation.3 „Behörden schauen weg: Prostitution, Rauschgifthandel und offene Gewalt“ titelte die “Cellesche Zeitung”.4 Ins Visier genommen wurde ein von der Fa. Olympic betriebenes Flüchtlingswohnheim, in dem rund 60 AsylbewerberInnen aus rund 15 Ländern leben. Reißerisch wurde ein mafiöses Szenario beschrieben, in dem die Flüchtlingsunterkunft zum bedrohlichen Drogenumschlagplatz mutierte. Die Polizei ließ auf FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Rassismus und Gewalt der Stelle eine Razzia folgen, die exakt elf Gramm Kokain und 32 Gramm Marihuana sowie drei Schreckschusspistolen in die Asservatenkammer beförderte. Die Überschrift der “Celleschen Zeitung”: „Asylbewerberheim Treffpunkt für Abhängige: Drogenfahnder stellten Kokain und Waffen sicher“.5 Was die Presse angeschoben hatte, fand einen Resonanzboden in der Bevölkerung des Wohnumfeldes des Flüchtlingsheims. Verständlicherweise und durch die Presse angeheizt ist einigen, die Drogen in der Apotheke und im Lebensmittelladen erwerben, ein Milieu “unheimlich”, wo Geschäfte nicht mit Kassenzettel quittiert werden. Die Anwohner forderten deshalb die Abschirmung ihres Garagenhofes durch eine Mauer, weil über diesen Hof die Anlieferung der Drogen abgewickelt würde. Verwaltung und Stadtrat machten sich sofort an die Umsetzung des Bürgerwillens. Beschlossen wurde der Bau einer Mauer, die dem Sicherheitsbedürfnis der Anwohner Rechnung tragen und sie vom Flüchtlings-Sammellager trennen soll.6 Die tiefe Symbolik eines Mauerbaus gegen Flüchtlinge irritierte weder die Öffentlichkeit noch bei seinem einträchtigen Beschluss den Stadtrat.7 Auch die unbestreitbare Tatsache, dass im Deutschland des Jahres 2000 nicht die Eingeborenen, sondern die Fremden einer Bedrohung an Leib und Leben ausgesetzt sind, brachte niemand zum Nachdenken. Nebenbei soll das Wohnheim technisch so aufgerüstet werden, dass Vergleiche mit einem Knast nicht mal absurd scheinen: Eingangskontrolle (Zugang nur für Bewohner), Präsenz von Wachleuten, Zusammenarbeit mit der Polizei. Für das ganze Maßnahmenpaket stellte der Rat 123.000 DM in den Haushalt ein. Wofür sich dagegen kaum jemanden in Celle zu interessieren scheint, ist die Lebenssituation der AsylbewerberInnen. Gemeinsam ist ihnen eine gelungene Flucht aus Armut und Verfolgung in eines der reichsten Länder der Welt, gemeinsam war ihnen vielleicht die Hoffnung auf Sicherheit und Glück. Unterschiedslos aufgezwungen wird ihnen ein Leben in Enge, Armut und Unsicherheit. AsylbewerberInnen ist bekanntlich nicht erlaubt, auf “ehrliche Weise” ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zugebilligt wird ihnen ein Dasein unterhalb des für Deutsche definierten Existenzminimums. Wegen der Ausgabe von Wertgutscheinen gelangt kaum Bargeld in ihre Hände. Kurz: Politik und Verwaltung schaffen, indem sie rund 60 Menschen unter diesen Bedingungen auf engstem Raum konzentrieren, einen “sozialen Brennpunkt”, und wundern sich, wenn die Probleme öffentlich werden, dass ein “sozialer Brennpunkt” entstanden ist. Dabei erscheint es fast selbstverständlich, dass in dieser Situation von Armut und Unsicherheit vor allem junge Männer den illegalen Weg des Gelderwerbs gehen. Und das heißt Kleinkriminalität in allen ihren Formen. Drogenhandel und Diebstahl sind dabei die vergleichsweise ungefährlichsten und einträglichsten Wege. Wer also 1+1 zusammenzählen kann, weiß, dass Sammellager für Flüchtlinge geradezu zwangsläufig Drogen-Konsum und -”Kriminalität” hervorbringen. Für die Familien mit Kindern und die älteren Flüchtlinge, die mitten in diesem „Milieu“ leben müssen, bedeutet dies vor allem zusätzlichen, gesundheitsgefährdenden Stress. Dies zu ändern, wäre ein vergleichsweise Leichtes, würde man die Lebensbedingungen der Flüchtlinge verbessern. Das Wohnheim gehört schlicht aufgelöst; eigentlich kein Problem angesichts des in der Stadt vorfindlichen Wohnungsleerstands seit dem Abzug der britischen Truppen aus Celle. Hilfreich wären weiter ausreichende finanzielle Leistungen, Arbeitserlaubnis, integrative Maßnahmen wie Sprachunterricht. Nur steht das dem gewollt abschreckenden und ausgrenzenden Charakter entgegen, der Flüchtlingen das Leben in Deutschland zur Hölle und den Deutschen ihre Stigmatisierung leicht macht. Dass es Unterschiede im Verhalten der Flüchtlinge gibt, ist auch dem eingangs erwähnten SPD-Fraktionsvorsitzenden nicht entgangen. Nur ist er scheinbar nicht in der Lage zu verstehen, warum alte Flüchtlinge stumm und depressiv werden, junge Männer sich den Drogen zuwenden und Kinder zu Bettnässern werden. Seine ganzes Differenzierungsvermögen bewegt sich auf dem Niveau von Gut und Böse. Ein von ihm gefordertes „ineinander verzahnte Sicherheits- und Sozialkonzept“ ist nichts weniger als verzahnt, sondern folgt dem schlichten Motto: “Jedem das Seine.” Die einen sollen mit allen Mitteln strafrechtlich verfolgt werden, während es ein soziales Betreuungskonzept ausdrücklich nur für „nicht belastete Flüchtlinge“ geben soll.8 Der neonazistischen “Kameradschaft 73 Celle”9 bleibt so auf der von ihr im In- sich von neofaschistischen Strukturen lösen bzw. gelöst haben. Dass ein in dieser Angelegenheit bereits zu einer Jugendstrafe verurteilter Zeuge mit einem Ärmelaufnäher "Kameradschaft ElbeWeser" und alle Angeklagten außerdem in typischer Neonazi-Kluft erscheinen, stört weder Gericht noch Staatsanwalt. Die Opfer des Überfalls sind zwar als Zeugen geladen, werden aber nicht gehört. Prozessbesuchern gegenüber sagen die Opfer nach der Verhandlung aus, dass sie bereits vor dem Überfall Morddrohungen von Neonazis erhalten hatten. 9.6.2000 In Stadersand kommt es am Abend zu einer Schlägerei, bei der Strandbesucher, die dort Ball spielen, von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen werden. Fünf Streifenwagen sind im Einsatz. Die Jugendlichen sollen der rechten Szene angehören. Bis jetzt liegen der Öffentlichkeit noch keine weiteren offiziellen Informationen dazu vor. Harburg-Land 17. November 1999 Am Volkstrauertag führten etwa 60 Neofaschisten mit NPD-Fahnen einen Aufmarsch auf dem Ehrenfriedhof Rosengarten-Vahrendorf durch. Cuxhaven Herbst 1999 Auf dem jüdischen Friedhof in der Wingst kam es erneut (nach 1995 und 1997) zu einer Schändung. Der Ortheimatpfleger betont: "Für mich sind das rechtsextreme Vorfälle, die von unserer Gesellschaft sehr ernst genommen, entsprechend verfolgt und geahndet werden sollten. Dies besonders in Anbetracht des Schicksals, das den Menschen jüdischen Glaubens und Geburt in der NS-Zeit in unserem Land und darüber hinaus widerfahren ist." 9 Rassismus und Gewalt Rotenburg/Wümme 15./16. Januar 2000 In der Nacht wurden sechs Fensterscheiben eines Hauses in Elm mit Steinen eingeworfen. Die Mauer wurde außerdem mit dem Schriftzug "SIEG HEIL" und einem Hakenkreuz beschmiert. In dem Haus leben zwei kurdische Familien und zwei Aussiedlerfamilien aus Russland. Einbeck Mai 2000 Im Mai 2000 wird bekannt, dass der Leiter eines privat betriebenen Flüchtlingswohnheims in Einbeck seit Anfang 1995 sämtliche Post der Bewohner angenommen, geöffnet, gelesen und nach dem Zukleben den Flüchtlingen ausgehändigt hat. Gegen ihn wird ermittelt, wozu er gegen das Briefgeheimnis verstoßen und die Briefinhalte genutzt hat, sei noch unbekannt. Ein Polizeisprecher sagte, ein vergleichbarer Fall sei bislang noch nicht bekannt geworden. Dem Flüchtlingsrat sind dagegen mehrere Berichte von Flüchtlingen über Zimmerdurchsuchungen inklusive Lesen privater Post bekannt. Angesichts der Maßnahmen zur "Identitätsaufklärung" gegenüber angeblichen Identitätsverschleierern im Modellprojekt Identitätsfeststellung (Projekt X) verwundert es, dass für Flüchtlinge das Briefgeheimnis überhaupt noch gilt. Göttingen Nachdem von November 1999 bis Mitte 2000 vier angemeldete Nazi-Aufmärsche in Göttingen wegen Gegendemonstrationen verboten wurden (zuletzt vom Bundesverfassungsgericht), kündigen die Nazis Morde an. Ziel der Nazis: die "linke Hochburg schleifen." Nach den gescheiterten Aufmarsch-Versuchen gibt es mehrfach Hakenkreuzschmierereien auf dem jüdischen Friedhof, an einem linken Buchladen und anderen "widerständigen" Orten. Parallel zur öffentlichen Debatte über rechte Gewalt gibt es einen Schub provokanter Okkupationsversuche des öffentlichen Raums: Im Juli und August tauchen faschistische Postwurfsendungen, Spuckis und Plakate der NPD in Göttingen und vielen Orten der 10 ternet betriebenen “Heimatseite” kaum mehr, als den sonst von ihr gescholtenen “Systemknechten” zuzustimmen. Die Artikel der “Celleschen Zeitung” werden von ihr dokumentiert und mit Kommentaren versehen, die zum einen auf ein “Mehr davon” hinauslaufen. Nachdem die bei einer Razzia im Juli (gefunden wurden neben geklauten Fahrrädern 100 Gramm Marihuana, 6 Gramm Kokain und 20 Ecstasy-Pillen) festgenommenen drei „mutmaßlichen Drogendealer und Hehler“10 (CZ) tags darauf wieder aus der Haft entlassen waren, schrieben die Celler Nazis: „Als wir bei unserem gestrigen Kommentar das, zwar verspätete, Vorgehen der Polizei lobten, müssen wir dafür heute umso mehr das lasche Vorgehen der Celler Justiz kritisieren. Es kann doch nicht angehen, das Personen die, nachgewiesener Maßen, mit Drogen dealen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Bei einem solchen Vorgehen der Verfolgungsorgane, darf man sich auch nicht über das dreiste Verhalten, wie in oben aufgeführten Artikel erwähnt, wundern! Was haben sie denn zu erwarten? Drakonische Strafen? Ausweisung? Weder noch, bei einem solchen Verhalten der Justiz wird uns dieser Personenkreis weiterhin, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und dem gestohlenen Handy in der Hand, auf der Nase herumtanzen!“11 Steuergeldern?! Schade bloß, dass wir nicht in dem Bus nach Langenhagen gesessen haben. Die beiden Türken hätten vor Ort direkt ihre gerechte Strafe bekommen!“12 Drohungen wie diese sind ernstzunehmen. Im August vergangenen Jahres erschlugen zwei jugendliche Skinheads aus dem Umfeld der organisierten Nazis im Landkreis Celle einen arbeitslosen “Alt-Hippie” in seiner Wohnung, weil er immer wieder ihre rassistischen Sprüche kritisiert hatte. 1. Rede von Jens Reymann im Celler Stadtrat, dokumentiert in "Revista", Nr. 4/2000, nachzulesen unter http://members.tripod.de/Revista/start.htm 2. Mit Hilfe des im Rahmen dieses Projekts herausgegebenen "Handbuch für Erwachsenenbildung" wäre es kurioserweise möglich, Reymanns Rede auf ihren rassistischen Kern zu untersuchen: József Wieszt u.a. (Hg.): Integration contra Nationa-lismus, Hustedt 1997 3. Zur Rolle der Presse bei der Verbreitung und Reproduktion von Rassismus ist lesenswert Hilke Ganzerts Artikel im Jahres-bericht des AntiDiskriminierungsBüro Bielefeld; http://www.uni-marburg.de/dir/MATERIAL/ DOKU/DIV/BIELEF7.HTML 4. CZ, 22.1.2000 5. CZ, 23.1.2000 6. Für die geplante 2,50 m hohe Mauer hätte ein Bauantrag gestellt werden müssen, was ihren Bau verzögerte. Der schnellen Umsetzung wegen entschied man sich im Juli für eine nicht genehmigungspflichtige 1,80 m hohe stacheldrahtbewehrte Mau-er. Rassistischer Schutzwall? Wie sie sich die Lösung dieses “Problems” vorstellen, wird an anderer Stelle deutlich. Die “Neue Presse” berichtete Ende Mai in einem rassistischen Reißer, dass zwei türkische Jugendliche in einem Bus in Hannover-Langenhagen eine schwangere Frau geschlagen hätten. Kommentar auf der “Heimat-Seite”: „Diese feigen, abartigen türkischen Jugendlichen, werden für ihre niederträchtige, feige Tat vor einem deutschen Gericht wahrscheinlich noch nicht einmal eine Geldstrafe bekommen. Vielleicht gibt es ja auch einen netten Urlaub, sozusagen als therapeutische Maßnahme, bezahlt von deutschen 7. Einzig die lokale Alternativzeitung "Revista" nahm in zwei Artikeln kritisch Stellung: "Wo Celle zur Großstadt wird / Der Kampf gegen "Dealer" führt zur Mauer gegen Flüchtlinge", Nr. 3/2000, und "Stadtrat sagt JA zu rassistischem Schutzwall", Nr. 4/2000; beides unter http://members.tripod.de/Revista/start.htm 8. siehe Fußnote 1 9. Zur Celler Nazi-Szene gibt es ein gut recherchierte 6-seitiges Flugblatt, das bezogen werden kann über: AntiFa Celle c/o Buntes Haus, Hannoversche Str. 30 f., 29221 Celle 10. CZ, 12.7.2000 11. http://www.freie-nationale-jugend-celle.de/seite96.htm 12. http://www.freie-nationale-jugend-celle.de/seite66.htm FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Rassismus und Gewalt Hilfe-Ruf von Flüchtlingen aus dem Landkreis Helmstedt A n alle, die mit dem Thema Flüchtlinge und Menschenrechte beschäftigt sind, hier ist ein Hilferuf. sen im Moment von Abschiebungen nicht die Rede ist, sind sie im Lankreis Helmstedt schon fast zuende. Wir sind verzweifelt, wir haben Angst. Jeden Tag werden Flüchtlinge beleidigt, unterdrückt und schlecht behandelt. Wir haben Angst, unsere Ausweise verlängern zu lassen. Jedes Mal werden wir mit Abschiebung bedroht, obwohl es gar keine Möglichkeit dazu gibt. Es gibt keine Verlängerung, ohne beleidigt zu werden. Zum Teil werden uns Ausweise wegggenommen, wenn wir nicht sofort ausreisen oder eine Erklärung zur Freiwilligen Ausreise unterschreiben, und zwar sofort. Einigen Flüchtlingen im Landkreis Helmstedt wurde vor einigen Tagen ihr Ausweis weggenommen (Original: Im Landkreis Helmstedt einige Flüchtlinge seit paar Tage ihr Ausweis weggenommen). Sie hatten die „Freiwillige Ausreise“ in ein weltbekanntes Fluchtland nicht unterschrieben, um ihre Verwandten im Heimatland nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Es gibt dafür auch einige Beispiele aus der jüngsten Zeit: Eine Familie aus dem Kosovo mit drei kleinen Kindern hat wegen diesem Druck die „Freiwillige Rückkehr“ unterschrieben. Den genauen Zeitpunkt dafür hatten sie noch nicht festgelegt, denn sie haben ein krankes Kind, das in Behandlung war. Als sie am 14. August zur Verlängerung ihrer Ausweise im Landkreis waren, wurden sie aufgefordert, am nächsten Tag um 11.00 ab Hannover auszureisen. Würden sie das nicht tun, würden ihre Leistungen gestrichen und sie sofort abgeschoben. Weil sie keine andere Wahl hatten, sind sie mit ihrem kranken Kind ausgereist. Das ist nur ein Beispiel, bei den KosovoAlbanern. Obwohl in anderen Landkrei- Foto: 3.Welt Saar Es sind viele, viele Sachen, die man wirklich nicht alle in einen Brief schreiben kann. Dieses Schreiben wurde von einer Gruppe verschiedener Nationalitäten aus Helmstedt geschrieben. Wir sind fast jeden Tag dort, wir sehen es und wir hören es, unglaubliche Situationen. Wir bitten euch um eure Unterstützung und darum, ein Gespräch mit dem Landkreis Helmstedt durchzuführen. Umgebung auf - u.a. neben einem Flüchtlingswohnheim. Vier gröhlende Nazis marschieren nachts mit Fahnen und Transparenten am Todestag Rudolf Hess auf einer Ausfallstraße. Am 23. Juli wird eine Studentin aus der Karibik von pöbelnden Nazis angegriffen, ein Autofahrer greift ein und verhindert noch Schlimmeres. Hannover Juni 2000 Eine Vermieterin wollte ihrer zukünftigen Mieterin den Besuch eines schwarzen Freundes verbieten. Denn wenn er sie besuche, müsse er zwangsläufig den Haus-flur durchqueren, und das könne man den anderen Mietern nicht zumuten. Auf deren Abneigung gegen Schwarze sei schließlich Rücksicht zu nehmen. Die Vermieterin wollte die Wohnung nur noch mit Besuchsverbot für Schwarze vermieten. Die empörte junge Frau verzichtete, sollte dann aber für Mietausfall 1700 DM bezahlen. Sie zog vor Gericht. (Nach HAZ, 10.6. 00) Mit freundlichen Grüßen (Sprachlich überarbeitet von der Redaktion. Dieser Brief erreichte uns am 23. August. Er war ebenfalls an ai, Pro Asyl und an den UNHCR adressiert). Salzgitter 17. Juni Rechtsradikale Skinheads griffen mehrere Türken an, es kam zu einer Schlägerei. Nach Platzverweis durch die Polizei zogen 30 Rechtsextreme daraufhin in eine überwiegend von Ausländern bewohnte Straße und grölten ausländerfeindliche Parolen. Die Polizei intervenierte, als die gleiche Anzahl Türken sich ihnen entgegenstellte. 18. Juni Folgende Meldung fand sich im Göttinger Tageblatt direkt unter der obigen, ohne das ein Bezug hergestellt wurde: "Bei einem Streit auf einem Spielplatz in Salzgitter-Bad ist ein 21-jähriger Mann aus Göttingen am späten Sonntag Abend durch einen Messerstich lebensgefährlich verletzt worden. Ein 16-Jähriger erlitt leichte Verletzungen. Der Göt11 Rassismus und Gewalt Das Geschehen im Saal dominierten die Täter tinger, der zu Besuch bei Freunden in Salzgitter war, hatte sich mit diesen gegen 22.50 Uhr auf einem Kinderspielplatz aufgehalten. Als dort ein 18-jähriger Ausländer in Begleitung von drei Aspe Kindern vorbeikam, gab es zunächst ei- Überfall auf Flüchtlingswohnung in Kutenholz-A ne verbale Auseinandersetzung. In deren -P Prozess gegen die Täter in StadeVerlauf zog der 18-jährige plötzlich ein sogenanntes Butterfly-Messer und stach VNN Stade auf seine Opfer ein". Die Tat sollten, sonst würde es ihnen schlecht m 19. Mai 1999 überfielen acht ergehen. Die Vorkommnisse wurden alMänner die Flüchtlingswohnung in le der Polizei gemeldet. Nach der Tat Kutenholz-Aspe (Landkreis Stade). Drei kam es zu weiteren fremdenfeindlichen der vier im ersten Stock des Hauses le- Pöbeleien in Kutenholz. benden Flüchtlinge konnten sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten, Reaktionen im Dorf ein weiterer Flüchtling versteckte sich Unmittelbar nach dem Anschlag trat im Haus. Die Täter demolierten die der örtliche “Runde Tisch” (Zusammen30.6. 2000 Wohnungseinrichtung und zerschlugen schluss von Kutenholzer Vereinen, VerDie Staatsanwaltschaft lehnt ein Strafdie Fenster des Hauses. Eine im Erdge- bänden und der Kirchengemeinde) mit verfahren gegen eine Schaffnerin der schoss lebende Frau wurde mit einer Aktionen an die Öffentlichkeit. In einer Deut-schen Bundesbahn ab, denn "ein Waffe bedroht, ebenfalls ein zu Hilfe aufmerksamen Nachbarschaft hätten öffentliches Interesse an der Strafverfolkommender Nachbar. Ein Anwohner “feige Gewalttäter es schwer”. Gelbe gung (kann) nicht angenommen werkonnte sich die Nummer eines der Tä- Bänder in den Birkenbäumen, die zu den". Die Staatsanwaltschaft würde nur terwagen merken. Die ersten Täter wur- Pfingsten aufgestellt werden, sollen tätig werden, wenn "die Strafverfolgung den noch in der Nacht festgenommen. symbolisieren, “daß hier jemand zu ein gegenwärtiges Anliegen der AllgeHause ist, der dieses rechtsradikale Chameinheit ist, d.h. eine breite Bevölke- Die Opfer otentum ablehnt”. Die Schleifenaktion rungsschicht an der Bestrafung der Täter Es sind Flüchtlinge aus dem Bürger- wurde als Aktion gegen das Vergessen ein Interesse hat." Der Afrikaner war am kriegsland Sierra Leone, die hier Asyl im Mai 2000, ein Jahr nach dem Über8. Dezember 1999 im Bahnhof Elze von beantragt haben. Sie fürchteten fall, wiederholt. Die Opfer waren nicht einer Zugbegleiterin mit den Worten während des Überfalls um ihr Leben dabei. Sie waren nicht eingeladen wor"Neger, ich mach dich tot" aus dem an- und konnten sich nur durch verstecken den, da ihre neue Adresse, in einem nafahrenden Zug gestoßen worden. Um und durch Flucht aus dem Fenster (im hegelegenen Ort, den Organisatoren den letzten Zug noch zu erreichen, hat- ersten Stock) retten. Nach der Tat wur- nicht bekannt war. te er in Panik die Gleisen überquert, die de ihnen eine Wohnung in einem andeSchaffnerin hatte deshalb die Mitfahrt ren, nahegelegenen Ort des Landkreises Der Prozess verweigert. Nach dem Stoß lag der Stade, zugewiesen. Nach eigenen An- Im Mai 2000 fand, nachdem schon vorFlüchtling minutenlang auf dem Bahn- gaben haben sie für die zerstörten pri- her die drei minderjährigen Täter unter steig, er zog sich Verletzungen zu. We- vaten Gegenstände keinen Schadener- Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem der Lokführer noch Schaffnerin hatten satz bekommen. Als zusätzliche Wie- Jugendgericht verurteilt wurden, der sich überzeugt, dass er unverletzt war. dergutmachung bot einer der Täter Prozeß gegen fünf volljährige Täter in (s.a. FLÜCHTLINGSRAT 64/65). beim Prozess einen Präsentkorb an - für Stade statt. Alle Täter waren geständig, die beim Überfall bedrohte -deutsche - gaben eigenen Tatanteil zu, konnten Anwohnerin. sich angeblich aber nicht an ein spezielles Auftreten der jeweils Anderen erinDas Umfeld nern. Die Tat sei spontan aus der GrupEine Jugendgang trat bis vor einigen pe heraus entstanden, einen Anführer Jahren gewaltbereit in Kutenholz auf. habe es nicht gegeben, und es habe die Einer der Täter war Mitglied dieser Cli- Absprache gegeben, lediglich Sachbeque, die “Bomber” genannt wurden. schädigung zu machen. Die mitgeführ8. Juli 2000 Ein schwarzer Schüler und seine Mit- Zehn Tage vor dem Überfall wurden in ten Schlaginstrumente (Baseballschläschüler aus Hamburg sind bei einem Kutenholz bei einer anderen Flücht- ger und Latten) hätte man zufälligerZeltlager in Soltau von einem Dutzend lingsfamilie aus dem Kosovo die Fen- weise dabeigehabt. Auslöser des ÜberJugendlichen angegriffen worden. Mit sterscheiben eingeworfen. Mehrmals falls sollte eine Auseinandersetzung geden Worten "Nigger, komm raus! Wenn vorher waren schon unbekannte Män- wesen sein, die Marcus Millo tagsüber wir dich in die Hände kriegen, bist du to- ner auf den Hof gefahren und hatten mit den Flüchtlingen gehabt hätte. MilParolen wie “Ausländer raus” gegrölt. In lo, es wurde schon vom Jugendgericht ter als tot!", wurde der Schüler bedroht, der Flüchtlingswohnung in Kutenholz- verurteilt, bedrohte während des Überer wurde von Fußtritten am Kopf getrofAspe wurden einige Tage vor der späte- falls eine Anwohnerin mit einer Waffe. fen, ein Schneidezahn brach ab. Die 16ren Tat bereits Fenster eingeworfen und Im Gericht trug er einen großen bis 18-jährigen Täter aus Wietzendorf die Wände beschmiert. An dieser Tat schwarz-weiß-roten Aufnäher mit der wollte der Polizeisprecher aber nicht als war mindestens einer der späteren Tä- Inschrift “Kameradschaft Elbe Weser”. Rechtsradikale bezeichnen, sie seien ter beteiligt. Die Flüchtlinge aus Sierra Staatsanwaltschaft und Gericht gingen eher einfach gestrickte Dorfjugendliche Leone erhielten auch eine mündliche nicht von einer spontanen, unorganiund bisher nicht polizeilich bekannt. (FR Warnung, daß sie den Ort verlassen sierten Tat aus. Drei der Angeklagten er22.7.00) A Hildesheim Soltau 12 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Rassismus und Gewalt hielten eine neunmonatige Strafe mit Bewährung verbunden mit Geldstrafe, ein Angeklagter wurde zu fünfzehn Monaten Strafe auf Bewährung und Geldstrafe verurteilt. Er war früher schon in Kutenholz als “Bomber” aufgefallen. Die Gerichtskosten müssen von den vier Tätern getragen werden. In Lars Hildebrandt sah das Gericht den heimlichen Anführer und er wurde zu einer Haftstrafe von 18 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Rassistische oder politische Motive der Täter wurden vom Gericht nicht herausgearbeitet, verhandelt wurde nur versuchte Körperverletzung und Sachbeschädigung. In der Prozessankündigung ging es noch um Landfriedensbruch. Kutenholz-Aspe war er Mitglied der NPD. Hildebrandt war schon im Oktober 1996 verantwortlich für einen Überfall auf den kirchlichen Jugendtreff “Sky” in Gnarrenburg. Die Verurteilung zu einer fünfzehnmonatigen Jugendstrafe auf Bewährung für diese Tat wurde erst im Frühjahr 2000 rechtskräftig. Hildebrandt trat häufig provokant auf, so bot er z.b. der Leiterin der Bremervörder Jugendbegegnungsstätte Schutz vor “kriminellen Ausländern” an. Im Anschluss an eine Party, die Hildebrandt in seiner damaligen Wohnung in Zeven gab, kam es im November 1999 zu Ausschreitungen, bei denen etwa 20 Leute unter anderen eine Polizeiwache angriffen. In einem “Standpunkt” zum Prozeß schrieb die “Bremervörder Zeitung” am 2. Juni 2000: “Das Geschehen im Saal 109 des Amtsgerichts dominierten die Täter. Ihre Perspektive zählte, ihre Sprüche bleiben in Erinnerung - nicht jedoch das Leiden der Opfer. Ihre Todesangst kam nicht zur Sprache, ihre Verletzungen nach dem Sprung aus dem Fenster waren kein Thema.” Das Gericht hatte vormittags beschlossen, die Flüchtlinge als Zeugen nicht mehr zu hören. Als sie am Frühnachmittag als Zeugen erschienen, war die Verhandlung bereits beendet. Sie warteten, verschüchtert, vor dem Gerichtsgebäude. Die Täter und ihr Skinheadanhang besprachen in unmittelbarer Nähe den Prozessausgang. Ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung ist gegen Hildebrandt seit Februar 2000 beim Stader StaatsschutzDezernat anhängig. Über das Internet hatte eine junge Frau einen 28-jährigen Türken aus Hannover nach Neuenkirchen im Alten Land gelockt, wo er von drei Männern zusammengeschlagen wurde. Der “Rädelsführer” Bereits einige Tage vor dem Überfall hatte Hildebrandt das Haus mit der Flüchtlingswohnung beschmiert und Fenster eingeworfen. Auf sein Motiv angesprochen sagte er knapp “Fremdenhass”. Der jetzt 22 jährige Hildebrandt gilt laut “Bremervörder Zeitung” als “geistiger Anführer der Bremervörder Skinheadszene”. Zum Zeitpunkt des Überfalls auf die Flüchtlingswohnung in Foto: Lars Klingbeil Mit Hinweis auf eine günstige “Sozialprognose” versuchte der Verteidiger von Hildebrandt eine Haftstrafe für den Überfall von Kutenholz-Aspe abzuwenden. Da das nicht gelang, wird man wahrscheinlich in die Revision gehen. Die anderen Täter können sich auf jeden Fall weiterhin frei im vertrauten Umfeld bewegen. Die Opfer des Überfalls dagegen können sich nicht allzu weit bewegen. Ihr Wohnort liegt unmittelbar an der Landesgrenze zu Hamburg, die sie wegen der Residenzpflicht nicht übertreten dürfen. Ihr Bewegungsradius ist auf den Landkreis Stade beschränkt, ihre sozialen Bezüge nach Hamburg können sie nur mit (Ausnahme)Genehmigung der Ausländerbehörde pflegen. Hannover Juli 2000 "Fünf Monate lang arbeitete ich als Sachbearbeiterin in der Stelle für Asylanten, Bürgerkriegs- und Kontingentflüchtlinge im Sozialamt der Stadt Hannover. Der damalige stellvertretende Stellenleiter äußerte sich folgendermaßen zu den Flüchtlingen: "Wenn die schon herkommen und jammern, dass sie als Menschen behandelt werden wollen, würde ich sie am liebsten fragen, ob sie mal in den Spiegel geschaut hätten". Ich formulierte daraufhin eine Beschwerde gegen den Herrn und wurde bereits am nächsten Tag als Hilfskraft unter Streichung der Zulagen in die Poststelle versetzt." (anonymisierter Leserbrief im Spiegel, Juli 2000) SalzgitterLebenstedt 1. August 2000 Eine aus Polen stammende Frau fand nach der Rückkehr aus dem Urlaub sämtliche Wände und Möbel in ihrer Wohnung mit Hakenkreuzen und ausländerfeindlichen Parolen beschmiert vor. Tostedt 5. August 2000 Mehr als 230 junge Neonazis marschieren in Tostedt auf. Manche müssen ihre Springerstiefel gegen Turnschuhe wechseln - eine der Auflagen des Gerichts, mit denen die Demo genehmigt wurde. Niedersachsen 19. August 2000 In mindestens 17 Städten Niedersachsens beschlagnahmt die Polizei rechtsextreme Plakate zum Rudolf-Hess Todestag. 13 Rassismus und Gewalt Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen Altenau (Oberharz) August 2000 In der offiziellen Festschrift der Bergstadt Altenau zum Heimatfest im September findet sich ein Brief von Adolf Hitler, in dem er erklärt, die Ehrenbürgerschaft anzunehmen. Der Bürgermeister sprach von einem "unerklärlichen peinlichen Vorfall". ARI I n ihrer Dokumentation über die Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik listet die Berliner antirassistische Initiative auf: Todesfälle und Verletzungen bei Grenzüberquerungen; Selbst-tötungen, Selbsttötungsversuche und Verletzungen von Flüchtlingen aus Angst und auf der Flucht vor Abschiebungen; Todesfälle und Verletzungen vor, während und nach Abschiebungen. Sie umfasst auch Berichte über Fluchtversuche, die deutlich machen, welche lebensbedrohlichen Bedingungen Flüchtlinge auf sich nehmen müssen, um heute in die BRD zu gelangen. Fluchtversuche, die oft nur durch Zufall nicht tödlich für 23.8. 2000 Drei Neonazis haben auf dem Altstadt- die Flüchtlinge endeten. fest in Northeim einen 25-Jährigen mit so großer Gewalt auf die Straße ge- Diese Zusammenstellung umfasst Anschleudert, das er lebensgefährliche Ver- griffe und Anschläge auf Flüchtlingssammellager. Die Aufzählung rassistiletzungen erlitt. Rund Dreiviertel aller Übergriffe von scher Angriffe auf Flüchtlinge auf deutRechtsradikalen gegen Ausländer in den schen Straßen beinhaltet wohl die neuen Ländern kommen nicht zur An- größte Dunkelziffer. Während es für das zeige. Das liege einerseits daran, dass Bundesland Brandenburg Initiativen wie die Ausländer sich nicht ausreichend ver- die Opferperspektive oder das Büro der ständlich machen könnten und anderer- Ausländerbeauftragten gibt, die systeseits beim Umgang mit deutschen matisch dokumentieren, sind die VorfälBehörden, vor allem der Polizei, verunsi- le in den restlichen Bundesländern nur chert seien, so das Dresdner Bürgerpro- sporadisch erfasst. jekt AnStiftung nach Auswertung einer Befragung: Dunkelhäutige erlebten die Nicht mit aufgeführt sind die MenPolizei im Alltag eher als mächtiges, schen, die durch Arbeitsverbot, durch durchgreifendes, drangsalierendes und Beendigung der Aufenthaltsgenehmikontrollierendes Organ, von dem man gung oder durch Fluchthilfeschulden in im Zweifel keine Hilfe erwarten dürfe. sogenannte nicht legale Arbeit geBei Streitfällen gingen viele Beamte von drängt wurden und dabei zu Tode kavornherein von einer Schuld oder wenig- men oder verletzt wurden. In den letzstens Mitschuld der anzeigenden Aus- ten Jahren wurden mindestens 50 Menländer aus. Es komme vor, dass Übergrif- schen bei Verteilungskämpfen im Zigafe und Überfälle bei den anschließenden rettenhandel getötet (Der Tagesspiegel, Meldungen heruntergespielt oder die 24.4.99). Anzeigenden vor möglichen "Folgen" gewarnt würden, wenn sie die Anzeige Wir haben uns bei dieser Chronologie aufrecht erhielten. Viele Übergriffe wer- um Vollständigkeit bemüht - wohlwisden auch auf Drängen von Betreuungs- send, dass wir sie nicht erreichen könstellen nicht öffentlich gemacht, weil die nen. Überfallenen begründete Angst vor den Folgen einer Anzeige hätten. In der Re- Diese Dokumentation umfasst den Zeitgel würden z.B. Angriffe bei Volksfesten raum vom 1. Januar 1993 bis zum 31. und ähnlichen Veranstaltungen unter Dezember 1999. In diesem Zeitraum Schlägereien subsumiert, bei vielen All- starben mindestens 113 Menschen auf tagsauseinandersetzungen schönten dem Wege in die Bundesrepublik Behörden die Darstellung, indem sie die Deutschland oder an den Grenzen. AlAngriffe explizit etwa als "nicht auslänRassistische Angriffe: Aus einer Chroderfeindlich" einstuften. nik des VVN Stade und Sammlung der (Pressemitteilung der Anstiftung, DresRedaktion den, 25. Juli 00) Northeim 14 lein 87 Personen starben an den deutschen Ost-Grenzen. 267 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt zum Teil erhebliche Verletzungen, davon 141 an den deutschen Ost-Grenzen. Von den 58 Flüchtlingen, die beim Grenzübertritt in die BRD durch Maßnahmen der Bundesgrenzschutzbeamten verletzt wurden, geschah das bei 45 Personen durch Bisse von Zoll- und Diensthunden. 78 Menschen töteten sich selbst angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Allein 36 Flüchtlinge starben in Abschiebehaft. Mindestens 185 Flüchtlinge haben sich aus Verzweiflung und Panik vor der Abschiebung selbst verletzt oder versuchten sich umzubringen und überlebten z.T. schwer verletzt. Während der Abschiebungen starben 5 Flüchtlinge; 97 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt. Abgeschoben in ihre Herkunftsländer, kamen 9 Flüchtlinge zu Tode, mindestens 239 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt und gefoltert. Mindestens 33 Menschen verschwanden nach der Abschiebung spurlos. 9 Flüchtlinge starben durch Polizeigewalt in der BRD, mindestens 97 wurden verletzt. Bei Bränden in Flüchtlingsunterkünften starben nach unseren Recherchen mindestens 52 Menschen; mindestens 458 wurden z.T. erheblich verletzt. Ein Fazit: Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen mehr Flüchtlinge ums Leben als durch rassistische Übergriffe." Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen Dokumentation von 1993 bis 1999, 7. aktualisierte Auflage, Berlin 2000, 127 Seiten, 13,50 DM Bestelladresse: Antirassistische Initiative e.V., Yorckstraße 59, 10965 Berlin, Tel.: (030) 785 72 81, Fax: (030) 786 99 84 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Green Card Rassismus und Gewalt: „Asylmissbrauch” in Bremen Eine aufgeblasene, rassistische und gezielt lancierte Kampagne D er Bremer Innensenator Bernt Schulte (CDU) hatte Anfang des Jahres Ergebnisse einer Ermittlungsgruppe präsentiert, wonach über 500 Kurden aus dem Libanon, die seit Jahren als staatenlose Flüchtlinge mit gesichertem Aufenthalt in Bremen lebten, in Wahrheit türkische Staatsangehörige sein sollen. Sie hätten sich mit diesen Falschangaben ihren Aufenthalt „erschlichen“ und unberechtigt Sozialhilfe bezogen, weil sie als türkische Kurden längst abgeschoben wären. Bundesweit erregte dieses Thema großes Aufsehen, gegen die Schlagzeilen über die „Schein-Asylanten“ (Weser-Report) und „Asylbetrüger“, die „unseren Sozialstaat abzocken“ (Bild, Bremen) hatten die Klarstellungen der Anwälte keine Chance. 56 Deutsche und Nicht-Deutsche versuchten, diese „beleidigende und hetzerische“ Berichterstattung der Lokalpresse anzuprangern und erstatteten Anzeige. Erfolglos: nach Ansicht der Staatsanwaltschaft schützt die Meinungsfreiheit auch „scharfe und übersteigerte Äußerungen“, auch „in Form von sachbezogener Schmähkritik“, wie die Frankfurter Rundschau am 27.7. 2000 meldet. (M.W.) W ir weisen die vom Bremer Innensenator gestartete sog. “Asylbetrugs-Kampagne” zurück und verlangen ein gesichertes Aufenthaltsrecht für die betroffenen Menschen. Fakt ist, dass diese Menschen nach Deutschland kamen, weil ihnen der Aufenthalt im Libanon oder der Türkei nicht möglich war. Trivialerweise ging es ihnen von Anfang an darum, einen Aufenthaltstitel zu erwerben, der ihnen den langfristigen Aufenthalt in Deutschland ermöglicht. Das gilt ganz unabhängig davon, wie viele der Betroffenen wie lange im Libanon bzw. in der Türkei gelebt haben. Der Wunsch in Deutschland zu leben ist nach unserer Auffassung absolut legitim und hat mit “Betrug” nichts zu tun. Es ist neuerdings ja so, dass allein der Wunsch in Deutschland leben zu wollen und der Versuch, dies auch umzusetzen, als kriminelle Handlung und verwerfliche Haltung definiert wird. Wir machen uns diese wohlstands-chauvinistische Abschottungsmentalität nicht zu eigen. Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass nicht der Versuch, nach Deutschland bzw. Westeuropa zu gelangen, moralisch verwerflich ist, sondern die Errichtung der Festung Europa. Den von der Kriminalitätskampagne Betroffenen und ihren in Deutschland geborenen Kindern ist über Jahre hinweg systematisch ein sicherer Aufenthaltstitel und damit auch die Möglichkeit für eine Erwerbstätigkeit verweigert worden. Sie wurden behördlicherseits dazu gezwungen, ihren Lebensunterhalt mit Sozialhilfe zu bestreiten. Das heißt aber auch, die Sozialhilfe stand und steht ihnen zu. Hier nun den Vorwurf des Sozialhilfebetrugs zu erheben, ist nicht nur zynisch, sondern tatsächlich eine rassistische Hetzkampagne. Gäbe es in Deutschland ein auch nur geringfügig großzügigeres Aufenthaltsrecht (so wie in vielen anderen Staaten Europas), hätte ein Großteil der nun als organisierte Betrüger Denunzierten längst einen langfristigen Aufenthaltstitel, viele der in Deutschland geborenen Kindern wären längst Deutsche. In Wahrheit geht es hier nicht um “Betrug” oder “Kriminalität”, sondern darum, die Abschiebungen von 500 Menschen propagandistisch und rechtlich vorzubereiten. Denn die betroffene Personengruppe würde nunmehr zum größten Teil unter die Altfallregelung fallen und könnte damit einen gesicherten Daueraufenthalt bekommen. Hier glaubt man also bei der Innenbehörde endlich einen Hebel gefunden zu haben, eine Personengruppe, die schon seit Jahren ganz oben auf der Abschussliste der Bremer Abschiebemaschinerie steht, tatsächlich abschieben zu können. Fakt ist weiterhin, dass vor allem jene Menschen, die schon vor langer Zeit nach Bremen kamen, durch eine fälschliche Selbstdeklaration als “Libanesen” ihre Chancen für einen Daueraufenthalt in Bremen selbst vermindert hätten. Galt Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre in Bremen doch der sogenannte “Kurdenerlass”, der auch abgelehnten Asylsuchenden aus der Türkei ein Bleiberecht zusicherte. Eine Umdeklaration von türkisch-kurdisch auf libanesischkurdisch brachte somit aus damaliger Perspektive keine Vorteile. 15 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Green Card, Blue Card, Asyl-Card Luigi La Grotta (Kürzungen durch die Red.,dieser Beitrag erschien in: Stimme 4/2000) 16 Der scheinbare Coup, den die Bremer Polizei hier gelandet hat, ist in Wahrheit eine aufgeblasene, rassistische und gezielt lancierte Kampagne, die den Realitäten in keinster Weise gerecht wird. Die nunmehr angeblich aufgedeckten “Fakten” sind zum großen Teil seit langem bekannt. Die komplizierten Flucht- und Wanderungsprozesse von Kurdinnen und Kurden zwischen der Türkei und dem Libanon, und damit zusammenhängende verworrene Staatsangehörigkeitsfragen sind seit Jahren bekannt und in den Asylakten der betreffenden Personen z.t. auch enthalten, also auch für die Behörden nichts Neues. Neu ist, dass man in dem unbedingten Willen, diese Menschen abzuschieben, eine polizeiliche Sonderkommission beauftragt hat, die in vielen Akten verstreuten Informationen systematisch zusammenzutragen, und daraus nun eine realiter nicht vorhandene kriminelle Verschwörung zusammenstrickt. Die Arbeitsweise der derzeitigen Sonderermittlungsgruppe EG 19 stimmt mit den Methoden der vormaligen EG 11 überein, die im November 1992 zur Aufdeckung von Mehrfachidentitäten eingerichtet worden war. Die von Polizei und Innensenator praktizierte Masche, die gesamten bezogenen Sozialleistungen auf Heller und Pfennig auszurechnen, sie als betrügerisch erworben zu klassifizieren und daraus eine Kampagne zu machen, S Staat nur zweckgebundene Daten sammeln darf. Er darf nicht auf Vorrat sammeln, was er kriegen kann. Genau das aber passiert bei der Asyl-Card. (...) Im vergangenen November haben die Innenminister der Länder einstimmig - und damit einer erstaunlicher Eintracht - den Bundesinnenminister aufge-fordert, die Einführung der Asyl-Card zu "prüfen". Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, sollen nicht alle Daten, die auf der Karte gespeichert sind, uneingeschränkt einseh-bar sein. Jede Stelle, die mit einem entsprechenden Lesegerät ausgerüstet ist, wie zum Beispiel Ausländer- oder Sozialamt, darf nur die Daten einsehen, die für sie bestimmt sind. (...) Bayerns Innenminister Beckstein will dabei eine Vorreiterrolle übernehmen. Die öffentliche Empörung über den Bremer "Asylskandal" kam ihm gerade recht. Er schlägt jetzt vor, die Karte im Großraum um Nürnberg einzu- o umstritten die Ermittlungsergebnisse auch sind, der Bremer Asylskandal wird wohl weitreichende Folgen für alle Flüchtlinge in Deutschland haben. Der bayerische Innenminister Günter Beckstein (CSU) hat nämlich in diesem Zusammenhang die "Asyl-Card" gezückt. Er will für alle Flüchtlinge eine Chip-Karte einführen, die umfassend Personendaten speichert. Ob beim Einkauf, beim Verlassen der Flüchtlingsunterkunft oder bei der Essensausgabe, alles wird registriert. (...) Vor knapp zwei Jahren war die Chip-Karte schon einmal im Gespräch. Sie wurde heftig kriti-siert. Zwar bietet sie die größtmögliche Kontrolle, gleichzeitig schafft sie aber den gläsernen Flüchtling, so die einhellige Meinung der Kritiker. Der Staat hat dadurch die Möglichkeit, Per-sönlichkeitsbilder von Menschen zu erstellen. Im so genannten Volkszählungsurteil von 1984 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Die Verlogenheit dieser Inszenierung wird besonders deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass der Bremer Senat vor nicht allzu langer Zeit im Rathaus einen Empfang für den millionenschweren Steuerbetrüger “Wurst” Könecke, der sich seinerzeit einer Inhaftierung durch Flucht entzogen hatte, ausrichtete. Der damalige Innensenator Ralf H. Borttscheller pries ihn damals gar als vorbildliche Unternehmerpersönlichkeit. Wir verlangen ein dauerhaftes Bleiberecht für die nun an den Pranger gestellten Menschen. Soweit es in unseren Kräften steht, werden wir sie in der gegen sie gerichteten Kampagne unterstützen. deckt sich haargenau mit den damaligen Praktiken. Zu Erinnerung: Die Methoden der EG 11 sind damals von zahlreichen JuristInnen als unseriös und die Darstellung der Fälle als tendenziös kritisiert worden. (vgl. z.b. Weserkurier vom 12.9.93 und 9.7.93) (Gemeinsame Presseerklärung AntiRassismus-Büro Bremen/Gruppe “Grenzenlos” /Flüchtlingsinitiative Bremen/ IMRV) führen. Nur auf Probe, wie es heißt. Kritik wischt man in Bayern vom Tisch, indem man sich auf eine Machbarkeitstudie beruft, die vor zwei Jahren erstellt wurde. Die Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die "Smart-Card im Asylver-fahren" eingeführt werden kann. Die Studie war von Ex-Innenminister Manfred Kanther (CDU) in Auftrag gegeben worden. Unterstützt wurde er durch eine BundLänder-Arbeitsgruppe unter Vorsitz vom Ex-Innenminister Niedersachsens Gerhard Glogowski (SPD). Kanther ist inzwischen über die Spendenaffäre seiner Partei gestolpert. Glogowski musste zurücktreten, weil er nicht zwischen seinem politischen Amt und privaten Interessen unterscheiden konnte. Er-stellt wurde die Studie von einer Tochterfirma der OrgaConsult in Paderborn. Und damit von einem der größten Chip-Kartenhersteller in Europa. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Anmerkungen zur Asyldebatte Kai Weber „Eine institutionelle Garantie würde eine Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen durch besondere Beschwerdeausschüsse statt durch die mit Asylverfahren überlasteten Verwaltungsgerichte ermöglichen (ggfs. i.V.m. einer entsprechenden Ergänzung des Art. 19 Abs. 4 GG - Rechtswegegarantie).“ (aus: Diskussionspapier „Zuwanderungsbegrenzung und Zuwanderungssteuerung im Interesse unseres Landes“ von Wolfgang Bosbach, Fraktionsvize der CDU/CSU) „Wir haben bekanntlich einen Streit um das so genannte Kirchenasyl. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass man die Erwägungen, die aus einem solch moralisch engagierten Personenkreis eingebracht werden können, nicht erst nach Abschluss eines rechtlichen Verfahrens einbezieht. Darüber denke ich nach.“ dern“ mit 23% mehr als 2 1/2 mal so groß wie der Anteil an der Bevölkerung. Auch der Anteil an den Erwerbslosen ist doppelt so hoch. Gleichzeitig sei der Anteil der erwerbstätigen Migranten/innen drastisch zurückgegangen: „1985 lebten in der Bundesrepublik Deutschland ca. 4 Millionen Ausländer. Von ihnen waren ca. 2 Millionen sozialversicherungspflichtig DM und auf die Sozialversicherungsbeiträge über 40 Mrd. DM. 1995 haben die zwischen 1988 und 1995 nach (West-) Deutschland zugewanderten Personen mehr als 35 Mrd. DM an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen aufgebracht. Da sich die Ausgaben für die Immigranten, inklusive 5,5 Mrd. DM für Asylbewerber, nur auf 20 Mrd. DM beliefen, ergab sich Asyl ist keine Handelsware (Otto Schily in: SZ vom 11.3.2000) Das Asylrecht ist - wieder einmal Gegenstand heftiger innenpolitischer Debatten. Interessanterweise bildet diesmal die Diskussion um IT-Fachleute und green-card die Auftaktmusik. Nachdem die Union ein Einwanderungsgesetz jahrelang kategorisch ablehnte, hat sie sich nun an die Spitze der Bewegung gesetzt und eine Sortierung verschiedener Gruppen von Migranten/innen nach ihrer Nützlichkeit für die deutsche Volkswirtschaft gefordert. Eine „an den Interessen der Bundesrepublik Deutschland orientierte Zuwanderungssteuerung“ sei „das Gebot der Stunde“, so Wolfgang Bosbach. Umsetzen will die CDU/CSU dies mithilfe von Quotenregelungen in Form einer gesetzlichen Beschränkung der Zahl der Zuwanderer, die nach Auffassung des CSUGeneralsekretärs Thomas Goppel bei jährlich 500.000 bis 700.000 liegen könnte. Dass eine stärkere Selektion bei der Zuwanderung erfolgen muss, leitet die CDU aus den aktuellen Sozialhilfe- und Arbeitslosendaten ab. So sei der Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen unter „Auslän- Foto: Nds. Ministerpräsident Gabriel beim Amtsantritt beschäftigt. Heute sind es .7,32 Millionen - und weniger als 2 Millionen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt.“ Trotz dieser ungünstigen Strukturdaten, für welche die Politik u.a. durch Arbeitsverbote und Einschränkungen bei der Arbeitserlaubniserteilung selbst verantwortlich ist, erweist sich die Beschäftigung von Migranten/innen insgesamt unter dem Strich nach wie vor als ein profitables Geschäft: Die 1995 in Deutschland lebenden Ausländer, über 7 Mill., haben den Berechnungen des rheinisch-westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) zufolge auch Steuern und Beiträge in Höhe von rund 100 Mrd. DM entrichtet. Davon entfallen auf die direkten und indirekten Steuern jeweils 30 Mrd. ein Überschuss für die staatlichen Finanzen von ca. 15 Mrd. DM. Der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzuwanderung betrug 1999 nur 14% und lag damit so niedrig wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Im ersten Halbjahr 2000 ist nicht nur die Flüchtlingszahl, sondern auch der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzuwanderung weiter gefallen. 1990 waren es noch 23%; ihr Anteil stieg in den Folgejahren auf 28% in 1991 und 36% in 1992. 1993 fiel der Anteil geringfügig auf 33%. 1994 bis 1998 lag er dagegen zwischen 16% und 17%. Die Asyldebatte aus den Jahren 1992/93, die im sog. „Asylkompromiss“ ihren vorläufigen Abschluss fand, war insofern, so lässt 17 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung sich vermuten, nicht nur und evtl. nicht einmal primär eine Folge der hohen Zuwanderungszahl selbst, sondern auch ein Effekt des in steigenden Flüchtlingszahlen zum Ausdruck kommenden tendenziellen Verlusts staatlicher Kontrolle über die Zuwanderungsstruktur. Der in der gegenwärtigen Diskussion aufgestellte Zusammenhang zwischen Zuwanderungsökonomie und Asylrecht ist also nicht wirklich neu. Neu ist lediglich die Offenheit, mit der lauthals über die Steuerung und die Verwertbarkeit der Arbeitskraft von Migrantinnen und Migranten unter Einbeziehung auch von Flüchtlingen nachgedacht wird. Bekanntlich werden nicht nur Computerfachleute, sondern u.a. auch Ingenieure, Pflegekräfte und nicht zuletzt Hilfskräfte in der Landwirtschaft oder im Gastronomiegewerbe gebraucht und beschäftigt. Immer dann, wenn die Flüchtlingszahlen sinken, haben die Apologeten einer Verteidigung des Asylrechts, der „Freiheitsstatue im Hafen unserer Verfassung“ (Burkhard Hirsch), Konjunktur. Es ist beruhigend, dass Bundespräsident Rau „eine Art Brandmauer“ zwischen den Themen „Einwanderung“ und „Asyl“ errichten will. Auch die bisherigen Verlautbarungen aus der SPD sowie von Bündnis90/DIE GRÜNEN, die unisono den Rechtsanspruch auf Asyl verteidigen und ein Asyl-Gnadenrecht ablehnen, stimmen hoffnungsvoll. Schily ist mit seiner Überlegung, das individuelle Asylrecht zu streichen und die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, um auf diese Weise einen „Spielraum“ für Zuwanderung zu gewinnen, „die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht“, bislang in der SPD isoliert.1 Dennoch hält er weiterhin verbissen an seiner Absicht fest, das Grundrecht auf Asyl aus der Verfassung zu streichen und in die Überprüfung von Asylentscheidungen Vertreter/innen von Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen einzubinden (s. Eingangszitat). Kirchenasyl und andere Formen des Protestes könnten auf diese Weise, so das Kalkül, paralysiert werden. Paralysieren läßt sich der Rechtsweg gegen ablehnende Asyl-Entscheidungen auch in Schilys Gnadenmodell wohl kaum. 18 Die Genfer Flüchtlingskonvention schreibt eine gerichtliche Überprüfung von Asylentscheidungen zwar zwingend vor, sondern lediglich eine unabhängige Beschwerdeinstanz. Um Klagen gegen ablehnende Asylentscheidungen zu unterbinden, wäre allerdings u.a. die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl sowie eine Einschränkung der Rechtswegegarantie des Art. 19 GG zwingend erforderlich. Fraglich erscheint, ob es überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist, die Rechtswegegarantie, welche eine Kontrolle der Behörden durch die Gerichte sicherstellen soll, für Flüchtlinge einzuschränken. Aber selbst wenn die Überprüfung von Entscheidungen des Bundesamtes zum Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Genfer Konvention einer gerichtlichen Kontrolle entzogen wäre, könnten die Betroffenen sich auf die EMRK oder die Anti-Folter-Konvention berufen und ablehnende Entscheidungen gerichtlich, nach einer Erschöpfung des Rechtswegs beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen. Allen hehren Erklärungen zur „uneingeschränkten Anwendung“ der Genfer Flüchtlingskonvention zum Trotz ist im Übrigen unverkennbar, dass diese durch eine ganze Reihe von administrativen und gesetzlichen Maßnahmen unterhalb der Ebene einer Abschaffung des AsylGrundrechts schon jetzt massiv unterlaufen wird: durch Drittstaatenregelung, nur temporären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge, restriktive Rechtsauslegung, Abschreckungsmaßnahmen und Kriminalisierung und durch Senkung der Rechtsmittelquote, weil Anwälte aufgrund der Leistungsverweigerung nicht mehr bezahlt werden können. Der erneute Angriff von Schily und der CDU/CSU auf das Asyl-Grundrecht erscheint vor diesem Hintergrund derzeit relativ aussichtslos. Dass die Front der Verteidiger eines individuellen Asylrechts und Rechtsschutzes lange hält, wenn der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzuwanderung wieder einmal steigen sollte, muss angesichts der Erfahrungen von 1992/93 jedoch bezweifelt werden. Der im öffentlichen Drama hergestellte Zusammenhang zwischen einer „nationalen Interessen“ dienenden Einwanderung von Arbeitskräften einerseits und einer Kosten verursachenden Einwanderung von Flüchtlingen andererseits dürfte insbesondere dann virulent werden, wenn es entsprechend den Vorstellungen von Schily und der CDU/CSU zur Festlegung von Höchstquoten für die Gesamteinwanderung kommt, auf welche die Zahl der nach jetziger Rechtslage nicht quotierbaren Flüchtlinge angerechnet würde. Am Ende könnte es ein Ergebnis der neuen Asyldebatte sein, dass sich nichts verändert. Rot-grün wird die standhafte Verteidigung des Grundrechts auf Asyl in den Vordergrund rücken und es dabei bewenden lassen. Eine Anerkennung auch nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund wird aller Voraussicht nach solange nicht realisiert, wie die Aufnahme von Zuwanderern unter Einbeziehung von Flüchtlingen nicht quotiert wird. Bis heute hat es die rot-grüne Bundesregierung nicht einmal fertig gebracht, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge aufzuheben, von einer Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ganz zu schweigen. 1 Auch der niedersächsische Innenminister Heiner Bartling hat in einem Brief an den Niedersächsischen Flüchtlingsrat vom 5.1.2000 seine öffentlich geäußerte Unterstützung von Schily zumindest relativiert und erklärt, es gehe ihm nicht darum, die Schutzgewährung für Flüchtlinge in Deutschland einzuschränken. Paul Middelbeck ergänzte als Vertreter des niedersächsischen Innenministeriums auf der Jahreshauptversammlung des niedersächsischen Flüchtlingsrats am 8.4.2000, Niedersachsen wolle an der Rechtsmittelgarantie des Art. 19,4 GG nicht rütteln. Ministerpräsident Gabriel hat schließlich am 13.7. im Namen der Landesregierung erklärt, Niedersachsen wolle mit einer sog. Blue Card Spitzenkräfte ins Land holen, aber dies nicht mit Forderungen nach einer Abschaffung des Grundrechts auf Asyl verknüpfen und damit „wie die Bayern Überfremdungsängste schüren“. Asyl ist keine Handelsware FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Asyl in Deutschland Günter Werner, Rechtsanwalt E s ist ruhig geworden um das Asylrecht. Verfolgt man die tägliche Presse, so finden sich nur noch relativ selten Berichte über Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. In regelmäßigen Abständen berichten dagegen die Behörden von den neuesten Asylbewerberzahlen. Die im Laufe der Jahre durchgeführten Gesetzesänderungen haben nach offizieller Lesart vollen Erfolg: Die Zahl der neu gestellten Asylanträge in Deutschland ist im Jahre 1998 erstmals seit 1990 unter 100.000 gesunken. Für 1999 kann ein weiterer Rückgang erwartet werden. Im Jahre 1992 lag der Höchststand bei 438.000. Zugleich stieg die Zahl der Abschiebungen sprunghaft an. Hintergrund für diese Entwicklung sind die grundlegenden Gesetzesänderungen im Bereich des Asylrechts seit Beginn der 80er Jahre. Einen vorläufigen Höhepunkt fanden diese Gesetzesänderungen im Jahre 1993, als mit Hilfe der SPD die sog. Asylrechtsnovelle verabschiedet wurde. Diese Asylrechtsrechtsnovelle schränkt in bisher beispielloser Weise das Grundrecht auf Asyl ein. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde ein Grundrecht aus dem Grundrechtskatalog des ersten Abschnitts des Grundgesetzes derart beschnitten. Viele Experten sprechen davon, dass das Grundrecht auf Asyl mit den Gesetzesänderungen faktisch abgeschafft worden sei. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, ist dies nicht übertrieben. Durch die sogenannte Drittstaatenregelung wurden sämtliche Flüchtlinge, die über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland kommen, vom Asylrecht schlicht ausgeschlossen. Sie können selbst bei nachgewiesener politischer Verfolgung nicht als Asylberechtigte anerkannt werden. Weiterhin wurden die sog. verfolgungsfreien Staaten eingeführt. Der Asylantrag eines Flüchtlings, der aus einem solchen durch die Bundesregierung als „verfolgungsfrei“ bezeichneten Land kommt, ist per Gesetz „offensichtlich unbegründet“ mit der Folge, dass Rechtsmittel gegen einen solchen Bescheid die Abschiebung nicht hindern. Wesentliche Änderungen betreffen das Asylverfahrensgesetz. So wurden Mitwirkungspflichten des Flüchtlings mit einschneidenden Konsequenzen bei Nichtbeachtung normiert. Wer z.b. sein Asylverfahren länger als einen Monat nicht betreibt, dessen Verfahren wird eingestellt, er wird so behandelt, als habe er seinen Antrag zurückgenommen. Ein anwaltlich vertretener Flüchtling muss sich das Verschulden seines Anwalts zurechnen lasse. Durch Ausschlussfristen wird ein ergänzendes Vorbringen im Lauf des Verfahrens unmöglich gemacht bzw. erheblich erschwert. Wer nicht bereits in der Anhörung vor dem Bundesamt alles lückenlos vorbringt, muss damit rechnen, später mit Ergänzungen oder zusätzlichem Vorbringen zurückgewiesen zu werden. In Verwaltungsgerichtsurteilen wird das dann als sog „gesteigertes Prozessvorbringen“ bezeichnet, das den gesamten Vortrag unglaubhaft mache. Der erste Satz dieses Artikels über die Realität des Asylrechts stimmt nicht mehr, denn er ist 1999 entstanden. Inzwischen ist es wieder unruhig geworden um das Asylrecht, Schily u. Co. fordern Beschneidung oder absolut endgültige Abschaffung, getarnt als „europäische Harmonisierung“. Und die Partei, die an der Abschaffung des Asylrechts maßgeblich beteiligt war, versucht sich als Verteidigerin dieses von ihnen selbst geplünderten Grundrechts zu profilieren, indem ihr Vortänzer des Inneren den Advocatus diabolus gibt. Dieses Szenario beinhaltet auch eine Aufwertung des beschnittenen Grundrechts. In der Debatte finden sich die, die bisher die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl angeprangert hatten, unversehens in der Rolle von VerteidigerInnen seiner Reste wieder. Eine gefährliche, widersprüchliche Rolle, die den KritikerInnen da zugeschanzt wird, am Ende wirken wir gar noch mit an der Polierung des Totenschädels, den die große Anti-Flüchtlings-Koalition übriggelassen hat vom Grundrecht auf Asyl. Umso wichtiger, den Scheinwerfer wieder umzudrehen auf die Asylrechts-Plünderung, wie Rechtsanwalt Werner das tut. (M. W.) Die Berufung als zweite Instanz ist faktisch abgeschafft. Sie kann zwar durch einen Beschluss des zuständigen OVG zugelassen werden. Die Praxis dieser Zulassung seit 1993 zeigt aber, dass hier die pure Willkür herrscht: wollen die zuständigen OVG-Richter eine Berufung zulassen, so tun sie es. In den meisten Fällen wollen sie es nicht. Es sind im Gesetz drei Konstellationen vorgesehen, in denen eine Berufung zugelassen werden kann: Foto: Lars Klingbeil 19 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung - wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat - wenn das VG-Urteil von einer Entscheidung des eigenen OVG abweicht - wenn grundlegende Verfahrensregeln missachtet wurden. Im Bereich des „grundsätzlichen Bedeutung“ ist praktisch alles möglich, zumal das OVG seine Entscheidung nicht mit Gründen versehen muss. Es ist für den einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen, warum in diesem und jenem Fall die Berufung nicht zugelassen, in anderen aber zugelassen wurde. Ich komme nach mehr als 6 Jahren Praxis nach dem neuen Gesetz zu der Überzeugung, dass eine „grundsätzliche Bedeutung“ immer dann angenommen wird, wenn das OVG - aus welchen Gründen auch immer - meint, die Sache selbst entscheiden zu müssen. Asyl ist keine Handelsware Ein besonders krasses Beispiel für die OVG-Praxis der letzten Jahre liefert das OVG Bremen im Falle der Entscheidung über Flüchtlinge aus Togo. Hier ging es vor allem um die zentrale Frage, ob aufgrund der in Togo herrschenden Verhältnisse prinzipiell jeder Flüchtling bei einer Abschiebung bereits allein wegen seiner Asylantragstellung gefährdet wäre. Zu dieser Frage haben sich, soweit ich das überblicke, im Laufe der Jahre sämtliche OVGs der Bundesrepublik Deutschland geäußert, mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. So gingen für mehrere Jahre die OVGs in Greifswald, Saarlouis und Magdeburg von einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit allein aufgrund einer Asylantragstellung aus. Normalerweise sollte man denken, dass in einer solchen Situation -unterschiedliche Auffassungen verschiedener OVGs zu derselben Frage - die „grundsätzliche Bedeutung“ gegeben sein müsste. Das OVG Bremen sah dies anders, es hat in keinem einzigen Fall die Berufung zugelassen, auch nicht in dem Fall, in dem - aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten - die Ehefrau in Greifswald als Flüchtling gem. § 51 AuslG anerkannt wurde, der Ehemann jedoch in Bremen abgelehnt wurde. 20 Die unter prozessualen Gesichtspunkten erschreckendste Entwicklung sehe ich im Bereich der Berufungszulassung wegen Verfahrensmängeln. Hierunter fällt - abgesehen von Verstößen gegen rein formale Regeln wie Zuständigkeit, Besetzung des Gerichts etc - vor allem das Umgehen des Verwaltungsgerichts mit gestellten Beweisanträgen. Die rechtswidrige Ablehnung eines Beweisantrages stellt einen Eingriff in das prozessuale Grundrecht des rechtlichen Gehörs dar. Dieses Grundrecht - im GG in Art. 103 Abs. 1 normiert: vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör - ist eines der wichtigsten Grundrechte des Rechtsstaats. Der Anspruch, vor Gericht gehört zu werden, ist grundlegende Voraussetzung für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mache ich als Anwalt regelmäßig die Erfahrung, dass Beweisanträge als lästig betrachtet werden. Unterschwellig, bisweilen auch offen wird mir unterstellt, ich missbrauche das Mittel des Beweisantrages, um das Verfahren unzulässig in die Länge zu ziehen oder um überhaupt das Gericht zu ärgern und es am zügigen Durchführen des Verfahrens zu hindern. Dabei sind Beweisanträge oftmals ein entscheidendes Mittel, um bestimmte Verhältnisse aufzuklären oder zu erklären, um zusätzliche Informationen zu beschaffen, die für die Entscheidung erheblich sein können. Im Verfahren um die Zulassung der Berufung wird dann die rechtswidrige Ablehnung eines Beweisantrages als Verstoß gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen - und die Zulassung der Berufung dann regelmäßig abgelehnt. Die OVGs decken, hier praktisch alles ab, was auf der Ebene der VGe gemacht wird. Die Begründungen sind teilweise abenteuerlich. Eine wichtige Rolle spielen im Asylverfahren Sachverständigengutachten. Es kann kein Verwaltungsrichter von sich behaupten, alle Verhältnisse in allen Ländern zu kennen und beurteilen zu können. Stellungnahmen von ai, GfbV, UNHCR, Orient-Institut, Südasieninsti- tut, Institut für Afrika-Kunde etc. spielen daher eine große Rolle. Regelmäßiger und stereotyper Ablehnungsgrund für die verweigerte Hinzuziehung eines Sachverständigengutachtens ist die angeblich vorhandene eigene Sachkunde des Gerichts. Regelmäßig findet sich kein Wort darüber, woraus sich die Sachkunde des Gerichts ergeben soll. Die OVGs decken in der Regel die Ablehnungen durch die VGe. Eine besondere und oft fatale Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sog. Lageberichte des Auswärtigen Amts. Oft scheinen diese Berichte einzige Entscheidungsgrundlage zu sein, obwohl die Bundesregierung kürzlich selbst eingestehen musste, dass diese Berichte häufig geschönt sind und die Wirklichkeit in den Ländern kaum realistisch wiedergeben. Auch hier sollte man denken, es sei ein Fall der „grundsätzlichen Bedeutung“ gegeben, wenn z.b. das AA in einer Frage grundsätzlich anderer Auffassung ist als maßgebliche und anerkannte Sachverständige oder Gutachter. Doch auch hier weit gefehlt. Die OVGs scheren sich in der Regel wenig darum, dass Gutachter und Institutionen anderer Meinung sind als das AA. In den weitaus meisten Fällen (sicherlich über 95 %) werden die Zulassungsanträge abgelehnt. Einige OVGs (Münster, Lüneburg) geben regelmäßig keinen Satz der Begründung für ihre Entscheidungen. Entscheidend ist, dass grundsätzlich eine inhaltliche Überprüfung der Entscheidung des VG nicht mehr möglich ist. D.h. die Bewertung des Asylantrages durch das Gericht ist in der Regel einer Überprüfung entzogen. Das Verfahren ist damit praktisch auf eine Gerichtsinstanz verkürzt. Eine der grundlegenden Regeln des Rechtsstaats, Garantie des Zugangs zu gerichtlichen Entscheidungen einschließlich eines Instanzenzuges, ist damit prinzipiell durchbrochen. Leider hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 die Asylrechtsnovelle grundsätzlich gebilligt. Es hat entschieden, dass das Asylrecht nicht zu den unverzicht- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung baren Grundrechten gehört, dass es also dem Verfassungsgesetzgeber frei stehe, das Asylrecht auch abzuschaffen. Viele hatten große Hoffnungen in die Entscheidung des BVerfG gesetzt, weil sie glaubten, dass zumindest die Richter in Karlsruhe sich unbeeindruckt von dem enormen politischen und gesellschaftlichen Druck zeigen würden, unter dem die Debatte um das Asylrecht stand. Sie wurden enttäuscht. Rechtsprechung hat aber dem Flüchtling die „Darlegungslast“ auferlegt: er muss die Umstände darlegen und im Zweifel beweisen, aus den auf eine Verfolgung geschlossen werden kann. In der Praxis hat das fatale Auswirkungen: wer bringt schon die Beweise für seine Verfolgung schwarz auf weiß mit ? Zwar hat das BVerfG vor Jahren darauf hingewiesen, dass eine Asylsuchender quasi naturgemäß in einer Lage möglichst auf niedrigstem Niveau zu halten. Und es wäre der Sache der Richter, gegen die damit verbundene Entrechtung anzugehen. Das Extrem - bislang, soweit ich sehen kann, nur als Ausnahme in die Tat umgesetzt - sind die Asylrichter, die ausschließlich Asylverfahren führen und ihren Sitz gleich in der „Aufnahmeeinrichtung“, d.h. im Flüchtlingslager haben. Es ist nicht abwegig, solche Gerichte als Lagergerichte zu bezeichnen. Das BVerfG hat in vielen Entscheidungen vom „Menschenbild des Grundgesetzes gesprochen“, an dem sich die Gesetze messen lassen müssen. Im Bereich des Asylrechts bekommt man manchmal den Eindruck, die hier Betroffenen, Flüchtlinge, Asylsuchende gehören nicht zu den Menschen, deren Bild durch das Grundgesetz besonders geprägt ist. Auch der konkrete Umgang mit den Asylsuchenden vor Gericht ist - von Ausnahmen abgesehen - erschreckend. Mehr als einmal haben sich Besucher nach einer Gerichtsverhandlung schockiert gezeigt und geäußert, sie hätten nicht gewusst, dass so etwas in unserem Rechtsstaat möglich ist. In vielen Fällen, vermutlich in den meisten Fällen, ist der Grundtenor, mit dem Asylsuchenden im Gericht begegnet wird: alles ist gelogen, du bist eigentlich hier, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen. Gilt im Strafverfahren trotz aller auch hier eingeführten Änderungen und Einschränkungen immer noch der Grundsatz „in dubio pro reo“, so ist es im Asylverfahren gerade umgekehrt: im Zweifel gegen den Flüchtling. Zwar gilt hier immer noch offiziell der verwaltungsgerichtliche Grundsatz der „Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen“, d.h. eigentlich ist es Sache des Gerichts, den Sachverhalt erschöpfend zu ermitteln. Die Foto: Göttingen / Flüchtlinge am Bad Grund der „Beweisnot“ sei, eben weil typischerweise die Beweis für die politische Verfolgung nicht mitgebracht werden können. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für das Verfahren - wohlwollende Beurteilung des eigenen Vorbringens - sind längst von der Wirklichkeit der Asylverfahren überholt worden. Bei den meisten Verwaltungsgerichten ist es heute die Regel, dass die Verfahren von Einzelrichtern entschieden werden. Ein einziger Mensch entscheidet hier über Schicksale, manchmal über Leben und Tod, und das ohne eine richtige zweite Instanz. Werden Richter nach dieser Problematik befragt, verweisen sie meist auf die unzureichende Ausstattung der Gerichte und die Überlastung mit Asylverfahren. Doch diese unzureichende Ausstattung der Gerichte gehört mit zu dem Konzept, das Asylrecht Eines dieser Gerichte befindet sich im Lager Boizenburg an der Elbe. Parallel zu den gesetzlichen Einschränkungen des Asylverfahrensrechts hat sich die Rechtsprechung zum Asylrecht entwickelt. Die „politische Verfolgung“ ist inzwischen - etwas übertrieben gesprochen - eine Art Phänomen, dem man vergebens hinterher jagt. Dass Folter und Todesstrafe nach dieser Rechtsprechung als solche keine politische Verfolgung sind, ist bekannt. Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen fallen in der Regel nicht unter den Begriff Politische Verfolgung, Verfolgung von Kriegsdienstgegnern und Verweigerern ebenfalls nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat - im Gegensatz zu den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskommission - wiederholt und eindeutig entschieden, dass politische Verfolgung im Sin21 Grundrecht auf Asyl und Einwanderun ne des Asylrechts nur dann angenommen werden kann, wenn es eine staatliche Verfolgung ist oder sie zumindest dem Staat zuzurechnen ist. Asyl ist keine Handelsware Eine bedeutsame Rolle spielt für die politische Verfolgung die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Differenzierung zwischen den Flüchtlingen, die als „vorverfolgt“ gelten und denen, die als „unverfolgt ausgereist“ gelten. Nur wer als „vorverfolgt“ anzusehen ist, hat einigermaßen sicheren Schutz vor Abschiebung. es muss sichergestellt sein, dass ihm bei einer Rückkehr ins Heimatland nicht erneut Verfolgung droht. Dies kann von kaum einem der Herkunftsländer gesagt werden. Wer aber als „unverfolgt“ ausgereist betrachtet wird, dem wird nur dann Schutz gewährt, wenn er bei einer Rückkehr mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ Verfolgung befürchten muss. Um die Stufe der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ einer Verfolgung bei Rückkehr zu überwinden, muss schon einiges passieren: es muss praktisch jeder Rückkehrer als konkret gefährdet angesehen werden können, was in der Realität kaum geht: wenn alle gefährdet sind, warum kommen nicht alle im Heimatland um ? Eine immer wichtigere Rolle hat in den letzten Jahren der § 53 AuslG gespielt, also Abschiebungshindernisse wegen Gefahr für Leib oder Leben, unabhängig von einer politischen Zielsetzung. Mancher gutwillige Verwaltungsrichter hat hier- in seine Zuflucht gesucht, wenn er sich aufgrund der rigiden Rechtsprechung zur politischen Verfolgung gehindert sah, weitergehend zu entscheiden. Diesen Versuchen hat das Bundesverwaltungsgericht schnell ein Ende gesetzt. Es muss im Einzelfall konkret belegt werden, dass der betreffende Flüchtlinge persönlich von der Gefahr für Leib oder Leben betroffen ist. Das ist praktisch kaum möglich - die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG ist inzwischen fast schwerer zu erreichen als die Anerkennung als Flüchtling. Eine in letzter Zeit zu beobachtende Tendenz betrifft den Widerruf von Asylanerkennungen. Diese ist nach dem Gesetz vorgesehen, wurde jedoch bis heute nur relativ wenig praktiziert. Das hat sich geändert. In jüngster Zeit gibt es ein Flut von Widerrufen (Togo). Albanien). Widerrufe von Anerkennungen von Kosovo-Albanern sind angekündigt. Wenn das die Regel wird, sollte man das Asylrecht ehrlicherweise abschaffen und durch eine vorübergehende Aufnahme ersetzen. Asylrecht als Versuchsfeld für Grundrechtsverkürzungen insgesamt Wenn wir heute über das Asylrecht reden, müssen wir daher über den Zustand des Rechtsstaats insgesamt reden. Unter dem Motto „Beschleunigung, Straffung, Kosteneinsparung“ werden zunehmend vor allem prozessuale Grun- Bankrottes Asylrecht Abdalla Fathelrahman hat Deutschland für immer verlassen Abdalla Fathelrahman wurde von der amerikanischen Einwanderungsbehörde als politischer Flüchtling aus dem Sudan anerkannt und konnte Bayern am 15.05. 2000 für immer verlassen. “Damit hat die Asylgesetzgebung in diesem Land, allein anhand des Schicksals von Abdalla den völligen Bankrott erklärt. “Offensichtlich unbegründet” war Abdallas Asylantrag bereits nach wenigen Monaten Aufenthalt abgelehnt worden. Anhörer und Entscheider beim Bundesamt waren nicht in 22 der Lage oder willens, zu erkennen, dass vor ihnen ein schwer traumatisierter Mensch stand. Von insgesamt 26 Monaten Aufenthalt in Deutschland verbrachte Abdalla 11 Monate in Abschiebehaft und Psychiatrie. Trotz schwerer Retraumatisierung, ausgelöst durch gewaltsame Abschiebeversuche und Abschiebehaft, fanden sich immer wieder willfährige Mediziner, die Abdalla für reisefähig erklärten.... “ heißt es in einer Presseerklärung der Freien Flüchtlingsstadt Nürnberg und der Aktion Grenzenlos vom 16.05.00. drechte der Bürger eingeschränkt. Viele Errungenschaften des Rechtsstaates, die ihre Geschichte in langwierigen Auseinandersetzungen mit obrigkeitlichen und autoritären Staatsordnungen haben, werden bedenkenlos geopfert. Ein Bremer Verwaltungsrichter, der u.a. auch Leiter einer Arbeitsgemeinschaft zur Ausbildung von Gerichtsreferendaren ist, sagte mir kürzlich, er wisse nicht , wie er die neuen Regelungen seinen Referendaren noch als rechtsstaatlich vertretbar vermitteln könne. Im Bereich des Strafrechts, aber auch in der Zivilgerichtsbarkeit stehen weitere einschneidende Änderungen an. Die Entwürfe liegen in der Schubladen der Ministerialbürokratie, es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie auf den Tisch kommen. Die Kehrseite der Verschärfung des Asylrechts ist die zunehmende Zahl von Abschiebungen und die immer schärfer werdende Praxis der Ausländerbehörden bei Abschiebungen. Niemals waren in den Gewahrsamszellen so viele Abschiebehäftlinge wie heute. In Bremen soll in Kürze in einer früheren Kaserne eine neue Abschiebehaftanstalt in Betrieb genommen werden. Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, Fotos der neuen Zellen anzusehen. Es lief mir kalt den Rücken herunter, als ich die modernen, kalten, klinisch sauberen und menschenfeindlichen Räume sah, vom Boden bis zur Decke gekachelt, ohne Fenster (stattdessen Glasbausteine), mit einer Neonröhre an der Decke. Einem anderen Betrachter entfuhr spontan die Äußerung: „Das ist ja Folter“. Das Asylverfahren ist unter den geltenden Gesetzen zu einer Farce geworden. Es hat äußerlich noch die Form eines rechtsstaatlichen Verfahrens vor dem VG, in Wahrheit aber hat es keinen wirklichen rechtsstaatlichen Inhalt mehr und ist in seinem Kern ein Verfahren zur Ablehnung von Asylsuchenden. Das Asylverfahren erweist sich als quasi-rechtsstaatliche Schablone, die den Zweck hat, die offizielle Zielrichtung der Gesetzgebung und Politik zu vollstrecken. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderun Flüchtlingshilfe Das AsylVfG sieht in § 84 vor, dass mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft wird, „wer einen Ausländer verleitet oder dabei unterstützt, im Asylverfahren ... unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen, um seine Anerkennung ... zu ermöglichen“. Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 10 Jahre ist schließlich vorgesehen, wer im obigen Sinne „gewerbsmäßig“ handelt. Manchmal mache ich mir klar, dass ich zu dieser Kategorie von Straftätern gehöre. Denn: Bedeutet Hilfe und Unterstützung von Asylsuchenden in ihren Verfahren möglicherweise automatisch, dass Gesetze verletzt werden müssen ? In „besonders schweren Fällen“ ist Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren angedroht, z.b. wenn der Täter „wiederholt oder zugunsten von mehr als 5 Ausländern handelt“. Diese Frage stellt sich nicht nur mir und anderen Anwälten, sondern noch viel verschärfter den vielen Mitarbeitern von Flüchtlingsinitiativen, von kirchlichen Unterstützer- gruppen und von anderen, die sich um die Belange von Flüchtlingen kümmern. Es ist eine sehr grundsätzliche Frage nach der Legitimität staatlichen Handelns und nach den Grenzen des Gehorsams gegenüber diesem Staat, der für sich in Anspruch nimmt, ein Rechtsstaat zu sein, in dem der Mensch und seine Würde oberster Wert ist. Eine spannungsgeladene Formel: “Wir, das Volk”. Hannah Arendt und “das Recht, Rechte zu haben” Ein Plädoyer für die Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und deportierten Völkern Seyla Benhabib I. M ein Vortrag ist eine Meditation über Hannah Arendts Satz “das Recht, Rechte zu haben”. Ich möchte diese Redewendung zum Anlass nehmen, um über die ethischen und politischen Dilemmata nachzudenken, mit denen sich die Nationalisten heute in einer globalen Weltordnung konfrontiert sehen. Flüchtlinge und Minderheiten, Staatenlose und displaced persons sind jeweils verschiedene Kategorien von Menschen, die durch die Maßnahmen der Nationalstaaten gleichsam “geschaffen” wurden. Denn in einem territorialen System von Nationalstaaten, das heißt in einer “Staat-zentrierten” internationalen Ordnung, bedarf der rechtliche Status einer Person des Schutzes durch die höchste Autorität, die das Territorium, auf dem sich die Person aufhält, kontrolliert und die ihr die erforderlichen Papiere ausstellt. Menschen werden zu Flüchtlingen, wenn sie verfolgt, ausgewiesen oder aus ihrer Heimat vertrieben werden. Menschen werden zu An- gehörigen einer Minderheit, wenn die politische Mehrheit des Gemeinwesens erklärt, dass bestimmte Gruppen nicht zum angeblichen “homogenen” Volk gehörten. Menschen werden zu Staatenlosen, wenn der Staat, dessen Schutz sie bis dahin genossen haben, diesen Schutz verweigert und die ihnen gewährten Papiere für nichtig erklärt. Menschen werden zu displaced persons, wenn sie, nachdem sie einmal zu Flüchtlingen, Staatenlosen oder zu einer Minderheit geworden sind, kein anderes Gemeinwesen finden können, das sie als Mitglieder anerkennen würde, so dass sie zwischen alle Stühle geraten, zwischen Territorien hin- und hergeschoben werden, von denen keines ihnen Aufenthalt gewähren möchte. An dieser Stelle folgert Arendt: “Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird -, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen. (. . .) Das Recht, das diesem Verlust entspricht und das unter den Menschenrechten niemals auch nur erwähnt wurde, ist in den Kategorien des 18. Jahrhunderts nicht zu fassen, weil sie annehmen, dass Rechte unmittelbar der ,Natur’ des Menschen entspringen (. . .) das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, (müsste) von der Menschheit selbst garantiert werden. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht.” Hannah Arendt bemüht sich um eine “zeitgeschichtliche Diagnose”: “Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat sich von der Natur genauso emanzipiert wie der Mensch des 18. Jahrhunderts von der Geschichte. Geschichte und Natur sind uns in diesem Sinne gleichermaßen fremd, nämlich in dem Sinne, dass das Wesen des Menschen mit ihren 23 Grundrecht auf Asyl und Einwanderun Kategorien nicht mehr zu begreifen ist. Andererseits ist die Menschheit, die für das 18. Jahrhundert, kantisch gesprochen, nicht mehr als eine regulative Idee war, für uns zu einer unausweichlichen Tatsache geworden. Diese neue Situation, in der die ,Menschheit’ faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, dass das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müsste.” Die klassischen Ideale der Natur und der Geschichte sind als philosophische Fundamente durch die politischen Realitäten des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehöhlt worden. Und das Kantische Ideal der Menschheit, weit entfernt davon, bloß regulativ zu sein, ist nun zu einer “unausweichlichen Tatsache” von moralischem Gewicht geworden. Diejenigen, die das “Recht, Rechte zu haben”, einfordern, und diejenigen, von denen es gefordert wird, sind selbst Menschen. Arendt hat die Konzeptionen von der menschlichen Natur verworfen und die teleologischen Konzeptionen von der Geschichte in Frage gestellt, doch was hat sie uns stattdessen anzubieten? II. Das “Recht, Rechte zu haben”, lässt sich nur in einer politischen Gemeinschaft verwirklichen, in der wir nicht nach den Eigenschaften beurteilt werden, die uns bei unserer Geburt definieren, sondern nach unseren Handlungen und Meinungen, nach dem, was wir tun und sagen und denken. Unser politisches Leben, so Hannah Arendt, gründet auf der Annahme, dass wir Gleichheit durch Organisation erreichen können, da der Mensch mit seinesgleichen, und nur zusammen mit diesen, zum Handeln fähig ist und eine gemeinsame Welt gestalten und umgestalten kann. Heute würde man sagen, dass Hannah Arendt ein “ziviles” an24 statt eines “ethnischen” Ideals des Gemeinwesens und der Zugehörigkeit verteidigt. In der gegenseitigen Anerkennung eines Zusammenschlusses von Bürgern als jeweils gleiche Träger von Rechten liegt für Arendt die wahre Bedeutung politischer Gleichheit. Könnte also die institutionelle – wenn auch nicht die philosophische – Lösung der Dilemmata der Menschenrechte in der Etablierung der Prinzipien eines zivilen Nationalismus zu suchen sein? Natürlich würde der zivile Nationalismus voraussetzen, dass der Erwerb der Staatsbürgerschaft auf dem jus soli (Recht des Bodens) beruht, da das jus sanguinis (Recht des Blutes) eine dauerhafte Verknüpfung des Ethnos mit dem Demos zur Folge hätte, das heißt die Koppelung der “Mitgliedschaft in einem Staat” an die “Volkszugehörigkeit”. Zweifellos verficht Arendt ein Ideal der zivilen Nation, das auf einem jus-soli-Modell der Staatsbürgerschaft basiert. Allerdings besagt ihre Diagnose der Spannungen, die im Ideal des Nationalstaats angelegt sind, dass es eine noch tiefere Erschütterung seiner institutionellen Struktur gebe, ein noch tieferes Unbehagen am “Niedergang des Nationalstaates und dem Ende der Menschenrechte”. Um es zuzuspitzen: Arendt stand den Idealen einer Weltregierung genauso skeptisch gegenüber wie der Frage, ob das System der Nationalstaaten jemals Gerechtigkeit und Gleichheit für alle würde realisieren können. Einerseits schränke eine Weltregierung lebenswichtige Voraussetzungen der Politik ein, sofern sie es den Individuen nicht gestatten würde, von sich aus gemeinsam öffentliche Räume zu definieren. Andererseits berge das System der Nationalstaaten immer die Gefahr der Aussonderung und Ungerechtigkeit nach innen und der Aggression nach außen. III. Eine der rätselhaftesten Aspekte von Arendts Denken bleibt, dass sie, obwohl sie die Schwächen des Systems der Nationalstaaten kritisierte, den Idealen einer Weltföderation nicht minder skeptisch gegenüberstand. Arendts philosophische und politische Ambivalenz gegenüber den Nationalstaaten bewegt sich auf mehreren komplexen Ebenen. Das System der Nationalstaaten, das infolge der amerikanischen und Französischen Revolution entstand und das Ergebnis von Entwicklungsprozessen war, die seit dem europäischen Absolutismus des sechzehnten Jahrhunderts am Werke waren, basiert auf der Spannung und bisweilen auf dem eklatanten Widerspruch zwischen dem “Staat” und der “Nation” einerseits und den “Menschenrechten” und dem Prinzip der “Souveränität” andererseits. Welche Schlussfolgerungen können wir aus den historischen und institutionellen Widersprüchen in der Idee des Nationalstaats ziehen? Ist Arendts widerwillige Akzeptanz dieser politischen Formation eine Konzession an den politischen Realismus und historische Zwänge? Das Experiment des modernen Staates lässt sich meines Erachtens jedoch auch anders analysieren, ohne die Entwicklung der Nation im Sinne von rückschrittlichen Ideologien der Abstammung, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit oder von “Blut und Boden” deuten zu müssen. Im Gegensatz dazu lässt sich die Entwicklung eines demokratischen Volkes mit einer besonderen Geschichte und Kultur auch als die ständige reflexive Transformation und experimentelle Neubestimmung einer kollektiven Identität begreifen. IV. “Wir, das Volk”, um nur das amerikanische Beispiel zu nehmen, schloss ursprünglich nicht die nichtweißen Völker ein, die amerikanischen Sklaven, die nur zu drei Fünfteln die Rechte der Person genossen; noch gewährte die Unabhängigkeitserklärung den Frauen die volle Staatsbürgerschaft oder das Wahlrecht. Deren Status wurde durch eine Prozedur, die als “couverture” bezeichnet wird, von dem ihrer Ehemänner abhängig gemacht. Und in vielen Fällen sa- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderun hen die Verfassungen der dreizehn Kolonien auch für die dort sesshaften Anhänger des jüdischen Glaubens nicht den vollen Genuss der Freiheitsrechte und der politischen Rechte vor. So viel zum amerikanischen Fall. Das Zeitalter der Revolutionen in Europa von 1789 bis 1848 ist natürlich geprägt vom Kampf verschiedener Gruppen gegen solche Formen des Ausschlusses und für den Erhalt der vollen Staatsbürgerrechte. Das souveräne “Wir” der modernen Nation schloss ursprünglich weder die Arbeiter ein noch die Arbeitsgesellen, die Frauen oder die Besitzlosen. Noch erachtete man die nichtweißen, nichtchristlichen Völker der Selbstgesetzgebung fähig. Die Geschichte der politischen Moderne ist die Geschichte von dem Kampf ausgeschlossener Gruppen für die Aufnahme in den Kreis der Adressaten jener universalen Aussage: “Alle Menschen sind gleich geschaffen”. Sie sind es jedoch offensichtlich nicht. Vielmehr sind es die politischen Kämpfe in der Geschichte, die Gründung von Institutionen und das Lernen aus vergangenen Kämpfen und Niederlagen, die kulturellen Transformationen und Umgestaltungen, die diese Gleichheit zu einem historischen Prinzip machen. Der Konflikt zwischen dem Universalen und dem Partikularen, zwischen den Prinzipien der Menschenrechte und der Souveränität eines konkreten Volkes ist einer zwischen Inklusion und Exklusion. Die Abgrenzungen des “Wir” werden bestritten und sind bestreitbar, jedoch nicht nur innerhalb der imaginären Gemeinschaft dieses “Wir” des souveränen Volkes. Im System der Nationalstaaten bedeutet Souveränität immer auch die Hoheit über ein eingegrenztes Territorium. Das “Wir” wird eine Einheit, indem es seine Grenzen gegenüber “Anderen”, Fremden, Ausländern und Flüchtlingen definiert, überwacht und schließt. Die moderne Staatenwelt gründet auf dem Prinzip der “territorialen” Staatsbürgerschaft. Es wird immer Andere innerhalb und außerhalb des souveränen Volkes geben. Ohne diese Fähigkeit des modernen Staates, sein Territorium zu definieren und zu verteidigen, würde das Prinzip der Souveränität irrelevant. Die Frage, mit der wir uns heute befassen wollen, ist jedoch: Kann das territorial definierte Prinzip der Volkssouveränität, das wir vom Westfälischen Friedensvertrag ererbt haben, in einer zunehmend globalisierten Welt noch mit dem Prinzip der Achtung der universalen Menschenrechte vereinbart werden? Können Demokratien mit der juristischen Illusion geschlossener Grenzen leben? Offensichtlich nicht. Eben weil die Prinzipien der Souveränität und der Menschenrechte für die moderne Nation konstitutiv sind, ist es das Zusammenspiel zwischen ihnen, das in juristischer wie in politischer, in institutioneller und in kultureller Hinsicht die Erfahrung demokratischer Identitäten definieren wird. Arendt erlebte die Auflösung des westfälischen Modells in Europa, aber nicht seine Transformation – das Alte war zusammengebrochen, das Neue noch nicht in Sicht. Wo aber stehen wir heute? V. Während die Globalisierung im Schwindel erregenden Tempo fortschreitet und eine materielle globale Zivilisation die Welt von Hongkong bis Lima, von Pretoria bis Helsinki umspannt, geht die weltweite Integration in Wirtschaft, Kommunikation, Information und Rüstung mit der allgemeinen kulturellen Desintegration älterer politischer Gemeinwesen einher. Im Prozess der Globalisierung und gleichzeitigen Fragmentierung geraten Menschenrechte und Souveränitätsansprüche zunehmend miteinander in Konflikt. Einerseits wächst weltweit das Bewusstsein für die universalen Prinzipien der Menschenrechte; andererseits werden partikularistische Identitäten im Sinne von Nationalität, Ethnizität, Religion, Rasse und Sprache, auf Grund deren man einem souveränen Volk angehören soll, mit zunehmender Schärfe behauptet. Anstatt eine “kosmopolitische Ordnung” herzustellen, einen Zustand des ewigen Friedens zwischen den Völkern, die sich von den Prinzipien einer republikanischen Verfassung leiten lassen (Kant), hat die Globalisierung den Konflikt zwischen den Menschenrechten und den souveränen Selbstbestimmungswünschen von Kollektiven eher verschärft. Welche Formen der Immigration und der Naturalisation und welche Staatsbürgerschaftspraktiken wären nun mit den Menschenrechten vereinbar, auf die sich die liberaldemokratischen Staaten ver25 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung pflichtet haben? Können Ansprüche auf souveräne Selbstbestimmung mit der gerechten und fairen Behandlung von Ausländern und anderen, die in unserer Mitte leben, vereinbart werden? VI. Keine liberale Demokratie, so meine These, kann seine Grenzen schließen. Die Durchlässigkeit der Grenzen stellt eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für liberale Demokratien dar. Ebenso kann keine souveräne liberale Demokratie das Recht verlieren, eine Immigrations- und Aufnahmepolitik zu verfügen. In diesem Kontext kann man die Bedingungen für die Einreise in ein Land – wie die Erlaubnis zu arbeiten, Freunde und Verwandte zu besuchen, zu studieren und Güter zu erwerben – von den Bedingungen eines befristeten Aufenthalts unterscheiden und diese wiederum von den Bedingungen des unbefristeten Aufenthalts und der zivilen Integration, die in der politischen Mitgliedschaft gipfelt. Es handelt sich hier um verschiedene Stufen der politischen Integration, die in der theoretischen Debatte häufig miteinander vermengt werden, aber sich analytisch unterscheiden lassen. Auf jeder dieser Stufen werden die Rechte und Ansprüche von Ausländern, Gästen und Fremden von souveränen Gemeinwesen geregelt; aber die entsprechenden Regelungen können eingehend ge- prüft, diskutiert, angefochten und zum Gegenstand von Protesten gemacht werden von denjenigen, auf die sie zutreffen, von deren Anwälten und von nationalen wie internationalen Menschenrechtsgruppen. Es gibt keinen Schritt in diesem Prozess, der der Überprüfung durch die Betroffenen entzogen werden könnte. Demokratische Souveränität in der Immigrations- und Integrationspolitik ist kein uneingeschränktes Recht; das Selbstbestimmungsrecht eines bestimmten Volkes muss im Lichte der Verpflichtung dieses Volkes auf die universalen Menschenrechte überprüft und bewertet werden. Die Behandlung von Fremden, Ausländern und anderen, die in unserer Mitte leben, ist ein entscheidender Prüfstein sowohl für das moralische Gewissen als auch für die politische Reflexivität liberaler Demokratien. Die Definition der Identität einer souveränen Nation hat selbst den Prozesscharakter einer fließenden, offenen und heiß umkämpften öffentlichen Debatte: Die Trennlinien zwischen “wir” und “ihr”, “uns” und “ihnen” beruhen meist auf unreflektierten Vorurteilen, uralten Konflikten, historischem Unrecht und bloßen Verwaltungsentscheidungen. Die Anfänge jedes modernen Nationalstaats tragen immer auch die Anfänge von Gewalt und Unrecht in sich. Insofern hat Carl Schmitt Recht. Trotzdem sind moderne liberale Demokratien sich selbst beschränkende Kollektive, die die Nation als Souverän konstituieren und dabei gleichzeitig verkünden, dass die Souveränität dieser Nation ihre Legitimität durch die Einhaltung fundamentaler Menschenrechtsprinzipien bezieht. “Wir, das Volk” ist eine spannungsgeladene Formel, in deren Artikulation bereits die konstitutiven Widersprüche zwischen der Achtung der universalen Menschenrechte und der national umgrenzten Souveränitätsansprüche enthalten ist. Die Rechte von Fremden und Ausländern, seien es Flüchtlinge oder Gastarbeiter, Asylbewerber oder Abenteurer, definieren die Schwelle, die Grenze, an der die Identität des “Wir, das Volk” festgelegt und neu ausgehandelt, festgezurrt und aufgedröselt, eingefroren und flüssig gemacht wird. (Aus dem Englischen von Anne Middelhoek. Auszüge aus dem Gastvortrag “Eine spannungsgeladene Formel: ‚Wir, das Volk‘. Hannah Arendt und ‚das Recht, Rechte zu haben‘“ von Seyla Benhabib, gehalten anlässlich der HannahArendt-Tage im Oktober 1999 in Hannover; aus: Frankfurter Rundschau vom 29.10.1999) Postkarte: IgA, Frankfurt/M 26 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung „Nützliche“ und „belastende“ Zuwanderung (Red.) Für Beobachter und Beobachterinnen der Flüchtlingspolitik zeichnete sich im vergangenen Jahr deutlich ab, was jetzt unter anderen Vorzeichen diskutiert wird: eine Segregationspolitik, die zwischen „guten“ und „schlechten“ MigrantInnen unterscheidet. Diese Kategorien bezogen sich bislang auf Flüchtlinge – die mit Bleiberecht, denen verstärkte Integrationsbemühungen und -mittel zukommen sollten und die ohne. Letzteren wurden und werden systematisch und sukzessive Rechte und Leistungen entzogen – im Modellprojekt Identitätsfeststellung in Niedersachsen (Projekt X), in der Kürzung der Mittel für die Flüchtlingssozialarbeit, in der Vertreibungspolitik mithilfe von Leistungskürzungen nach §1a Asylbewerberleistungsgesetz (vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen: Rechenschaftsbericht 1999; FLÜCHTLINGSRAT 64/65). In der neuen Asylrechtsdebatte konnte Schily in seinen Reihen keine Mehrheiten finden für die offene Verknüpfung von Asylrecht und Einwanderungsdebatte. Die „Einwanderungskommission“ soll jetzt für die Zuwanderungs-Interessen der Wirtschaft, die „nützlichen“ Zuwanderer, Konzepte erarbeiten. Auch wenn die Rechtswege-Garantie des Asylrechts z.Zt. nicht mehr offensiv zur Disposition gestellt wird, hat der Verwertbarkeits-Diskurs eine politische (Segregations-)Funktion. Ulrich Beck schreibt dazu in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel: Deutsche Lebenslügen „Die Green Card für ausländische Computerspezialisten sollte in Deutschland mit einer Brown Card ausgegeben werden, witzelte neulich ein ausländischer Kollege, auf der die Stadtteile verzeichnet sind, die er meiden sollte, wenn ihm sein Leben lieb ist. Wie das Bombenattentat auf russische Einwan- derer in Düsseldorf zeigt, ist es Ausdruck einer westlichen Bigotterie, den normalisierten Fremdenhass alleine den neuen Feinden im Osten, den glatzköpfigen Kindern des autoritären Kommunismus in die Schuhe zu schieben. Tatsächlich tobt sich hier ein gestörtes Verhältnis vieler Deutscher zu den sogenannten Fremden aus, das nicht nur in der Mitte der Gesellschaft, sondern auch in allen politischen Parteien beheimatet ist. Es gibt keinen sanften Übergang in die multiethnische Weltgesellschaft. Aber diese ist auch kein Hirngespinst, kein Experiment, das man für gescheitert erklären kann, um dann zum nationalen Selbstverständnis einer abgeschotteten Gesellschaft zurückzukehren. Die multiethnische Gesellschaft ist vielmehr eine globale Realität und wird dies im Zuge der laufenden Globalisierungsprozesse immer mehr. Sie führt nicht nur zu einer bunten Vielfalt überlappender Herkunfts- und Identitätskategorien, sondern auch zu Abschottungen und Xenophobie - nicht nur in Deutschland, überall auf der Welt. Entscheidend ist allerdings, ob man sich für die neuen, verwirrenden Realitäten öffnet oder sich ihnen verschließt. Die Debatte in Deutschland weist in die zweite Richtung; sie ist von drei Lebenslügen geprägt. Die erste, entscheidende Lebenslüge liegt in dem Bild des “rentablen Ausländers” (Vera Gaserow), das jetzt in allen Parteien die Runde macht. Es beruht auf der gefährlichen Illusion, zwischen “guten” und “schlechten” Ausländern am Maßstab des nationalen Nutzens unterscheiden zu können, ohne dadurch die Basis des zivilisatorischen Zusammenlebens -die Grundrechte - zu zerstören. In die Debatte um das bevorstehende Einwanderungsgesetz haben sich beunruhigende Töne ein- „Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung, die die Sozialkassen erheblich belastet, und Zuwanderung, die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht. Alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, enthalten ein Kompensationsmodell. Bei einem Kompensationsmodell bleibt Spielraum für Zuwanderer, die wir aus eigenem Interesse nach Deutschland holen wollen.“ (Bundesinnenminister Schily in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 26. Juni 2000) geschlichen. Dass in der Münchner CSU ein Thesenpapier zur Ausländerpolitik vorgelegt wurde, in dem dafür plädiert wird, “dass jene zu uns kommen, die uns nützen und nicht ausnützen”, mag der Beobachter noch als erwartbar abtun. Auch die bigotte Konkretisierung: “Wer Vorbehalte gegen die Gleichstellung der Frau hat, ist hier nicht erwünscht”, wirkt wie aus dem Realkabarett. Hat man mitbedacht, wie viele CSU-Anhänger damit des Landes verwiesen werden müssten? Auch die FDP hat ein “Zuwanderungsgesetz” in den Bundestag eingebracht, in dem sie, die ehemalige Partei der Bürgerrechte, von Regelungen für Ausländer spricht, “die Deutsch- land gut brauchen kann” und gegen Ausländer, “die wir nicht so gut brauchen können”. Analog argumentieren CDU-Fraktionschef Merz oder SPD-Innenminister Schily. Man muss sich das konkret ausmalen: Der Inder, der sein Computerwissen nach Deutschland mitbringt, ist ein guter, weil rentabler Ausländer. Er darf für fünf Jahre bleiben. Wie ist das mit dem polnischen Ingenieur, der Frau und zwei Kinder mitbringt - noch rentabel oder nicht mehr? Die malaysische Krankenschwester? Nun ja, wenn sie jung und der deutschen Spra27 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung che mächtig ist, wäre das durchzukalkulieren. Ganz und gar unrentabel sind allerdings die Flüchtlinge aus Bosnien und Afrika. Das ist der Punkt: Nicht dass Rentabilitätskriterien für eine Einwanderungspolitik auch eine Rolle spielen, sondern dass unter der Hand ein Einwanderungsgesetz gegen das Asylrecht, indische Computerspezialisten gegen nachziehende Familienangehörige, sozialpflichtige Fachkräfte gegen Bürgerkriegsflüchtlinge, gute gegen schlechte Ausländer ausgespielt werden, verweist auf die deutsche Krankheit: Die Schwierigkeit, anzuerkennen, was seit Kant zum humanen Selbstverständnis gehört - dass mit den Menschenrechten anderer die eigenen Lebensgrundlagen verteidigt werden. Bis heute gilt in Deutschland die Ausrede, dass man nicht wissen konnte, was mit den Juden in den KZs geschah. Dass es deutsche Staatsbürger waren, denen systematisch die Bürger- und Menschenrechte abgesprochen, die ausgesondert und abtransportiert wurden, wusste jeder, es galt aber nicht als verwerflich. Auch heute wieder klagt der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe, dass die fremdenfeindlichen Jugendbanden “Deutschland einen Bärendienst erweisen”. Man fürchtet Einbrüche in der Tourismusbranche, sieht das Ansehen Deutschlands gefährdet, will aber nicht wahrhaben, dass nicht nur die Gewalt gegen sogenannte Fremde, sondern auch schon das Kalkül des rentablen Ausländers die Grundlagen des zivilen Zusammenlebens gefährdet“. ... (SZ vom 08.08.2000 Feuilleton) Ökonomische Auswirkungen der Zuwanderung nach Deutschland Asyl ist keine Handelsware Von Hans Dietrich von Loeffelholz und Günter Köpp. Zusammenfassung: Justus Reuleaux Schriftenreihe des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Heft 63 Berlin 1998. (ISBN 3-428-09801-3 / ISSN 0720-7212, 98,-DM, http://www.rwi-essen.de/presse/publikat/ver_s63.htm Z entrales Ergebnis der Studie ist: Langfristig gesehen ermöglichen Zuwanderer und deren bessere Integration die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt. Zuwanderung wird in der Öffentlichkeit, neben Bedenken hinsichtlich der kulturellen Identität und des sozialen Zusammenhangs der Gesellschaft, zunehmend mit der Befürchtung thematisiert, dass die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Sozialleistungssystem und Infrastruktur erreicht werden könnten. Ziel der Studie ist es, mit einem auf die ökonomische Wirkung der Zuwanderung gerichteten Blick zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen. Dazu untersucht die Studie die arbeitsmarktspezifischen, finanzwirtschaftlichen sowie wachstumsund strukturpolitischen Wirkungen der Zuwanderung nach Deutschland sowohl rückblickend seit Bestehen der Bundesrepublik als auch vorausschauend bis zum Jahr 2030. Schwerpunkte sind dabei: die unterschiedlichen bisherigen Zuwanderungsentwicklungen; die für den Arbeitsmarkt wichtige theoretische und empirische Frage, 28 inwieweit die Situation der Ansässigen durch die zuziehenden Arbeitskräfte beeinflusst wird; finanzwirtschaftliche Effekte und die Auswirkungen der Zuwanderung auf Konjunktur, Wirtschaftswachstum und Strukturwandel. In den letzten Jahrzehnten wurde, bedingt durch die Zuwanderungen, ein Bevölkerungswachstum und eine Verlangsamung der durchschnittlichen Veralterung in der Bundesrepublik ermöglicht. Die Ergebnisse der Studie sind zwar nicht dazu geeignet, kurzfristige oder auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogene Aussagen über das Arbeitskräfteangebot in Deutschland zu machen. Sie verdeutlichen jedoch, dass die Zahl der Erwerbspersonen langfristig wegen der demographischen Entwicklung erheblich abnehmen wird; diese Entwicklung wird durch Zuwanderungen oder ein geändertes Erwerbsverhalten verlangsamt aber nicht aufgehalten. Die Studie entwickelt, auf der Basis von 1994 mit ca. 39 Mill. Erwerbspersonen, sechs Szenarien für die Entwicklung bis zum Jahr 2030. Sowohl die Szenarien I (ohne weitere Zuwanderung), II (mit halbier- ter Zuwanderung von 150.000 pro Jahr) und III (mit konstant hoher Zuwanderung von 300.000 pro Jahr) ohne eine Veränderung des Erwerbsverhaltens als auch AI, AII und AIII mit einer Veränderung des Erwerbsverhaltens (kürzere Ausbildungszeit, spätere Rente und höhere Frauenerwerbsbeteiligung) ergeben einen Rückgang der Anzahl der Erwerbspersonen. Unter der Annahme des Szenario I ergäbe sich ein drastischer Rückgang von ca. 11 Mill. und im Szenario AIII von nur 0,5 Mill.. Dies bedeutet, dass ohne Zuwanderung spätestens 2015 (I) bzw. 2024 (AI) die Arbeitskräftenachfrage nicht mehr durch das inländische Angebot gedeckt werden kann. Bei konstanter Zuwanderung und verändertem Erwerbsverhalten (AIII) würde die Arbeitslosenquote von 9,6% auf 7% sinken. In den mittleren Szenarien (II und AII), die als realistisch angesehen werden, kommt es zu einem Rückgang der Erwerbspersonen um ca. 3-7 Millionen bis zum Jahr 2030. Auch eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), so die Frankfurter Rundschau vom 23.5.00, geht von ähnlichen Zahlen aus. Zur Frage FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung der Osterweiterung der EU bestätigt diese Brüsseler Prognosen, nach denen für Handel und Arbeitsmärkte durch die Osterweiterung keine starken Spannungen zu erwarten seien. Dabei geht das DIW von einer problemlosen Aufnahmekapazität von 330.000 Arbeitskräften für die EU bzw. von 220.000 für Deutschland in den nächsten Jahren aus. In seiner Februarausgabe nimmt das Forum Migration bezug auf eine UNOStudie die von größeren Zahlen ausgeht. So benötige Deutschland in den nächsten 50 Jahren jährlich die Einwanderung von 500.000 Menschen um den Umfang der Erwerbsbevölkerung auf dem Stand von 1995 halten zu können. Die EU - so die Empfehlung der UNO sollte sich in den nächsten 25 Jahren um die Einwanderung von 35 Millionen Menschen bemühen, um die Erwerbsbevölkerung auf einem stabilen Level zu halten. Die RWI- Studie zeigt darüber hinaus auf, dass die ausländischen Zuwanderer, da sie überwiegend als un- oder angelernte Arbeitskräfte beschäftigt werden, auf dem Arbeitsmarkt kaum in Konkurrenz zu ausgebildeten Deutschen geraten. Durch die Zuwanderung unqualifizierter Arbeitnehmer verringert sich einerseits die Arbeitslosenquote der qualifizierten Arbeitnehmer, andererseits erhöht sich die Quote der unqualifizierten. Dieses betrifft, aufgrund von bestehenden Integrationsdefiziten z.b. bei Sprache und Bildung, zum überwiegenden Teil die ausländischen Arbeitskräfte. Mehreinnahmen durch Zuwan derung Der Vorteil für die öffentlichen Finanzen der Aufnahmegesellschaften ist eindeutig und besteht darin, dass sich die Migranten an den öffentlichen Kosten beteiligen. Bezüglich der Wachstums- und strukturpolitischen Auswirkungen der Zuwanderungen in die Bundesrepublik kann die Studie nur Tendenzen angeben. Die Gründe dafür sind zum einen in der Komplexität der Ursachen und Folgen des Wirtschaftswachstums und des wirtschaftlichen Strukturwandels zu suchen und zum anderen, auch ein Ergebnis, in der nur untergeordneten Rolle, die Immigration hierfür spielt. Die positive Bedeutung der Immigranten für die öffentlichen Finanzen wird aus folgenden Zahlen deutlich: Die 1995 in Deutschland lebenden Ausländer, über 7 Mill., bringen im Ausmaß ihres Bevölkerungs- und Erwerbspersonenanteils (8%) auch Steuern und Beiträge auf, was rund 100 Mrd. DM entspricht. Davon entfallen auf die direkten und indirekten Steuern jeweils 30 Mrd. DM und auf die Sozialversicherungsbeiträge über 40 Mrd. DM. 1995 haben die zwischen 1988 und 1995 nach (West-) Deutschland zugewanderten Personen, ein Drittel deutsche Immigranten und ein Drittel ausländische, mehr als 35 Mrd. DM an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen aufgebracht. Da sich die Ausgaben für die Immigranten, inklusive 5,5 Mrd. DM für Asylbewerber, nur auf 20 Mrd. DM beliefen, ergab sich ein Überschuss für die staatlichen Finanzen von ca. 15 Mrd. DM. hung in die Bildungs- und Beschäftigungssysteme nicht zu verkennen. Da eine Integration im Sinne einer weitgehenden sektoralen und beruflichen Angleichung ohne spezielle Förderung erst in sehr langer Frist zu erwarten ist, laufen ausländische Zuwanderer Gefahr, den Arbeitsmarktanforderungen des Strukturwandels in der Wirtschaft nur bedingt zu entsprechen und als Beschäftigte in Sektoren, Regionen und Tätigkeiten mit hohen Beschäftigungsrisiken weiterhin besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen zu werden. Der Abbau der bildungs- und arbeitsmarktspezifischen Integrationsdefizite und damit ein um 1 bis 2% höherer Beitrag der Ausländer zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung könnte, so die Studie, einen volkswirtschaftlichen Gewinn von jährlich 50 bis 80 Mrd. DM bedeuten. Dies würde an Steuern und Sozialbeiträgen zusätzlich 20 bis 35 Mrd. bedeuten. Dabei hat der rechtliche Status der Migranten, als Deutsche (Aussiedler, Übersiedler) oder Nichtdeutsche (Asylbewerber oder sonstige Ausländer), auf die Finanzen einen großen Einfluss. Je besser die Zuwanderer in den Erwerbsprozess sowie in Wirtschaft und Gesellschaft integriert werden können, um so günstiger stellt sich auch das Ergebnis für die öffentlichen Budgets dar. So hätten beispielsweise die 5,5 Mrd. DM Aufwendungen für die 1995 in Deutschland lebenden über 1 Mill. Flüchtlinge durch entsprechende Einnahmen der öffentlichen Hand ausgeglichen werden können, wenn etwa 300.000 Personen eine um ein Drittel unter dem Durchschnitt entlohnte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gestattet gewesen wäre. Das Ergebnis der Studie ist, dass Zuwanderung für Deutschland, wie für alle Immigrationsländer, der Zufluss an flexiblen, motivierten und unternehmerisch orientierten „Humankapital“, für das ja keine Investitionen geleistet werden mussten, eine positive Wirkungen haben. Daher fordern die Autoren eine gesetzliche Regelung von Zuwanderung vor allem über verstärkte Integrationsanstrengungen. Das bedeutet mehr Einbürgerungen und Erleichterungen beim Staatsbürgerschaftsrecht als wesentliche Voraussetzungen für eine stärkere Integration vor allem von jüngeren, in Deutschland geborenen Ausländern in Wirtschaft und Gesellschaft. Also die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz auch für Deutschland, wie es in Frankreich oder den USA besteht. In fiskalischer Hinsicht wirken sich Zuzug und Aufenthalt von ausländischen Zuwanderern bisher positiv auf die öffentlichen Finanzen aus. Hauptgründe dafür sind die günstige Altersstruktur der Immigranten, die beachtliche Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte und die unterproportionale Inanspruchnahme wichtiger öffentlicher Leistungen. Gleichwohl sind Restriktionen bei den ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten als Folge mangelnder Einbezie- Weitere Literatur: RWI und Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster (Hrsg.), Kosten der Nichtintegration ausländischer Zuwanderer. Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen. (Bearb.: H.D: von Loeffelholz, D. Thränhardt und A. Gieseck.) Düsseldorf 1996. 29 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Gute Karten, schlechte Karten Asylrechtsdebatte globalistisch: Und sie bewegt sich doch Florian Schneider D Foto: “Die Welt ist keine Handelsware” Seatle WTO 30.11.1999 30 er Zeitpunkt hätte geschickter nicht gewählt werden können. Am 1. Mai diesen Jahres veröffentlichten Esther Dyson, Linus Torvalds und Steve Wozniak in den USA ein migrationspolitisches Manifest, das in eine hitzige Debatte intervenierte: “The New Economy needs new Americans”, stellten die wohl bekannteste Internet-Unternehmensberaterin, der Erfinder des Betriebssystems Linux und der Mitbegründer der Firma Apple in einem offenen Brief an die Kongressabgeordneten fest. Zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse machten die drei Superstars der New Economy ein unmissverständliches Plädoyer in Sachen Einwanderung: ITSpezialisten, wie sie in letzter Zeit zu Hunderttausenden in die USA gelockt werden, dürften nicht in einem rechtlosen Gastarbeiter-Status gefangen bleiben, sondern müssten auf die gleichen Rechte wie alle Amerikaner zählen können. Nach einer langen Debatte wurde die Zahl der “H-1B”-Visa im Sommer 1998 auf 115.000 pro Jahr festgelegt. Auf massivem Druck der Industrie präsentierte die Clinton-Administration damals einen Kompromiss, der auch eine Ausbildungsabgabe enthielt; der vom Arbeitgeber zu entrichtende symbolische Betrag von 500 Dollar Linus Torvalds weiß, wovon er spricht. Selbst dem Computer-Genie aus Finnland wurde es nicht besonders leicht gemacht, als er vor knapp zwei Jahren ins Silicon Valley abgeworben wurde. Torvalds schaffte es auch nach persönlicher Intervention der örtlichen Kongressabgeordneten bislang nicht, an eine reguläre Green Card zu kommen. Stattdessen arbeitet er nach wie vor, und wie Hundertausende wesentlich weniger protegierte IT-Arbeiter, in einem Gastarbeiterstatus, der in den USA “H-1B” heißt: Ein “NichtEinwanderungs”-Visum, das die ursprüngliche Vorgabe hat, einen vorübergehenden Arbeitskräftemangel zu beseitigen, und ausländischen Experten einen maximal sechsjährigen Aufenthalt beschert. pro Visum sollte die damals noch notorisch einwanderungsfeindlichen Gewerkschaften milde stimmen. An Nachfrage mangelte es jedenfalls nicht: Im März diesen Jahres - zu einem Zeitpunkt also, als in Deutschland gerade die “Kinder statt Inder”- Kampagne anschlug - war jenseits des Atlantiks das Kontingent an “H-1B”-Visa für das gesamte Jahr 2000 bereits ausgeschöpft. Mitten im Vorwahlkampf begann ein Wettlauf, in dem Demokraten und Republikaner um die Gunst der High-Tech -Industrie buhlten und sich gegenseitig mit immer großzügigeren Offerten überboten, wie der boomenden Volkswirtschaft weitere Arbeitskräfte zuzuführen seien. Von 300.000 unbesetzten Stellen war die Rede und Clinton stellte eine Verdreifachung der Zahl der “H-1B”-Visa für die nächsten Jahre in Aussicht. Plötzlich aber regte sich Widerspruch: Sprecher der indischen Programmierer-Community, die mittlerweile fast 40 Prozent der Arbeitskräfte im Silicon Valley stellt, beanspruchten einen sicheren Aufenthaltsstatus. Wer mit der Kündigung auch sein Bleibebrecht verliert, stehe exzessiver Ausbeutung und Lohndumping schließlich mehr oder weniger machtlos gegenüber. Um nicht länger wie Sklaven an einen Arbeitgeber gebunden zu sein und das Land ohnehin nach ein paar Jahren wieder verlassen zu müssen, forderten die Inder echte “Green Cards”. Auf diese Linie sind in den vergangenen Wochen auch Gewerkschaften wie die AFL-CIO und der größte Berufsverband der Branche, die IEEE-USA, eingeschwenkt. Bis vor kurzem galten die beiden Organisationen noch als Bastionen ständisch motivierter Fremdenfeindlichkeit, jetzt stehen sie an der Spitze einer Koalition für eine grund-sätzliche Reform der Einwanderungsbestimmungen. Die Wendung vom Saulus zum Paulus dürfte niemand besser verkörpern als Paul Donnelly: Als PRDirektor der US-Kommission zur Einwanderungsreform trat er 1996 für die Verringerung der Zuwanderungzahlen auf fast die Hälfte ein, doch heute verficht Donolly Standpunkte, die wie das blanke Gegenteil seiner agressiven Stimmungsmache in den 90er Jahren anmuten. Als Sprecher der “Immigration Reform Coalition” initiierte er den Offenen Brief von Dyson, Torvalds und Wozniak, der FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung bald von den wichtigsten CEO’s der Branche unterzeichnet wurde. “The New Economy needs new Europeans” Verglichen mit Donolly sehen die Wendehälse hierzulande ziemlich altbacken aus. Beckstein und Schily tun sich bekanntermaßen hart, den radikalen Kurswechsel in der Migrationspolitik schlüssig zu begründen, ohne ihre Positionen zur “Nullmigration” von noch vor ein paar Monaten der Lächerlichkeit preiszugeben. Ausländer kämen nach Deutschland, um unseren Sozialstaat auszunutzen, wurde den Menschen landauf, landab jahrelang von Politikern fast aller Parteien eingebläut. Davon, dass hoch-motivierte internationale Arbeitskraft durchaus nützlich sein könne, durfte keine Rede sein. Ein Tabuthema, das erst mit dem gemeinsamen Vorstoß der Vertreter führender Computerkonzerne zur CEBIT aufgebrochen wurde. Natürlich wäre es naheliegend, den Bonmot von Dyson, Torvalds und Wozniak einfach in die alte Welt zu übertragen. Doch schon beim zweiten Mal Lesen offenbart das Wortspiel einen ungeahnten Facettenreichtum: Müssen sich nicht zuerst die Europäer ändern, bevor sie den Segen der Zuwanderung von Experten, deren teure Ausbildung schließlich in wesentlich ärmeren Regionen dieser Welt finanziert wurde, überhaupt verdient haben? Zeugt die Devise “Rein darf nur, wer uns nützt” nicht von gelinde gesagt allzu schlichtem Gemüt? Ist derlei Bauernschläue, wie sie seit neuem in den Landes- und Bundesministerien grassiert, dem überaus komplexen und vielschichtigen Migrationsdiskurs angemessen? Seitdem tobt nun eine Debatte, die die Fronten gehörig durcheinanderwirbelt und zumindest einen Nutzen hat: Die festgefahrene Auseinandersetzung ist endlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Langsam spricht es sich schließlich auch in Deutschland herum: Um wenigstens einen Rest sozialer Errungenschaften zu retten, braucht es jede Menge Zuwanderung. Um die Herausforderungen der New Economy zu meistern, müssen Spezialisten aus aller Herren Länder angeworben werden. Um auf den globalen Märkten konkurrenzfähig zu sein, muss auch die Mitarbeiterschaft eines Betriebes entsprechend zusammengesetzt sein. Verglichen mit dem Niveau, das für die Auseinandersetzungen in den USA in quantitativer und qualitativer Hinsicht selbstverständlich scheint, wirken die hiesigen Debatten wie Spiegelfechterei. Die Gewerkschaft AFL-CIO, beileibe keine linksradikale Splittergruppe, fordert neuerdings Papiere für alle, die als “Illegale” mit Niedrigstlöhnen am gegenwärtigen Boom maßgeblich mitgearbeitet haben. Mehrere ehemalige Verwaltungsdirektoren der Einwanderungsbehörde INS plädieren in einer “National Coalition for Dignity and Amnesty” für eine Generalamnestie aller geschätzt rund 5,5 Millionen Migranten ohne Aufenthaltstitel. Selbst Präsident Clinton stellte kürzlich fest, die Einwanderungspolitik in seinem Land gerate zunehmend unfair und elitär. Er meinte, wenn nun einige Hunderttausend graduierte Software-Entwickler ins Land gelassen werden, dürfte es auch kein Problem darstellen, den paar Tausend Flüchtlinge aus lateinamerikanischen Ländern ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren. Dabei handelt es sich freilich um Einsichten, die keinswegs revolutionär sind, und schon gar nicht neu. Zu lange aber glich, was hierzulande unter Globalisierung verstanden wurde, einem Lufthansa-Linienflug: Vorne sitzen die Business Nomaden, die nicht nur genügend Statusmeilen, sondern vor allem den richtigen Pass haben, dazwischen Touristen auf den billigen Plätzen und hinten die gefesselten und geknebelten Schüblinge: Menschen, die abgeschoben werden, weil sie angeblich aus bloß “wirtschaftlichen Gründen” eingereist seien. Es kann natürlich nicht darum gehen, die über zweihundertjährige Tradition der USA als Einwanderungsland praktisch über Nacht auf den alten Kontinent herunterzuladen. Es fragt sich auch, inwiefern das herkömmliche Verständnis von Ein- und Auswanderung, Pull- und Push-Faktoren nicht völlig an der Realität von Menschen vorbeizielt, die ihre Lebensmittelpunkte auf zwei oder mehreren Kontinenten verteilen. Doch nicht nur aus volkswirtschaftlicher Perspektive wird die Frage immer drängender, ob Europa beim Nachdenken über Migration ein bestimmtes ethisches Mindestniveau erreicht, das zum Aufrücken auf die nächste Stufe der Globalisierung qualifiziert. Asyl ist keine Handelsware Ein erster Schritt könnte in einer grundlegenden und wenn dann eher humanistischen als humanitären Einsicht bestehen: Jeder Mensch ist ein Experte. Jeder Mensch spezialisiert sich im Laufe eines Lebens, und die Vielfalt dieser Besonderheiten macht den Reichtum und die Produktivität eines sozialen Gefüges aus. Menschen, die dermaßen viel Vorstellungskraft haben, dass sie ihre vertraute Umgebung aufgeben, um sich in der Fremde behaupten zu wollen, müssen allemal Experten sein. Sie zeichnen sich durch geistige Beweglichkeit aus, sowie Anpassungsfähigkeit und die Hartnäckigkeit, Grenzen auch wirklich zu überwinden. Da spielt es eine untergeordnete Rolle, welchen Abschluss sie in der Tasche haben, wie viel sie verdienen mögen und weswegen sie sich auf den Weg gemacht haben. Sie müssen sich, auf wenigstens eine Sache spezialisieren, die unter Alteingesessenen Mangelware ist und im Jargon der neuen Unternehmenskultur “Interkulturelle Kompetenz” heißt. Weltoffenheit ist eine Spezialkenntnis, die erfahren werden muss. Alles weitere lässt sich mit etwas Begeisterungsfähig schnell aneignen. Wer weiß denn heute noch, ob die Küchenhilfe nicht nach Feierabend C++ programmiert? Und was ist schließlich der Unterschied zwischen Pizza-Austragen und Skripten für e-Commerce-Lösungen schreiben? Menschen jedoch vorschnell in nützlich oder unnütz einzuteilen, ist ein Schuss, der nach hinten losgehen wird und im besten Falle ziemliche Ahnungslosigkeit über die eigentliche Dynamik der globalen Informationsgesellschaft offenbart. 31 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung ANERKANNT (Red.) Eine ganze Reihe von Flüchtlingen, über die der FLÜCHLINGSRAT in der Vergangenheit berichtete, wurden von Bundesamt oder Gerichten in den letzten Wochen und Monaten anerkannt. Von „Ketten-Anerkennung“ lässt sich wohl (leider) nicht sprechen, es waren jeweils sehr unterschiedliche Zusammenhänge (manchmal mit zynischem Beigeschmack), die zum „glücklichen“ Ausgang führten. Eins haben aber alle diese Flüchtlinge gemeinsam: ihre Verfolgung und das Bleiberecht wurden erst nach intensiver Recherche und mit Hilfe breiter Unterstützung anerkannt. Nach ÜberläuferAussagen anerkannt Das Auswärtige Amt bestätigte mittlerweile, dass das Reuegeständnis des Überläufers Vedat Yilmaz echt ist. Yilmaz legte am 20.10.99 in seiner Verhandlung vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir eine ergänzende schriftliche Aussage vor, mit der er mehrere in Deutschland lebende Kurden und insbesondere die Teilnehmer des Wanderkirchenasyls in NRW als PKK’ler bezeichnete und damit schwer belastete (s. FLÜCHTLINGSRAT, Heft 64/65). Inzwischen erhielten mehrere der denunzierten Personen Abschiebeschutz nach § 51 Abs 1 AuslG, so z.b. die Familie Kardasoglu aus Hannover, die damit ihr Göttinger Kirchenasyl beenden konnte. Selbst wenn die Vorwürfe des Vedat Yilmaz inhaltlich nicht zutreffend seien, so das BAFl, so gefährdeten sie doch die Familie bei einer Rückkehr in die Türkei. Der Bescheid ist rechtskräftig (Juli 2000). Weitere Anerkennungen wegen Yilmaz Aussagen liegen aus Nienburg und dem LK Osnabrück vor. Im Göttinger Kirchenasyl anerkannt Neben der Familie Kardasoglu erhielt auch Emin Acar im Göttinger Kirchenasyl ein Bleiberecht. Nach einer unglaublichen Verfahrensodyssee wurde er nun doch noch vom VG Braunschweig nach § 51,1 AuslG anerkannt. Um nur einige Etappen zu nennen: Der Asylerstantrag wurde mit der Begründung abgeschmettert, die vorgelegten Unterlagen über die drohende politische Verfolgung seien gefälscht. Acar wurde illegalisiert und suchte 32 Schutz im Kirchenasyl in Hildesheim. Nachdem der Nds. Flüchtlingsrat die Echtheit der Dokumente nachweisen konnte, zog sich das VG Braunschweig auf die Begründung zurück, Acar habe bezüglich seiner Einreise falsche Angaben gemacht und sei darum nicht glaubwürdig. Emin Acar tauchte unter, bis es gelang, weitere Beweise in der Türkei zu sichern. Er kam ins Göttinger Kirchenasyl. chiert und im Bericht „Von Deutschland in den türkischen Folterkeller“ dokumentiert wurde, erhielten nun nach erneuter Flucht das „Kleine Asyl“: Oguz Ciftci (Nr. 13) wurde am 12.01.00 rechtskräftig nach § 51,1 AuslG anerkannt. Das BAFl sah es als erwiesen an, dass Ciftci nach seiner Abschiebung gefoltert wurde und zu Spitzeltätigkeiten ge- Foto: Kirchenasyl in Göttingen Doch auch der Asylfolgeantrag, Eil- und Abänderungsanträge und eine Verfassungsbeschwerde scheiterten. Erst nachdem Kennzeichen D das Schicksal Acars veröffentlichte und auch das Berliner Folteropferzentrum die erlittene Folter bestätigte, sprach der Richter die Anerkennung aus. Nach erneuter Flucht anerkannt Mehrere Kurden, deren politische Verfolgung nach der Abschiebung vom Nds. Flüchtlingsrat recher- zwungen werden sollte. Ciftci gab in seinem Verfahren an, die deutsche Polizei habe den türkischen Sicherheitskräften belastende Dokumente übergeben. Dies habe zu seiner Festnahme und dem Terrorismusverdacht geführt. Hüzni Almaz (Nr. 5) ist ebenfalls wieder in Deutschland und seit dem 10.01.00 rechtskräftig nach § 51,1 AuslG anerkannt. Das Kassationsgericht in Ankara bestätigte unterdessen die Verurteilung des Kurden zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft wegen exilpolitischer Aktivitäten. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung Abdulhalim Nayir (Nr. 19), der nach seiner erneuten Flucht zunächst in Abschiebehaft landete, wurde am 3.7.00 vom VG Osnabrück nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannt. Er habe glaubhaft gemacht, nach seiner Abschiebung in die Türkei in „erheblicher Weise misshandelt worden zu sein“. Eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen könne trotz Freispruch im Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, da Nayir die Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften als Spitzel durch seine Flucht ins Ausland aufgekündigt habe. Der Asylantrag der Restfamilie wurde abgelehnt. In den letzten zwei Jahren wurde die Familie von unserer Gruppe unterstützt und begleitet. Sie traten an uns heran, weil sie bereits eine Ausreiseaufforderung erhalten hatten und alle noch laufenden Verfahren keine aufschiebende Wirkung mehr hatten. Da es sehr offensichtlich war, dass beide Elternteile durch die Ereignisse in der Türkei schwer traumatisiert waren, wurden mehrere Ärz- Behörden, die wir mit einigen Beispielen belegen wollen: - So wurde z.B. vor Beginn der Therapie durch Zitate von Gerichtsurteilen aus anderen Fällen unterstellt, dass die Traumatisierung bzw. Suizidgefährdung nur vorgetäuscht sei - Es wurden u.a. unzulässige Fristen gesetzt, wie lange die Therapie höchstens dauern dürfe. In Abwesenheit anerkannt, aber wegen exilpolitischer Aktivitäten in Haft Das Bundesamt hob im Fall Angay (Nr. 21) am 20.07.00 seinen Bescheid vom 04.05.98 auf und stellte die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG fest. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei sei Angay mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Ahmet Angay bringt die Entscheidung allerdings wenig: Er wurde bereits im Sept. 98 abgeschoben und sitzt seit dem 06.12.98 in türkischer Haft. Am 10.05.00 wurde er wegen unterstellter exilpolitischer Aktivitäten zu 12 Jahren und 6 Monate Haft verurteilt. Beweise lagen außer einem Foltergeständnis und Denunziationen keine vor. Nach zwei Jahren mit Traumatisierungs-D Duldungen anerkannt (Von UnterstützerInnen aus dem Wendtland) Vor acht Jahren flüchtete die Familie Acar aus dem türkisch-kurdischen Midyat nach Deutschland und landete in Lüchow-Dannenberg. Nach endlosem Tauziehen mit Behörden wurden die Eltern Acar und zwei ihrer vier Kinder im Frühjahr in einem Berufungsverfahren gegen die Ablehnung ihres zweiten Asylfolgeantrages nach §51 AuslG als politisch Verfolgte anerkannt. Foto: Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen tInnen und eine Therapeutin konsultiert, Gutachten und Atteste eingeholt. Schließlich wurde auch vom Amtsarzt bestätigt, dass Acars bei einer Abschiebung wegen Suizidgefährdung reiseunfähig seien. Nach langen Verhandlungen genehmigte die Ausländerbehörde und das Sozialamt eine Therapie. Die Gefahr einer akuten Retraumatisierung im Falle einer Abschiebung außer acht lassend, dichteten die Behörden der Therapie den Zweck der “Wiederherstellung der Reisefähigkeit” an. Aus verschiedenen Gründen halten wir es für sehr unwahrscheinlich, dass Acars den Beweis ihrer Traumatisierung ohne Unterstützung hätten erbringen können und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen die Sprachschwierigkeiten, die es unglaublich schwer machen, die treudeutschen Amtsbriefe überhaupt zu verstehen. Zum anderen die Traumatisierung und die damit verbundene Angst vor der Abschiebung, welche auf die Betroffenen (nicht nur in diesem Fall) völlig lähmend und zerrüttend wirkt. Verstärkend hinzu kommt die rassistische Grundeinstellung der Nach scharfen Protesten auch durch die Therapeutin wurden diese Fristen zwar zurückgenommen, neun Monate später hingegen die Nichteinhaltung genau dieser Fristen zum Anlass genommen, Acars mangelnde Mitwirkung vorzuwerfen und wieder mit Abschiebung zu drohen. Dieser Vorfall führte erneut zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Eltern Acar. Obwohl ein therapeutisches Zwischengutachten ausdrücklich keine Besserung bescheinigte, wurde die Familie im Februar vom Amtsarzt reisefähig geschrieben. Die Aushändigung des Gutachtens wurde Herrn Acar vom Amtsarzt verweigert mit der Begründung er könne es sowieso nicht lesen, da es ja in deutsch geschrieben sei. So erhielten Acars postwendend die fristgebundene Ausreiseaufforderung, als sie in dem Berufungsverfahren völlig überraschend Asyl bekamen. Die Anerkennung beruhte nach unserer Einschätzung hauptsächlich auf vier Gründen: 33 Grundrecht auf Asyl und Einwanderung 1. Zeugen wurden vom Gericht gehört, deren Vernehmung das Bundesamt nicht für notwendig hielt 2. Die nachgewiesene Traumatisie rung 3. Die exilpolitischen Aktivitäten 4. Die bis dahin immer wieder genannte Fluchtalternative “Westtürkei” wurde ausgeschlossen Ibrahim Doruk anerkannt! Sechs Jahre ist es jetzt her: Am 12. April 1994 wurde Frau Doruk mit ihren vier Kindern aus Uchte im Landkreis Nienburg ohne Vorankündigung, gegen ihren Willen und ohne ihren Ehemann, ohne Pass und mittellos nach Istanbul abgeschoben. Herr Doruk, noch unter den Folgen einer schweren Schädeloperation leidend, war in Panik orientierungslos in den Wald geflohen und musste wegen eines Herzanfalls in eine Klinik eingeliefert werden. Bei seiner Entlassung aus der Klinik war er vom VG Hannover durch vorläufigen Rechtsschutz vor einem erneuten Zugriff des Landkreises Nienburg geschützt. Er forderte die Rückholung seiner Familie und trat in den unbefristeten Hungerstreik. Unterstützung und Beistand erhielt er vom AK Flüchtlingshilfe aus Uchte sowie dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat, als dessen Vertreter sich George Hartwig ab Anfang Mai dem Hungerstreik anschloss. Nach der Ankunft in Istanbul war Frau Doruk - zunächst ohne Begründung - in ein Gefängnis in unmittelbarer Nähe des Flughafens verbracht und dort insgesamt 11 Tage in einem Raum mit zwei schmalen Betten und einer Toilette ohne Wasseranschluss festgehalten worden. Ihr wurde nicht gestattet, Kontakt mit Verwandten aufzunehmen, einen Anwalt oder irgendeine Person ihres Vertrauens anzurufen und um Hilfe zu bitten. Während ihrer Inhaftierung wurde Frau Doruk immer wieder verhört und insbesondere nach dem Verbleib ihres Mannes gefragt, sie wurde vor den Augen der Kinder geschlagen, bespuckt, beleidigt und bedroht. 34 Unser Fazit: Die blockierende und rassistische Haltung der Behörden führt zu einer Überforderung der Flüchtlinge, aber auch irgendwann der UnterstützerInnen, die immer nah in Absprache mit den Betroffenen stehen, um sie in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Acars hatten großes Glück mit dem Ausgang der Gerichtsverhandlung, schien es Nach 11 Tagen wurde sie plötzlich ohne Begründung mit der Drohung an die Kinder entlassen, man suche den Vater nach wie vor, „ihr werdet verfolgt bis an euer Lebensende“. Doch auch diese Schilderungen konnten die Behörden zunächst nicht erweichen. Nach Rücksprache mit den türkischen Behörden teilte die deutsche Botschaft - ohne eigene Recherchen angestellt zu haben - mit, Frau Doruk sei einer „Personalienüberprüfung“ unterzogen worden. „Da gegen Frau Gülizan Doruk nichts vorlag, hat man der Familie Essen gegeben und Geld für das Busticket nach Manisa gesammelt“, heißt es in dem die Realitäten grotesk auf den Kopf stellenden Fax der deutschen Botschaft vom 3.5.1994. Weitere Wochen vergingen, ohne dass sich der Landkreis Nienburg oder das niedersächsische Innenministerium zum Einlenken bereit zeigten. Erst als der Gesundheitszustand von Irbrahim Doruk lebensbedrohlich wurde, erklärte sich das Land Mitte Mai schließlich - gegen den erbitterten Widerstand des LK Nienburg - bereit, Frau Doruk und ihren Kindern aus humanitären Gründen - bis zur Wiedergenesung ihres Mannes eine sog. „Betretenserlaubnis“ zu erteilen. Kurze Zeit später - am 20.5.1994 - verfügte das Land einen generellen Abschiebungsstopp für Kurden aus den Notstandsgebieten. Zwei deutsche Unterstützerinnen fanden sich bereit, die „legale“ Rückführung von Frau Doruk und den Kindern aus der Türkei nach Deutschland zu organisieren. Rund 5000 DM mussten zusammengetragen werden, um die damit einhergehenden Kosten zu decken. Am 17. Juni 1994 traf die Familie doch ihre letzte legale Möglichkeit zu sein. Wäre die Therapie nicht mit solch einem Nachdruck durchgefochten worden, so hätte die Verhandlung gar nicht mehr stattgefunden und Acars wären wohl schon vor 1½ Jahren abgeschoben worden. Es ist nach unseren Erfahrungen sehr wichtig alle Wege und Möglichkeiten auszuschöpfen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg als äußerst gering einzustufen ist. endlich wieder in Deutschland ein. Der erneute Bezug ihrer alten Wohnung in Uchte wurde ihr jedoch verweigert. Man hatte verfügt, daß die Familie in Neustadt am Rübenberge in zwei getrennten Zimmern in einem „Heim“ für Asylbewerber mit ca. 250 Menschen zusammen leben müssen incl. Vollverpflegung. Der mit dieser Unterbringungsform verbundene Abschreckungseffekt war beabsichtigt - die Doruks sollten sich nicht einrichten, sondern das Land wieder verlassen. Frau Doruk und die Kinder stellten einen erneuten Asylantrag, den das Bundesamt ohne viel Federlesens als unbeachtlich vom Tisch wischte. Der daraufhin gestellte Eilantrag hatte jedoch Erfolg. 1996 drohte der Familie nach einer negativen Entscheidung des Gerichts erneut die Abschiebung. Erst im allerletzten Moment stellte das VG Hannover die aufschiebende Wirkung wieder her und durchkreuzte damit das staatliche Interesse an einer schnellen Abschiebung der gesamten Familie in die Türkei. Vier lange Jahre geschah nichts, außer dass die Familie aufgrund der Bedingungen des Lagerlebens langsam aber sicher durchdrehte, so dass es zunehmend zu familiären Konflikten kam. Jetzt, im Juni 2000, hat das Gericht in der Hauptsache entschieden: Familie Doruk wird anerkannt! Ob allerdings ein Flüchtlingsausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention ausgestellt wird, steht noch nicht fest: Der Bundesbeauftragte, der sich erfolglos gegen eine Asylanerkennung ausgesprochen hatte, hat einen Antrag auf Zulassung der Berufung schon angekündigt. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Festung Europa Festung Europa Krokodilstränen um tote MigrantInnen Die EU und die Lehren aus Dover Mark Holzberger Der Schock über den Tod von 58 heimlichen GrenzgängerIn nen in Dover war nur kurz. Ab gelöst wurde er durch hekti sche Aktivitäten, die polizeiliche Bekämpfung der sog. Schleuserkriminalität zu verbes sern. Ein Irrweg. Der Tod der in einem niederländischen LKW versteckten chinesischen MigrantInnen konnte grausamer kaum sein. Nach einer monatelangen Odyssee über Peking, Russland, die Ukraine, Tschechien, die BRD und die Niederlande waren die ChinesInnen aus der Provinz Fuquing endlich auf britischem Boden angelangt. Dann stand der mit Tomaten beladene LKW aber stundenlang in der an diesem Tag auch in Grossbritannien herrschenden Hitze. Die Temperaturen im Frachtraum waren unerträglich und die Atemluft wurde knapp. Alles Schreien und Trommeln half nichts. Nur zwei Menschen überlebten verletzt und traumatisiert. Die anderen 58 starben einen qualvollen Erstickungstod. Der britische Innenminister Jack Straw eilte in das House of Commons und sprach von einer „schrecklichen Tragödie“, die sich in Dover abgespielt habe. Gleichwohl nutzt er die Gelegenheit und meinte, der Tod der 58 Chinesen sollte auch als „ausdrückliche Warnung“ an diejenigen verstanden werden, die daran dächten, „ihr Schicksal in die Hände organisierter Schleuser zu geben“. Eine merkwürdige Umdeutung der Ereignisse. Der Verdacht, in Dover sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, den ließ ausgerechnet Jack Straw aufkommen. Den britischen MPs verriet er nämlich: „Der Wagen wurde nicht zufällig durchsucht, sondern als Ergebnis guter nachrichtendienstlicher Informationen sowie einer Aktion der Zollbehörden.“1 Immerhin widerstand Straw aber der Versuchung, sofort eine Verschärfung der nationalen Gesetze zur Bekämpfung der sog. Schleuserkriminalität einzuleiten. Abgeordnete aller im britischen Unterhaus vertretenen Fraktionen, wie auch die europäischen Partnerstaaten hatten nämlich gefordert, die jüngst erlassenen Bestimmungen über eine Zivilstrafe in Höhe von 2.000 Pfund für Menschenschmuggler in eine ordentliche Haftstrafe umzuwandeln. Hier wollte der Innenminister erst noch mal abwarten. Routine in der Berliner Republik In Berlin zeigt man sich offiziell wenig beeindruckt über die Ereignisse im britischen Dover. Neben üblichen Beileidsbekundungen für die Opfer und Hinterbliebenen bemühte man sich, Ruhe auszustrahlen: In Deutschland habe es schon häufiger derartige Vorfälle gegeben. Zugleich wurde die deutsche Öffentlichkeit darauf vorbereitet, dass auch in Zukunft damit zu rechnen sei, dass hierzulande tote Flüchtlinge und MigrantInnen gefunden werden. Tatsächlich – dies ergibt sich aus Übersichten der Berliner Antirassistischen Initiative (ARI) – starben in 35 Festung Europa den Jahren 1993-1999 nicht weniger als 113 Menschen an den deutschen Grenzen bzw. auf ihrem Weg dorthin.2 Europaweit liegt die Zahl der zu Tode gekommenen Flüchtlinge und MigrantInen deutlich höher: Mehr als 2.000 Menschen sind nach Erkenntnissen des niederländischen antirassistischen Netzwerks UNITED seit 1993 auf ihrem Weg nach Europa umegkommen.3 In Deutschland erlitten darüber hinaus nach Berechnungen der ARI in diesem Zeitraum 267 Personen körperliche Schäden im Zuge ihres Grenzübertritts, 141 – und damit „nur“ rund die Hälfte - an den Ostgrenzen.4 Heimliche GrenzgängerInnen leiden – speziell im Rahmen einer kommerziell durchgeführten Fluchthilfeaktion – immer wieder an Unternährung, Wasser- und Luftmangel, bis hin zu Unterkühlung und Erfrierungen. Hinzu kommen allgemeine Schwächzustände und psychische Traumatisierungen. Die häufigsten Todesarten sind mit weitem Abstand – Ertrinken (zumeist in Oder und Neiße) und Ersticken oder Erfrieren. In dem einen Tag nach Dover von Bundesinnenminister Otto Schily vorgelegten Jahresbericht des Bundesgrenzschutzes (BGS) ergibt sich aus polizeilicher Sicht folgendes Bild: Die Zahl der sog. „unerlaubten Einreiseversuche“ hat sich nach dem Ende des Kosovo-Krieges um rund 2.500 auf 37.789 leicht gesenkt. Gleiches gilt für die „nachweislich geschleusten Personen“. Deren Zahl sank um rund 10% auf 11.101 (lag damit aber immer noch um rund 3.000 Versuche höher, als noch 1997). Nichts desto trotz hat der BGS letztes Jahr 3.410 Personen als angebliche Schleuser festgenommen - mehr als je zuvor. Schwerpunkte des polizeilich erfassten Menschenschmuggels waren insbesondere die deutsch-tschechische sowie die Schengener Binnengrenze zwischen der Bundesrepublik und Österreich. Diese Diskrepanz (weniger heimliche GrenzgängerInnen, jedoch mehr festgenommene Schleuser) erschließt sich aus der BGS-Übersicht „Grenzpolizeiliche Feststel36 lungen“ vom Februar diesen Jahres. Darin wird hervorgehoben, dass die Arbeit des BGS national, wie grenzüberschreitend auf mehrere Säulen verteilt worden ist: So wurden sog. Verbindungsbeamte des BGS in die Nachbarstaaten sowie in potentielle Herkunftsländer von Flüchtlingen und MigrantInnen entsandt. Deren Transitwege sollen bereits dort zerschlagen werden. Zugleich wurde die bilaterale Zusammenarbeit mit den polnischen und tschechischen KollegInnen erheblich ausgeweitet. Im Inland bemüht sich der BGS um eine Verzahnung seiner Arbeit mit der der Landespolizeien: durch die Einrichtung gemeinsamer Sonderkommissionen und Ermittlungsgruppen, die sich der Schleuserbekämpfung verschrieben haben. Business as usual in Europa Die Tage nach dem Auffinden der Toten von Dover waren geprägt von markigen Worten derjenigen, die ein härteres polizeiliches Vor- ropäische Polizeibehörde mit der Bekämpfung der Schleuserkriminalität zu beauftragen. Tatsächlich hatte EUROPOL schon seit längerem das Mandat hierzu erhalten. Die Bekämpfung der kommerziellen Fluchthilfe liegt EUROPOL im Hinblick auf die Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten im Bereich sog. operativer Aktivitäten besonders am Herzen. So hatte der EU-Rat von Tampere erst im Oktober letzten Jahr bekräftigt, die EU sei fest entschlossen, „die illegale Einwanderung an ihrer Wurzel zu bekämpfen, insbesondere durch Maßnahmen gegen diejenigen, die Zuwanderer einschleusen oder wirtschaftlich ausbeuten.“ EUROPOL käme hierbei besondere Bedeutung zu. Bis Ende 2000 sollten entsprechende Rechtsvorschriften beschlossen werden.6 Im März 2000 legte der Rat der EU seinen Strategie-Entwurf „Prävention und Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ vor. Darin heißt es, es sei von allergrößter Wichtigkeit, dass via EUROPOL Foto: Kein Mensch ist Illegal gehen gegenüber den „skrupellosen Schlepperbanden“ forderten: So erklärte der Chef des britischen National Criminal Intelligence Service, John Abbot: „Menschen haben die Drogen als das lukrativste Objekt krimineller Banden ersetzt. Wir reden hier nicht von Asyl, sondern von Organisierter Kriminalität“.5 Auf dem Gipfel der Europäischen Staats- und Regierungschefs im portugiesischen Feira versprach man, nunmehr verstärkt die Eu- nicht nur Informationen über sog. Schleuserbanden ausgetauscht werden. Überlegt werden sollten auch „andere“ - nicht näher ausgeführte – „Formen der Zusammenarbeit“. Schließlich wird angeregt, eigene polizeiliche Task Forces hierzu zu gründen.7 Diese Idee ist nicht ganz neu8. Sie wurde jüngst auch von der EUKommission aufgegriffen. Sie schlägt die sofortige Einrichtung derartiger gemeinsamer polizeilicher Ermittlungsteams u. a. auf FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Festung Europa dem Gebiet des Menschenhandels vor. 9 EUROPOL soll - im Zuge der geplanten Ausweitung seiner Kompetenzen - bei der Einrichtung und Führung dieser Task Forces eine Schlüsselrolle einnehmen.10 EUROPOL wird somit zur Bekämpfung der kommerziellen Fluchthilfe sein gesamtes Arsenal geheimpolizeilicher Praktiken einsetzen können. Hierzu gehören auch sog. polizeilich kontrollierte Lieferungen. Dies sind Schmuggelaktivitäten, die von der Polizei entweder von außen technisch überwacht und observiert und/oder von innen durch V-Personen oder „verdeckte Ermittler“ initiiert, gesteuert bzw. begleitet werden. Eine makabre Vorstellung, dass ggf. tödlich verlaufende Fälle der Fluchthilfe zukünftig auch unter der (wenn auch nur indirekten) Kontrolle EUROPOLs stattfinden könnten.11 Einschaltung der Geheimdienste Die EU-Mitgliedstaaten werden aber auch auf nationaler Ebene aktiv – und dies regelmäßig auch unter Einschaltung der Nachrichtendienste. In Großbritannien beispielsweise arbeiten der In- und der Auslandsgeheimdienst (MI5 und 6) eng mit Scotland Yard dem Foreign Office sowie der Einwanderungsbehörde zusammen, um kommerzielle Fluchthelfer zu bekämpfen.12 In der Bundesrepublik sind neben dem Bundesgrenzschutz und den Landespolizeien auch das Bundskriminalamt fest in die Verfolgung der sog. Schleuserkriminalität eingebunden. In dem Anfang Juli vorgelegten „Lagebericht Organisierte Kriminalität“ ist die kommerzielle Fluchthilfe mit Blick auf den „Schadensumfang“ vom achten auf den fünften Platz gerückt. Doch auch der Bundesnachrichtendienst (BND) ist diesbezüglich aktiv. Trotz der hochgehaltenen Trennung von Polizei und Geheimdiensten klärt der BND seit den 80er Jahren auf, inwiefern „Migrationsabsichten unter Einbeziehung der Organisierten Kriminalität verwirklicht werden.“13 Die Kriminalisierung der Fluchthilfe Zu Zeiten des Kalten Krieges galt die meist kommerziell betriebene Hilfe zur Flucht aus einem der “Ostblockstaaten” als rechtmäßiges Geschäft. Der Bundesgerichtshof stellte seinerzeit sogar fest, dass ein Fluchthelfer die ihm versprochenen “Gebühren” notfalls auch gerichtlich von der geschleusten Person eintreiben könne.14 Dieselbe Handlung, nämlich das Einschleusen von Personen in die Bundesrepublik, unterlag nunmehr in den letzten Jahren einem grundlegenden Bewertungswandel: Was früher den guten Sitten entsprach, Die 58 Toten von Dover im Mai vom BGS abgeschoben Thomas Zeller Die ZEIT berichtet in ihrem Dossier vom 29. Juni, dass die 58 in Dover tot angekommenen Chinesen vermutlich am 31. Mai in Dresden von BGS-Beamten aufgegriffen und sofort nach Tschechien abgeschoben worden seien. „Die Parallelen sind evident“, so die ZEIT. Im vergangenen Jahr wurden 12.846 Menschen beim Versuch aufgegriffen, „illegal“ von Tschechien nach Deutschland zu gelangen. Seit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl 1993 kann der BGS ohne Prüfung der Asylgründe Flüchtlinge und Vertriebene schon direkt an der Grenze zurückschieben. Das Asylrecht in Deutschland hat sich seit 93 vom Schutz für Flüchtlinge zum Schutz vor Flüchtlingen gewandelt. 2.063 Tote hat das Menschenrechtsnetzwerk United bis in diesem Sommer hinein registriert als Opfer der “Festung Europa“. Sie ertrinken vor Europas Küsten, erfrieren in den Frachträumen von Flugzeugen, nehmen sich das Leben in der Abschiebehaft oder werden zerquetscht von Lastwagen. Einzelfälle, die politischen Aufruhr nicht entfachen. Allenfalls pawlow´sche Reflexe der Mitleidsbekundung und der Ankündigung massiver gegen die Schlepper vorzugehen, mit noch rigideren Gesetzen und einer stärkeren Kontrolle der Grenzen. Ach Europa ! wird heute als menschenverachtende Mafia-Tätigkeit dargestellt.15 Der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge waren 1999 ca. 73% aller als “Schlepper und Schleuser” angezeigten Personen Nichtdeutsche16 – was auch nicht verwunderlich ist, da sowohl die „Kunden“ keinen deutschen Pass besitzen als auch wesentliche Abschnitte des Geschäftes von der Natur der Sache her im Ausland abgewickelt werden müssen. Dass Schleusungen – wie die von Dover - tatsächlich unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen stattfindet darf weder geleugnet noch verharmlost werden. Aber diese Umstände der Fluchthilfe sind nicht gottgegeben. Vielmehr „schafft erst das System der administrativen und materiellen Grenzsicherung den Raum dafür, in dem sich verschiedene Formen von Fluchthilfe entwickeln.“17 Tödlich verlaufene Fälle der kommerziellen Fluchthilfe können nicht durch eine verschärfte Grenzsicherung – und sei sie auch noch so hermetisch – verhindert werden. Erinnert sei hier nur an drei „Fälle“, die unweigerlich an die Ereignisse von Dover erinnern: an das Schicksal der 18 Toten, die im Juni 1995 in der west-ungarischen Stadt Györ auf ihrem Weg in die BRD in einem LKW erstickten; an die rund 150 Menschen, die in die Bundesrepublik flüchten wollten, deren Boot aber am ersten Weihnachtstag 1996 vor Malta sank, so dass die Flüchtlinge ertranken oder an die sieben Personen, die nahe der sächsischen Ortschaft Weißenborn starben, als der Kleinlaster, der sie in die BRD transportiert hatte, auf der Flucht vor der Polizei außer Kontrolle geriet. Die Grenzkontrollen des BGS und die Strafandrohungen für Schleuser bewirken vor allem eines: Sie treiben die Preise der Fluchthilfe in die Höhe. Und das hat Folgen: So herrscht nunmehr in diesem Bereich allein die Macht des Geldes. Es kommt zu einer Hierarchisierung unter den auf der Flucht befindlichen Menschen: Nur wer es sich leisten kann, ist in der Lage, z. 37 Festung Europa B. eine sog. Garantieschleusung zu buchen. Diejenigen Flüchtlinge, die sich das nicht leisten können, nehmen immer wieder einen Kredit auf – zumeist bei ihrem Fluchthelfer: In Knebelverträgen verpflichten sie sich dann regelmäßig dazu, nach erfolgreicher Schleusung ihre Schulden ggf. auch durch illegale Tätigkeiten abzuarbeiten. “Die auffallend hohe, sprunghaft angestiegene Ausländerquote beim Drogenhandel, Diebstählen, Wohnungseinbrüchen und illegaler Prostitution muss daher“, so das Bundesinnenministerium, „als mittelbare Folge der Schlepperkriminalität betrachtet werden”.18 Einwanderung ermöglichen Als Konsequenz aus den Toten von Dover wurde gefordert, „möglichst rasch eine einheitliche EU-Einwanderungs- und Asylpolitik zu entwickeln“, so der aus Portugal stammende sozialdemokratische EU-Kommissar für Inneres und Justiz, Antonio Vitorino. Denn, so die Abgeordnete im Ausschuss für Bürgerfreiheiten des Europaparlaments, Sabina Mazzi, die beste- 1. Hansard v. 19.6.2000; Column 33 2. 87 - also knapp unter 80% - hiervon kamen an den deutschen Ostgrenzen um - wobei diese Zahl mit Sicherheit höher liegen dürfte. So konnte die ARI z. B. die von den polnischen und tschechischen Behörden aufgefundenen Toten nicht berücksichtigen, da derlei Informationen nicht zwischen den Grenzschutzbehörden nicht ausgetauscht werden. 3. Pressemitteilung vom 14.6.2000 4. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass Menschen, die im Zuge ihrer Schleusung verletzt wurden, oftmals erst weit hinter der Grenze gefunden werden. 5. Zit. nach: Observer v. 25.06.2000 6. Schlussfolgerungen des Vorsitzes: Europäischer Rat (Tampere) 15. und 16. 10. 1999“ (SN 200/99), S. 6 (Punkt 23) 7. „Prävention und Bekämpfung der organisierten Kriminalität – Eine Strategie der EU für den Beginn des neuen Jahrtausends“, Dok-Nr. 9423/4/99 vom 3. 3. 2000, S. 26 (Empfehlung Nr. 10) 8. Bereits Ende 1997 wurde im Rahmen der Schengen-Kooperation eine entsprechende Task Force zur Bekämpfung der kurdischen Massenflucht ins Leben gerufen. Hochrangige Polizeibeamte nicht nur der Schengener Vertragsstaaten, sondern auch aus den Herkunftsländern sollten, “in bestimmten Migrati- 38 henden unterschiedlichen Kriterien und Vorschriften für die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU würden systematisch von Schleuserorganisationen ausgenutzt.19 Diese Ansätze sind für sich genommen so allgemein wie unstrittig. Tatsächlich wird derzeit in Umsetzung der Vorgaben des Amsterdamer Vertrages an einer Harmonisierung sowohl des materiellen, als auch des verfahrensrechtlichen Asylrechts in Europa gearbeitet. Das Europa-Parlament, wie auch die Parlamente der Mitgliedstaaten, sind hierbei nur als Zaungäste zugelassen – die Regierungen arbeiten lieben unter sich. Allerdings hat die EU-Kommission ihre erweiterten Zuständigkeiten genutzt und z. B. zu den Bereichen Familienzusammenführung und Flüchtlingsfond vielversprechende Vorschlägen unterbreitet. An die Frage, die im Zusammenhang mit heimlich durchgeführter Migration und Fluchthilfe eine zentrale Rolle spielt, hat sich bislang jedoch noch niemand heran getraut, nämlich Zuwanderungsmöglichkeiten in die EU zu schaffen. Wer den Amsterdamer Vertrag aufmerksam liest wird fest- onskrisensituationen” Lagebilder entwerfen und konkrete Handlungsvorschläge entwickeln. (SCH/Com-ex (97) 44 rev 2 und SCH/Com-ex (98) 37 rev.5) Im Zuge der Überführung der Schengen-Kooperation in die EU wurde die Schengener Task Force zwar formal nicht aufgelöst. Sie lässt aber – so ist zu hören - ihre Arbeit zugunsten anderer EU-Arbeitsebenen vorläufig ruhen. 9. KOM (2000) 167 endgültig, S. 19 10. Vgl. „Erste Überlegungen zu den Schlußfolgerungen von Tampere, soweit sie sich auf EUROPOL beziehen“(Dok-Nr. 13370/99 vom 25.11.99) sowie die Erwiderung der Mitgliedstaaten hierzu (Dok-Nr. 5845/00 vom 8. 2. 2000). 11. Ausweislich seines aktuellen Arbeitsprogramms (Dok. Nr. 13109/99 vom 22. 12. 99) arbeitet EUROPOL derzeit an der Zerschlagung kurdisch-irakischer sowie kosovo-albanischer Schleusernetze. Zusätzlich gibt Den Haag spezielle Lageberichte und ein Bulletin zur „illegalen“ Einwanderung heraus. 12. The Independent vom 1.7.2000 13. Hierzu veranstaltete der BND im Oktober letzten Jahres ein von 300 TeilnehmerInnen besuchtes und 120.000 DM teures Symposium, in dem der Auslandgeheimdienst auf die „Bedrohung“ hinwies, die aus einem Migrationspotential von ca. 30 Millionen resultiert: „Angesichts beschränkter legaler Zu- stellen, das dieser Aspekt dort sträflich vernachlässigt worden ist – im völligen Gegensatz zu seiner Bedeutung für den Gesamtkomplex von Flucht und Migration im Zeitalter einer sich globalisierender Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung. Völlig daneben ist in diesem Zusammenhang die Überlegung des britischen Innenministers Straw, in Folge von Dover die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) zu überarbeiten.20 Denn erst im Oktober letzten Jahres hatten die Staats- und Regierungschefs der EU im finnischen Tampere beschlossen, dem zukünftigen gemeinsamen Asylsystem der EU die GFK „uneingeschränkt und allumfassend“ zu Grunde zu legen. Daran darf nicht gerüttelt werden. Ein Schleifen der Festung Europa – die Wiederherstellung eines Rechts auf Asyl, das seinen Namen verdient, und die Eröffnung legaler Einwanderungsmöglichkeiten – sind die aussichtsreichsten Maßnahmen, um “Schleppern” und Schleusern” ihr unmenschliches Betätigungsfeld zu nehmen und das unnötige Sterben von Menschen auf der Flucht zu beenden. wanderungsmöglichkeiten in den bevorzugten Aufnahmeländern werden“, so der BND, „zunehmend illegale Einreisewege von kriminellen Organisationen angeboten“; zit. nach: Kleine Anfrage von Ulla Jelpke (PDS) BT-Drs. 14/2054 14. Neue Juristische Wochenschrift 1980, S. 1574ff 15. Vgl. Schmoller, K.: ‚Schlepperei‘ und ‚Ausbeuterische Schlepperei‘ - zwei neue Deliktstypen im österreichischem Strafrecht. Vortrag am 2. deutsch-polnischen Symposium “Kriminalität im Grenzgebiet”, Europa-Universität „Viadrina“, Frankfurt/O., 28.11.1997 16. Hierbei handelte es sich – der BGSHalbjahresstatistik 1998 (vom 25. 02. 99) zufolge – um 738 Tschechen, 617 Jugoslawen und immerhin 337 Deutsche. 17. Forschungsgesellschaft Flucht und Migration: Schleuser und Schlepper – Fluchthilfe als Dienstleistung, in: analyse&kritik Nr. 430 (1999) 18. So: Rupprecht, R.: Zuwanderung und Innere Sicherheit, in Angenendt, S. (Hg.): “Migration und Flucht”, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 342, Bonn 1997, S. 90 19. FR, 21.06.00 20. vgl. Guardian 20.06.00 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Festung Europa Schleuserbanden und europäische Asylpolitik UNHCR-R Report: Trafficking and Smuggling of Refugees - the end game in European asylum policy? EXECUTIVE SUMMARY This report analyses the response of European governments to the increasing problems of human trafficking and smuggling, and concludes that much of existing policy-m making is part of the problem and not the solution. Refugees are now forced to use illegal means if they want to access Europe at all. The direction of current policy risks not so much solving the problem of trafficking but rather ending the right of asylum in Europe, one of the most fundamental of all human rights. Any comprehensive approach that tackles trafficking and smuggling successfully requires legal and safe migration opportunities for all refugees, as well as necessary enforcement measures. Europe is in urgent need for political and moral leadership on this issue and it is hoped that the recommendations contained in the final chapter of this report might stimulate some reflection. RECOMMENDATIONS (...) Non-refoulement should continue to represent the most fundamental obligation on all members of both the European Union and the Council of Europe. (Article 3 of the European Convention of Human Rights and Article 33 of the United Nations Convention Relating to the Status of Refugees.) Non-refoulement should be understood in its fullest international sense and should be applied to the actions of any representative of a European Government regardless of where in the world they are performing their duties. With this in mind, Governments have a duty to ensure that the effects of pre-entry screening and advice given by European officials oversea do not risk refouling refugees. Foto: 3.Welt Saar Under present arrangements, it is difficult to eliminate the very strong theoretical possibility that the activities of Airline Liaison Officers can and do return refugees to persecution or human rights abuse in an unsafe transit country. All European Governments need to review the procedures of all overseas staff, with or without diplomatic status, and to submit their work to scrutiny by an impartial observer. Governments should ensure that private carriers, in particular road haulage and shipping companies, do not refoule refugees in order to evade carriers’ liability penalties. The protection of refugees and other migrants at sea Governments should affirm that the position of all irregular migrants aboard sea-going craft is a very vulnerable one and that the immediate concern is always the safety of all passengers on board. Although it is recognised that the 1957 Brussels Convention is unlikely to ever become international law, the existing guidelines of the International Chamber of Shipping regarding the disembarkation of stowaways should explicitly mention refugees as a category of migrant and the importance of non- refoulement. The draft United Nations Convention against Transnational Organisation Crime represents the best opportunity for clearly apportioning responsibility for asylum claims in international waters at the present time. Governments throughout Europe should ensure that their immigration and harbour officials are rigorous in disembarking all stowaways upon arrival at any European port, regardless of the flag state or insurance arrangements. UNHCR Protection Officers and NGOs with access to ports (in particular Missions to Seamen) should monitor as best as they can disembarkation records and possible contravention of the Safety of Lives at Sea (SOLAS) Conventions by returning irregular migrants to sea. Der ganze Bericht kann heruntergeladen werden: www.unhcr.ch/evaluate/reports/tra ffick.pdf Im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass der Autor nicht unbedingt die Position des UNHCR wiedergibt. Kritische Äußerungen über die Festung Europa waren jedoch auch schon von Mary Robinson zu hören. (Red.) 39 Festung Europa Angriff auf Europas Sans Papiers aus der mailinglist von kein mensch ist illegal, leicht überarbeitet von d. Red. Migrationskontrolle nach Ver wertungslogik Unter der im Sommer 2000 beginnenden Präsidentschaft schlägt Frankreich für den Politik Bereich (sog.”Säule”) Justice and Home Affairs (JHA) der Europäischen Union vier politische Papiere vor: 1. Eine Richtlinie für europaweite Sanktionen von “mindestens” 2.000 Euro für Schlepper, die papierlose Einwanderer befördern 2. Die Verschärfung der Strafen für jede Art von Beihilfe zur “illegalen Einwanderung oder Aufenthaltsbeschaffung” 3. Eine Richtlinie zur Vereinheitlichung der Abschiebung von papierlosen Einwanderern aus der EU 4. Eine Intensivierung der europäischen Polizeizusammenarbeit die auf Bekämpfung der illegalen Migration zielt Statewatch/London hat eine schnelle und übersichtliche Einschätzung herausgegeben (die Papiere sind abrufbar unter deren homepage, s.u.). Hier nur ein vorläufiger kurzer Kommentar zu den Papieren: “Schengen war ein offenes und demokratisches Europa. Zumindest im Vergleich zu der Festung, die die Innenminister und Polizeichefs von 39 Ländern bauen wollen”.(TAZ, 24.7.2000, über ein vom EU-Ratspräsidenten Frankreich organisierte Seminar über Methoden und Erfahrungen im Kampf gegen “Schlepperkriminalität” und “illegale Einwanderung” in Paris Mitte Juli). Es scheint, als würde die EU damit sowohl auf die Tatsache antworten, dass sich innerhalb der EU mehrere Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus aufhalten, als auch dazu, dass sie verdeckte Unterstützung oder auch offene politische Solidarität erhalten. In Kombination mit den jüngsten 40 Absichtserklärungen in England, Deutschland und Italien zu wirtschaftlich erwünschter Zuwanderung - zumindest für England ist dies ein radikaler Kurswechsel in der politischen Rhetorik - sowie den deutschen und englischen Vorstößen zum weiteren Abbau des Asylrechts, laufen die französischen EU-Vorschläge auf verschärfte Einwanderungskontrolle plus Kampf den Illegalen plus Abbau des Asylrechts plus kontrollierter Arbeitsmigration hinaus. Es geht um den Versuch, die aus Sicht der Sozialplaner unzureichende Steuerung der Wanderung, sprich Selektion, zu vervollkommnen. Während schon in den Herkunftsländern erwünschte Arbeitskräfte ausgelesen werden, konzentriert sich die Politik erneut auf die Bekämpfung selbstbestimmter, sowie politisch bedingter und armutsbedingter Migration. Uns scheint, als würde ein neuer Anlauf genommen, um eine gesamteuropäische Neuauflage von Bevölkerungspolitik, dazu zählen wir die Regelung von erwünschter und nicht erwünschter Wanderung, unternommen. Es geht um die politische Steuerung der Zusammensetzung der Bevölkerung nach den Verwertungskriterien der kapitalistischen Wirtschaft. Ob es um die Höhe der Renten geht, um die Durchsetzung von Billiglöhnen, um die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, oder “zu hohe Lohn(neben)kosten”, Schreibtischtäter planen gegen die existenziellen Entscheidungen von Millionen, um sie zunichte zu machen. Die Migrationskontrolle, die rational und gleichzeitig rassistisch ist, versucht, die Ausbeutungsverhältnisse zu stabilisieren. Diese neue Bevölkerungspolitik sollten wir analysieren und Antworten von unten darauf finden. Mit den EU-Aktionsplänen und dem Lome III Vertragswerk, die allesamt vor allem die Migrationskontrolle auf die Transitländer erzwingen (Türkei, Marokko), bzw. Rücknahme von Flüchtlingen an Entwicklungsgelder koppeln, manifestiert sich entlang der Ausbreitung des EU-Migrationsregimes vor allem der Anspruch auf die Kontrolle osteuropäischer, nahöstlicher, mediterraner und westafrikanischer Staaten, sowie deren Sozial-, Migrations-, Bevölkerungsund Entwicklungspolitik. Quellen: zu Lome III siehe ebenfalls: http://www.statewatch.org/news/i ndex.html) Wer oder was ist Statewatch? Statewatch ist eine unabhängige, in London residierende Stiftung. Grundsätzlich ist Statewatch die erste Adresse zum Thema EU - Innen-, Justiz- und Sicherheitspolitik, auf ihrer website sind die relevanten und aktuellen Papiere der EU immer einsehbar. Abonnenten/innen von Semdoc erhalten Zugang zu sämtlichen Dokumenten der Dritten Säule JHA. Siehe auch unter: http://social.humanrights.de/index.html kein mensch ist illegal: http://www.contrast.org/borders/ kein [email protected] http://coyote.kein.org/mailman/listinfo/coyote-l Foto: Lars Klingbeil FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Festung Europa Drittes antirassistisches Grenz-C Camp in Forst Sklaven mit Computerkenntnissen Kein mensch ist illegal E s war sicherlich eine der skurrilsten Aufführungen, die das diesjährige Sommertheater zu bieten hatte: Eine Gruppe altertümlicher Griechen zog am ersten Samstag im August durch das kleine brandenburgische Städtchen Forst. Gehüllt in weiße Tunika schleppten sie einen Haufen gefesselter Sklaven auf den fast menschenleeren Marktplatz. Das Eröffnungsgebot war niedrig: “Wer bietet mehr als fünf Euro für einen wertvollen Sklaven mit Computer-Kenntnissen?” steriellem Krisenstab auf den Plan, um den zähneknirschenden Lokalpolitikern eine Nachhilfestunde in Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu geben. “Tolerantes Brandenburg” heißt das Programm der Landesregierung, das den mordenden Neonazi-Banden Einhalt gebieten soll. Die semantische Raffinesse der Good-Will-Aktion musste aber erst mal vor Ort konkretisiert werden: Also nicht Neonazis gewähren lassen, sondern diejenigen, die gegen Rassismus und das Grenzregime auf die Straße gehen. schutz stundenlang blockiert wurde, zum Beispiel. Um die Beamten an der Jagd auf Flüchtlinge, die illegal die Grenze überqueren zu hindern, wurden kurzerhand Gräben ausgehoben und Zufahrtswege mit Baumstämmen blockiert. Die Polizeiführung übte sich in Gelassenheit und konnte nur “geringe Sachbeschädigungen” oder eine “Ruhestörung” ausmachen. Auch als die Scheiben des örtlichen BGS-Büros klirrten – und zwar aus Verärgerung darüber, dass von zehn Flüchtlingen, die die Grenze Vielleicht kommt Brechts Begriff vom “epischen Theater” dem außergewöhnlichen Charakter der Darbietungen des antirassistischen Grenzcamps am nächsten. Bereits zum dritten Mal trafen sich vergangene Woche Aktivisten des Netzwerks “kein mensch ist illegal” im deutsch-polnischen Grenzgebiet, um mit symbolischen Aktionen im Hinterland des EU-Grenzregimes zu intervenieren. Und wie in den beiden Jahren zuvor, genügte bereits die bloße Ankündigung, um den lokalen Behördenvertretern Schaum vor den Mund zu treiben. The same procedure as every year: Bis zum Eröffnungstag verweigerte der Bürgermeister der “Telecity Forst” ein öffentliches Grundstück mit dem Hinweis auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ausgerechnet durch antirassistische Aktionen in Gefahr sei. Private Grundbesitzer wurden unter Druck gesetzt, ja keinen Zeltplatz zur Verfügung zu stellen. Und so trat “Plan B” in Kraft, wie CampSprecherin Uschi Volz, mittlerweile recht routiniert in solchen Auseinandersetzungen, bekanntgab. Unterstützt von starken Polizeikräften mussten die Camper ein geeignetes Grundstück kurzerhand besetzen. Wie im ostsächsischen Görlitz und letztes Jahr in Zittau trat eine eigenartige Koalition von Autonomen, Antirassisten und innenmini- Foto: Grenz-Camp 2000 Der Bombenanschlag von Düsseldorf und die anschließende öffentliche Debatte, wie der rechten Gewalt begegnet werden könne, bescherte den rund 1000 Teilnehmern des antirassistischen Grenzcamp ein unerwartetes Medieninteresse: “Yeeppie, wir sind die Lieblinge der Standort-Nation! Ein Kamera-Team jagt das andere über unsere schöne grüne Wiese: ZDF, ORB, NTV und ausländische Sender freuen sich, nette junge Menschen mit langen zotteligen bunten Haaren vor die Kamera zu bekommen.” So sarkastisch startet das Webjournal, mit dem die Campteilnehmer allabendlich über ihre Aktivitäten berichteten. Wie eine Kaserne des Bundesgrenz- nächstens überquerten, zwei sofort festgenommen wurden. Kollateralschäden eines Engagements, das die Solidarität mit Flüchtlingen und Einwanderern eben ernst nimmt. Daran, dass das Camp in der ortsansässigen Bevölkerung weitgehend auf Wohlwollen stieß, konnten aber selbst solche Aktionen nichts ändern. Bereitwillig spielten die Einwohner von Forst beim 10tägigen Straßentheater mit. Sie ließen sich in Flugblättern erklären, dass Tanken in Polen laut “viertem Schengener Durchführungsabkommen” von nun an verboten sei, oder stellten sich für einen Test zur Verfügung, der endlich Gewis41 Festung Europa sheit darüber verschaffen sollte, wer ein reinrassiger Deutscher sei und wer nicht. Die antirassistischen Aktivisten hielten den Bürgern Lackmus-Papier vor die Nase, und wer draufspuckte, konnte angeblich an der Verfärbung erkennen, dass sich unter den Vorfahren reichlich Nicht-Deutsche befinden. Kommunikationsguerilla, die nach dem Vorbild der legendären Übergabe der Kleinstadt Zittau an Polen funktionierte, mit der das Camp 1999 für Furore bereits im Vorfeld sorgte. Dass Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit nicht ausreicht, um gegen den alltäglichen Rassismus, der sich nicht nur im Osten, sondern in der Mitte der Gesellschaft breit gemacht hat, anzugehen davon gehen ja mittlerweile nicht nur die Camper aus. Was das alljährliche Zeltlager an der Grenze aber von den allenfalls gutgemeinten Lichterkettenaktionen, die in Kürze wieder aus dem Boden schießen werden, unterscheidet, sind die Offensivität, Konsequenz und Entschlossenheit, mit der die Antirassisten sich zumindest vorübergehend die Handlungsfreiheit in einen äußerst prekären öffentlichen Raum aneignen. Der Grenzschleier, wie die 30-Kilometer-Zone hinter den SchengenAußengrenzen neuerdings heißt, ist seit Mitte der 90-er Jahre Exerzierfeld für Tausende von Grenzschützern, deren ausgewiesene Strategie darin besteht, die örtliche Bevölkerung zur Denunziation von Flüchtlingen, die die Landesgrenzen überschreiten, zu animieren. Dass Teile der Einwohnerschaft diese Aufgabe zu wörtlich nehmen In Paris wird im Herbst dieses Jahres ein EU-Gipfel stattfinden. Wir gehen davon aus, dass dieser Gipfel ein Kristallisationspunkt für die europaweite Mobilisierung sozialer Bewegungen gegen die herrschenden Verhältnisse sein wird. Mit einem Gratiszug aus Deutschland nach Paris wollen wir ein Konzept aufgreifen, das in Frankreich, Italien, Großbritannien und den Niederlanden schon prakti- 42 und sich unautorisiert an der Jagd auf Ausländer beteiligen, dürfte also nicht wirklich überraschen. “Einen Bärendienst für Deutschland” nennt der Brandenburgische Ministerpräsident Stolpe Übergriffe auf Ausländer folgerichtig und verharmlosend. Das furchterregende Gemisch aus Akteuren, Mitwissern und Achselzuckern, die das rassistische Klima in vielen Gegenden der Bundesrepublik ausmachen, ist einfach nicht in der Lage, die eigenwilligen Ansichten eines bayerischen Innenministers nachzubuchstabieren. “Auch der Ausländer, der morgen abgeschoben wird, muss sich heute auf unseren Straßen sicher fühlen”, meinte Günther Beckstein doch kürzlich. Das offizielle Sommertheater präsentiert sich im All-Parteien-Konsens als Besserungsanstalt in Sachen doppelter Moral. Die Aktivisten von “kein mensch ist illegal” sind spätestens mit dem diesjährigen Grenzcamp Hoffnungsträger einer Bewegung, die es mit Globalisierung ernst meint. Nachgedacht wird nicht nur über die Fortschreibung des Slogans (“Jeder Mensch ist ein Experte”), schnell hat sich auch die Idee des Zeltens für einen guten Zweck auf der ganzen Welt ausgebreitet. Neben dem Camp in Forst, an der deutsch-polnischen Grenze gab es dieses Jahr assoziierte Aktionen an der polnischukrainischen Grenze und am Strand von Sizilien, wo ebenfalls von Staats wegen gegen selbstbestimmte Formen der Einwanderung aufgerüstet wird. Und am Wochenende vom 1. bis zum 3. September heißt es in Tijuana an der US-mexikanischen Grenze: “Nadie es illegal”. Die örtlichen ziert wird, insbesondere von Arbeitslosen und Sans Papiers. Es geht darum, durch eine Bahnfahrt ohne Fahrscheine und Passkontrollen einerseits Grenzen und Ausgrenzung, also den herrschenden Rassismus aufzuzeigen und zu hinterfragen. Andererseits sollen die kapitalistischen Prinzipien von Markt und Eigentum in Frage gestellt werden. “Border-Kids” organisieren mit viel Cyber-Subkultur im Rücken ein Festival nach dem Vorbild der deutschen Grenzcamps. Auf das Internet hatten es auch die drei Hundertschaften Polizei abgesehen, die kurz vor dem Ende das Camp in Forst dann doch noch stürmten. Im Irrglauben einen illegalen Radiosender beschlagnahmen zu können, durchwühlten vermummte Beamte eines Sondereinsatzkommandos am Sonntagmorgen um acht Uhr das Zelt des Webjournals. Diesmal bewahrten die Camper die Ruhe: Mit Sprechchören wie “Heimlich hört ihr sowieso: Unser tolles Radio” mussten sich die Polizeikräfte verspotten lassen, bevor sie ohne Sender und nur mit ein paar elektronischen Bauteilen, die zum Upload der Webseiten verwendet wurden, unverrichteter Dinge abzogen. Kurze Zeit später wurde dann die Pressemitteilung von “kein mensch ist illegal” über die skandalöse Durchsuchungsaktion veröffentlicht: Auf Kurzwelle und weiter ohne offizielle Sendelizenz. (Campbericht in telepolis) Webjournal: http://www.nadir.org/camp/index.de.html Telecity Forst: http://www.telecity-forst.de/ Weitere Camps: http://noborder.eu.org/ Letzjährige Camps: http://www.contrast.org/borders/c amp Kein mensch ist illegal: http://www.contrast.org/borders/k ein der Webseite oder auch auf Papier: http://people.knup.de/~akinter/in dex.html AK Internationalismus/Infoladen Anschlag/Heeper Str. 132/ d33607 Bielefeld ak internationalismus <[email protected]> Fon +49/521/171253 (Do 17-19 Uhr) Ein Reader zum Thema gibt es auf FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Festung Europa Festung FlüchtlingsLager Regina Andreesen/Maria Wöste An den Verein Menschlichkeit e. V. An die Repräsentanten der Menschenrechtsorganisationen Betreff: Protest gegen die Behandlung, der wir unterworfen sind. Appell an eine Delegati on der Menschenrechtsorganisation, um die unmenschliche Behandlung der Flücht linge tatsächlich festzustellen. Wir, Flüchtlinge des Aufnahmeheims LGU "Neues Haus" in 99889 Georgenthal senden auf diesem Weg einen Notruf aus totaler Hoffnungslosigkeit, psychologischer Abnutzung, die ihren Höhepunkt erreicht hat. Im Namen des Menschenrechts bitten wir um Hilfe dadurch, dass Sie uns einfach unangekündigt besuchen. Wir benutzen das Wort "unangekündigt", weil bei einem angekündigten Besuch ein riesiger Wandel des Verhaltens der Behandlung stattfindet. Noch einmal: Wir bitten um Hilfe als Menschen, Sie, Sie werden uns vielleicht erhören. Die Flüchtlinge des LGU "Neues Haus" 99887 Georgenthal (ehem. "Tambach-Dietharz") Foto: 3.Welt Saar "Wir sind isoliert, weg von der Welt". Das ist das größte Problem. Alle nachfolgenden Punkte sind im Zusammenhang zu sehen, die Auswirkungen auf unsere Psyche haben, weil wir hier oben so isoliert leben. Wir sind hier willkürlichen Behandlungen ausgesetzt, die keiner erfährt, weil wir hier oben auf dem Berg weg- und eingesperrt worden sind, schlimmer als Gefangene. Wir sind aber keine Gefangenen und deshalb wissen wir nicht, warum man uns hier so behandelt." (Flüchtlinge Tambach-Dietharz) T ambach-Dietharz: Die Asylunterkunft liegt hoch oben im dichten Fichtenwald, 5 km vom nächsten Ort entfernt, fernab von aller Zivilisation, sie hat die Größe von drei großen Fußballfeldern. Die Menschen in Tambach-Dietharz sind absoluten und willkürlichen Mechanismen durch die Bediensteten ausgesetzt. In zwei großen Wohnblöcken sind ca. 500 Menschen aus ca. 30 Nationalitäten untergebracht - Einzelpersonen und Familien. Dort werden die Menschen hinter einem teilweise dreifach hohen Stacheldrahtzaun "eingesperrt und gehalten wie Tiere in einem Gehege" (Aussage eines Asylbewerbers: "Die Tiere werden aber in Deutschland besser behandelt"). Personen können das "Lager" nur betreten, wenn die Wärter von innen die Drehtür aus Stahlrohren (für Einzelpersonen) oder das elektronisch gesteuerte Eingangstor öffnen. Zusätzlich hat man von innen an einigen Stellen meterhohe und meterbreite ge- fährliche Nato-draht-Stacheldrahtrollen ausgelegt. BesucherInnen müssen vor Eintritt ihren Ausweis beim Wärter hinterlegen. Die Daten (auch Auto-Kennzeichen) werden meist auf der Karteikarte desjenigen, den wir besuchen registriert. Die Asylsuchenden müssen ebenfalls ihre Identitätspapiere beim Wärter abgeben und erhalten eine sog. "Plastikkarte", wenn sie sich innen im Lager bewegen. (Bei Verlust müssen sie 50,00 DM zahlen.) BesucherInnen dürfen bis 22.00 Uhr bleiben. Innerhalb des Geländes, ca. 500 m von den Wohnblöcken entfernt, sind draußen - genau vor einem Wärterhäuschen - 4 Telefonzellen aufgestellt, deren Scheiben meist kaputt sind. Das bedeutet, dass die Wartenden - und auch die Wärter - alle Gespräche mithören können. Die Büroräume und die anderen Gebäude (für Geldausgabe etc.) befinden sich auf der gegen-überliegenden Seite der Wohnblöcke. Hausverbot für Unterstützerin Eine Unterstützerin des Vereins Menschlichkeit e.V., die seit Jahren Kontakt zu Flüchtlingen in Tambach hat und sie in ihren Kämpfen gegen die Bedingungen in dem Lager unterstützte, erhielt am 18.4. vom Thüringer Landesverwaltungsamt folgenden Brief: "Für den gesamten Bereich der LGU Georgenthal ... spreche ich Ihnen hiermit ein Hausverbot aus. ... Sie haben sich in jüngster Zeit mehrfach im Bereich der LGU Georgenthal anlässlich diverser Zu- sammenkünfte der dort untergebrachten Flüchtlinge in einer Weise eingebracht, die unter den in Georgenthal untergebrachten Flüchtlingen für Unruhe gesorgt und die Stabilität der Lage vor Ort in Frage zu stellen droht. Das Thüringer Innenministerium hat Ihnen die Einzelheiten im Schreiben vom ... dargelegt und ich verweise auf dieses Schreiben. Im Sinne einer geordneten Unterbringung der Flüchtlinge kann Ihre Anwesenheit im Bereich der LGU Geor-genthal daher nicht mehr geduldet werden. Das hier ausgesprochene Hausverbot ist zeitlich unbefristet. Auf Grundlage der bisherigen Erfahrung ist nicht zu erwarten, das sich nach Ablauf einer bestimmten Zeit Ihre Anwesenheit im Bereich der LGU Georgenthal nicht erneut destabilisierend auf die Situation der LGU auswirkt." Die "Unruhe" der "Lage vor Ort" hatte zum Ergebnis, dass im Thüringer Landtag eine Anhörung zu diesem Lager stattfinden musste. Mit "destabilisierender" Funktion dürften die Kontakte der Unterstützerin gemeint sein, um die sich die Flüchtlinge bis zu Ihrem Hilferuf an den Verein Menschlichkeit e.V. verzweifelt aber vergeblich bemüht hatten, v.a. zur Presse. In einem SPIEGEL-Beitrag über rechte Gewalt (Nr. 26, 21. Juni 00) ist diese Unterstützerin die einzige von 16 Befragten, die in ihrem statement eine Verbindung zwischen rechtradikaler Gewalt und staatlicher Flüchtlingspolitik herstellt. Dokumentation des Flüchtlings-Widerstandes in Georgenthal und weitere Informationen: Menschlichkeit e. V. Humanity Weserstraße 6, 31582 Nienburg/Weser (Niedersachsen) Fax und Anrufbeantworter: 040 360331 4061 Handy: 0171/ 9005118 Tel. /Fax: (050 21) 91 48 65 e-mail: mailto:[email protected] Homepage: www.papenberg.de/menschenrechte Bankverbindung: Volksbank e. G. Nienburg; BLZ: 256 900 09; Konto-Nr 20 999 600 43 Festung Europa Kriminalisierung und Beratung von Flüchtlingen pflichtgemäß zu verfolgenden Straftaten nach dem AuslG und dem AsylVerfG von dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder der Behörden ab“. Minister Weber beantwortet eine Anfrage des nieder sächsischen Flüchtlingsrats und skizziert das Integrati - Von Strafanzeigen aus der Bevölkerung gegen Flüchtlinge wegen onskonzept der nds. Landesregierung ab 2001 Kai Weber n einem Schreiben vom 15.08.2000 beantwortet der nieIdersächsische Justizminister Dr. Wolf Weber eine Anfrage des niedersächsischen Flüchtlingsrats, die sich auf die zunehmende Kriminalisierung von Flüchtlingen in Niedersachsen bezieht. „Die mir leider erst jetzt vorliegenden Zahlen zur Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 1999 bestätigen die Annahme, dass die Anzahl der Strafverfahren wegen Straftaten nach dem Ausländergesetz (AuslG) und Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG) zugenommen hat“, schreibt der Minister und nennt folgende Zahlen: „Die Verurteilungen wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 92 AuslG sind gegenüber dem Vorjahr von 830 auf 1.132 gestiegen, die Verurteilungen wegen strafbaren Missbrauchs der Asylvorschriften nach dem AsylVerfG von 614 auf 730.“ Mit letzterem dürften v.a. Verstöße gegen die Residenzpflicht gemeint sein, die nicht nur mit einem Bußgeld, sondern (z.B. im Wiederholungsfall) mit einer Verurteilung sanktioniert wurden. Die Erhöhung der Zahlen erfolgter Verurteilungen wegen „unerlaubten Aufenthalts“ um mehr als 36% ist nach unseren Erfahrungen v.a. auf staatliche Versuche zurückzuführen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo und anderen Teilen Jugoslawiens, die keinen Asylantrag gestellt haben, zur „freiwilligen Rückkehr“ zu nötigen oder in das Asylverfahren zu drängen. Aber auch Asylsuchende werden immer häufiger wegen „illegaler Einreise“ angezeigt, ohne dass hier eine klare Linie erkennbar wäre. Weber verweist darauf, dass die Genfer Flüchtlingskonvention Flüchtlinge nur bei „unverzüglicher“ Meldung der Betroffenen gleich nach ihrer Einreise bei den Behörden straffrei stellt, und stellt klar, dass die Justizbehörden nicht von sich aus tätig werden: „Da die Staatsanwaltschaften keine eigenen Ermittlungskräfte haben, hängt die Zahl der von ihnen 44 „illegaler Einreise“ oder „illegalen Aufenthalts“ ist in Niedersachsen kaum auszugehen, daher dürfte die gestiegene Zahl der Verurteilungen also auf vermehrte Anzeigen der Ausländerbehörden zurückzuführen sein. Angesichts der gestiegenen Zahl der Verurteilungen trotz gesunkener Flüchtlingszahlen ist zu vermuten, dass das niedersächsische Innenministerium hier entsprechende Weisungen erteilt hat. Gleiches gilt im übrigen auch zu den angestrengten Verfahren gegen Kirchenasyl gewährende Gemeinden und andere Flüchtlingsunterstützer/innen – ein Thema, zu dem Justizminister Weber sich leider nicht äußert, obwohl wir es angesprochen hatten (Näheres dazu unter Kirchenasyl). Ausführlich hatten wir den Minister in unserem Schreiben vom 27.10.99 auf die alltägliche Kriminalisierung von Flüchtlingen hingewiesen, die Bußgelder begleichen oder Geldstrafen entrichten müssen, aber nur Gutscheine und ggfs. ein Taschengeld über 80 DM im Monat erhalten. Da die Staatsanwaltschaft keine Gutscheine akzeptiert, muss die Strafe vom Taschengeld beglichen werden, das jedoch für den Rechtsanwalt, Busfahrten, Telefonkosten u.ä. dringend gebraucht wird. Zwar ist auf Antrag die Vereinbarung von Ratenzahlungen möglich. Die Flüchtlinge haben jedoch in der Regel kein Konto und müssten daher erhebliche Überweisungsgebühren zahlen (bis zu 5 DM pro Überweisung). In die Beratung kommen betroffene Flüchtlinge meistens erst, wenn Strafhaft droht. Keine Lösung gibt es für solche Flüchtlinge, deren Hilfe zum Lebensunterhalt gem. §1a AsylbLG auf das „zum Leben Unerlässliche“ gekürzt wurde, also gar kein Taschengeld mehr erhalten. Weber vermeidet es, als Justizminister öffentlich zu den absurden Folgen des Gutscheinsystems Stellung zu beziehen, und erklärt die „Härten, die bei der Vollstreckung von im Strafbefehlsverfahren verhängter Geldstrafen für Flüchtlinge entstehen können“, für „leider systembedingt kaum vermeidbar“. Lediglich im Hinblick auf die Höhe der Tagessätze sieht er einen gewissen Gestaltungsspielraum: „Das Gesetz bestimmt, dass die Geldstrafe mindestens fünf Tagessätze zu 2,— DM und höchstens 360 Tagessätze zu 10.000,— DM beträgt. Nicht selten können die Höhe des Tagessatzes in Strafbefehlsverfahren geringer angesetzt werden, wenn bei Abschluss der Ermittlungen die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Tatverdächtigen genauer bekannt wären und nicht geschätzt werden müssen. ... Um Verbesserungen in der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen zu erreichen, soll die Problematik bei der nächsten Dienstbesprechung mit den Leiterinnen und Leitern der Staatsanwaltschaften in Ihrem Sinne erörtert werden.“ Am Schluss seines Briefes weist Weber auf die Absicht der niedersächsischen Landesregierung hin, die „Integration der in Niedersachsen lebenden 60.000 Flüchtlinge und anderen Ausländerinnen und Ausländer, die auf Dauer hier bleiben“, weiter voranzutreiben. Weber bestätigt damit, dass die Integrationsanstrengungen, zu denen Weber u.a. Sprachkurse, anzustrebende Chancengleichheit im Bildungs- und Ausbildungsbereich und eine verbesserte Beratung zählt, sich v.a. auf Personen mit einem sicheren Aufenthaltsrecht beziehen. Immerhin sollen, so der Minister, Migrantinnen und Migranten ohne Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung ebenfalls „intensiv“ informiert und beraten werden, „z.B. im Rahmen einer Verstärkung der Rückkehr- und Weiterwanderungsberatung, Förderung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration sowie Hilfestellung bei einer ‘Integration auf Zeit’“. Schließlich seien problemorientierte Maßnahmen und Angebote u.a. für alte Migranten und Migrantinnen, Kinder und Jugendliche, Traumatisierte, Behinderte, rückkehrwillige Arbeitsmigrantinnen und -migranten etc. ins Auge zu fassen. „Einen nachhaltigen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgaben wird ein Integrationsprogramm für Ausländer und Aussiedler liefern, das derzeit von der Landesregierung mit einem Volumen von 10 Mio. DM vorbereitet wird. Ich gehe davon aus, dass bei der Umsetzung des Programms auf die wertvollen Erfahrungen des Niedersächsischen Flüchtlingsrats zurückgegriffen werden kann“, heißt es am Ende des Briefes. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation Deportation Rassismus und Gewalt: Grenzen Prof. Dr. Wolf-D Dieter Narr (Redebeitrag anlässlich einer Demonstration gegen die Abschiebung von Flüchtlingen am 01.7.2000 vor dem Flughafen Schönefeld / Berlin - Potsdam) G renzen haben für das begrenzte Lebewesen Mensch eine Reihe positiver Seiten. Etwa die Grenze der eigenen Freiheit zur Freiheit des anderen / der anderen. Diese Grenze ist keine negative, wie dies die nur-für-sichselbst-Liberalen meinen. Die Grenze, die unsere Mitmenschen bilden, ist vielmehr für uns selbst, unsere eigene nur sozial mögliche Person wesentlich. In diesem Sinne gilt Rosa Luxemburg nie genug zu erinnerndes Wort in einer von ihr gewiss geteilten, andere Kulturen mitumfassenden Weise. „Freiheit ist immer auch die Freiheit der anders Denkenden“ und der anders Lebenden. Zu solchen positiven Grenz-Seiten gehört auch die Begrenzung der Eigentumsrechte konkreter Personen, gar der Eigentumsrechte von Institutionen, die wie Personen und deren Privatheitsanspruch behandelt werden. Solche formell privaten Rechtssubjekte, riesige Unternehmen etwa, die das Schicksal von Tausenden von Menschen bestimmen, ja von ganzen Ländern und Staaten, werden menschenrechtlich demokratisch verstanden - zu Unrecht wie Privatleute behandelt, die für ihre Wohnung das Hausrecht beanspruchen und ihre persönlich-private Integrität polizeigewaltig schützen lassen können. Dazu wird sogleich noch einiges in Sachen FlughafenHolding Schönefeld zu sagen sein. Positiv, und die Vorraussetzung jeden freieren Zusammenlebens, sind auch die Grenzen zu werten, die staatlicher Gewalt gesetzt sind. Wenn sie gesetzt sind. Wenn sie eingehalten werden. Solche Grenzen sind im Grundgesetz unter anderem in den unmittelbar geltenden Grund- und Menschenrechten normativ gezogen. Weil bürgerlich demokratisches Leben ohne solche Grenzen nicht möglich ist, kommt es dauernd darauf an mit Argusaugen darauf zu achten, dass alle staatliche Gewalt ihre möglichst eng und rechtssicher gezogenen Grenzen einhalten. Erst dann ist so etwas möglich wie ein grundrechtlich fundierter, demokratischer Rechtsstaat. Hier und heute lernen wir an diesem Kundgebungsrot Grenzen vornehmlich nur in ihrem negativen Wirkungssinne kennen. Und darum und dagegen demonstrieren wir vor allem. Und werden erneut demonstrieren und diese argen Begrenzungen skandalisieren. Die erste und unzulässig gesetzte Grenze ist die unnötige Begrenzung unserer grundrechtlich verbrieften Demonstrationsfreiheit (Art.8 Abs.2 GG). Zuerst hat uns die private Flughafen-Holding keinen Demonstrationsort im Flughafengelände zugestanden, das sie umfänglich besitzt. Sie hat uns ohne Not, vielmehr mit der polizeigesicherten Arroganz von Besitzenden, der Vorraussetzung beraubt, uns in Sichtweite des Flughafens dem Demonstrationszweck entsprechend zu versammeln. Nicht Freiheit von BürgerInnen steht an erster Stelle, die Willkürfreiheit privat missbrauchten Besitzes tut es. Das demokratisch zentrale Grundrecht auf Demonstration („Versammlung unter freiem Himmel’’ wird es in Art.8 Abs.2 GG genannt) wird auf diese Weise der 45 Deportation Privatisierung öffentlichen Raums und von einseitigen privaten Ansprüchen grundrechtlich ungleich niedrigerer Rangordnung schlicht und einfach ausgehöhlt. Hinzu kommt, dass die Polizei zu Potsdam den von der Flughafen-Holding erzwungenen, abseitig gelegenen Ort der Demonstration übermäßig und unverhältnissmässig eingeengt und mit Auflagen versehen hat. Erneut dominiert private Besitzsicherheit die der Grundrechte des Bürgers. Ungleich schlimmer freilich sind Grenzen, gegen deren menschenwidrige Handhabung wir hier und heute demonstrieren. Und immer erneut demonstrieren werden. Menschen in Not - und das sind fliehende Menschen immer, wie man ihre Motive fettbeheimatet im einzelnen auch aussortieren mag Menschen in Not, sage ich, wer- speidank. Die Grenze verlor ihre tödliche Bedeutung. Man hätte hoffen können, vielleicht sogar hoffen dürfen, dass deutsche StaatsbürgerInnen, wenn schon nicht 1933, 1939 und 1945, so doch nun begriffen hätten, wie tödlich Grenzen sein können; wie sehr es darauf ankommt, Menschen in Not zu helfen; sie nicht Schlepperbanden auszusetzen; sie nicht mit der „Blutgruppe illegal’’ zu stempeln. Ein wenig von diesem Wissen, diesen Erfahrungen war im Grundrecht auf politisches Asyl bis zum 01. Juli 1993 enthalten. Danach ist es bis zur Unkenntlichkeit verkürzt, genauer: bis auf einen symbolischen Rest abgeschafft worden. Ganz im Gegenteil: Die Oder ist zu einer neuen Todesgrenze geworden. Der Bundesgrenzschutz hascht dreißig Kilometer landeinwärts - und mehr als das, vor allem auch um den Flug- Foto: Karawane den an den deutschen Grenzen der osteuropäischen Staaten, die die Bundesrepublik umgeben, abgeblockt, zurückgewiesen. Sie werden, gelangen sie doch auf irgendeine sie von vornherein illegalisierende Weise in die Bundesrepublik hinein, ausgegrenzt und möglichst umgehend abgeschoben. Man beachte allein die Sprache. Man lasse sich die Wörter: „ausgrenzen‘’, „abschieben‘’, „illegal‘’ und viele ähnliche einmal auf der Zunge zergehen, und man wird spüren, wie menschenrechtsbitter diese schmecken. 1989 ist zwischen zwei deutschen Staaten eine Mauer gefallen. Gott46 hafen herum - nach vom bundesdeutschen Staat und seinen schlimmen Gesetzes illegalisierten Menschen. Selbst Taxifahrer werden verdächtigt. Sie müssen vor der Fahndungshatz kuschen. Für die Fluggesellschaften und die von ihnen organisierten Flüge gilt dieser Missbrauch zugunsten der regierungsamtlichen deutschen Häscher ohnehin. Menschen in Not nicht herein lassen; abschieben lautet die Devise. Ob christdemokratisch-liberal geführte oder sozialdemokratisch-grün anzugsfeine Regierung hin oder her. Die Deutschen halten ihr Land mit „aller Härte des Gesetzes“ (O-Ton Otto Schily, auch auf die Grund- und Menschenrechte vereidigter Innenminister) „sauber“. Denn das deutsche Vorurteilsboot ist übervoll. Die deutschen Vorurteilsgrenzen werden überschritten. Nur mehr oder minder privilegierte Arbeitssklaven werden regierungsamtlich gewollt „eingeschleust“. Ein neues deutsches, täuschendes Kartenspiel mit Green and Blue Cards hebt an. Diese Handhabung von Grenzen, diese Ausgrenzungen, Ausgrenzungen aus menschlicher Hilfe, diese Abschiebungen eigener Mitmenschlichkeit sind ein Skandal. Sie sind d e r Skandal. Wenn derselbe schreien könnte, alle BürgerInnen und ihre machtstolzen, jedoch in Verantwortung hungerleidenden Staatsleute müssten vor ihm fliehen. Bis sie denn Asyl fänden in gesicherten Menschenrechten. Und Menschenrechte sind nur, wenn sie praktisch werden, nicht als hehre Prinzipien, an welche die Bundesregierung und die Mehrheit der nachplappernden Parlamentarier allenfalls erinnern, wenn sie neue Flüchtlinge produzierende Kriege rechtfertigen wollen. Oder wenn sie darauf ausgehen, ihre eigenen Wohlstandsrechte ausgrenzend, abschiebend, illegalisierend zu betonieren. Nur wenn wir die eingangs erwähnten „ positiven ‘’ Grenzen beachten und dafür streiten, dass sie mehr beachtet werden, werden wir es schaffen, die „negativen“ Grenzen und ihre schlimmen Wirkungen abzubauen. Gegen die Ausgrenzung von Menschen in Not, von Menschen wie du und ich. Mögen alle heute nicht so zahlreich erschienenen, immerhin 500 und mehr Leute, die hier versammelt sind und in der Nähe des Flughafens Schönefeld, von ihm ausgegrenzt, gegen die Abschiebung von Menschen demonstrieren, mögen Sie, mögt Ihr alle die Kraft haben, dagegen weiter zu streiten, auch weiter zu demonstrieren. Bis man sich nicht mehr schämen muss, in einem Land zu leben, das dort am kräftigsten ist, wo Menschen in Not ausgegrenzt und abgeschoben werden. Nicht nur, nicht einmal primär um dieser Menschen willen; um unsretwillen an erster Stelle. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation Deportation Class (Lufthansas) Abschiebegeschäft versalzen AG3F “Als Linienfluggesellschaft unterliegt Lufthansa der Beförderungspflicht von Personen. Gemäß Luftverkehrsgesetz (§ 21, Abs.2) muss sie grundsätzlich alle Personen mit gültigem Ticket und den erforderlichen Reisedokumenten für das jeweilige Zielland akzeptieren.” (Lufthansa-Pressestelle vom August 1999) “Lufthansa lehnt Abschiebungen gegen den Widerstand der Betroffenen grundsätzlich ab und befördert sie seit Juni 1999 nicht mehr.” (Lufthansa-Pressemitteilung vom 11. April 2000) Dass der letzte Halbsatz der Lufthansa-Pressemittelung vom April diesen Jahres nicht der Wahrheit entspricht, soll im folgenden noch genauer erläutert werden. Doch zunächst überrascht der öffentliche Betonungswandel bei Lufthansa (LH). Hatte Lufthansa bislang jede Kritik an ihrer Beteiligung bei Abschiebungen kaltschnäuzig ab- geblockt, hört sich dies seit dem 11. April alles ganz anders an. Kein Zufall: Denn wenige Tage zuvor hatten mehrere im antirassistischen Netzwerk kein mensch ist illegal zusammengeschlossene Gruppen ihr erstes Aktionswochenende gegen die “deportation class” gestartet. Eine unter diesem Titel erscheinende KampagnenZeitung war erstmals im März auf der Internationalen Tourismusmesse (ITB) in Berlin verteilt worden: von dunkelblau-orange gekleideten Damen, die gut als Stewardessen hätten durchgehen können. Erste Missstimmungen bei den anwesenden Lufthansa-Oberen waren dort unschwer zu erkennen gewesen. Wenige Tage später hatten militante AntirassistInnen den Lufthansa-Chef Weber in seiner Hamburger Villa besucht und reichlich rote Farbe hinterlassen. Am 8. April waren dann die Lufthansa-Schalter an den Flughäfen in Hamburg, Hannover und Mün- chen Ziele von Protestkundgebungen. Und tags zuvor veranstalteten AktivistInnen in Seeheim-Jugenheim, in der Nähe von Darmstadt, ein Go-In im Zentralen Ausbildungszentrum der Lufthansa. Es ist anzunehmen, dass Lufthansa sich zunächst weiter unbeeindruckt gegeben hätte, wenn nicht mit einer weiteren Aktion ihr wunder Punkt getroffen worden wäre: zeitgleich waren tausende Flyer, den offiziellen Werbefaltblättern der Lufthansa täuschend ähnlich, auf Flughäfen sowie in den Auslagen von Reisebüros in zahlreichen Städten aufgetaucht. Darin wurde zum 1. Mai als “Lufthansa Special” die “deportation class” mit bis zu 30%igem Preisnachlass angekündigt, weil im gleichen Flugzeug “ein abgetrennter Bereich für die Rückführung von abgewiesenen Asylbewerbern reserviert” sei. Daraufhin dürften die Telefone bei Lufthansa heißgelaufen sein. Unter denen, die sich über dieses neue Foto: novum - Flughafen Hannover: deportation class 47 Deportation Sonderangebot der Lufthansa empörten, war auch die Münchener Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Spätestens jetzt musste Lufthansa ihre Deckung verlassen und eiligst eine Pressekonferenz einberufen, um sich von diesem “zynischen” Machwerk zu distanzieren und Strafanzeige zu erstatten. gewalttätigen Durchsetzungsmittel eingeschränkt, doch nach einer kurzen Schamfrist können heute sogar wieder Helme eingesetzt werden. Und Spezialisten sind, wie der Spiegel (18/2000) berichtet, mit der Entwicklung neuer Spezialhelme sowie aus den USA angelernter Fesselungstechniken beschäftigt. “Arme Lufthansa. Militante Menschenrechtler haben der KranichFluglinie in den letzten Tage übel mitgespielt!”, schrieb rührselig die Bild-Zeitung, und die “deportation class” wurde nachfolgend des öfteren zum Lufthansa nervenden Pressethema. Die Abschiebestrategen insbesondere beim BGS sorgen längst dafür, dass viele „Problemausweisungen“ anderweitig erledigt werden: z.B. von mitgebrachtem Sicherheitspersonal der rumänischen Airline Tarom, die einmal pro Woche von Düsseldorf aus einen Sammelabschiebecharter in die Türkei fliegt. Oder, wie im Rückführungsabkommen mit Algerien festgelegt, indem Deportees schon auf den deutschen Flughäfen an Beamte dieses Staates in Maschinen der Air Algerie übergeben werden. Vor diesem Hintergrund hatte kein mensch ist illegal nicht nur auf den exemplarischen Charakter der Lufthansakampagne hingewiesen, deren Ziel darin besteht, an einem doch wichtigen Rädchen der Abschiebemaschinerie Sand ins Getriebe zu streuen. Denn auf Lufthansa, mit ihren vielen Direktverbindungen in alle Welt, ist für einen flexiblen, effizienten Abschiebeapparat schwerlich zu verzichten. Die Kampagne hatte damit schneller den beabsichtigten Erfolg errungen als erwartet. Lufthansa war unter Rechtfertigungsdruck geraten, offensichtlich verunsichert und das Image erstmals angeschlagen. Im Rahmen von Pressenachfragen, und um sich gegen den “absurden Vorwurf” zu wehren, vom Abschiebegeschäft zu profitieren, gestand Lufthansa dann auch ungewollt die Dimension ihrer Abschiebebeteiligung ein. 40 Millionen Passagiere transportiere Lufthansa pro Jahr, da könne bei 10.000 Abschiebungen doch nicht von Geschäft gesprochen werden. Peanuts, so lag es auf der Zunge. Die Süddeutsche Zeitung erfuhr gar von 16.000 Abschiebungen unter LH-Flugnummern im Jahr 1999, was dann nahezu die Hälfte der rund 33.000 vom Bundesgrenzschutz (BGS) in seiner Jahresstatistik aufgeführten Rückführungen ausmachen würde. Diese Abschiebungen werden in abgestufter Brutalität durchgesetzt. Dass, nach offiziellen Angaben, ca. 90% der sog. Deportees unbegleitet fliegen, mag stimmen1. Doch die angebliche Freiwilligkeit ist knallhart erzwungen: Denn die Alternative ist bei vielen Betroffenen die Fortdauer von monatelanger Abschiebehaft. 10% der “Schüblinge”, und für 1998 hat der BGS 9.000 eskortierende Beamte gezählt, fliegen “begleitet”, und dann nach wie vor unter Anwendung nahezu aller Gewaltmittel. Nach dem Tod von Aamir Ageeb im Mai letzten Jahres hatte Innenminister Otto Schily die allzu 48 Die Behauptung, bei Lufthansa würde seit Juni 1999 nicht mehr gegen den Widerstand der Betroffenen abgeschoben, muss leider als PR-Märchen abgetan werden. Ein Leipziger Professor war noch im März 2000 Zeuge eines brutalen Abschiebeversuchs geworden. Die Crew des LH-Fluges 4115 von Paris nach Berlin hatte nicht reagiert, bis der Professor dem Kapitän juristische Konsequenzen androhte. Daraufhin wurde der Flug abgesagt. Vom Januar 2000 datiert ein anderer Abschiebungsfall mit Lufthansa in den Sudan, ein Land, in das fast ausschließlich mit Lufthansa abgeschoben wird. Gefesselt war ein protestierender Flüchtling von Gera bis zum Frankfurter Flughafen gebracht worden. BGS-Beamte setzten ihn ins Flugzeug und ließen ihn mit dem Versprechen zurück, dass er ja bei der Zwischenlandung in Kairo aussteigen könne. Doch in Kairo verwei- gerte der Kapitän die Herausgabe der Pass-Dokumente und zwang den Sudanesen zum Weiterflug. Dieser Vorfall, der die offensichtliche Zusammenarbeit von BGS und Flugkapitän beweist, deutet auf eine Praxis hin, die sich offiziell natürlich nicht belegen lässt. Vermittelt von der Lufthansa-Sicherheitsabteilung bucht der BGS Deportees auf die Flüge, bei denen er sich der Unterstützung oder zumindest Gleichgültigkeit bestimmter Piloten sicher sein kann. Kommt es zu Zwischenfällen, dann landen die entsprechenden “flight reports” wiederum in der Sicherheitsabteilung der Lufthansa, die alles daransetzt, dass nichts an die Öffentlichkeit gerät. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass noch zahlreiche, auch unmittelbar gewalttätige Abschiebungen mit Lufthansa stattgefunden haben bzw. weiter stattfinden. Dass Lufthansa erst im vergangenen Monat, also fast ein Jahr nach ihrem angeblichen Beschluss, in der MitarbeiterInnenzeitung “Lufthanseat” davon berichtet, keine Abschiebungen gegen den Widerstand der Betroffenen durchzuführen, und dass bis heute keinerlei entsprechende Anweisung an das Flugpersonal ergangen ist, beweist einmal mehr, dass es um einen Showeffekt und allein darum ging, der “deportation class”-Kampagne und der damit verbundenen öffentlichen Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch diese Taktik scheint nicht aufzugehen. Zu einem zweiten Aktionstag gegen die “deportation class” anlässlich des Todestages von Aamir Ageeb Ende Mai kam die Lufthansa erneut ins Schwitzen. In Bremen kündigten AktivistInnen an, die Lufthansa-Pilotenschule zu besuchen und zum Gespräch zu fordern. Hektische Reaktionen auf Presseanfragen und ein von Polizei abgeriegeltes Schulungsgebäude waren die Folgen. An mehreren Flughäfen fanden Demonstrationen statt, adrette “FlugbegleiterInnen gegen Abschiebungen” waren am Kölner Flughafen im Einsatz, in Frankfurt wurde eine Gedenktafel aufgestellt. Mittlerweile kursiert auch ein erster internationaler Aufruf, in dem der Lufthansa Proteste gegen die “deportation class” in Stock- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation holm oder Amsterdam angekündigt werden. Gleichzeitig reist nun eine kleine Ausstellung mit Plakatentwürfen und Texttafeln zur Lufthansakampagne umher, ab Mitte Juni wird sie bei Anti-Expo-Veranstaltungen in Hannover zu sehen sein. lung. Die feindliche Übernahme war zwar noch nicht vorgesehen, doch kritische Aktionäre und aktionistische KritikerInnen verschafften dieser Veranstaltung eine brisante Stimmung. Ein vorläufiger Höhepunkt des Protestes stand der Lufthansa in Berlin ins Haus. Am 15. Juni tagte im ICC die jährliche Aktionärsversamm- (aus: ak 439 vom 8.6.2000, ak analyse & kritik; Zeitung für linke Debatte und Praxis, ergänzt von der Redaktion) 1 Diese Angaben beziehen sich aller- Arme Lufthansa. dings nur auf Begleitung durch den BGS - bezieht man alle Be-gleitkräfte mit ein, ergeben sich ganz andere Zahlen: Laut der Antwort des Deutschen Bundestages auf eine PDS-Anfrage vom 30.12.99 wurden fast ein Drittel aller 34 756 Flug-Abschiebungen 1998 in Begleitung von Sicherheitskräften durchgeführt. 4216 Flüchtlinge wurden 1998 in Begleitung des BGS bzw. der Länder abgeschoben, 6160 Flüchtlinge wurden durch Sicherheitskräfte der Luftver-kehrsgesellschaften bzw. anderer Staaten eskortiert. Unbegleitete Abschiebungen zählte die Bundesregierung 1998 bei 24 380 Flüchtlingen. (Anm. d. Red.) „Der Kranich hat erste Federn gelassen. Wir werden ihn weiterrupfen ...“ (kein mensch ist illegal) Lufthansa - Aktionärsversammlung A ls gelungenen vorläufigen Höhepunkt der Kampagne “deportation class stop! - gegen Abschiebungen mit der Lufthansa” konnte kein mensch ist illegal die Aktionärsversammlung der Lufthansa AG im Berliner Kongresszentrum ICC gestalten. Schon im Vorfeld war das Thema Abschiebung angekündigt – die über 400.000 AktionärInnen hatten als Beilage mit der Einladung einen Gegen-Antrag der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre“ erhalten: wegen des „geschäftsschädigenden Imageproblems“ aufgrund der Abschiebe-Beteiligung wurden sie aufgefordert, die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat zu verweigern. Bei der Hauptversammlung wurden sie dann vor dem Eingang von einer Gruppe “FlugbegleiterInnen” empfangen, die ein Info-Blatt „Image ist alles“ verteilten und das Thema Abschiebung mittels einer anschaulich dargestellten Passagierfesselung à la BGS präsentierten. Im Saal selbst saßen die adrett gekleideten AktivistInnen in den vordersten Reihen der lt. Presseangaben 4.000 (aber tatsächlich wohl eher halb so viel) AktionärInnen, indes der zahlreich vertretene Sicherheitsdienst nach verdächtig aussehenden “StudentInnen” Ausschau hielt. So war die Überraschung groß, als plötzlich während der Rede des Aufsichtsratsvorsitzenden dem auf dem Podium versammelten Vorstand und Aufsichtsrat von Lufthansa mehrere Transparente vor die Nase gehalten wurden, mit denen an die in Lufthansa-Maschinen getöteten Kola Bankole und Aamir Ageeb erinnert und ein Stopp der Abschiebungen gefordert wurde. Während einem Sprecher von kmii in den folgenden Frage- & Antwortstunden kurzerhand das Mikro abgedreht wurde und er unter anhaltendem Applaus des AktionärInnenmobs vorübergehend des Saales verwiesen wurde, konnte eine weitere Rednerin, die Ausländerrechtsexpertin G.Seidler, dem LH-Vorstand in aller Ruhe nachweisen, dass es eine Beförderungspflicht für deportees, wie immer behauptet, nicht gebe und Lufthansa Abschiebungen schon aus ethischen Gründen ablehnen könne. Was für tropische Ziervögel gelte, deren Transport LH nicht mehr durchführe, müsse umso mehr auch auf Menschen angewandt werden! Und auch die wiederholt von Lufthansa in Presseerklärungen sowie auf der Aktionärsversammlung verbreitete Behauptung, bereits seit 1999 würden 49 Deportation “Schüblinge” nicht mehr gegen ihren Widerstand abgeschoben, wurde als Schutzbehauptung enttarnt, mit einem Gegenbeweis ebenso wie mit der Tatsache, dass es eine entsprechende Anweisung an die LH-Flugzeugführer nicht gibt. Die Antwort von Vorstandsvorsitzendem Weber: „... Wir werden einen Antrag auf Befreiung von der Beförderungspflicht stellen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Um den Antrag stellen zu können, sind umfangreiche Gespräche mit dem Bundesministerium des Inneren und mit dem Bundesverkehrsministerium erforderlich. Diese Gespräche werden zurzeit geführt. ... Die Gespräche sind auf Expertenebene aufgenommen worden. Frau Seidler, der Flugkapitän hat grundsätzlich als letzte Instanz an Bord immer das Recht, jeden Passagier abzulehnen, der eine sichere Flugdurchführung gefährdet. Dies Regel ist allen unseren Piloten bekannt“. Damit verlautbarte Lufthansa erstmals presseöffentlich, dass sie in Verhandlungen mit dem Bundesinnenministerium steht mit dem Ziel, sich völlig aus dem Geschäft mit Abschiebungen zurückzuziehen. Aus einer ganz anderen Richtung argumentierte ein Internetforscher aus Konstanz, welcher der gebannt lauschenden Versammlung darlegte, welche Verluste dem Konzern und seinen AktionärInnen daraus entstehen könnte, wenn die Kampagne zur Schädigung des Lufthansa-Image sich unkalkulierbar in die Dimensionen des Internet ausweitete. Als Beispiel führte er den Kampf der Internet-Künstlergruppe etoy gegen den Spielwarenkonzern eToys an. Letzterer gewann in einem Streit um die Namensgebung zwar vor den Gerichten, wurde dann jedoch mittels ei50 ner Internetkampagne mit vielen Beteiligten zum Rückzug gezwungen. Der Wertverlust an der Börse betrug schließlich 5 Milliarden Dollar, was bei einem derzeitigen Eigenkapital der Lufthansa von 7,2 Milliarden DM recht bedrohlich wirkt. Das beeindruckte große wie kleine AktionärInnen offenbar stop!” zu diskutieren, wurde ein öffentliches Forum auf den Webseiten beschlossen: h t t p : / / w w w. d e p o r t a t i o n alliance.com/lh (aus: SWING. Rhein-Main-Info, leicht überarb. und ergänzt von der Red.) Foto: novum sehr, die diesmal noch mit 1,10 DM Dividende pro Aktie beglückt werden konnten. Alles in allem wurde - mithilfe auch des Dachverbandes der kritischen AktionärInnen, welcher kein mensch ist illegal den Zutritt zur Aktionärsversammlung ermöglichte - dafür gesorgt, dass die Lufthansa nach den Aktionen auf Flughäfen und diversen LH-Institutionen auch bei diesem immerhin 3 Millionen teuren Heimspiel vom Thema deportation class nicht mehr loskam. Um Lufthansa bei diesen schwierigen Verhandlungen nachhaltige Unterstützung zu geben, beschloss die tags darauf stattfindende Versammlung der kmii-AktivistInnen, die Beziehungen zum Konzern durch weitere Auftritte und Besuche bei Lufthansa zu festigen. Ein Highlight könnte z.B. der Besuch des bisher wenig frequentierten LH-Standes auf der EXPO werden. Um die viefältigen Möglichkeiten des Internet zur Ausweitung der Kampagne “deportation class Hinweise: Die Plakatausstellung zur deportation.class ist ebenfalls im Internet veröffentlicht: http://www.stadtrevue.de/kmii/frame/pla00.htm Die Aktion zum Todestag Aamir Ageebs am 27. Mai auf dem Frankfurter Flughafen dokumentiert Pro Asyl auf seinen Webseiten: http://www.proasyl.de/serien/flughafen/rahmen.htm Folgende Materialien zur Kampagne gegen (Flug-)Abschiebungen sind bei der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrat zu beziehen: - Tragetaschen (Plastik) mit Aufdruck: „Deportation class. Lufttransaction spezial“ (blau-orange, optisch sehr ansprechend) Stück 20 Pf - „Wichtiger Hinweis für Flugreisende“ - Faltblatt von Pro Asyl - „Internationale Sicherheitsstandards“, Doppelseitiges Flugblatt mit Rotem Rand, offizieller Eindruck, doppelseitig bedruckt, kartoniert, Stück 15 Pf FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation Protest-Aktion am Flughafen Langenhagen Eine kleine Gruppe von AktivistInnen protestierte am 24.5. 2000 auf dem Flughafen Hannover gegen Abschiebungen. Die Aktion fand statt im Rahmen der Kampagne von kein mensch ist illegal gegen die Abschiebebeteiligung von Fluggesellschaften. Nach 45 Minuten Veranstaltungsdauer wurde der Gruppe Hausverbot erteilt und eine Räumung angedroht. Sie verließen lautstark das Gebäude. Wir dokumentieren einen Redebeitrag der Aktion. Am 28. Mai jährt sich der Todestag von Aamir Ageeb, der bei seiner gewaltsamen Abschiebung von der Polizei ermordet wurde. Wir sind hier um gegen die Abschiebungen über die Flughäfen zu protestieren. Wir protestieren aus aktuellem Anlass gegen die Abschiebung von Frau Kimbolo. Die 22-jährige Frau soll über diesen Flug mit der Gesellschaft EUROWINGS gegen ihren Willen in den Kongo abgeschoben werden. Sie hat Angst vor der Abschiebung, da sie nicht weiß, was sie dort erwartet. Jedes Jahr werden aus Niedersachsen rund 3000- 4.000 Menschen abgeschoben. Etwa ein Viertel von ihnen wird über den Flughafen Langenhagen abgeschoben. Wie rigide und brutal der Staat Abschiebungen durchsetzen will, wird bei Abschiebungen auf dem Luftweg besonders deutlich. Die Menschen, die abgeschoben werden sollen, werden gefesselt, geknebelt und mit Medikamenten “ruhiggestellt”, das Recht auf körperlich Unversehrtheit gilt für sie nicht. Dies geht so weit, dass sogar der Tod der Betroffenen in Kauf genommen wird, um das Abschiebeinteresse des Staates durch BGSBeamte durchzusetzen. Das letzte Todesopfer dieser mörderischen Deportationspraxis war der sudanesische Asylbewerber Aamir Ageeb, der vor einem Jahr, am 28. Mai 1999, mit einer LUFT- HANSA-Maschine nach Kairo abgeschoben werden sollte. Fünf BGS-Beamte haben ihn in das Flugzeug gezwungen. Aamir Ageeb war von ihnen an Händen und Füßen gefesselt worden, außerdem hatten sie ihm einen Motorradhelm aufgesetzt, um seinen Widerstand zu brechen. Während des Flugzeugstarts drückten die drei BGS-Beamten seinen Oberkörper auf die Oberschenkel, so dass Aamir Ageeb erstickte. Er war damit das vierte Todesopfer bei einer versuchten Abschiebung auf dem Luftweg aus Europa innerhalb eines Jahres. Die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen zeigt, wie weitreichend der rassistische Konsens in dieser Gesellschaft ist, und wie sehr die mörderische Abschiebepraxis zur Normalität geworden ist. Wir fordern: Schluss mit den mörderischen Abschiebungen Die Fluggesellschaften spielen innerhalb der Abschiebemaschinerie eine nicht unwesentliche Rolle, denn ohne deren Mithilfe könnten Abschiebungen nicht ohne Probleme abgewickelt werden. In Deutschland werden die meisten Abschiebungen mit der LUFTHANSA durchgeführt. Für sie sind Abschiebungen ein lukratives Geschäft. Allein vom Flughafen Frankfurt/Main wird die Hälfte der jährlich ca. 10.000 abgeschobenen MigrantInnen mit LUFTHANSA-Maschinen deportiert. Seit März 2000 protestiert das antirassistische Netzwerk “kein Mensch ist illegal” gegen die Beteiligung der Lufthansa AG am Abschiebegeschäft. Infolgedessen sah sich die LUFTHANSA genötigt, mit folgender “Klarstellung” an die Öffentlichkeit zu treten. Sie behauptete: “Die Lufthansa lehnt Abschiebungen gegen den Widerstand der Betroffenen grundsätzlich ab und befördert sie seit Juni 1999 nicht mehr.” Entgegen dieser Darstellung sieht die Wirklichkeit anders aus! Auf dem Lufthansaflug LH 4115 ParisBerlin am 13. März haben zwei zi- vil gekleidete französische Begleitpolizisten nach Aussagen eines Leipziger Professors einen Abzuschiebenden inhuman und mit exzessiver Gewalt behandelt. Trotz der Schreie des Opfers und der Proteste einiger Passagiere hat die Crew zunächst nicht reagiert, bis dem Flugkapitän mit juristischen Schritten gedroht wurde. Daraufhin wurde der Flug abgesagt und alle Passagiere mussten das Flugzeug verlassen. Bekannt wurden außerdem zumindest zwei weitere Zwangsabschiebungen in Lufthansa-Maschinen von Frankfurt in den Jemen und nach Sri Lanka. Auch der kurdische Flüchtling Abdulcabbar Akyüz aus Wiesbaden wurde eindeutig gegen seinen Willen von zwei Polizeibeamten und einem Arzt im Februar diesen Jahres mit einer Lufthansa-Maschine nach Istanbul abgeschoben. Flugbegleitern und Piloten ist von einem Stopp bei Abschiebungen durch die Lufthansa ebenso nichts bekannt. Auf dem Flughafen Hannover wird aber wie jetzt gerade wieder durch die Fluggesellschaft EUROWINGS und Andere abgeschoben. Boykottdrohungen in Belgien und den Niederlanden haben die niederländische MARTIN AIR veranlasst, das tödliche Geschäft mit den Abschiebungen aufzugeben. Nach dem Mord an Samira Adamu sah sich auch die belgische Fluggesellschaft SABENA gezwungen, keine gewaltsamen Abschiebungen mehr durchzuführen. Andere europäische Fluglinien wie AIR FRANCE und die niederländische KLM fürchten bereits um ihr Image. Wir fordern: -Schluss mit den Abschiebungen durch die LUFTHANSA, EUROWINGS und anderen Fluggesellschaften. Die Abschiebemaschinerie schafft aber noch weitere Opfer, wie der Suizid der algerischen Asylbewerberin Naimah H. im Transitbereich des Frankfurter Flughafens zeigt. Sieben Monate wurde sie in einem Internierungslager auf dem Flughafen eingesperrt. Ohne Aussicht auf Asyl und mit der drohenden 51 Deportation Abschiebung in den Folterstaat Algerien vor Augen, hielt sie den Druck und die seelische Belastung nicht mehr aus und nahm sich schließlich das Leben. Der Kommentar aus dem Innenministerium Otto Schilys: “Naimah H. ist selber dafür verantwortlich, sie hätte ja ausreisen können.” Wir verurteilen diese menschenverachtende Sichtweise und fordern den sofortigen Rücktritt Schilys und die Abschaffung des tödlichen “Flughafenverfahrens”. Was können Sie als Fluggast gegen Abschiebungen unternehmen: Verhindern Sie die gerade stattfindende Abschiebung von Frau Kimbolo! Auch für sie als Fluggäste gibt es Handlungsmöglichkeiten: Protestieren Sie lautstark! Setzen sie sich nicht hin! Schnallen sie sich nicht an! Fordern Sie das Personal auf, die Abschiebung nicht durchzuführen! Verweisen Sie auf die Verletzung der Menschenrechte! Jeder Flugkapitän kann eigenständig entscheiden, ob er startet oder nicht! Fordern Sie ihn dazu auf, die Durchführung der Deportation zu verweigern! Drohen Sie mit Fluglinienboykott! Bringen Sie Ihre Beobachtungen an die Öffentlichkeit! Greifen Sie ein! Ihr Eingreifen kann Leben retten! Wir fordern Sie auf, aktiv mit Mut und Solidarität gegen rassistische Praxis und Hetze einzugreifen! Abschiebungen verhindern, Grenzen auf für alle! Aus unserer Reihe: Abschiebung um jeden Preis Ausländerbehörde als Identitäts-V Verschleierer Cloppenburg: per Falschangaben Abschiebepapiere besorgt RA J. Sürig/Initiative für offene Grenzen Oldenburg H err K. kam vor zwei Jahren nach Deutschland, um Asyl zu beantragen. Er selbst ist in der Elfenbeinküste geboren und aufgewachsen, aber seine Eltern stammen aus Mali. Nachdem der Asylantrag abgelehnt wurde, versuchte die Ausländerbehörde ihn abzuschieben. Die dazu eingeschaltete Botschaft der Elfenbeinküste war wegen der malischen Eltern der Auffassung, Herr K. sei kein Staatsangehöriger der Elfenbeinküste. Die Botschaft von Mali aber weigerte sich, Passer- satzpapiere auszustellen, weil keine Geburtsurkunde des Herrn K. zu beschaffen war. Da wurde die Ausländerbehörde einfallsreich: Weil anscheinend die Botschaft der demokratischen Republik Kongo nicht so genau prüft, für wen sie Passersatzpapiere ausstellt, beantragte die Ausländerbehörde dort ein sog. Laissez-Passer für eine Abschiebung nach Kongo - obwohl Herr K. nie im Kongo gelebt hat und keine Beziehungen zu diesem Land hat! Im O-Ton der Ausländerbehörde liest sich das so: „Dabei wurden, aufgrund der völlig ungeklärten Personenidentität des Antragstellers, neben dem von ihm angegebenen Namen und dem von ihm angegebenen Geburtsdatum diverse fiktive Daten eingetragen.“ Foto: Karawane 52 Mit anderen Worten: Der beantragende Beamte des Landkreises Cloppenburg hat sich bei der Botschaft des Kongo Phantasiedaten zusammenfabuliert, damit das Antragsformular nicht so nackt wirkte. Auf diese Weise sind die Daten im LaissezPasser zu den Namen der Eltern, des Geburtsortes und der angeblichen Adresse im Kongo zustande gekommen. Mit dem derart erschwindelten Papier leitete die Ausländerbehörde dann die Abschiebung ein. Sie schaffte es sogar, Herrn K. aufgrund der mit diesem Schwindelausweis geplanten Abschiebung für zwei Wochen in Abschiebehaft zu nehmen. Inzwischen ist Herr K. wieder auf freiem Fuß. Derzeit läuft immer noch ein Eilverfahren zur Verhinderung der Abschiebung in den Kongo, in dem der Rechtsvertreter der Ausländerbehörde allen Ernstes meint, das mit erschwindelten Angaben zustande gekommene Passersatzpapier für die Abschiebung verwenden zu dürfen. Der Rechtsanwalt von Herrn K., Jan Sürig aus Bremen, fordert einen sofortigen Stopp der Abschiebung und eine Strafverfolgung der Beamten der Ausländerbehörde Cloppenburg, die auf derart kriminelle Weise Passersatzpapiere besorgen und damit auch noch Abschiebehaft erwirken. (Presseerklärung vom 27. 7. 2000) FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation „Wie lauten die Personalien Ihres Großvaters väterlicherseits?“ Neue Fragen des Bundesamtes im Asylverfahren Das Bundesamt führt auf Vorschlag der AG RÜCK neue Fragen ins Asylverfahren ein. Diese Arbeitsgruppe der Innenminister auf Bundesebene erdenkt neue Instrumentarien, um die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen. Ein Blick auf die Fragen zeigt, dass sie schon bei der Erstbefragung im Asylverfahren – darauf abzielen, die Abschiebevoraussetzungen zu sichern. Schon der erste offizielle Zwischenbericht zum 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. Modellprojekt Identitätsfeststellung regte entsprechende Maßnahmen an: Flüchtlinge könnten doch bei der Asylantragsstellung solange in der Erstaufnahmeeinrichtung festgehalten werden, bis die Abschiebevoraussetzungen gesichert und Pässe oder Ersatzpapiere beschafft seien. Modellprojekt Identitätsfeststellung von Anfang an. (Red.) Sprechen Sie neben der/den angegebenen Sprache(n) noch weitere Dialekte? Besitzen oder besaßen Sie noch weitere Staatsangehörigkeiten? Gehören Sie zu einem bestimmten Stamm/ einer bestimmten Volksgruppe? Können Sie mir Personalpapiere wie z.b. einen Pass, Passersatz oder Personalausweis vorlegen? Haben Sie in Ihrem Heimatland Personalpapiere wie z.b. einen Pass, Passersatz oder einen Personalausweis besessen? Aus welchen Gründen können Sie keine Personalpapiere vorlegen? Können Sie mir sonstige Dokumente (z.b. Zeugnisse, Geburtsurkunde, Wehrpass, Führerschein) über Ihre Person vorlegen? Haben oder hatten Sie ein Aufenthaltsdokument/ Visum für die Bundesrepublik Deutschland? Nennen Sie mir bitte Ihre letzte offizielle Anschrift im Heimatland! Haben Sie sich dort bis zur Ausreise aufgehalten? Wenn nein, wo? Nennen Sie bitte Familiennamen, ggf. Geburtsname, Vorname, Geburtsdatum und –ort Ihres Ehepartners sowie Datum und Ort der Eheschließung! Können Sie mir Nachweise vorlegen oder nachreichen? Wie lautet dessen Anschrift (falls er sich nicht mehr im Heimatland aufhält, bitte die letzte Adresse dort und die aktuelle angeben)? Haben Sie Kinder (bitte alle, auch volljährige mit Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum und –ort angeben)? Können Sie mir Nachweise vorlegen oder nachreichen? Wie lautet deren Anschrift (falls sich Kinder nicht mehr im Heimatland aufhalten, bitte die letzte Adresse dort und die aktuelle angeben)? Können Sie mir Nachweise vorlegen oder nachreichen? Nennen Sie mir bitte Name, Vorname und Anschrift der Eltern! Haben Sie Geschwister, Großeltern, Onkel oder Tante(n), die außerhalb Ihres Heimatlandes leben? Leben noch weitere Verwandte im Heimatland? Wie lauten die Personalien Ihres Großvaters väterlicherseits? Welche Schule(n), Universität(en) haben Sie besucht? Welchen Beruf haben Sie erlernt? Bei welchem Arbeitgeber haben sie zuletzt gearbeitet? Hatten Sie ein Geschäft? Haben Sie Wehrdienst geleistet? Waren Sie schon früher einmal in der Bundesrepublik Deutschland? Haben Sie bereits in einem anderen Staat Asyl oder die Anerkennung als Flüchtling beantragt oder zuerkannt bekommen? Wurde für einen Familienangehörigen in einem anderen Staat der Flüchtlingsstatus beantragt oder zuerkannt und hat dieser dort seinen legalen Wohnsitz? Haben Sie Einwände dagegen, dass Ihr Asylantrag in diesem Staat geprüft wird? Bitte schildern Sie mir, wie und wann Sie nach Deutschland gekommen sind. Geben Sie dabei an, wann und auf welche Weise Sie Ihr Herkunftsland verlassen haben, über welche anderen Ländern Sie gereist sind und wie die Einreise nach Deutschland erfolgte. 53 Deportation Mustergefängnis? Niedersächsischer Abschiebeknast vorzeitig in Betrieb Maria Wöste D ass die Protest-Aktionen gegen die EXPO nicht so richtig in die Füße kamen, war nicht weiter schlimm. „Die EXPO floppt sich selber“, konnten sich KritikerInnen der Weltausstellung freuen. Nicht darüber freuen können sich Flüchtlinge, die in Niedersachsen in Abschiebehaft genommen werden. Denn statt wie geplant erst 2001 richtig als Abschiebehaftanstalt in Betrieb genommen zu werden, wird die ehemalige ZAST neben dem Flughafen schon jetzt als Abschiebeknast genutzt. Die kräftig geschürte, Repressionsmaßnahmen legitimierende Expo-Kriminalitäts-Phobie im Vorfeld der EXPO hat sich ebenso als absolut irreal erwiesen wie die Besucher-ZahlenEuphorie. Die vorläufige Nutzung der „JVA Hannover, Abteilung Langenhagen“(wie sie offiziell heißt) als EXPO-Knast war deshalb nicht nötig. Hier sitzen jetzt z.b. KosovoFlüchtlinge, mit deren Abschiebung in Niedersachsen ebenso schleichend und klammheimlich begonnen wurde, wie der Langenhagener Knast vorzeitig seinen Voll-Betrieb als Abschiebehaftanstalt aufnahm. Ganz ohne Begleitmusik ging die Inbetriebnahme aber nicht über die Bühne. Ein Flugblatt für EXPOGegnerInnen berichtet von akzeptanzfördernden Maßnahmen: "Am 20. 5.2000 war im Knast Tag der offenen Tür. Ca. 2000 Hannoveraner und Langenhagener nutzten das gemischte Wetter, um zumeist in Kleinfamilienzusammenhängen mal so ein Gefängnis von Innen zu sehen. Eingeladen hatte die Gefängnisleitung über die Zeitung mit verharmlosenden Umschreibungen 54 der Knastrealität. Die "Unterkunft" sei während der EXPOZeit "nicht für schwere Jungs", von "gepflegter Atmosphäre" und "möblierten Zimmern" war die Rede, später dann erwarte man "Gäste aus dem Ausland", Asylanten eben, Abgelehnte, Kriminalisierte. Auf Info-Wänden wurde am 20.5. geschrieben: "Die Versorgung der zu Betreuenden wird nicht zuletzt durch Ehrenamtliche und Sozialpädagogen ermöglicht. Zu ihren Aufgaben gehört z.b. die Kontaktaufnahme zu Angehörigen im Heimatland, um die Rückführung in eine soziale und erfolgreiche Bahn zu lenken." Das liest sich zwar wie aus dem Werbeprospekt für das Hotel „Airport House“, das die andere Hälfte des ehemaligen ZAST-Geländes nutzt, ist aber tatsächlich Beschreibung der Abschiebehaftanstalt Langenhagen. Und hat mit der Wirklichkeit von Abschiebeknästen wenig zu tun, denn ihre subtile Gewalt lässt sich auch mit sozialpädagogischer Betreuung und großen Fenstern nicht aus der Welt schaffen. Die tatsächliche Funktion der Haftanstalt offenbart sich eindeutiger anhand eines Geländeplans, der im Flugblatt für EXPO-GegnerInnen skizziert wird, z.b. die „Aufnahmeabteilung: im ersten Stock Zellen, im Erdgeschoss ein Raum für erkennungsdienstliche Maßnahmen und Verhöre. Zur Feststellung der Identität dienen weiterhin eine Zahnarztpraxis und zur Altersfeststellung ein Röntgenschirm für Oberkörper- und Hand-Aufnahmen. Zur standardisierten Krebsvorsorge-Untersuchung spritzt der Arzt hier auch einen radioaktiven Marker in die Blutbahn. Laut seinen Angaben schlucken Häftlinge des öfteren Messer und Gabel, um zur Operation in ein ziviles Krankenhaus eingeliefert zu werden. Dort ist die Flucht verhältnismäßig einfach. Meint der Arzt.“ Da irrt der Arzt, denn auch bei verschluckten Gegenständen werden Abschiebehäftlinge in die chirurgische Abteilung des Haftkrankenhauses Lingen eingeliefert. Dass Flüchtlinge in Abschiebehaft zu verzweifelten Maßnahmen greifen und „des öfteren“ Messer und Gabel schlucken (Arzt der Haftanstalt), dass „ein Kurde wegen eines Hungerstreiks in die Krankenabteilung ... gebracht“ wurde, dass eine Frau „wegen Selbsttötungsgefahr... einen Tag in einem besonders gesicherten Raum“ (HAZ 8.8.00) verbringen musste, stellt in der offiziellen Harmonie-Rhetorik keinen Bruch her. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung befindet über die neue Niedersächsische Abschiebehaftanstalt: „das Bild vom vergleichsweise harmonischen Miteinander trüben solche Einzelfälle kaum. Ein Mustergefängnis also?“ (HAZ, 8.8. 2000). Auf jeden Fall ein Muster für Abschiebehaft, denn Suizidversuche erscheinen Flüchtlingen in Abschiebehaft nicht selten als letzte Möglichkeit, der unerträglichen Zukunft zu entkommen. Nach einer Zählung der Antirassistischen Initiative Berlin töteten sich 78 Menschen im Zeitraum 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 99 selbst angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Allein 36 Flüchtlinge starben FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation in Abschiebehaft. Mindestens 185 Flüchtlinge haben sich aus Verzweiflung und Panik vor der Abschiebung selbst verletzt oder versuchten sich umzubringen und überlebten z.T. schwer verletzt. Das gilt auch für Niedersachsen. Laut Meldungen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hat z.b. in diesem Jahr ein 17jähriger Guineaner am 21. April in Jork (Kreis Stade) in seiner Abschiebehaftzelle ein Feuer gelegt und dabei schwerste Verbrennungen erlitten. Am 16. Juli versuchte ein zweiundzwanzigjähriger Kurde aus der Türkei in der JVA Hannover das Zelleninventar anzuzünden und erlitt eine Rauchvergiftung. In einem Redebeitrag listet eine Gruppe aus Hannover kollektive Formen von Widerstand in Abschiebehaftanstalten auf. Damit wird kein ´Widerstands´- Mythos der ´kollektiv kämpfenden Flüchtlinge´ konstruiert, wirft doch der Blick auf Umstände und Ausgang der Proteste v.a. ein Licht auf die Ausweglosigkeit der Situation von Flüchtlingen in Abschiebehaft: „Im Sommer 1994 kam es in der ELWE in Kassel zur Revolte. Anfangs beteiligten sich 39 Gefangene, überwiegend Migranten. Sie protestierten gegen die Knastbedingungen und die Ab- schiebehaft und forderten die Ausreise nach Frankreich. Da die Gefangenen eine Geisel genommen und umfangreiche Brände im Knast gelegt hatten, gelang es der GSG 9 vorerst nicht, den Knast zu stürmen. In Verhandlungen stimmten die letzten 26 übriggebliebenen Gefangenen ihrer Verlegung in den Knast Wiesbaden zu. Als sie in den bereitstehenden Bus einsteigen wollten, wurden sie von einem Kommando der GSG 9 überwältigt. Die Gefangenen wurden in verschiedene Knäste verschleppt und schwer misshandelt. 17 von ihnen wurden angeklagt. Ergebnis waren Haftstrafen von bis zu fünfeinhalb Jahren. An den Haftbedingung in der ELWE hat sich nichts verändert. Im Frauenabschiebeknast Neuss führten die Kontakte der dortigen Frauenberatungsstelle in den Knast zu dauerhaftem Protest. Dadurch wurden die Knastbedingung der Frauen zumindest in eineigen Punkten verbessert. wurde eine Frau aus dem Haftkrankenhaus entlassen und in eine Klinik ihrer Wahl verlegt. Eine andere Frau ist noch in Moabit, nimmt wieder Nahrung zu sich und erhält Psychopharmaka. Die zwei weiteren hungerstreikeden Frauen wurden aus gesundheitlichen und sogenannten formalen Gründen aus der Abschiebehaft entlassen. In den letzten Wochen hatten sich neben der Antirassistischen Initiative Berlin mehrere Prominente für die Freilassung der Frauen eingesetzt.“ Auch im Transitbereich des Flughafens Frankreich versuchten 25 Flüchtlinge Ende Juli, durch einen gemeinsamen Hungerstreik auf ihre recht- und ausweglose Situation im Niemandsland aufmerksam zu machen. Einem der Hungerstreikenden, ein Iraner, wurde die Einreise auf das Bundesgebiet erlaubt, zwei Flüchtlinge aus Sri Lanka ohne Einreise nach drei Monaten im Transit zurückgeschoben. Die übrigen Flüchtlinge mussten den Hungerstreik schließlich aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Im Frühjahr diesen Jahres gingen im Berliner Abschiebeknast Moabit vier Frauen in den Hungerstreik. Sie protestierten gegen ihre Inhaftierung und die befürchtete Abschiebung. Nach 61 Tagen Nahrungsverweigerung Rassismus und Gewalt: Flüchtlingspolitik in der Kunst Christoph Schlingensief, Theater-Performance-Künstler, organisierte in Wien eine Variation des „Big Brother“ für Flüchtlinge mit dem Titel: „Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche“. Zwischen dem 11. und 17. Juni wurden neben der Wiener Staatsoper Container aufgestellt, in die 12 Asylbewerber einzogen. Auf Bildschirmen war das Innere zu beobachten. Die Besucher konnten (auch per Internet) darüber abstimmen, welcher Asylbewerber zur Abschiebung freigegeben werden sollte. Dem zuletzt übriggebliebenen Flüchtling wurde ein Bleiberecht über eine Heirat mit einer Österreicherin in Aussicht gestellt. Für solche - zynischen -Formen der Auseinandersetzung mit der - zynischen -Flüchtlingspolitik braucht es kein Haider-Land: Schlingensief hat die deutsche Staatsangehörigkeit. 55 Deportation Gemeinsam gegen Abschiebung und soziale Ausgrenzung Karawane-FFlüchtlingskongress in Jena vom 20. April bis zum 1. Mai 2000 Kerstin Gierth und Cornelius Yufanyi Die ReferentInnen aus anderen Ländern sind längst wieder zuhause und das Veranstaltungszelt abgebaut. Nicht abgebaut aber sind die Gründe und Themen, die diesen Kongress nötig machten. In der Medien-Debatte der letzten Wochen über Rechtsextremismus kommen Flüchtlinge und andere tatsächliche oder vermeintliche Ausländer, die häufigsten Opfer rechtsextremer Gewalt, nicht zu Wort. Ihre Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen Faschisten und Rassisten ihre Anschlags-Ziele wählen, waren aber Thema im Frühjahr dieses Jahres im Osten Deutschlands. Im folgenden ein Bericht über Inhalte und Ergebnisse des Kongresses der Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen, der vom 20. April bis zum 1. Mai in Jena stattgefunden hat. (Red.) B ei diesem ersten Kongress von Flüchtlings-Selbstorganisationen trafen sich Delegierte aus über 40 verschiedenen Ländern: aus Lateinamerika, Afrika, Mittlerem Osten und Asien. Besucht haben den Kongress etwa 600 Menschen, täglich waren es durchschnittlich zwischen 200 und 300. Die Tage waren unter verschiedene Themenschwerpunkte gegliedert. Mit einem Tag für Abschlussresolutionen und Manifeste endete der Kongress am 1. Mai in einer Kundgebungsdemo in Zusammenarbeit mit dem DGB Ostthüringen, wo die zuvor erarbeiteten Resultate der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Hauptsächlich organisierten des Kongress die Gruppen The Voice Africa Forum, der Internationale Menschenrechtsverein Bremen, Karawane/Kein mensch ist illegalGruppen aus Hanau und verschiedene Flüchtlingsräte. Residenzpflicht Schon zu Beginn des Kongresses wurden wir damit konfrontiert, dass viele Flüchtlinge in Deutschland, die an diesem Kongress teilnehmen wollten, durch die Bestimmung der Residenzpflicht davon abgehalten wurden. Trotz eines Schreibens der Bundesausländerbeauftragten Marie-Luise Beck, das den Ausländerbehörden empfahl, die Teilnahme an dem überaus wichtigen Flüchtlingskongress in Jena zu gestatten, verweigerten viele Ausländerämter die Reisegenehmigung. Manchmal war diese Verweigerung zusätzlich verbunden mit Einschüchterungsversuchen und der Drohungen, dass eine Teilnahme am Kongress die Abschiebung beschleunigen würde. In Rathenow und Cottbus lag den Foto: Karawane: Weg mit der Residenzpflicht 56 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Deportation Ausländerbehörden sogar ein Rundbrief des Brandenburger Innenministeriums vor, mit dem sie aufgefordert wurden, keine Erlaubnis für eine Teilnahme auszustellen. Dieses Gesetz der Residenzpflicht, das seit 1982 Asylsuchenden in Deutschland untersagt, den Landkreis in dem sie leben ohne Erlaubnis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen, existiert europaweit lediglich in Deutschland. Es drückt exemplarisch die extreme Art der Sonder-Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland aus. Es stellt eine gravierende Verletzung menschlicher Grundrechte dar und wird von den KongressteilnehmerInnen als Form von politischer Verfolgung betrachtet, da Flüchtlinge ihres Rechts beraubt sind, sich frei zu bewegen und sich politisch auszudrücken. Die Karawane bedeutet, wie der Name schon sagt, Bewegung. Daher wurde schon zu Beginn des Kongresses eine Kampagne mit der Forderung nach Aufhebung der Residenzpflicht entwickelt. Eine Serie von bundesweit koordinierten Protestaktivitäten gegen die Residenzpflicht wird den Höhepunkt am 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung Deutschlands, finden. An diesem Tag wird die Karawane mit einer Kampagne des zivilen Ungehorsams, u.a. Demonstrationen vor diversen deutschen Botschaften innerhalb und außerhalb Europas, nicht nur bundesweit sondern auch international die Aufmerksamkeit auf die scheinbar unsichtbaren Menschenrechtsverletzungen in Deutschland lenken. „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ Der Slogan „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ drückt eine der zentralen Positionen der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen aus, denn die Probleme, mit denen Flüchtlinge konfrontiert sind, haben zwei Gesichter. Auf der einen Seite müssen wir uns den Abschiebungen, den rassistischen Behandlungen und der sozialen Ausgrenzung hier in Deutschland entgegenstellen. Auf der anderen Seite dürfen die Augen auch nicht davor verschlossen werden, was eigentlich die großen Migrationswellen unserer Zeit ausgelöst hat und immer noch auslöst. Die deutsche Regierung führt den Kampf für ein Europa an, in dem die Grenzen für politische Flüchtlinge geschlossen werden. Otto Schily argumentiert, dass die Asylgesetze an sich veraltet und unnötig sind, da die neo-liberale Wirtschaft begleitet wird von einer Zur Abschreckung: Ausweisung wegen Residenzpflicht-V Verletzung Anfang letzten Jahres reiste Jose Maria Jones mit einer Delegation der Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen durch mehrere Städte im Ruhrgebiet und Bayern, um für den Flüchtlings-Kongress in Jena zu mobilisieren. Dabei wurde die Delegation drei Mal an Tankstellen kontrolliert. Einige Monate später erhielt Jose Maria Jones einen Ausweisungsbescheid: wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht. Damit habe er „die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.v. §45 Abs. 1 AuslG maßgeblich beeinträchtigt sowie erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland.“ Der Ausweisungsbescheid wird damit begründet, dass durch die Aktivitäten von Herrn Jones „andere Ausländer davon ab(ge)halten (werden) soll(en), Straftaten gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu begehen. (...) Gerade im Bereich der Verstöße gegen die räumliche Beschränkung (...) ist bei Asylbewerbern zunehmend und in umfangreichen Maße eine Anhäufung derartiger Straftaten im Bundesgebiet festzustellen, so dass hier eine Ahndung mit allen Mitteln durch die Behörden gegeben ist.“ So das Landratsamt Wartburgkreis. Einführung liberaler Politik in der ganzen Welt. Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen in den Ländern, aus denen wir kommen, würden folglich nach und nach verschwinden. Die international geladenen SprecherInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Mittleren Osten stellten in ihren Berichten auf dem Kongress das genaue Gegenteil dar – mit der Liberalisierung der Marktwirtschaft sei die Zerstörung unserer Herkunftsländer noch angewachsen. Für die Flüchtlinge wird die EXPO 2000 eine verstörende Erfahrung werden. „Die Regime aus denen wir fliehen mußten, sei es Nigeria oder Nepal, ...werden sich als Demokratien ausgeben und eine Menge Wirtschaftsverträge werden dort abgeschlossen werden.“ Auf dem Karawane-Kongress wurde beschlossen, dass an den speziellen Ländertagen der EXPO die Flüchtlinge aus den jeweiligen Ländern mit Unterstützung der gesamten Karawane das Licht auf ihre Fluchtgründe lenken werden, um zu zeigen, das nicht alles Gold ist, was auf der Expo glänzt. Darüber hinaus soll ein Informationsund Archivbüro zu einzelnen Ländersituationen eingerichtet werden. Behandelt wurde an diesen Tagen ebenfalls die Thematik von politischen Gefangenen. Unter diesen Begriff fallen nicht nur der Teil der Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern gegen die dortigen Regime aktiv waren, sondern auch die Flüchtlinge hier, die vom deutschen Staat kriminalisiert werden oder mit Abschiebehaft bedroht sind. In diesem Kontext ebenfalls thematisiert wurde die Isolationshaft, die in Deutschland entwickelt wurde und nun in vielen Ländern, vor allem der Türkei, die blutige Folter ersetzt. „Festung Europa“ Die Vereinheitlichung und Verschärfung der europäischen Migrations- und Asylpolitik zielt mittlerweile auch direkt auf die Herkunftsländer. Entsprechend der EU-Aktionspläne werden alle ökonomischen und politischen Mittel eingesetzt, um die Herkunfts- und Transitstaaten in die Zerschlagung der Fluchtwege einzubinden und Rückübernahmeabkommen zu erzwingen. Die Bekämpfung der sogenannten illegalen Migration, die Koordinierung der Abschiebemaßnahmen und eine zunehmende Entrechtung prägen die Lebensbedingungen von Flüchtlingen und Nicht-EU-MigrantInnen in ganz Europa. 57 Deportation Vor diesem Hintergrund waren auf dem Kongress Delegationen von Selbstorganisationen aus zehn europäischen Ländern eingeladen. Übereinstimmend wurde die Notwendigkeit betont, gemeinsam der weiteren Formierung der Festung entgegenzutreten. Ein erster Schritt besteht in der Ausarbeitung eines europäischen Manifestes für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, das im kommenden Herbst, im Rahmen von Aktivitäten zur französischen EU-Präsidentschaft, fertiggestellt wird. Gemeinsame Kampagnen gegen die an Abschiebungen beteiligten Fluggesellschaften wurden bereits gestartet. Und auch die gleichzeitig stattfindenden Aktionscamps an den Außengrenzen der Festung Europa im Sommer richten den Protest unmittelbar gegen ein barbarisches Grenzregime, das europaweit Tausende von Todesopfern, vor allem ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, zu verantworten hat. Soziale Ausgrenzung, Rassismus und Faschismus Behördlich angeordnete permanente Polizeikontrollen von Flüchtlingen und Migranten sind Ergebnis von Sondergesetzen gegen Flüchtlinge. Neben der Residenzpflicht spielt auch das rassistische Asylbewerberleistungsgesetz eine große Rolle bei sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Ungerechtfertigte Verhaftungen, Verfolgung und Misshandlungen wurden yauf dem Kongress dokumentiert und diskutiert und beschlossen, Aktionen durchzuführen, z.B. Demonstrationen in Bahnhöfen, um in den kommenden Wochen diese Übergriffe öffentlich zu machen. Polizeikontrollen und behördlicher Rassismus sollen mittels umfassender Fragebögen dokumentiert werden. Projekt X in Braunschweig und Oldenburg und diverse Kasernierungslager erinnern an ein Stück deutsche Geschichte, deren Ausgrenzungsmechanismen und Strategien der Entrechtung fatale Ähnlichkeiten aufweisen. Internationale Delegationen der Karawane besuchten in diesem Kontext das Konzentrationslager in Buchenwald, das Abschiebegefäng58 nis in Untermaßfeld und ein Kasernierungslager in Ansbach/ Mittelfranken. Frauen und Flucht/ Migration Der Begriff des individuell politisch Verfolgten, wie er im deutschen Asylrecht vorkommt, ist ein Konstrukt, dass Frauen und ihre spezifischen Flucht-Gründe meistens ausschließt. Wenn Frauen ihre Länder verlassen, weil sie als Frauen verfolgt sind - etwa durch sexuelle Gewalt oder durch sexistisch diskriminierende Gesetze, dann ist diese Unterdrückung politisch und darf nicht als „kulturelle Differenz“ gerechtfertigt werden. Beispielsweise berichteten iranische Frauen, dass im Zuge der Annäherung Deutschlands an die islamische Republik Iran die Menschenrechtssituation im Iran zunehmend beschönigt und die systematische Unterdrückung der Frauen ignoriert wird, obwohl sich an der islamistischen Gesetzgebung nichts verändert hat. So ist beispielsweise Auspeitschung wegen unvollständiger Verschleierung oder Steinigung von Frauen wegen außerehelicher sexueller Kontakte nach wie vor geltendes Recht. Gleichzeitig ebnet die Legitimierungspropaganda den Weg für die Massenabschiebungen von Flüchtlingsfrauen an ihre Peiniger. In Deutschland wurden Frauen in den letzten Monaten für die Passbeschaffung zwangsverschleiert oder ihre Fotos nachträglich mit Kopftüchern retuschiert. Die Notwendigkeit der Zwangsverschleierung auch in Deutschland ist der Beweis für die Unterdrückung aller Frauen im Iran. Daher darf keine Frau in den Iran abgeschoben werden! Ein weiterer Aspekt dieses Themas ist die Apartheid in der deutschen Familienpolitik. Viele Paare waren in der Vergangenheit davon betroffen, dass der deutsche Staat mit allen Mitteln versuchte, die Ehe mit ausländischen Partnern zu verhindern oder durch Abschiebung zu unterlaufen. Eine schon im Vorfeld des Kongress gestartete Kampagne kämpft für Familienzusammenführung und ein Bleiberecht für Flüchtlingsehepartner. Gemeinsam gegen Abschiebungen Abschiebung an sich stellt eine eklatante Menschenrechtsverletzung dar. Nicht nur weil dadurch Flüchtlinge, die vor Folter und Tod geflohen sind, in zynischer Weise ihren Verfolgern ausgehändigt werden, sondern auch weil Abschiebungen das Gefälle zwischen reichen westlichen Industrieländern und dem Trikont vergrößern und unüberwindliche Grenzen zementieren. Auf dem Kongress wurden Beispiele vorgestellt, wie Flüchtlinge und illegalisierte Personen tagtäglich von der drohenden Abschiebung terrorisiert werden. Deutsche Behörden und die Botschaften der Herkunftsländer kollaborieren, um Personen, die um ihr Überleben und für ihre Menschenrechte kämpfen, z.T. durch Massenabschiebungen loszuwerden. Strategien für den Kampf gegen Abschiebungen wurden auf dem Kongress diskutiert, z.b. wird die Karawane Aktionen auf Flughäfen gegen die Abschiebe-Beteiligung der Lufthansa unterstützen. Ebenso wird eine internationale Delegation des Karawanekongresses das „Wanderkirchenasyl“ besuchen und Unterstützungsmöglichkeiten diskutieren. Kurden aus dem „Wanderkirchenasyl“ berichteten auf dem Kongress von ihrem langzeitigen Kampf für ein Bleiberecht und ihrer Probleme damit, dass die Nordrhein-Westfälische Landesregierung lediglich die Prüfung individueller Fälle zusagte, sich jedoch weigert, alle sich zum Teil schon seit Jahren im Wanderkirchenasyl befindlichen Personen zu legalisieren. Auf dem Kongress waren viele Flüchtlinge, die direkt von Abschiebungen in Länder, in denen ihr Leben in Gefahr ist, bedroht sind. Auch viele Aktivisten der Karawane droht die Abschiebung, obwohl sie wegen ihrer politischen Aktivitäten hier und vor ihrer Flucht in ihren Herkunftsländern großer Gefahr ausgesetzt sind. Dringende Aktionen wie Unterschriftensammlungen, Fax-Kampagnen und Briefe an die Behörden wurden auf dem Kongress im April und werden auch in Zukunft initiiert, um diese Flüchtlinge zu unterstützen. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kurdenverfolgung Kurdenverfolgung Rassismus und Gewalt: Von Deutschland in den türkischen Folterkeller Zur Rückkehrgefährdung von Kurdinnen und Kurden - 2. erweiterte Auflage M it 13 neuen Fallschilderungen setzen der Niedersächsische Flüchtlingsrat und PRO ASYL die Dokumentation von Verfolgungsfällen nach der Abschiebung in die Türkei fort. Sieben aktuelle Fälle wurden recherchiert und sechs Fälle von Rückkehrern aufgenommen, denen die erneute Flucht nach Deutschland gelungen ist, und die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) oder einem Gericht als politisch Verfolgte anerkannt wurden. In allen dokumentierten Fällen liegen wieder typische Verfolgungsmuster vor. Fast alle KurdInnen begründeten ihren Asylerstantrag damit, dass sie vor Repressalien durch die Sicherheitskräfte und/oder dem Militärdienst geflohen seien. Man habe sie zwingen wollen, als Dorfschützer zu arbeiten und mit dem Staat zu kooperieren. Weil sie sich weigerten, seien sie misshandelt und ihre Dörfer zerstört worden. In allen Fällen lehnten das Bundesamt und die Gerichte die Asylbegehren mit stereotypen Begründungen ab. Sie verneinten eine Gruppenverfolgung, bagatellisierten das Vorbringen als “landesüblich” und “bloße Belästigung” und verwiesen auf die inländische Fluchtalternative. Folgeverfahren wurden meist nicht durchgeführt mit der Begründung, es handele sich um “bloße Mitläufer”, deren exilpolitische Aktivitäten für die Sicherheitskräfte uninteressant seien. Die Betroffenen wurden per Abschiebung der erneuten Verfolgung ausgesetzt. Ahmet Angay und N.B. wurden beispielsweise gleich auf dem Flughafen festgenommen und 9 Tage verhört und misshandelt. Ihnen wurde vorgeworfen, in Deutschland für die PKK demonstriert zu haben. Nach ihrer Freilassung gerieten sie erneut in die Fänge der Sicherheitskräfte: N.B. wurde von einem Dorfschützer, der ihn auf MED-TV erkannt hatte, denunziert, Herr Angay in Enez festgenommen. Beide wurden schwer gefoltert. Claudia Gayer Abdurrahman T., Ferit M. und Hüseyin Ayhanci wurden auf offener Straße von Zivilbeamten entführt und unter Folter verhört. Die Sicherheitskräfte unterstellten ihnen, in Deutschland für die PKK gearbeitet zu haben, und verlangten hierüber Informationen und Namen. Von Ayhanci ist bekannt, dass er aufgefordert wurde, als Agent die Exilopposition auszukundschaften. Auch bei den anderen dokumentierten Fällen spielten bei den Festnahmen und Verhören das tatsächliche oder unterstellte politische Engagement der Kurden im Ausland eine große Rolle. Dies geht u.a. aus den Vernehmungsprotokollen der Anti-Terror-Abteilung und den Gerichtsunterlagen hervor. Die Kurdin Can I. wurde in Antalya vermutlich aufgrund einer Denunziation gezielt aus einem Reisebus 59 Kurdenverfolgung Foto: 3.Welt Saar geholt und zur Anti-Terror-Abteilung gebracht, wo man sie unter Folter verhörte. Ihren Angaben zufolge wurde sie unter anderem auch zu (angeblichen) Aktivisten von “Kirchenaktionen” in Deutschland befragt. Der Fall der Kurdin bestärkt Befürchtungen, dass seitens der türkischen Verfolgungsbehörden ein starkes Interesse an der Ermittlung der TeilnehmerInnen des nordrhein-westfälischen Wanderkirchenasyls besteht, und dass im Falle einer Abschiebung mit politischer Verfolgung gerechnet werden muss. Erst am 21.10.99 hatte der Überläufer Vedat Yilmaz vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir das Wanderkirchenasyl als eine von der PKK gesteuerte Aktion denunziert und dabei auch etliche Namen genannt. Ein im Januar 2000 abgeschobener Teilnehmer des Wanderkirchenasyls, Yusuf Demir, wurde Zeugenaussagen zufolge festgenommen, verhört und gefoltert. Er wird derzeit in der Menschenrechtsstiftung in Izmir untersucht. Wie schwer es speziell für Frauen ist, Asylgründe geltend zu machen, zeigen die dokumentierten Fälle Ayse T., Z. und L. S., die von den Sicherheitskräften nach der Abschiebung gequält und sexuell gefoltert wurden. Das Bundesamt und das VG hielten das Vorbringen der Frauen nach ihrer erneuten Flucht zwar für glaubhaft - jedoch nicht für asylrelevant. Deutsche Behörden und Gerichte haben 23 der 32 dokumentierten 60 Fälle überprüft. In 12 Fällen wurden die Betroffenen nachträglich als Flüchtlinge gemäß Grundgesetz oder der Genfer Konvention anerkannt. Anderen wurden Abschiebehindernisse zuerkannt oder die Wiedereinreise gestattet. Nur in einem einzigen Fall hält das AA im gegenwärtigen Prüfungsstadium die Foltervorwürfe für unglaubwürdig. Das Auswärtige Amt hat aus diesen für die deutsche Asylpraxis verheerenden Ergebnissen mittlerweile einige Konsequenzen gezogen: In seinem neuen Lagebericht zur Türkei vom 22.06.2000 korrigierte das Auswärtige Amt seine bisherige Einschätzung zur Rückkehrgefährdung von kurdischen Flüchtlingen in einigen relevanten Punkten (s. hierzu ausführlich die Einschätzung zum aktuellen Bericht). Im Dezember 99 beschloss der EUGipfel auf maßgebliches Betreiben Deutschlands hin, die Türkei in den Status einer Beitrittskandidatin zu erheben. Wir begrüßen dies grundsätzlich, warnen jedoch davor, die bloße Ankündigung eines Demokratisierungsprozesses mit dessen Umsetzung gleichzusetzen: In der Praxis haben sich die Bekenntnisse führender türkischer Politiker zur Demokratisierung und Einhaltung der Menschenrechte bislang nicht niedergeschlagen. Nach wie vor bestehen die rechtlichen Grundlagen, aufgrund derer die freie Meinungsäußerung und ein Eintreten für eine Gleichberechtigung der KurdInnen bestraft werden können und bestraft wer- den. Nach wie vor gilt die in der Verfassung festgelegte Staatsdoktrin, nach der es keine anerkannten Minderheiten in der Türkei geben kann - alles davon Abweichende wird als Separatismus verfolgt. Nach wie vor gibt es die Incommunicadohaft ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand, die von Menschenrechtsorganisationen als die strukturelle Voraussetzung für Folter bezeichnet wird. Lautstark gepriesene neue Gesetze zum Schutz der Menschenrechte entpuppen sich bei näherem Hinsehen als reine Makulatur: Mit dem Amnestiegesetz für “Pressedelikte” zum Beispiel wurden Gefängnisstrafen von Journalisten und Redakteuren, die vor dem 23.04.99 verurteilt wurden, für drei Jahre aufgehoben. Wer in diesem Zeitraum allerdings noch einmal einen kritischen Artikel schreibt, kann sofort wieder vor Gericht gestellt werden. Die Mehrzahl der Journalisten, die wegen angeblicher Unterstützung illegaler Organisationen verurteilt wurden, fällt nicht unter das Gesetz. Die rund 152 Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden, werden durch das Gesetz nicht berührt. Oder: Mit der Novellierung des Gesetzes zum Vorgehen bei Untersuchungen und Gerichtsverfahren gegen Staatsbedienstete in Fällen von Folter sollen offiziell die Strafen für folternde Staatsbedienstete erhöht und die Ermittlungen gegen sie beschleunigt werden. Schon im Vorfeld ließ der stellvertretende Staatssekretär im Innen- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kurdenverfolgung ministerium, Sami Sönmez, verlauten, eine höhere Bestrafung von Folter mache die Polizei handlungsunfähig. Grundlegende Änderungen hat das neue Gesetz nicht gebracht: Zwar wurden die Strafen erhöht, eine Strafverfolgung des Beschuldigten hängt jedoch noch immer von der Zustimmung seines Vorgesetzen ab. Entsprechend wenige Verfahren werden überhaupt erst eingeleitet. Weitgehende Straffreiheit für Folterer ist an der Tagesordnung. Während der Justizminister Sami Türk das Gesetz trotz allem für “revolutionär” hält, meinte Sami Selcuk, der Vorsitzende Richter am Kassationsgerichtshof: “Dieses Gesetz ist nicht einmal evolutionär (...) Uns ist es noch nicht einmal gelungen, das 18. Jahrhundert einzuholen.” (IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 29, 32 und. 4445, 1999) Der türkische Staat ist bislang noch keinen Schritt auf die Vertretungen der KurdInnen zugegangen. Die einzige legale prokurdische Partei, die HADEP, wird trotz gegenteiliger Bekundungen von Staatspräsident Demirel weiterhin mit Razzien sowie Festnahmen ihrer Mitglieder drangsaliert. Mehrere (Vorstands-) Mitglieder wurden im Februar wegen angeblicher Unterstützung der PKK zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Gegen die HADEP läuft ein Verbotsverfahren. Am 19. Februar wurden drei kurdische Bürgermeister wegen angeblicher Kontakte zur PKK verhaftet. Sie hatten keinen Zugang zu ihren Rechtsanwälten und wurden laut amnesty international schwer gefoltert. Aufgrund heftiger internationaler Proteste wurden die Bürgermeister am 28.02.00 wieder freigelassen. Die Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir wegen Unterstützung der PKK dauern jedoch an. Bezüglich der PKK gilt nach wie vor: Mit Terroristen wird nicht verhandelt. So wurden die von der PKK in die Türkei entsandten Friedensgruppen mit hochrangigen Funktionären nach ihrer Ankunft festgenommen und vor Gericht gestellt. Aus dem Jahresbericht des IHD für 1999 geht deren Verfolgungsopfers - der Unterstützung der PKK verdächtigt werden oder als Spitzel geeignet erscheinen. Foto: herExpo Karaw vor, dass ane Aktio schwerwiegende Mennstag zu Ka schenrechtsverletzungen weiter meru n S o anhalten. Im Februar 2000 wurde lange in der Türeine friedliche Demonstration des kei die Menschenrechte IHD, der HADEP und anderer opnicht eingehalten, Oppositionelle positioneller Organisationen, die und ethnische Minderheiten weiter unter dem Motto “Menschenverfolgt werden, ist bei Fortsetrechte im Jahr 2000” stand, gezung der bisherigen Abschiewaltsam von der Polizei aufgelöst. bungspraxis mit weiteren Folterop250 Menschen wurden niedergefern zu rechnen. prügelt und festgenommen. Die recherchierten Fälle von Verfolgung nach der Abschiebung lassen die Bemühungen deutscher und türkischer Politiker zweifelhaft erscheinen, die Situation in der Türkei schönzureden und sie verbal EU-fähig zu machen. Vor dem geschilderten Hintergrund muss vielmehr auch weiterhin mit der Misshandlung und politischen Verfolgung nicht-assimilierter kurdischer Flüchtlinge gerechnet werden, die aus der Bundesrepublik abgeschoben und - zu Recht oder zu Unrecht - verdächtigt werden, die Sache der PKK zu unterstützen. Exakte Kriterien dafür, was die Verfolgung auslösen kann, lassen sich gerade nicht finden. Die von uns recherchierten Fälle machen deutlich, dass immer wieder auch solche Flüchtlinge ins Visier der türkischen Verfolgungsbehörden geraten, die keine herausgehobene Funktion innehatten und - z.B. aufgrund einer Denunziation oder einer belastenden Zeugenaussage eines an- Die im Juni 2000 erschienene 2. erweiterte Auflage der Broschüre „Von Deutschland in den türkischen Folterkeller - Zur Rückkehrgefährdung von Kurdinnen und Kurden“ mit allen 32 Fällen kann gegen einen frankierten und adressierten Rückumschlag (DIN A 5 und 1,50 DM) über die Geschäftsstelle des Nds. Flüchtlingsrats bezogen werden. Ab 10 Exemplare berechnen wir pro Exemplar 1 DM plus Versandkosten gegen Rechnung. Ab September ‘00 ist der Recherchebericht auch in Englisch erhältlich. 61 Kurdenverfolgung Flüchtlinge in der Türkei PROJEKT zum Aufbau von Unterstützungsstrukturen in der Türkei S eit Mai 2000 führen der Nds. Flüchtlingsrats und der IHD in Kooperation mit der türk. Stiftung TAV und PRO ASYL ein von der EU gefördertes Projekt durch. Ziel des zweijährigen Projekts ist der Aufbau von Strukturen zur qualifizierten Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei, d.h. von ausländischen Flüchtlingen, inländischen Vertriebenen und abgelehnten Asylsuchenden türkischer Staatsangehörigkeit, die aus der EU zurückkehren. Die genannten Flüchtlingsgruppen sind in der Türkei mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert: Ihre Lebenssituation ist gekennzeichnet durch mangelnde Rechtssicherheit, den Ausschluss von demokratischer Partizipation, wirtschaftliche Not, Menschenrechtsverletzungen und oftmals auch Traumatisierungen. Bestandteil der Projektarbeit ist es, die Informationslage über die Situation der Flüchtlinge in der Türkei und ihre Lebensumstände zu verbessern und genauere Bewer- tungskriterien für eine drohende Rückkehrgefährdung abgelehnter Asylbewerber zu entwickeln, um in den Ländern der EU mehr Rechtssicherheit für Asylbewerber aus der Türkei gewährleisten zu können und potenzielle Folteropfer besser zu schützen. Wer detailliertere Informationen möchte, kann sich an das TürkeiProjekt direkt wenden: Geschäftsstelle des Nds. Flüchtlingsrats (Durchwahl Türkei-Projekt 05121 – 31600) Schimmer von Morgenröte im Auswärtigen Amt? Zum neuen Türkei- Lagebericht des AA vom 22.06.00 Claudia Gayer und Kai Weber D er neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei birgt zwar keine großen Überraschungen, in einigen relevanten Punkten hat das Amt jedoch seine bisherige Einschätzung zur Rückkehrgefährdung von KurdInnen relativiert und teilweise auch korrigiert. Zumeist ergeben sich die Neubewertungen weniger durch den Wortlaut als durch das Streichen ganzer Passagen. So hieß es zum Thema Sippenhaft im alten Bericht noch wörtlich „Es gibt keine Sippenhaft“. Familienangehörige könnten zwar zu Ver62 nehmungen vorgeladen und auch zwangsvorgeführt werden. Das Recht auf Aussageverweigerung sei aber gewährleistet. Diese haarsträubende Ansicht hat das AA grundlegend geändert. Es gesteht nun ein, dass es bei den Vernehmungen von Angehörigen genauso zu „Übergriffen“ kommen kann wie bei Beschuldigtenverhören auch. Eine Sippenhaft wird nur für den strafrechtlichen Bereich verneint: „Es gibt keine Sippenhaft in dem Sinne, dass Familienmitglieder, etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder PKK-Sympathisanten, für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt und bestraft würden.“ Insgesamt nimmt das AA unseres Erachtens eine Neubewertung exilpolitischer Aktivitäten vor. So wurde die Einschätzung, dass die Asylantragstellung strafrechtlich nicht relevant sei und keine staatlichen Repressionen nach sich zöge, er- gänzt: „Anders mag es dagegen sein, wenn er [der Antragsteller] im Zusammenhang damit in Deutschland exilpolitische Aktivitäten entfaltet hat, die nach türkischem Recht strafbar sind, und die türkischen Sicherheitskräfte davon erfahren.“ Gleichzeitig wurde die frühere Relativierung gestrichen, nach der sich die Sicherheitskräfte FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kurdenverfolgung nur für die „Drahtzieher“ interessieren würden. Damit kommt das AA zu einer durchaus realistischen Ansicht: Exilpolitische Aktivitäten gleich welchen Profils ziehen staatliche Repressionen nach sich, sofern sie den entsprechenden Stellen bekannt werden und strafbar sind. Damit gewinnt natürlich die Frage an Bedeutung, was strafbar ist. Hierzu liegen einige aussagekräftige Gutachten (z.B. Rumpf) und etliche Beispielfälle vor. Wir haben zudem mit unseren Recherchen nachgewiesen, dass die Teilnahme an einer politischen Demonstration ebenso strafrechtlich verfolgt wird wie ein Engagement auf der Führungsebene der PKK. Hüzni Almaz wurde z.B. wegen niedrigschwelliger Exilaktivitäten zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Die Verurteilung wurde auch in 2. Instanz bestätigt. Ahmet Angay ein Fall, der auch vom AA recherchiert, aber nicht im Lagebericht dokumentiert wurde - ist kürzlich zu 12 Jahren und 6 Monate Haft verurteilt worden. Auch ihm wurden politische Aktivitäten in Deutschland zur Last gelegt. Beweise lagen nicht vor - nur ein unter Folter erpresstes Geständnis. Wenn akzeptiert würde, dass es für die Beurteilung einer eventuell drohenden strafrechtlichen Verfolgung eben nicht auf die Frage der „Herausgehobenheit“ der exilpolitischen Betätigung, sondern nur auf die Frage der Wahrscheinlichkeit eines Bekanntwerdens dieser Betätigung ankommt, wäre dies eine wichtige Änderung. Erstmals findet auch das Wanderkirchenasyl in NRW Erwähnung: Zwar hat das AA keine Erkenntnisse darüber, dass die Teilnahme am WKA staatliche Repressionen nach sich zieht, es schließt diese aber auch nicht prinzipiell aus. Ausführlich wird im Lagebericht der Fall des Yusuf D. beschrieben, der am WKA teilgenommen hatte und nach der Abschiebung im Januar 2000 unter Schlägen, Beschimpfungen und Drohungen zu seinem Aufenthalt in Deutschland befragt wurde. Yusuf habe bei der Oberstaatsanwaltschaft Izmir eine Anzeige gegen die drei Beamten ge- stellt. In dieser, so das AA, sei eine Teilnahme am WKA nicht erwähnt. Das ist unseres Erachtens auch leicht nachzuvollziehen: denn damit hätte Yusuf sich ja selbst bezichtigt und die Vorwürfe konkretisiert. Abschließend nimmt das AA Bezug auf den Reisebericht einer Sozialarbeiterin und gibt deren Einschätzung wieder, dass sich das Interesse der türk. Sicherheitskräfte an Yusuf auf exilpolitische Strukturen, deutsche Unterstützer und Teilnehmer des WKA bezogen habe. mentiert ein „Gesinnungsstrafrecht“. Auch die als positiv eingestuften Gesetzesänderungen und Amnestien erweisen sich bei näherem Hinsehen als Augenwischerei. So setzt z.B. die Amnestie für Journalisten die Strafen nur zur Bewährung aus. Wer sich nochmals kritisch äußert, muss die alte plus eine eventuelle neue Strafe verbüßen. Eine Gesetzesänderung im Herbst 99 erhöhte zwar die Strafen für Folter, jedoch können Folterer erst dann strafrechtlich belangt werden, wenn deren Vorgesetzter den Ermittlungen zustimmt (s. hierzu Artikel „Von Deutschland in den türkischen Folterkeller“). Zur Frage der Gefährdung durch belastende Aussagen von Überläufern führt das Amt aus: Personen, die denunziert werden, sind gefährdet. Sie werden verhört und bei Feststellung einer Straftat (insbesondere im Zusammenhang mit der PKK) den Sicherheitsbehörden übergeben. Strafverfahren können drohen. Das ist zwar eine GummiFormulierung, jedoch offen für „positive“ Auslegung (s. o.). Weiterhin sieht das AA auch für nicht-assimilierte Kurden keine Gruppenverfolgung, wenngleich das AA nun ergänzt, dass von einer Strafverfolgung wegen Verdachts der PKK-Unterstützung „häufig Kurden ... betroffen sind“. Kein Wort verliert das AA darüber, dass gerade in jüngster Zeit etliche HADEP-Politiker (z.B. Bürgermeister aus dem Südosten, Vorstandsmitglieder) in Haft gefoltert wurden. Die beschriebenen Korrekturen und Neueinschätzungen sind erfreulich, stellen sie doch eine Annäherung an die Realität dar. Die grundsätzliche Kritik an der Lageeinschätzung des AA aber bleibt (vergl. FLÜCHTLINGSRAT, Heft 64/65, Dez99/Jan.00): In weiten Teilen hat sich nichts an der Lageeinschätzung geändert. Noch immer ist der Bericht verharmlosend, beschönigend und bleibt weit hinter der dramatischen Menschenrechtssituation in der Türkei zurück: So hält das AA weiterhin an der konstruierten Trennung zwischen Sicherheitskräften und Staat fest: Ziemlich unzutreffend stellt das Amt im allgemein-politischen Teil fest, dass nicht das geltende Recht und die Gesetzgebung das Hauptproblem in der Türkei sei, sondern deren Umsetzung in die Praxis. Dabei schafft erst das geltende Recht die strukturellen Voraussetzungen für Folter, z.B. die Incommunicadohaft oder die mangelhaften Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung von Folterern. Rund 152 Gesetze beschränken allein das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Verfassung ze- Viele von uns dokumentierten Verfolgungs- und Misshandlungsfälle werden vom Auswärtigen Amt schließlich einfach ignoriert: So trifft das AA keinerlei Aussage zu dem Fall des kurdischen Flüchtlings Abdurrahman Kilic, der nach Ablehnung seines Asylantrags unter akutem Abschiebungsdruck „freiwillig“ in die Türkei zurückkehrte und misshandelt wurde. Die Kettenabschiebung des nachgewiesenermaßen aus Deutschland über Österreich in die Türkei abgeschobenen und dort zu 18 Jahren Haft verurteilten Ibrahim Toprak wird ebenso unterschlagen wie die Verfolgung vieler Kurden, die nach ihrer erneuten Flucht nach GG 16 oder § 51,1 AuslG anerkannt wurden (Oguz Cifci, Abdulhalim Nayir, N.B., Hüseyin Genc, Abdurrahman und Ayse T., Yüksel Kücük) bzw. Abschiebungshindernisse für sich geltend machen konnten (Z. und L.S.). Auch Fälle von Verfolgung kurdischer Flüchtlinge, die erst einige Zeit nach ihrer Rückkehr in die Türkei, allerdings unter Bezugnahme auf ihre exilpolitische Tätigkeit 63 Kurdenverfolgung in Deutschland, von den türkischen Verfolgungsbehörden festgenommen, misshandelt und inhaftiert wurden, werden vom Auswärtigen Amt nicht genannt (Menduh Bingöl, Ferit K., Mustafa E., Mustafa Boylu). Unter den Tisch fiel sogar ein Fall, den das AA selbst recherchierte: Ahmet Angay wurde wegen unterstellter exilpolitischer Aktivitäten im Frühjahr 2000 zu 12 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Kein Wort verliert das AA schließlich über den Fall des illegal abgeschobenen Duran Y., der bis heute auf eine Wiedereinreisemöglichkeit nach Deutschland wartet, sowie auf die von uns dokumentierte Verfolgung von Ilhan O., Sinan Sicak und Can I. Natürlich kann man dem Auswärtigen Amt zubilligen, dass es die vorgelegten Unterlagen selbst prüfen will und einige Zeit dafür benötigt. Unverständlich bleibt es jedoch, wenn das Auswärtige Amt auch nach abgeschlossener Überprüfung von Einzelfällen durch Gerichte oder Behörden die dort gewonnenen Erkenntnisse schlicht nicht zur Kenntnis nimmt. Welche Auswirkungen der neue Lagebericht auf die Entscheidungspraxis haben wird, ist bislang noch nicht absehbar. Klar ist, dass sich die optimistischen Prognosen im Herbst 99 nach „Bekanntwerden“ des letzten Berichts ja leider nicht bewahrheitet haben: Die Chancen für KurdInnen auf Anerkennung als Asylberechtigte oder Konventionsflüchtlinge sind nicht größer geworden. Im Gegenteil werden nach unserem Eindruck an die Glaubhaftmachung von Verfolgung zunehmend höhere Anforderungen gestellt. Neben dem Einfordern von politischen Lösungen muss also weiterhin im Einzelfall um die Anerkennung als politisch Verfolgte gefochten werden. Der neue Lagebericht bietet den EinzelentscheiderInnen und RichterInnen zumindest theoretisch größeren Spielraum für positive Entscheidungen. Bleibt zu hoffen, dass sie diesen nutzen werden. Delegationsbericht des IPPNW Die Türkei auf dem Weg nach Europa? V om 4. bis 14.4.2000 fand die 5. ÄrztInnen-Delegationsreise des IPPNW in die Türkei statt. Die Delegation führte u.a. Gespräche mit dem IHD Istanbul, der Gewerkschaft KESK, der HADEP, Vertretern der KA-MER und der DSP in Diyarbakir. Dr. Gisela Penteker fasste die Ergebnisse der Reise in einem Delegationsbericht zusammen. Aus dem Vorwort: „Die Einstellung der Kämpfe durch die PKK und der Beschluss von Helsinki, der Türkei den Status eines EU – Beitrittskandidaten zu verleihen, haben die politische Diskussion in der Türkei belebt und bei vielen Menschen große Hoffnungen auf Frieden und Demokratie und eine politische Lösung der Kurdenfrage geweckt. Auf unserer Reise haben wir versucht, die Zeichen des Aufbruchs, die Zeichen der Veränderung, die Signale der Hoffnung zu finden. In vielen Gesprächen u. a. mit Ärzten, Gewerkschaftern, Menschenrechtlern, Demokraten, Bürgermeistern in Istanbul, Diyarbakir, Batman, Hasankeyf und Izmir ließen wir uns über die aktuelle Lage informieren. Das Fazit ist eher ernüchternd. Vom Aufbruch in eine neue Zeit ist vor Ort 64 wenig zu spüren. Die Repressalien in den kurdischen Gebieten und gegen die Opposition gehen unvermindert weiter. Immer noch werden Dörfer von der Regierung zerstört, immer noch gibt es willkürliche Verhaftungen, immer noch wird in Polizeigewahrsam gefoltert. Unsere Gesprächspartner mahnen den Druck aus Europa auf die türkische Regierung an. Sie fragen uns aber auch, was sich bei uns verändert, und wir müssen beschämt gestehen, dass das PKK- Verbot nicht aufgehoben ist, dass kurdische Vereine und Zeitungen weiterhin polizeiliche Übergriffe erleben, dass Kurden in Deutschland weiterhin diskriminiert werden, dass Flüchtlinge aus der Türkei weiterhin abgeschoben werden, obwohl sich die Menschenrechtslage nicht gebessert hat, und ihnen Haft und Folter drohen.“ Der vollständige 10-seitige Bericht ist über die Geschäftsstelle beziehbar (Papierfassung und Datei). FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kurdenverfolgung Zwischen den Fronten Bericht über den Fall des kurdischen Fotografen Ridvan Arslan K. H. Welder , AK ASYL Northeim (Red.) Die kurdische Familie Arslan Arslan, sich des Auftrages zu entlefloh 1994 aus der Türkei nach digen. Seine Ausflüchte wurden jeDeutschland und lebt heute - von doch nicht akzeptiert, er musste der Abschiebung bedroht - in sich fügen und weiter für das türkische Militär Northeim. Ihr Asylanfotografieren. trag wurde mit Urteil Endgültig zwides VG Göttingen am schen die Fron11.05.00 abgelehnt, ten geriet Arsüber eine Petition ist lan, als ihn die bislang nicht entschiekurdischen Beden. Der Familienvawohner des ter, laut ärztlichem Atkleinen Heimattest schwer traumatiortes (,,jeder siert, schilderte dem kennt jeden“) AK Asyl Northeim, unter Androwas er vor seiner hung von GeFlucht in der Türkei erwalt ultimativ leben musste. Wir geMehmet Ilüsni Kaya aufforderten, ben den Bericht Ort: Mardin/Ömerli gekürzt und leicht Der im Juni 1993 ermordete den LeichenfoFotograf todienst für das überarbeitet wieder: türkische Militär idvan Arslan war Fotograf in und gegen kurdische Interessen zu Ömerli, einer Kleinstadt (7000 unterlassen. Er wurde als Verräter Einw.) etwa 120 km südlich von beschimpft, erhielt immer wieder Diyarbakir entfernt, im Hauptge- anonyme Anrufe und Drohungen. biet der Auseinandersetzungen Schließlich befürchtete Ridvan seizwischen Militär und PKK. Das Leid ne Ermordung. Der Entschluss zur der Familie begann, als Ridvan Ars- Flucht war nun endgültig. lan 1986 von türkischen Militärs gezwungen wurde, im Kampf Im Januar 1994 floh die Familie. getötete Soldaten sowie Tote der Herr Arslan nahm die Negativfilme Zivilbevölkerung und kurdische aus der Endphase seines grausigen Folteropfer zu fotografieren. Im Auftrages unter Todesgefahr heimOrt gab es noch einen anderen lich mit, so auch sein Sohn Nebil, (kurdischen) Fotografen. Dieser der erst 1998 fliehen konnte. Der war den Militärs als PKK - Sympa- Schock erfolgte im Mai 2000 per thisant bekannt, ebenso seine bei- Urteil des VG Göttingen: Die Asylden Brüder, die als Zahnärzte die klage wurde abgewiesen. Kein Ankurdische Bevölkerung versorgten. spruch auf Art. 16a,1 GG, § 51,1 Inzwischen sind alle drei ermordet u.53 AuslG. Die Familie wird zur worden (Mehmet Hüsni Kaya siehe unverzüglichen Ausreise aufgefordert! Das VG berief sich Foto). hauptsächlich darauf, dass die FoDie 132 Fotos, die Arslan (und spä- tos nicht veröffentlicht wurden, ter auch sein Sohn) auf seiner folglich Arslan in der Türkei nicht Flucht nach Deutschland schmug- bedroht sei. Dies hält der AK ASYL gelte, zeigen fürchterlich zugerich- NORTHEIM für völlig unrealistisch: tete, gefolterte, tote Männer, viele von ihnen in gefesseltem Zustand. Dass die Familie aus türkischer Laut Arslan sollten die Fotos als Sicht mit der Unterschlagung briPropaganda gegen die PKK ver- santesten Fotomaterials ein todeswendet werden, sie sollten als „Be- würdiges Verbrechen begangen weis“ für übelste Menschenrechts- haben, müsste auch dem unvorverletzungen „kurdischer Terrori- eingenommenen Bewohner unsesten“ dienen! Mehrfach versuchte res Rechtsstaates einleuchten. Dass die Arslans aus kurdischer Sicht als Verräter ebenfalls aufs Äußerste gefährdet sind, ist von den Anwälten eindrucksvoll belegt worden. Es ist doch völlig klar, dass in einer von Hass und Gewalt geprägten Kleinstadt wie Ömerli das dort stationierte Militär nicht vergessen wird, wem man vor 1994 befahl, Gräueltaten zu dokumentieren, wer 1994 abhaute, wer Negative nicht ablieferte! Man wird in Ömerli auch auf PKK-Seite nicht vergessen, wer zum „Überläufer“ und „Verräter“ wurde, wer mit diesen fürchterlichen Fotos dem türkischen Staat Propagandahilfe leistete, ins reiche und friedliche Deutschland verschwand! Das Schicksal der Familie A. hat R Yusuf Aziz, am 01.11.1992 in Mardin/Ömerli auf der Hauptstrasse ermordet. Seine Kinder leben jetzt in Bremen sich offensichtlich in der politischen Landschaft (EU-Kandidatur usw.) zu einer Randerscheinung reduziert. Niemand hat mehr Interesse an alten Fotos mit sattsam bekannten Inhalten. Einer kurdischen Zeitung liegen einige der Fotos vor, sie wollten sie jedoch bislang nicht veröffentlichen, um die aktuellen politischen Friedensbemühungen nicht zu gefährden. Für die Arslans bleibt die Gefährdung aber hundertprozentig bestehen! 65 Kurdenverfolgung Ausbürgerung bei Wehrdienstentziehung Asylrelevanz und Abschiebungsandrohung G emäß Art. 25 c türk. Staatsangehörigkeitsgesetz können Wehrpflichtige, die dem Dienstantritt ohne ausreichende Entschuldigung nicht Folge leisten, auf Beschluss des Ministerrats ausgebürgert werden. Eine Wiedereinbürgerung ist nach Ableistung des Wehrdienstes möglich. Die Ausbürgerung stellt nach der Rechtssprechung des BVerwG eine ordnungsrechtliche Sanktion dar: Sie richte sich nicht gegen asyler- hebliche Persönlichkeitsmerkmale und die Motive für eine Wehrdienstentziehung seien nicht relevant. Die Frage nach politischer Verfolgung im Hinblick auf GG 16 und § 51 AuslG sei darum gegenstandslos. Das BAFl folgert daraus im aktuellen Einzelentscheider-Brief: Der Asylantrag eines staatenlosen ausgebürgerten/ausgewiesenen Asylbewerbers, der lediglich über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 I AsylVf G verfügt, wird regelmäßig abzulehnen sein. § 53 AuslG kann geprüft werden. Bei einer Ablehnung ist die Abschiebung anzudrohen, unabhängig davon, ob das Zielland den Betroffenen zurücknimmt oder nicht. Kann die Abschiebung nicht vollzogen werden, kommt allenfalls Duldung gem. § 55 II AuslG in Betracht. (vergl. Einzelentscheider-Brief des BAFl 06/2000) PDS Niedersachsen: Für einen niedersächsischen Abschiebestop in die Türkei – sofort! Broschüre Bezug: LAG „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ in und bei der PDS Niedersachsen Struckmeyerstr. 9 30451 Hannover Tel. 0511-4584703 Fax.: 0511-9245910 Fluchtursachen bekämpen - nicht Flüchtlinge Aktion 3.Welt Saar Ru 64/65 Seite 49 66 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kriegsflüchtlinge Kriegsflüchtlinge Foto: 3.Welt Saar Kriegsflüchtlinge: FRIEDEN NICHT IN SICHT Behördlicher Umgang mit Flüchtlingen aus Bosnien und Kosov@ Bettina Stang W enn der Bundesinnenminister seinen Kollegen einen Brief schreibt, beeindruckt die das offenbar wenig: Im niedersächsischen Innenministerium reagiert mann und frau auf den jüngsten Brief Otto Schilys an seine Länderkollegen gelassen. Schilys Aufforderung, “fachärztlich geprüften/ chronisch traumatisierten“ Bosnien-Flüchtlingen ein Bleiberecht zu gewähren, werde in Niedersachsen ohnehin schon erfüllt, heißt es. Denn immerhin sei es den Ausländerbehörden nach der aktuellen Erlasslage “möglich”, eine Aufenthaltsbefugnis auszustellen, wenn eine ärztliche Bestätigung für die Notwendigkeit einer langfristigen Therapie vorliegt. Weiteren Handlungsbedarf sieht das niedersächsische Innenministerium nicht. Aussitzen bis zur nächsten IMK? Schon gar nicht in Reaktion auf das Wunschdenken einiger Bundestagsabgeordneter, bestimmte Gruppen von Kosov@-Flüchtlingen von den Rückkehr-Aufforderungen ausnehmen zu wollen. Der Bundestag hatte in seiner letzten Sitzung vor der parlamentarischen Sommerpause mit einer überfraktionellen Initiative die Situation der Flüchtlinge aus Bosnien und aus dem Kosovo thematisiert. In seinem einstimmig gefassten Beschluss fordert das Parlament unter anderem die Innenminister der Länder dazu auf, von Ausreiseaufforderungen gegenüber denjenigen, die in ihren Heimatorten zu verfolgten Minderheiten gehören, abzusehen. Er tritt ferner dafür ein, denjenigen die Möglichkeit eines längerfristig gesicherten Aufenthalts und die Aufnahme einer Arbeit einzuräumen, deren Häuser im Kosovo zerstört und deren Existenz vor Ort nicht gesichert ist. Dieser Beschluss wurde sowohl von der Ausländerbeauftragten des Bundes als auch vom UNHCR begrüßt. Er hat jedoch nach Aussagen des Niedersächsischen Innenministeriums für den Vollzug „keine Konsequenzen“. Es könne nicht angehen, so das Innenministerium zur Begründung, dass der Gesetzgeber die Behörden zu einem Verzicht auf Abschiebungen anhalte, jedoch das Ausländergesetz unangetastet lasse, welches einen Vollzug rechtlich möglicher Abschiebungen zwingend vorsehe. Darü67 Kriegsflüchtlinge ber hinaus verweist das MI auf die Beschlusslage der IMK vom 19.11.99, auf der eine „konsequente Rückführung“ aller KosovoAlbaner verabredet worden sei. Die nächste Innenminister-Konferenz ist für November 2000 angesetzt, bis dahin gilt im Ministerium “Aussitzen” als Devise. Rückkehraufforderungen werden deshalb weiterhin unterschiedslos an alle verschickt - ob Serbe, Roma, in Seit Anfang Juli hat Niedersachsen 30 Charterplätze ab Düsseldorf zur Abschiebung in den Kosovo gebucht. Etwa 100 Flüchtlinge aus dem Kosov@ sind nach Angaben des Innenministeriums bis Ende Juli abgeschoben worden. Auch Abschiebehaft wird inzwischen verhängt: z.b. in der neuen Haftanstalt Langenhagen, die entgegen der ursprünglichen Planung schon jetzt als Abschiebeknast genutzt wird (Geplant war, sie zunächst als EXPO-Knast zu belegen). Flüchtlinge aus dem Kosov@, die noch keine Erklärung zur „freiwilligen Ausreise“ unterschrieben haben – und manchmal selbst dann - müssen folglich jetzt mit einer Abschiebung und ggf. auch mit Abschiebungshaft rechnen. Angesichts der drohenden Abschiebegefahr sollten sie prüfen, ob sie freiwillig ausreisen, Rechtsmittel gegen eine Abschiebung einlegen oder eine Petition stellen. Sie müssen damit rechnen, dass sei beim Gang zur Ausländerbehörde zwecks Duldungsverlängerung in Abschiebehaft genommen werden. Sie können in solchen Fällen versuchen, doch noch eine freiwillige Ausreise durchzusetzen. Eine Petition an den nds. Landtag mit dem Appell, die freiwillige Ausreise zu ermöglichen, hat i.d.R. aufschiebende Wirkung gegenüber Behördenentscheidungen. Wenn bislang kein Gericht die Zulässigkeit einer Abschiebung bestätigt hat, z.b. noch kein Asylantrag gestellt wurde und/oder keine negative Bundesamtsentscheidung per Eilantrag oder Widerspruch angefochten wurde, ist eine Petition angesagt. 68 Ausbildung befindlich, traumatisiert oder den Lebensunterhalt für eine ganze Großfamilie verdienend. Auf der nächsten IMK wird es jedoch zu einer Diskussion um eine weitere Staffelung der Rückkehr geben. Niedersachsen erwägt, dem Beispiel Schleswig-Holsteins und Baden-Württembergs zu folgen und erwerbstätigen ausreisepflichtigen Flüchtlingen aus dem Kosovo unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einzuräumen, lich so lange erneut verlängert (Fotos von seinem nieder gebrannten Haus wurden vorgelegt), bis der Flüchtling nach abermaliger Aufforderung Anfang Juni seinen Reiseaufbruch meldete. Flüchtlinge aus dem Kosov@, bei denen eine Bereitschaft und Vereinbarung zur „freiwilligen Ausreise“ nicht erkennbar sei, werden auch in Niedersachsen mittlerweile abgeschoben. Foto: 3.Welt Saar bis Mitte des Jahres 2001 in Deutschland zu bleiben, um die Mittel für den Aufbau einer neuen Existenz im Kosovo zu erwerben. Primat hat nach Auskunft des MI die “freiwillige Rückkehr”. Und die wird beispielsweise so vorbereitet (Brief von Anfang des Jahres): “Sehr geehrte... Sie werden aufgefordert, das Bundesgebiet bis zum 31.03.2000 freiwillig zu verlassen. Sollten Sie Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, werde ich Ihre Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) veranlassen, die ich Ihnen hiermit androhe. Die Ihnen erteilte Duldung wird über den 31.03.2000 nicht verlängert. Die Kosten einer Abschiebung sind von Ihnen zu tragen.” Nach den Erfahrungen mit der Rückführung bosnischer Flüchtlinge besteht kaum ein Zweifel, dass die Behörden mit solchen Formen „psychologischer Kriegsführung“ erfolgreich sein und einen großen Teil der Betroffenen dazu bewegen werden, „freiwillig“ das Land zu verlassen. In dem hier zitierten Beispiel wurde die Duldung schließ- UNHCR: Politisch Andersdenkende in Gefahr Über die Minderheitengruppen der Roma, Aschkali und Serben hinaus macht das UNHCR weitere Gruppen in Kosov@ aus, die ausdrücklich des “internationalen Rechtsschutzes” bedürfen: “- Personen und Familien von gemischter ethnischer Herkunft - Personen, die mit dem serbischen Regime nach 1990 in Verbindung gebracht werden - Personen, die sich weigerten, sich der UCK anzuschließen oder aus dieser desertiert sind - Personen, die sich kritisch über die ehemalige UCK bzw. die frühere selbst ausgerufene “Provisorische Regierung des Kosovo” äußern, und Mitglieder oder Anhänger politischer Parteien, die nicht die Linie der ehemaligen UCK bzw. der früheren selbst ausgerufenen “Provisorischen Regierung des Kosovo” vertreten - Personen, die sich weigern, den Gesetzen und Vorschriften der ehemaligen UCK bzw. der früheren selbst ausgerufenen “Provisorischen Regierung des Kosovo” Folge zu leisten. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kriegsflüchtlinge Die Auflistung ist nicht vollständig und es kann durchaus auch andere Personen bzw. Gruppierungen geben, die im Kosovo ebenfalls mit Verfolgung rechnen müssen. Kosovo-Albaner sollten daher Zugang zum Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erhalten und ihre Anträge sollten mit Sorgfalt und jeder für sich geprüft werden.” Das Papier ist sehr aufschlussreich, was die Etablierung einer UCK-dominierten parallelen Verwaltungsstruktur neben den Bemühungen der UNMIK um eine Etablierung einer “unabhängigen” Verwaltung angeht. Die größten Zerstörungen sind durch verbrannte Dächer entstanden. Wo sind die Arbeitslosen, die Dachkonstruktionen anfertigen können? Oder gehört ein Dach über den Kopf nicht zu einer “ersten Instandsetzung”? Viele Hilfsorganisationen haben noch gar nicht damit begonnen, den Wiederaufbau der am schlimmsten zerstörten Häuser zu organisieren. Wie kommen die Ko- Roma: Rechtsschutz gar nicht erst beantragen? Manche Rechtsanwälte raten vom Stellen von Asyl(folge)anträgen für Kosov@-Flüchtlinge ab - selbst bei Roma und Aschkali. Unter Hinweis auf die von offizieller Stelle versprochene Rücksichtnahme auf die gefährdete Situation der Minderheiten im Kosovo kommt z.b. Rechtsanwalt Hoffmann aus Bre- Innenminister widerspricht McNamara “(Der Sondergesandte des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen, Dennis) McNamara hat sich gegen eine zeitnahe Rückführung der Kosovo-Albaner ausgesprochen, da viele Familien dann noch ohne Wohnung wären. Dies ist ausdrücklich nicht meine Haltung. Ich sage: Menschen aus dem Kosovo, auch die Flüchtlinge, die bei uns sind, müssen alle einen eigenständigen Beitrag zum Wiederaufbau Ihrer Heimat leisten. Es würde ein neues Konfliktfeld geschaffen, wenn die Last der Wiederaufbauarbeit allein denjenigen zugemutet würde, die auch während der Kosovo-Krise (sic!) in Ihrer Heimat geblieben und nicht geflohen sind oder nicht fliehen konnten oder die aus den grenznahen Flüchtlingslagern Mazedoniens und Albaniens umgehend wieder zurückgekehrt sind. (...) Nach meinen Erfahrungen sind im übrigen bei einer Arbeitslosigkeit von circa 70 Prozent genügend Arbeitskräfte vorhanden. Baumaterial ist ebenfalls problemlos zu erhalten.(...) Bei den vergleichsweise geringen Kosten für eine erste Instandsetzung der Häuser - 5000 DM werden hierzu benötigt - sind diese finanziellen Hilfen (gemeint ist neben den Reisekostenhilfen die Rückkehrhilfe von 450 DM) sicherlich eine erste Grundlage”. Diese Rede von Innenminister Heiner Bartling vor dem Landtag bedarf eigentlich keines weiteren Kommentars - nur so viel: Foto: 3.Welt Saar sten von 5000 Mark für ein abgebranntes Haus zu Stande, wenn die Kosten für Baumaterialen fast deutsche Höhen erreichen? Sollten dennoch auch nur 5000 Mark für die Wiederaufbaukosten ausreichen - wo sollen beim amtlich verordneten Arbeitsverbot in Deutschland die restlichen 3550 Mark herkommen, die nach der niedersächsischen Starthilfe noch fehlen - von Schwarzarbeit oder doch lieber von Diebstählen? (Der Innenminister: “Wir verzeichnen eine Verdopplung der von KosovoAlbanern begangenen Eigentumsdelikten. Das ist nicht hinnehmbar!”) Es ist schon bemerkenswert, wie sich ein Landesinnenminister nach einer kurzen Informationsreise mehr Kompetenz zuspricht, als sie einem Vertreter des UNHCR zugebilligt wird. Wenn auch bekannt ist, dass sich deutsche Behörden und Gerichte gerne über Stellungnahmen des UNHCR hinwegsetzen, so sei hier doch auf ein neues Hintergrundpapier des UN-FFlüchtlingshilfswerkes zur Lage im Kosovo verwiesen. Es ist im Internet unter www.unhcr.de/kosovo/kosovo.htm zu finden. men zu dem Schluss: “Angehörige von Minderheiten, insbesondere Roma und Aschkali, werden sich in der absehbaren Zukunft weiter in Deutschland aufhalten können. Für diese Aufenthaltszeit ist ein Asyl- oder Asylfolgeverfahren nicht erforderlich. (...) In der Beratungssituation sollte mit den Flüchtlingen detailliert die Möglichkeit zu freiwilliger Rückkehr besprochen werden im Hinblick auf die noch bereitgestellten Rückkehrhilfen. Dies schließt nicht aus, in Einzelfällen nach sorgfältiger Beratung Abschiebungsschutz gemäß § 53,6 AuslG geltend zu machen.” Für den Flüchtlingsrat NordrheinWestfalen hat Katja Röckner mit einem offenen Brief reagiert. Sie hält es für falsch, in Erwartung einer restriktiven Rechtssprechung den Versuch eines Asylantrages, der subjektiv als berechtigt und notwendig empfunden wird, erst gar nicht zu unternehmen, und verweist dabei auf schon bestehende positive Gerichtsbescheide in Eilverfahren. Es sei auch angesichts der Ängste der Betroffenen oft unzumutbar, die Beratung über die freiwillige Rückkehr in den Vordergrund zu stellen, wie das Hoffmann in seinem Artikel nahe lege. 69 Kriegsflüchtlinge Schließlich weist sie zu Recht darauf hin, dass positive Entscheidungen nach §53 Abs. 6 AuslG nicht nur eine dreimonatige Duldung, sondern vielfach die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach sich ziehen: Auch in Niedersachsen sind die Ausländerbehörden angewiesen, bei positiven Entscheidungen nach § 53 AuslG generell eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen. Hoffmanns Vorwurf, hier würden die Betroffenen, welche die komplizierten Rechtsfragen nicht verstehen könnten, in eine bestimmte Richtung gedrängt und politisch instrumentalisiert, geht insofern ins Leere, als Röckner die Ängste der Roma und Aschkali, welche eine freiwillige Rückkehr als unzumutbar empfinden und nicht zurückkehren wollen, gerade zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation nimmt. Zu Recht führt Hoffmann jedoch ins Feld, dass ein ausländerrechtliches Verfahren nur so lange möglich ist, wie das Bundesamt nicht eingeschaltet wurde. Es kann schon aus prozessstrategischen Gründen durchaus sinnvoll Ende Juli warnt UNHCR noch einmal eindringlich vor einer Rückkehr von Minderheiten nach Kosov@. In einem Schreiben vom 28. Juli 2000 berichtet UNHCR: „Im Juni und Juli 2000 haben sich die Spannungen zwischen den Volksgruppen in Kosovo deutlich erhöht. Die Zahl der ethnisch motivierten Übergriffe – insbesondere gegen Serben – hat erschreckende Ausmaße angenommen. Allein in den ersten zwei Wochen im Juni forderten vorsätzliche Angriffe sechs Todesopfer und 10 Verletzte unter den in Kosovo verbliebenen Serben. Im Nordteil der Stadt Mitrovica kam es in jüngster Zeit zu weiteren schweren Zusammenstößen, Ausschreitungen und nächtlichen Schießereien. ... Vor diesem Hintergrund spricht sich UNHCR erneut gegen die Rückführung von ethnischen Albanern aus, die aus dem Nordteil der Stadt Mitrovica stammen, da sie im Kosovo zu Binnenvertriebenen würden. Eine Rückkehr dieses Personenkreises 70 sein, einen Asylantrag zurückzustellen und zunächst den Ausgang des ausländerrechtlichen Verfahrens abzuwarten. Dies gilt allerdings nicht für Personen, die schon einmal einen Asylantrag gestellt haben. Hoffmann nimmt die Kritik von Röckner an diesem Punkt auf und gesteht ein, dass es sinnvoll ist, in solchen Fällen einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich § 53 AuslG zu stellen. Ein besonderes Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass viele Roma sich in ihrem bisherigen Asylverfahren als Albaner bezeichneten. Röckner hält es für möglich, den Gerichten und Behörden plausibel zu machen, welchen Hintergrund dies hat: “Es gibt viele gute und plausible Gründe, warum sich Angehörige dieser Gruppen zuvor als Albaner bezeichneten. Einerseits wurden Foto: 3.Welt Saar nach Nord-Mitrovica ist derzeit aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Die Zahl der –freiwilligen und unfreiwilligen- Rückkehrer aus Deutschland in das Kosovo ist weiterhin hoch. Aus gegebenem Anlass appelliert UNHCR erneut an alle für die Durchsetzung von Ausreiseverpflichtungen Verantwortlichen sicherzustellen, dass keine Angehörigen von Minderheiten in das Kosovo zurückgeführt werden. Wie angekündigt hat sich UNHCR - als Teil des Übergangs von der akuten Nothilfe zur längerfristigen Entwicklungs- und Aufbauprogrammen – in den letzten Wochen und Monaten fast vollständig aus dem Bereich der humanitären Unterstützung im Kosovo zurückgezogen.... - UNHCR gewährt keine Unterstützung mehr bei der Reparatur und dem Wiederaufbau beschädigter oder zerstörter Häuser und stellt auch kein Baumaterial mehr zur Verfügung. Rückkehrer erhalten auch von anderen Institutionen nicht automatisch eine solche Unterstützung, können sie jedoch vor Ort beantragen. - UNHCR hat keine Möglichkeiten mehr, Rückkehrer in das Kosovo vorübergehend in Notunterkünften unterzubringen. ... .“ Materialien: - Update on the Situation of Ethnic Minorities in Kosovo (Feb. bis Mai 2000) mit einer deutschen Übersetzung der Zusammenfassung - Eine UNHCR-Stellungnahme speziell zur Situation der muslimischen Slawen im Kosovo - Hinweise zur medizinischen Versorgung und zu Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo - Studie: Zur sozialen Struktur der bosnischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland (Mai 2000) - Rückkehrmöglichkeiten für Minderheiten angehörende Frauen Als Kopie bei der Geschäftsstelle zu bestellen oder im Internet nachzulesen www. UNHCR.de www.un.org/peace/kosovo/pages/kosovo1.htm www..osce.org/kosvo/ FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kriegsflüchtlinge viele von den Serben als Vertreter der albanischen Forderungen verfolgt, so dass für ihren ersten Asylantrag die Roma- oder AschkaliZugehörigkeit nicht relevant war. Zum anderen besteht die Identität vor allem der Aschkali gerade in einer weitgehenden Assimilation an die Albaner (daher auch die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung “Zweite-Hand-Albaner”), sie sprechen albanisch als einzige Muttersprache. Auch Roma haben albanisch oft als zweite Muttersprache, sehen sich zwar als Roma, aber eben auch als den Albanern zugehörig.(...) Außerdem wurden Roma und Aschkali in Kosovo zur Zeit der Autonomie der Provinz bei den Behörden auch oft als Albaner bezeichnet, um die albanische Seite gegenüber der serbischen zu stärken. Deshalb haben sie sich gegenüber Behörden, auch den deutschen, oft aus Gewohnheit als Albaner bezeichnet. Letztendlich ist bei der Entscheidung über eine mögliche Verfolgung in Kosovo auch gar nicht die Selbstwahrnehmung entscheidend, sondern die Wahrnehmung der Albaner. Wer sich zwar bisher nicht als Roma oder Aschkali gefühlt oder bezeichnet hat, dessen Verwandte aber in den letzten Monaten aus Kosovo vertrieben wurden, wäre bei einer Rückkehr nach Kosovo eindeutig gefährdet. Diese Frage sollte bei der Rechtsberatung in den Vordergrund gestellt werden.” Selbst wenn es gelingt, die RomaVolkszugehörigkeit nachzuweisen, ist eine behördliche oder gerichtliche Anerkennung von Abschiebungshindernissen jedoch wenig wahrscheinlich. Die niedersächsische Rechtssprechung ist in dieser Hinsicht bisher alles andere als ermutigend. In einer Entscheidung über einen Zulassungsantrag urteilt das OVG Lüneburg, dass die UNMIK bzw. KFOR in der Lage sei, die Roma zu schützen: “Auch ist allgemeinkundig, dass UNMIK einschließlich der ihr zur Verfügung stehenden internationalen Polizeitruppe - und KFOR die Bevölkerungsgruppe der Roma mit allen ihnen an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es kann nicht die Rede davon sein, UNMIK und KFOR seien zur Schutzgewährung nicht bereit, sie sind auch zur Schutzgewährung prinzipiell in der Lage, wenn es auch zu Übergriffen gegen Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Roma kommt.” Eine “extreme Gefahrenlage” existiere für die Roma nicht. Sollte sich diese Rechtsprechung durchsetzen, bleibt den Betroffenen nur die Hoffung, dass die UNMIK sich auch weiterhin weigern wird, Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo aufzunehmen. Kosovo: Wie entlarve ich einen falschen Roma? Erlass des Innenministeriums Niedersachsens vom 10.5.2000 Kai Weber R oma, Ashkali und andere ethnische Minderheiten dürfen zur Zeit - im Gegensatz zu ethnischen Albanern - nicht in den Kosovo abgeschoben werden. Aber wer ist Roma? Sorgenvoll reibt sich der pflichtbewusste Beamte die Stirn. Könnte es nicht sein, dass sich der eine oder andere nur als Roma ausgibt, um nicht abgeschoben zu werden? Wie also Roma und Albaner unterscheiden? Das Problem ist nicht neu: Schon Mitte der 90er Jahre betätigten sich mancher Mitarbeiter von Ausländerbehörden als Rassenkundler, um Albaner und Roma auch ordentlich auseinander zu halten. „Die o.g. Familie hat bei Asylantragstellung angegeben, KosovoAlbaner zu sein“. heißt es etwa in einem Schreiben der Ausländerbehörde des Landkreises LüchowDannenberg an das Bundesamt Ende 1996. „Das äußere physiognomische Aussehen sowie die Unterschrift im Pass (kyrillisch) weisen deutlich auf Romazugehörigkeit hin“ (s. FLÜCHTLINGSRAT Heft 60/61) Ging es freilich damals darum, Roma-Flüchtlinge zu entlarven, die sich als Albaner ausgaben, um als politisch Verfolgte Anerkennung zu finden (Kosovo-Albaner wurden damals - im Gegensatz zu Roma als Gruppenverfolgte anerkannt), geht es jetzt um die Entdeckung angeblich „falscher“ Roma. Wie 1996 gehen die Behörden dabei selbstverständlich davon aus, zwischen beiden Gruppen sei eine klare Unterscheidung möglich. Dem widerspricht die Balkanethnologin Stephanie Schwanders-Sievers aus Berlin, die in einem Gutachten bereits am 16.3.97 festgestellt hat: „Die Fragen der deutschen Seite sind auf einen idealen Asylbewerber gerichtet, der gebildet und Akteur der nationalalbanischen Bewegung ist. Eine klare ethnische Trennung nach hiesigen Maßstäben liegt im Kosovo zwischen assimilierten (ashkali-) Roma und Albanern nicht vor. Serbische Repressionen gegenüber albanischer Bevölkerung aber differenzieren nicht politisch, sondern sind bekanntermaßen in allen Lebensbereichen und im alltäglich dörflichen Kontext zu finden. ... Die moderne Ethnologie untersucht Ethnizität, wie eingangs angeführt und angelehnt an gesellschaftliche Realitäten, als dynamischen Prozess der Zuschreibung und Ausgrenzung und betrachtet sie nicht mehr - wie ihre wissenschaftlichen Väter im Dritten Reich - als einen unwandelbaren, naturgegebenen Zustand. ...“ Gerade im nationalistisch aufgeheizten Klima, das zur Zeit im Kosovo vorherrscht, kann ein Flüchtling schnell zum Roma gemacht werden, selbst wenn er sich bislang nicht als solcher definierte. Es 71 Kriegsflüchtlinge ist insofern nachvollziehbar, dass Kosovaren, die sich bislang als Albaner betrachteten, es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen, aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale oder Verwandtschaften als „Roma“ wahrgenommen und verfolgt zu werden. Ungeachtet solcher wissenschaftlicher Erkenntnisse und unbeirrt zierungen darauf bestehen, einer ethnischen Minderheit anzugehören, durchaus darauf hoffen, im Kosovo nicht aufgenommen und wieder nach Deutschland zurückgeschickt zu werden. Das niedersächsische Innenministerium rät deshalb dazu, „Verfügungen, Gerichtsbeschlüsse etc. , aus denen sich die Gründe für die Nichtanerkennung der Zugehörigkeit zu dem Ergebnis besprochen worden: Trägt ein Ausländer, der in einem vorangegangenen Asylverfahren angegeben hatte, Kosovo-Albaner zu sein, jetzt vor, er sei Roma, so ist das als Vorbringen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 AuslG zu werten, für dessen Prüfung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig ist. Der Ausländer ist daher unter Setzung einer angemessenen Frist und Hinweis auf §70 AuslG auf die Möglichkeit zu verweisen, eine Änderung der ablehnenden Bundesamtsentscheidung zu § 53 AuslG zu beantragen. Wird von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht, ist das Vorbringen als bloße Schutzbehauptung zu werten. durch die Entschließung des Bundestags, bei Abschiebungen in den Kosovo zurückhaltender zu agieren, hält das niedersächsische Innenministerium jedoch daran fest, alle Albaner jetzt möglichst schnell in den Kosovo abzuschieben. Flüchtlinge, die sich als Roma bezeichnen, sollen möglichst an die Zuständigkeit des Bundesamtes verwiesen werden. Wenn dies nicht möglich ist, soll die RomaZugehörigkeit nach dem Willen des Landes durch den Verband Deutscher Sinti e.V. und anderer Vereine überprüft werden. Unklar bleibt, warum sich auch Betroffenenverbände dafür hergeben, derartige Klassifizierungen in „Roma“ und „Nicht-Roma“ vorzunehmen. Allerdings traut das Land der Seriosität dieser Vereine und Verbände offenbar nicht so recht: Das Innenministerium weist ausdrücklich auf die Schwierigkeiten hin, „trotz vorgelegter Bescheinigung einer der Vereine“ einen als „unglaubwürdig“ eingeschätzten Flüchtling in den Kosovo abzuschieben. Da die UNMIK die Aufnahme von Albanern, die nicht aus dem Kosovo stammen, gegenwärtig ebenso ablehnt wie Angehörige ethnischer Minderheiten, können Betroffene, die entgegen staatlichen Klassifi72 einer ethnischen Minderheit ergeben, den Abschiebungsunterlagen in Kopie“ beizufügen, und vertraut ansonsten auf die Arbeit eines „deutschen Vermittlungsbeamten in Pristina“. Wer Roma ist und wer nicht, erkennt ein deutscher Beamter bekanntlich am besten. Der Erlass des MI vom 10.5.2000, der vom Land nicht veröffentlicht wurde, trägt die Überschrift „Überprüfung der behaupteten Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten“ und hat folgenden Wortlaut: „Aus Anlass der mit dem Bezugserlass [vom 7.4.2000] getroffenen Regelungen ist immer wieder die Frage an mich herangetragen worden, wie sich die behauptete Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, insbesondere zu den Roma, zuverlässig überprüfen lasse. Insbesondere in den Fällen, in denen Betroffene, die in der Vergangenheit stets erklärt hatten, Kosovo-Albaner zu sein, jetzt vortragen, sie seien Roma, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine bloße Schutzbehauptung handele. Das Problem ist auf der letzten Sitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rückführung“ mit folgen- Nur in den Fällen, in denen ein Asylverfahren nicht durchgeführt worden ist und das Vorbringen auch nicht als Asylgesuch nach §13 AsylVfG mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen (§18 AsylVfG) zu werten ist, hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob der Vortrag, Roma zu sein, glaubwürdig ist. Zu dieser Frage verweise ich auf die beigefügte Kurzinformation des Bundesamtes, insbesondere auf Abschnitt 3 (Asylrechtliche Würdigung von Bescheinigungen). Weitergehende Aussagen zur Zuverlässigkeit derartiger Bescheinigungen und Seriosität der ausstellenden Vereine sind zu meinem Bedauern nicht möglich. Ich weise darauf hin, dass neben den in der Kurzinformation des Bundesamtes angegebenen Vereinen auch der Niedersächsische Verband Deutscher Sinti e.V., Schaumburger Str. 3, 30419 Hannover, bereit ist, eine Überprüfung kostenlos vorzunehmen. Möglich sein wird dies jedoch nur bei solchen Personen, die die Sprache Romani beherrschen. Bevor an diesen Verband verwiesen wird, sollte unbedingt vorab telefonisch geklärt werden, ob eine Überprüfung möglich ist (Tel. 0511/ 796061, Herr Ohl). FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kriegsflüchtlinge tion zu Kultur, Geschichte und Identität der Albaner und Roma im Kosovo herausgegeben hat, die einen Fragenkatalog zur Prüfung der Herkunft beinhaltet. Die Information kann für den Dienstgebrauch angefordert werden unter Tel. (0911) 943-5100/ Fax 5199.“ Wird der Vortrag, zu einer ethnischen Minderheit zu gehören, trotz vorgelegter Bescheinigung einer der Vereine als unglaubwürdig bewertet, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es im Falle einer Abschiebung zu massiven Problemen bis hin zur Einreiseverweigerung kommt. allerdings ist inzwischen ein deutscher Verbindungsbeamter in Pristina tätig, der sich in diesen Fällen um Vermittlung bemühen wird. Dies erfordert allerdings, dass Verfügungen, Ge- richtsbeschlüsse etc., aus denen sich die Gründe für die Nichtanerkennung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit ergeben, den Abschiebungsunterlagen in Kopie beigefügt werden. Auch dann ist eine erfolgreiche Rückführung aber nicht garantiert; die Erfahrungen mit diesem Verfahren werden zeigen, ob es beibehalten werden kann oder nicht. VG Lüneburg: Abschiebungsschutz für Roma und Ashkali aus dem Kosovo Ergänzend weise ich darauf hin, dass das Bundesamt eine Informa- (Weitere Erlasse zum Kosovo - zu „Rückkehrprämien“ und „Rückführung“ - siehe unter Erlasse) Kai Weber A uch Roma und Ashkali, die sich als “Albaner” identifiziert haben, können bedroht sein, entscheidet das Verwaltungsgericht Lüneburg am 16. Mai 2000 in zwei bemerkenswerten Entscheidungen (Az. 7 A 602/97 und 7 A 533/97). Roma-Flüchtlingen, deren Asylanträge rechtskräftig abgelehnt worden waren, wurde damit Abschiebungsschutz nach §53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gewährt. es nicht unglaubhaft, wenn der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, er habe sich stets als Albaner gefühlt und es sei nicht maßgeblich gewesen, ob er Rom sei oder nicht. ... Er hat ... nachvollziehbar und glaubhaft bekundet, die Frage der Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe habe erst Bedeutung erlangt, nachdem die Verhältnisse im Kosovo sich verändert hätten.” In der Begründung führt die zuständige Richterin aus, sie sei überzeugt, dass die Kläger Angehörige des Volks der Roma bzw. der Ashkali sind, denn: “Bei den Roma im Kosovo handelt es sich nicht um eine einheitliche Gruppe. ... Während die sogenannten “ethnischen Roma” sich stets selbst als Roma identifiziert haben, haben sich die Ashkali stets als Albaner identifiziert und nahe der albanischen Bevölkerung gelebt, obschon sie von den ethnischen Albanern gesondert behandelt werden. ... Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die frühere Behauptung der Kläger, sie seien albanische Volkszugehörige, zu sehen. Sie steht der Einschätzung, dass es sich vorliegend um Angehörige der Roma - hier der Ashkali - handelt, nicht entgegen. Denn die assimilierten “albanischen Roma” sind aufgrund der albanischen Sprache, muslimischen Religion und kulturellen Assimilation aus der serbischen Außensicht ethnisch nicht von anderen Albanern zu unterscheiden. Deshalb ist Im Folgenden führt die Richterin sodann aus, warum die Betroffenen entsprechend den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts “gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der ex- tremen Gefahr ausgesetzt wären, mangels ausreichender Existenzmöglichkeit an Hunger oder Krankheit zu sterben” (Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BBerwGE 99, 324). Auch eine inländische Fluchtalternative verneint das Gericht. Das Niedersächsische OVG habe in seinem Beschluss vom 30. März 2000 (Az. 12 L 4192/99) eine derartige extreme Gefahr verneint, die gegenteilige Einschätzung „des UNHCR von diesem Tag dürfte dem OVG jedoch bei seiner Entscheidung noch nicht bekannt gewesen sein“. (Die Urteile bzw. eine kurze Zusammenfassung können bei der Geschäftsstelle abgerufen werden) Niedersachsen: abgeschobene Roma zurückholen? (Red.) Am 3. August wurde eine Roma-Familie mit drei erwachsenen Söhnen aus Duderstadt (Niedersachsen) nach Kosov@ abgeschoben, obwohl ein Familienmitglied im Vorstand der Organisation Roma Union Pralipe ist. Der Landkreis Northeim hatte trotz schriftlicher Bestätigung ihre Roma-Zugehörigkeit nicht geglaubt, denn die Familie hatte - wie so viele andere - erst vor kurzem ihre Identität als Roma preisgegeben. Vorher hatten sie als muslimische Bosnier sowie einmal als Kosovo-Albaner einen Asylantrag gestellt. Nach ihrer Ankunft in Pristina wurde die Roma-Familie aus Duderstadt beschimpft und bedroht, der UNHCR vor Ort nahm sie unter seinen Schutz, weil die “Si- cherheit der Familie nicht gewährleistet” sei. Die Gesellschaft für bedrohte Völker hatte heftig gegen die bevorstehende Abschiebung protestiert. Das niedersächsische Innenministerium hatte sich bis zum 7.8. noch hinter die Abschiebungsentscheidung des Landkreises gestellt, am 8.8. stimmte das MI aber einer Wiedereinreise der Abgeschobenen zu, weil es die Gefährdung der Familie nicht verantworten wolle. Die Familie sollte eine Aufenthaltsbefugnis erhalten. Mittlerweile war die Familie aber vom UNHCR in einem UNHCR-Flüchtlingslager bei Sarajevo untergebracht worden - und das Nds. Innenministerium sieht keine Notwendigkeit mehr, die Familie zurückzuholen, denn in dem Lager seien sie doch vor Übergriffen geschützt. 73 Kriegsflüchtlinge Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten Der Bundestag hat am 30. Juni 2000 einstimmig folgenden Antrag beschlossen: I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: Krieg und Genozid im ehemaligen Jugoslawien haben Anfang der 90er Jahre mehr als 350.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Bosnien und Herzegowina nach Deutschland gebracht. Es bestand Einigkeit, dass der Großteil nicht auf immer, sondern auf Zeit verbleiben sollte und, sowie es die Situation zulässt, wieder in seine Heimat zurückkehren sollte. Die Rückkehr der Flüchtlinge, die ab 1996 einsetzte, ist von den Zahlen her beeindruckend. Über 300.000 sind aus Deutschland wieder ausgereist. Dabei gab es hervorragende Projekte und abgestimmte Maßnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, welche diese Rückkehr erleichtert haben. Die Innenministerkonferenz hat sich größtenteils daran gehalten, dass sog. “Problemgruppen” vorerst nicht zur Ausreise aufgefordert werden. Die etwa 50.000 verbliebenen Bosnier gehören weitgehend dieser Gruppierung an. Die Innenminister haben zunächst “Problemfälle” von Flüchtlingen bei der Rückführung ausgenommen, z.B. dann, wenn es sich um Traumatisierte, ehemalige Lagerhäftlinge oder Zeugen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag handelte. Diese Personen sind jedoch seit kurzem ebenfalls von zwangsweiser Rückführung bedroht. Auch die Rückkehr der Kosovo-Albaner, die teilweise weit vor der Zeit des Kosovo-Krieges als Gastarbeiter oder als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind, tritt jetzt in ein entscheidendes Stadium. Nach Ankündigungen der Innenminister von Bund und Ländern sollen ausreisepflichtige Personen bis zum Ende des Jahres in den Kosovo “zurückgeführt” werden, wobei mit zwangsweisen Rückführungen in größerem Umfang ab Frühjahr diesen Jahres begonnen werden soll. Ausgenommen werden sollen Angehörige bedrohter Minderheiten wie z.B. Serben, Roma und Aschkali. Seit März/April diesen Jahres wird die überwiegende Mehrheit der heute “geduldeten” Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina oder aus dem Kosovo unterschiedslos aufgefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. In der Praxis wird 74 auf die Zugehörigkeit zu einer bedrohten Minderheit nicht immer Rücksicht genommen. Unberücksichtigt bleibt auch die Frage, ob bei Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen die Rückkehr an den Ort der Verfolgungen zumutbar ist. Im Falle traumatisierter Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina werden z.T. sogar fachärztliche Beurteilungen durch pauschale amtsärztliche Beurteilungen der eigenen Behörden ersetzt; fachärztliche Diagnosen werden dadurch gegenstandslos. II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich - auch gegenüber den Bundesländern - dafür einzusetzen, dass gegenüber folgendem Personenkreis in Zukunft keine Ausreiseaufforderungen verbunden mit der Androhung der Abschiebung ausgesprochen werden, und falls bereits Ausreiseaufforderungen ergangen sind, diese widerrufen werden: 2. Roma und Aschkali, die überall Minderheit und fast überall Gejagte sind. Im Rahmen einer Einzelfallprüfung, die mit den Behörden des Heimatlandes und den internationalen Organisationen vor Ort abgestimmt werden sollten, müssen aus unserer Sicht folgende Minimalkriterien berücksichtigt werden: 1. Die Sicherheit für Rückkehrwillige, die einer ethnischen/religiösen Minderheit angehören. 2. Die Sicherheit vor Minen. 3. Die Existenzmöglichkeit für die Person oder Familie, um ein Mindestmaß sozialer Überlebenschancen zu gewährleisten. 4. Der Zustand des Gebäudes im Heimatort, in das die Person zurückkehren soll bzw. geplante oder schon durchgeführte Rekonstruktionsprogramme. 1. Behinderte, Kranke, alleinstehende Alte, Mütter mit Kleinkindern sowie unbegleitete Minderjährige 2. Traumatisierte mit fachärztlicher Beurteilung 3. Ehepaare, die verschiedenen Ethnien angehören und deshalb jetzt in ihrer früheren Heimat nicht gemeinsam leben können 4. Lagerinsassen, die während des Bürgerkriegs oder des Genozids inhaftiert waren 5. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die sich der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Aggressionen und Verbrechen entzogen haben 6. Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen, insbesondere des Haager Tribunals 7. Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind und die weitgehend integriert sind Für Personen, die aus den oben genannten Gründen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können, müssen nach einer Einzelfallprüfung, die mit Kenntnis der tatsächlichen Situation vor Ort erfolgen muss, Möglichkeiten für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesicherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden. Traumatisierte mit fachärztlicher Beurteilung, Lagerinsassen und integrierte Jugendliche sollten auch eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung bekommen. Insofern wird der Bundesinnenminister aufgefordert, die gegenwärtige Praxis der Innenminister der Länder durch die Möglichkeit eines dauerhaften Bleiberechts zu ergänzen, also entsprechende Empfehlungen in die Innenministerkonferenz einzubringen. Auch sollte ihnen unverzüglich die Erwerbsmöglichkeit gestattet werden, die am stärksten zur Integration führt und insbesondere den jungen Menschen eine eigenständige Lebensperspektive bietet. sich einzusetzen, dass folgende Gruppen wegen der Verhältnisse vor Ort von den Ausreiseaufforderungen ausgenommen werden, sofern die Betroffenen nicht freiwillig zurückkehren wollen: Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Schwarz-Schilling, Heide Mattischeck, Claudia Roth (Augsburg), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ....(sowie 226 weitere Abgeordnete)... 1. Minderheiten, deren Heimat früher oder erst heute mehrheitlich von einer anderen Ethnie bewohnt werden, die sich gegen die Rückkehr dieser heutigen Minderheit wehrt. Aus: Deutscher Bundestag; 14. Wahlperiode; Drucksache 14/3729; 30.06.2000 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kriegsflüchtlinge In-Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik Die Praxis Kai Weber (Red.) Die 70jährige Kosovarin Frau R., die seit 8 Jahren in Deutschland lebt, soll aus dem Ostfriesland abgeschoben werden. Auf Flüchtlinge wie Frau R. bezog sich die Bundestags-Entschließung für humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik, doch nützt ihr der einstimmige Beschluss wenig. Die einstimmige Entschließung quer durch alle Fraktionen ist als politische Willensbekundung und demonstrativer Akt ungewöhnlich. Wenn daraus jedoch keine praktischen Konsequenzen für die Flüchtlingspolitik resultieren, entlarvt sich die Resolution als doppelmoralische Legitimations-Kulisse. Für das gute Gewissen, als sanftes Ruhekissen, auf dem eine Härtefallklausel weiterhin ausgesessen und die Abschiebepolitik gnadenlos vollzogen wird.. Frau R. hat in ihrer Heimatstadt Pec sowie im restlichen Kosovo keine sozialen Bindungen mehr. Ihr Mann starb 1995. Drei Kinder sind im Kosovo getötet worden, eine Tochter starb in Bosnien. Ihre noch lebenden Kinder halten sich in Deutschland oder in den USA auf. Frau R. besitzt keine finanziellen Rücklagen und ist aufgrund ihres hohen Alters nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie hat weder ein Haus noch eine Wohnung und wäre im Kosovo ganz auf sich allein gestellt. Damit träfen für sie die neuen „Humanitären Grundsätze in der Flüchtlingspolitik“ (Beschlusstext siehe oben) idealtypisch zu. Frau R. würde unter Ziffer II des Beschlusses fallen. Danach sollen „gegenüber folgendem Personenkreis in Zukunft keine Ausreiseaufforderung verbunden mit der Androhung der Abschiebung ausgesprochen werden, und falls bereits Ausreiseaufforderungen ergangen sind, diese widerrufen werden: 1. Behinderte, Kranke, alleinstehende Alte, Mütter mit Kleinkin- dern sowie unbegleitete Minderjährige“. (...) Im Rahmen einer Einzellfallprüfung, die mit den Behörden des Heimatlandes und den Internationalen Organisationen vor Ort abgestimmt werden sollten, müssen aus unserer Sicht folgende Minimalkriterien berücksichtigt werden: (...) 3. Die Existenzmöglichkeit für die Person oder Familie, um ein Mindestmaß an sozialer Überlebenschancen zu gewährleisten. den zu einem Verzicht auf Abschiebungen anhalte, jedoch das Ausländergesetz unangetastet lasse, welches einen Vollzug rechtlich möglicher Abschiebungen zwingend vorsehe. Darüber hinaus verweist das niedersächsische Innenministerium auf die Beschlusslage der IMK vom 19.11.99, auf der ei- 4. Der Zustand des Gebäudes im Heimatort, in das die Person zurückkehren soll bzw. geplante oder schon durchgeführte Rekonstruktionsprogramme. Für Personen, die aus oben genannten Gründen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können, müssen nach Einzelfallprüfung, die mit Kenntnissen der tatsächlichen Situation vor Ort erfolgen muss, Möglichkeiten für einen längerfristigen Aufenthalt mit gesichertem Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden (...).“ Am 16.04.1997 schon war eine Landtagseingabe für Frau R. gestellt worden. Diese wurde am 28.03.1998 unter Hinweis auf die amtsärztlich festgestellte Reisefähigkeit abgelehnt. Angesprochen auf die oben zitierte Entschließung des Deutschen Bundestags erklärte das niedersächsische Innenministerium gegenüber dem niedersächsischen Flüchtlingsrat vor zwei Wochen lediglich, diese habe auf die konkrete Abschiebungspraxis keine Auswirkungen. Es könne nicht angehen, so das Innenministerium zur Begründung, dass der Gesetzgeber die Behör- Foto: 3.Wlt Saar ne „konsequente Rückführung“ aller Kosovo-Albaner verabredet worden sei. Auch Frau R. hat mittlerweile (4.7.2000) eine Abschiebungsandrohung erhalten. Der Flüchtlingsrat hat unter Verweis auf den wörtlichen Text der Bundestagsentschließung eine Petition beim niedersächsischen Landtag eingereicht und aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland eingefordert. Darin heißt es: „Wir können nicht glauben, dass der einstimmig gefasste Beschluss des Deutschen Bundestags vom 6.7.2000 ohne jede Bedeutung für die alltägliche Praxis bleibt, und möchten Sie bitten zu prüfen, ob hier - ggfs. in Form eines Wiederaufgreifens des Verfahrens auf Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG durch das Bundesamt - eine erneute Einzelfallprüfung im Sinne des Bundestags-Beschlusses herbeigeführt werden kann. 75 Kriegsflüchtlinge Roma aus dem Kosovo: Im Zweifel für die Abschiebung? Theoretischer Abschiebeschutz, niedersächsische Realität Rechtsanwältin Christina Bremme , Bremen An den niedersächsischen Innenminister Sehr geehrte Damen und Herren, auf Anregung der Gesellschaft für bedrohte Völker möchte ich Ihnen die Bedrohung durch eine mögliche Abschiebung der Familien XXXX (zwei Erwachsene und vier Kinder) und YYYY (ebenfalls zwei Erwachsene und vier Kinder) aus dem Landkreis Diepholz schildern. 76 Eilverfahren vortragen müssen (obwohl sie seinerzeit als Albaner verfolgt wurden – die Sachlage ist Ihnen bekannt). Die Gerichtsverfahren sind nach wie vor anhängig, alle Personen werden (noch) geduldet, wobei nur noch kurzfristige Duldungen erteilt werden, z.T. mit dem Zusatz: „freiwillige Ausreise soll ermöglicht werden“. Beide Familien hatten im ersten Asylverfahren hier angegeben, Albaner zu sein. Nachdem im Sommer 1999 immer schlimmere Nachrichten über die Verfolgung von Roma im Kosovo bekannt wurden, stellten beide Familien im Frühherbst Asylfolgeanträge, die jeweils abgelehnt wurden. Hiergegen wurde Klage vor dem VG Hannover erhoben, Verbunden mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 V VWGO. Bereits im November 1999 lehnte das Gericht alle Eilanträge ab. Die Entscheidungen stützen sich dabei hauptsächlich auf die verbesserte Situation im Kosovo, die die Verfolgung ethnischer Albaner beendet habe. Soweit die Antragsteller nunmehr vortragen, Roma zu sein, so sei dies sowohl unglaubhaft als auch verspätet, denn sie hätten diese Tatsache bereits im Das zuständige Ausländeramt hat beide Familien versucht, zu einer „freiwilligen“ Ausreise zu ermuntern und verweist ebenfalls in beiden Fällen darauf, die Familien sollten unter Nachweis ihrer Identität als Roma Asylfolgeanträge stellen, obwohl dort bekannt ist, dass dies bereits geschehen ist. Beide Familien haben eine Bescheinigung des Schalomdiakons Nicolaus von Holtey über ihre Zugehörigkeit zu den Roma vorgelegt, was die zuständigen Sachbearbeiter jedoch nur zu der Bemerkung veranlasste, für das Ausländeramt seien sie nach wie vor Albaner. Es wurde ihnen zwar mitgeteilt, sie müssten ihre ethnische Zugehörigkeit nachweisen, jedoch nicht bekannt gegeben, wie und wo eine solche Bescheinigung zu erlangen wäre. Duldungen werden nur noch kurzfristig erteilt. Asyl für jugoslawische Deserteure! nach § 51 Absatz 1 Ausländergesetz kommen und Bleiberecht erhalten. Die Bundesregierung einem Antrag der PDS auf Asyl für jugoslawische Deserteure am 10.5. 2000 zugestimmt. Innenminister Schily hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge angewiesen, entsprechend zu verfahren. Etwa 250 Kriegsdienstverweigerer aus dem früheren Jugoslawien sowie etwa 130 Deserteure werden vermutlich in den Genuss des sog. “kleinen Asyls” Die PDS sieht darin ein ermutigendes Signal auch für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer anderer Armeen, z.B. für kurdische Deserteure in der türkischen Armee und für russische Deserteure, die am Tschetschenien-Krieg nicht teilnehmen wollen. Bisher hat- Letztlich haben beide Familien keine Möglichkeit, der Abschiebung zu entgehen, denn im Hinblick auf die Entscheidung des Nieders. OVG vom 08.03.2000 (12 L 778/00), in dem Roma aus dem Kosovo sowohl der Flüchtlingsstatus nach § 51 AuslG, als auch die Feststellung von Abschiebehindernissen nach § 53 AuslG versagt wird, entfällt auch die Möglichkeit, einen neuen Eilantrag bei Gericht unter Hinweis auf die vorliegenden (neuen) Stellungnahmen des UNHCR sowie des aktuellen Rundschreibens des BMI zu stellen. Im Hinblick hierauf wird auch das Bundesamt keine anderweitige Entscheidung fällen. Auf Anfrage hat mir das UNHCR in Berlin bestätigt, dass eine Übernahme der betroffenen Familien durch die Behörden im Kosovo nicht geschehen wird. Eine Abschrift dieses Schreibens wird daher an das UNHCR sowie auch an die Niedersächsische Ausländerbeauftragte versandt werden. Zwischenzeitlich liegen mir auch Bescheinigungen des Niedersächsischen Deutscher Sinti e.V. über die ethnische Zugehörigkeit zum Volk der Roma vor, die ich in der Anlage in Kopie beifüge (Originale liegen mir vor). Diese Vorgehensweise ist von Ihrem Ministerium selbst vorgeschlagen worden. Andere Möglichkeiten des Nachweises stehen meines Wissens nach nicht zur Verfügung. Entgegen dem eindeutigen Beschluss der IMK sollen aus Ihrem Land Angehörige der verfolgten Minderheit der Roma in den Kosovo abgeschoben werden. Diese Tatsache wird auch in der Öffentlichkeit nicht ohne Reaktion bleiben. ten sich deutsche Asylbehörden beharrlich geweigert, Desertion als Asylgrund anzuerkennen. Foto: Michael Brockhaus FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz Asylbewerberleistungsgesetz Rassismus und Gewalt: Flüchtlingsproteste bundesweit aus: mailinglist kein mensch ist illegal; Pro Asyl InfoNetz, Zusammenstellung der Redaktion (Red.) In verschiedenen Städten der Bundesrepublik finden zur Zeit Proteste und Hungerstreiks von Flüchtlingen gegen ihre Lebensbedingungen und rassistische Behandlung statt. Die Proteste richten sich sowohl gegen das Asylbewerberleistungsgesetz (Gutscheine oder Fresspakete statt Bargeld, unzureichende medizinische Versorgung) als auch gegen die Residenzpflicht, die Flüchtlinge dazu zwingt sich innerhalb bestimmter Ortschaften aufzuhalten. Während die Debatte um Rechtsextremismus bundesweit großes Thema in den Medien ist, sind die Flüchtlingsproteste nur in den Lokalmedien präsent – wenn überhaupt. Werden Flüchtlinge gefragt zu ihren Erfahrungen mit Rassismus und Gewalt, sind sie es, die die Verbindung aufzeigen zu staatlicher Flüchtlingspolitik, zum „Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft“. Die Prozesse alltäglicher Ausgrenzung, Abwertung und Stigmatisierung, die sie zur Ziel- scheibe rassistischer Gewalt stilisieren, erleben sie täglich am eigenen Leib. Im folgenden dokumentieren wir die uns bekannten Proteste. Leipzig und andere Orte in Sachsen Kahina e.V. Alle 1500 BewohnerInnen der Leipziger Asylbewerberheime protestierten in den letzten Monaten gegen ihre rassistische Sonderbehandlung. Als den Flüchtlingen im Asylheim Liliensteinstraße 15/Grünau, die nach § 2 Abs.1 Bargeld statt Sachleistungen bekommen könnten, Anfang Juni 2000 wieder Pakete angeliefert wurden, traten sie in einen Streik: Sie verweigerten die Paketannahme sowie die Annahme des Taschengeldes. 10 Tage lang verweigerten mehrere Flüchtlinge die Nahrungsaufnahme. Dem Streik in Grünau schlossen sich auch zahlreiche Flüchtlinge in anderen Asylheimen an, so in Taucha, Markkleeberg, Raschwitzer Straße usw. In Taucha, ein Heim, wo die Flüchtlinge durch ein Magazin versorgt werden, befanden sich 10 Flüchtlinge über zwei Wochen lang im Hungerstreik. Eine Frau musste stationär im Krankenhaus behandelt werden. Flüchtlinge in der Torgauer Straße verliehen durch eine Straßenblockade ihren Forderungen Nachdruck. In den Heimen bildeten die Flüchtlinge Räte zur Leitung der Aktionen. Mitte Juni wurde einer der Sprecher aus Grünau gewaltsam durch die Polizei in ein Asylheim nach Grimma umverteilt. Am 8. Juni einigten sich das Regierungspräsidium und die Stadt Leipzig darauf, den Flüchtlingen der betreffenden Personengruppe (§2 Abs.1) die Sozialhilfe auszuzahlen. 77 Asylbewerberleistungsgesetz Allerdings beinhaltete der Kompromiss die Einschränkung, dass nur Flüchtlinge mit einer Aufenthaltsgestattung, d.h. die deren Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, Bargeld erhalten. Wer eine Duldung hat, dessen Fall müsse überprüft werden, und zwar dahingehend, ob delegierte Flüchtlinge den Vertreter/inne/n von elektronischen und Printmedien ihre Forderungen erläuterten. Am 6.Juli fand eine Demonstration durch die Stadt Leipzig statt. Mehr als 600 Flüchtlinge und Unterstützer/innen beteiligten sich an dieser Demonstration. Foto: Karawane die derzeitige tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise selbst verschuldet ist oder nicht. Eine Überprüfung fand bis Ende Juni noch immer nicht statt. So erhielten von über 1000 Flüchtlingen nicht einmal 100 Flüchtlinge Bargeld. Die anderen Flüchtlinge sind “geduldete”, d.h. das Verfahren ist rechtskräftig abgeschlossen und aus humanitären, rechtlichen oder persönlichen Gründen kann keine Abschiebung erfolgen. Das betrifft z.B. zahlreiche Flüchtlinge aus Afghanistan, Libanon und Jugoslawien. Ende Juni schlossen sich immer mehr Flüchtlinge zusammen und bildeten ein die Heime übergreifendes Koordinierungsgremium. Das Koordinierungsgremium beschloss, in der ersten Juliwoche verschiedene Aktionen zu machen. Es wurde ein Forderungskatalog ausgearbeitet, der eine Arbeitserlaubnis für alle, Bargeld statt Sachleistungen für arbeitslose Flüchtlinge, kostenlose Deutschkurse, die Abschaffung der Residenzpflicht, freie Arztwahl und eine Verbesserung der Wohnbedingungen beinhaltet. Am 3.Juli wurde gemeinsam wieder ein Paketannahmestreik ausgerufen. Am 3.Juli fand eine Pressekonferenz statt, auf der 78 Bisherige Ergebnisse Die Streiks und die Gespräche der PDS-Abgeordneten mögen bewirkt haben, dass der sächsische Innenminister Klaus Hardrath öffentlich überlegte bereit zu sein, Gutscheine statt Pakete zu gewähren. Das erste Mal ist es gelungen, nicht nur die Flüchtlinge eines einzelnen Asylheims in Leipzig und Umgebung zu mobilisieren, sondern die Flüchtlinge mehrerer Heime. Dabei liegen Initiative und die Koordinierung der Aktionen in den Händen der Flüchtlinge. Erstmals ist es gelungen, in einem hohen Maße die lokale und regionale Presse für die Belange der Flüchtlinge zu interessieren. Die PDS/Sachsen engagiert sich in einem bisher nicht dagewesenen Maße für die Belange der Flüchtlinge. Die Bereitschaft linker Kreise in Leipzig, die Flüchtlinge zu unterstützen, ist relativ groß, was sich in den Spenden und in der Beteiligung an der Demonstration am 6.Juli niederschlägt. Wichtig ist zu bemerken, dass die Aktionen mit der Forderung nach Geld-stattSachleistungen begonnen haben und zu der Hauptforderung “Arbeitserlaubnis” fanden. Der Koordinierungsrat der Flüchtlinge lehnt es außerdem ab, eine Trennung zwischen Flüchtlingen entspre- chend der Aufenthaltstitel vorzunehmen. Der Forderungskatalog gilt für alle. Probleme Nach der Demonstration wächst der Druck auf einzelne Flüchtlinge, die sich besonders engagieren. Im Heim Torgauer Straße luden Wohnungsamt und Heimleitung einzelne Flüchtlinge vor. Sie sollten bei einem Termin, an dem die Ausländerbehörde sowie eine SPD-Abgeordnete der Landtagsfraktion Sachsen teilnahmen, Rechtfertigung über ihre Aktivitäten ablegen. Ihnen wird Verstoß gegen die Heimordnung vorgeworfen. Dieser Vorwurf wird damit begründet, dass diese Personen andere Flüchtlinge aufgehetzt hätten sowie dass sie die Kantine, in der die Gemeinschaftsverpflegung geschieht, geschlossen hätten. Im übrigen kann nach mehrmaliger Ermahnung eine zwangsweise Umverteilung erfolgen. Angesichts der ablehnenden Haltung des Leipziger Regierungspräsidiums herrscht unter den Flüchtlingen momentan Uneinigkeit darüber, welche Forderung sie fortan in den Mittelpunkt stellen sollen, d.h. was überhaupt realistisch ist. Außerdem gibt es sehr verschiedene Ansichten darüber, mit welchen Aktionsformen den Forderungen Nachdruck verliehen werden sollte. Der Leipziger Flüchtlingsrat hält die Forderungen der Flüchtlinge für zu weitgehend und stellt sich deshalb nicht hinter den gesamten Katalog. Die aktivsten Unterstützer/innen der Flüchtlinge, nämlich einige PDS-Abgeordnete sowie der Verein Kahina werden bereits von verschiedenen Stellen angefeindet, die eigentlichen “Drahtzieher” der Aktionen zu sein. Hinter diesem Vorwurf versteckt sich neben parteipolitischen Ambitionen auch ein latenter Rassismus: Flüchtlinge seien angeblich nicht in der Lage, selbst Aktivitäten zu entwickeln und zu koordinieren. Perspektiven Das momentane Interesse der Presse muss genutzt werden, um systematisch die unmenschlichen Verhältnisse in den Asylheimen öffentlich zu machen. Forderungen wie die nach Aufhebung der Resi- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz denzpflicht und die nach einer Arbeitserlaubnis für alle müssen in einen bundesweiten Kontext gestellt werden. Die Flüchtlinge müssen eine Struktur aufbauen, mit der sie auch noch in den nächsten Monaten agieren können. Es muss tatsächliche Unterstützung über den bisherigen Unterstützerkreis hinaus gefunden werden. Grimma Den Leipziger Aufständen gegen unzumutbaren Lebensbedingungen und gegen die Lebensmittelversorgung (Gutscheine, Fresspakete, überteuerte Waren) schließen sich auch Flüchtlinge in anderen sächsischen Heimen an: in Doberschütz und Eilenburg, in Chemnitz und auch in Grimma. Hier befinden sich ebenfalls Flüchtlinge im Hungerstreik gegen die Ausgabe von Gutscheinen und die rassistische Behandlung. Auch Schwangere und Kinder beteiligen sich an dem Protest. - Wir wollen keine Esspakete, die schon stinken - Wir verlangen ein Taschengeld, mit dem wir unseren Bedarf auch decken können. - Wir fordern mehr Sauberkeit und Hygiene im Heim. Die Gesundheit unserer Kinder steht auf dem Spiel. - Die Flüchtlingskinder, die in die Schule gehen, bleiben wegen der schlechten Lebensumstände im Heim hinter den anderen Kindern zurück - Wir verlangen die Aufhebung des Verbots den Landkreis zu verlassen. - Wir verlangen die Aufhebung der Gebühren für die Bewilligung, die man zum Verlassen des Landkreises braucht. Singen, den 15.5.2000 In anderen Gemeinden ist es durch Protest gelungen, Druck auf die Stadt auszuüben, so dass dort wieder Gutscheine bzw. Geld eingeführt wurden. Deswegen ist es notwendig, vielfältig gegen diese bevormundende Regelung zu protestieren. Ein Mittel soll eine Demonstration am 9. September sein. Singen Baden-Württemberg Bis auf zwei Kranke protestieren Mitte Mai alle Bewohner eines Flüchtlingswohnheims in Singen mit einem unbefristeten Hungerstreik gegen die unwürdigen Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Sie verweigerten die Annahme der Essenspakete: Die Zusammensetzung dieser Pakete entspricht in keinster Weise den Bedürfnissen der Menschen, ihr Inhalt ist nicht ausreichend und oft verdorben, beim Fleisch fehlt die Kennzeichnung durch ein Verfallsdatum. Seit Montag, dem 15. Mai, sitzen die hungerstreikenden Flüchtlinge zusammen vor dem Wohnheim in der Bohlinger Straße, wo sie mit Transparenten, T-shirts und einem HungerstreikZelt ihren Forderungen Nachdruck verleihen. se ausreichen. Mit dieser diskriminierenden, entmündigenden Maßnahme wird den Flüchtlingen die Möglichkeit genommen ihren Einkauf auf ihre individuellen und kulturellen Bedürfnisse abzustimmen. Die Flüchtlinge aus der Tackenweide reagierten auf die Einführung dieser Regelung, indem sie zwei Wochen die Paketannahme verweigerten. Durch ein generelles Arbeitsverbot für Flüchtlinge (SGB III,AEVO) wird diesen die Möglichkeit genommen, von finanziellen, staatlichen Zuwendungen unabhängig zu werden. Ausgenommen von dieser Regelung ist lediglich die sog. “gemeinnützige Arbeit” zu der einige Flüchtlinge verpflichtet werden und die mit nur zwei Mark(!) pro Stunde entlohnt wird. Ansonsten droht Sanktionierung durch Taschengeld- und Paketentzug. Emmerich Junge Linke Wesel Seit Mitte Juni bekommen Flüchtlinge in Emmerich ihre Nahrungsmittel in Form von Lebensmittelpaketen zugewiesen. Faktisch bedeutet das, dass ihnen eigenständiges Einkaufen untersagt wird, da die lediglich 80 DM (Taschengeld) pro Person im Monat für den Lebensunterhalt nicht einmal ansatzwei- Doch unser Protest richtet sich nicht “nur” gegen die Verpflegung der Flüchtlinge durch Lebensmittelpakete, denn Rassismus ist in vielen Gesellschaftsbereichen zu finden und für Flüchtlinge und MigrantInnen zu spüren. Dieser alltägliche Rassismus dient mit als Scharfmacher für rechtsextremistische Schlägertrupps. Diese neonazistischen Trupps treten in Emmerich und anderen niederrheinischen Gebieten zunehmend offener und zunehmend gewalttätiger auf. Innerhalb von zwei Monaten starben bundesweit 8 Menschen als Opfer rassistischer und faschistischer Taten. Forderungen der hungerstreikenden Flüchtlinge: Wir sind Menschen und wollen leben wie Menschen. - Wir wollen wie Menschen behandelt werden - Wir fordern das Recht auf Arbeit, auf eine Arbeitserlaubnis 79 Asylbewerberleistungsgesetz Ahaus UWG Jugend Ahaus Bereits seit über zwei Jahren werden die Ahauser AsylbewerberInnen von der CDU-Fraktion im Rat der Stadt Ahaus und dem Ahauser Bürgermeister dazu gezwungen in einem eigens für sie eingerichteten Lebensmittel-”Shops” einzukaufen. Die Flüchtlinge müssen in diesem Laden einkaufen weil sie kein Geld ausgezahlt bekommen. In dem Shop wird ihnen beim Kauf das Geld elektronisch über ein Computersystem abgebucht. Die Stadt Ahaus gibt dabei für den Betrieb des “Shops” mehr aus als sie für eine Versorgung durch Gutscheine oder Bargeld bezahlen müsste. Foto: Lars Klingbeil Behördenwillkür, die Behandlung als Menschen zweiter Klasse, Abschiebungen, rassistische Kampagnen von etablierten Parteien, wie die CDU-Doppelpasskampagne, die an die Fremdenangst der Bevölkerung appellierte, oder Aussagen wie die vom Emmericher Bürgermeister , Horst Boch, der sich kürzlich in einem NRZ-Interview beliebter Vorurteile gegen Flüchtlinge bediente, indem er behauptete, sie hätten durch die Pakete nun nicht mehr so viel Geld zum “verzocken”, sind nur einige Bei- spiele. Bei den Flüchtlingen handelt es sich um Menschen, die gezwungen wurden, ihre Herkunftsländer (Türkei, Afrika, Kurdistan, Irak) zu verlassen und zu flüchten, sei es vor Folter, Naturkatastrophen, Armut oder imperialistischen Kriegen, die oftmals von der BRD durch Waffenlieferungen und Know-How unterstützt werden. Diesen Menschen sollte die Möglichkeit geboten werden, hier mit den gleichen Rechten leben zu können. LASSEN WIR SIE NICHT ALLEINE ! Demonstration: Selbstbestimmung statt Ausgrenzung - Geld statt Esspakete! 9.9. 2000 um 13.00 Uhr am Emmericher Hbf Schluss mit der Entmündigung und Diskriminierung der Flüchtlinge - Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen! - Arbeitsverbot aufheben! - Ausreichend Wohnraum für Flüchtlinge! - Geld statt Lebensmittelpakete! - Rassismus entgegentreten ! Junge Linke Wesel, c/o Antifa-Büro, Herzogenring 4, 46483 Wesel Tel/Fax: 0281/300 90 74, Email: [email protected], www.jungdemokratinnen.de/wesel 80 Die Behandlung der Flüchtlinge ist menschenunwürdig. Sie berichteten mehrfach von abgelaufenen Haltbarkeitsdaten, überhöhten Preisen, einer mangelnden Auswahl und verschimmeltem Gemüse. Hinzu kommt, dass durch den Shop den Migranten die Möglichkeit genommen wird in anderen Läden einzukaufen. Diese Tatsache und der Fakt, dass auch Deutsche nicht in den Asylbewerbershop dürfen offenbart eine rassistische Ausgrenzungspraxis mit dem Ziel der Vertreibung und Sündenbockfunktionalisierung der AsylbewerberInnen. Nun haben die Flüchtlinge den Mut gefunden zu streiken und eine kritische Leserbriefdiskussion wurde in der Regionalzeitung geführt. Die UWG-Fraktion hat daraufhin das Thema erneut auf die Tagesordnung des Rates gesetzt. Sie fordert die Abschaffung des Shops. Nähere Infos: www.uwg-ahaus.de/uj FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz Niedersachsen: Hungerstreik in Hagen Maria Wöste M itte August hungert er schon einen Monat. Seit dem 18. Juli befindet sich der Flüchtling Ehsan Mehdizadeh aus dem Iran im Hungerstreik: im Flüchtlingswohnheim Höhenweg in Hagen bei Osnabrück. Ehsan Mehdizadeh protestiert gegen die Folgen des wohl alltäglich-schikanösesten Sondergesetzes für Flüchtlinge in Deutschland: gegen die Zwangsarbeit, die mit dem Asylbewerberleistungsgesetz begründet wird und die Gutscheinregelung, die sich aus der Niedersächsischen Interpretation des Asylbewerberleistungsgesetz ableitet. Seine Forderungen: Keine Zwangarbeit bei gleichzeitigem Arbeitsverbot. Und Bargeld statt Gutscheine, so wie die Flüchtlinge im nahegelegenen Münster. Münster liegt in Nordrhein-Westfalen, dort hat die Landesregierung keine Gutschein-Ausgabe verordnet. Die Gründe für Ehsan Mehdizadehs verzweifelten Protest sind nicht ungewöhnlich - für Flüchtlinge nicht ungewöhnlich. Sein Taschengeld wollte das Sozialamt Ehsan Mehdizadeh erst wieder auszahlen, wenn er die verordnete Zwangsarbeit abgeleistet hätte. Nach 14 Stunden „gemeinnütziger Arbeit“ auf dem Bauhof verlangte er seinen Stundenlohn von 2 DM, um die Anwaltsrate zu bezahlen. Das Geld wurden ihm jedoch verweigert, ebenso die volle Leistungsauszahlung – die würde er bekommen, wenn er 50 Stunden der erpressten Tätigkeit abgeleistet hätte. Auch bekäme er nicht 340 DM, sondern nur 295 DM monatlich. Für E. Mehdizadeh festigte das den Eindruck, es ginge nur um Schikane. Als „Schikane“ erlebt er, was von politischer Seite mit dem Asylbewerber-Abschreckungsgesetz auch beabsichtigt ist. Als E. beschließt, in den Hungerstreik zu treten, teilt er dies den Behörden mit. Als ein Pressebesuch bekannt wird, werden plötzlich Bauarbeiten im Heim erledigt, die schon lange eingefordert waren. Auch in seinem Asylverfahren hat Herr Mehdizadeh Erfahrungen mit der Sonderbehandlung in der Asylgesetzgebung gemacht. Ein Brief über die Ablehnung seines Asylverfahrens ereichte ihn in Hagen nicht, obwohl er sich dort aufhielt. Der Postzusteller ließ ihn mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt verzogen“ zurückgehen – so versäumte er die 14-tägige Widerspruchsfrist gegen den Bescheid. Wegen falscher Rechtsmittelbelehrung ließ das Oberverwaltungsgericht gegen die Entscheidung des Osnabrücker Verwaltungsgerichts jedoch die Berufung zu. Eine Unterschrift unter einen Brief an die iranische Botschaft hatte die Ausländerbehörde ihm mit der Drohung abgepresst, andernfalls Ausweispapiere nicht zurückzubekommen. Ehsan Mehdizadeh war im Iran wegen Verweigerung des Kriegsdienstes 6 Monate inhaftiert. Er floh, als beim Verteilen von Flugblättern über Arbeiter- und Frauenrechte einer seiner Mitstreiter mit Waffengewalt verhaftet wurde. vom Landkreis angekündigten Psychiater, sondern nur eine menschenwürdige Behandlung.“ Die Sozialdezernentin hatte ihm lediglich den Vorschlag anzubieten, die Zwangsarbeit z.b. in einem Altenheim und nicht mehr im Bauhof abzuleisten. Das wäre alles, worauf sie Einfluss nehmen könne. Den angekündigten Durststreik hat Ehsan Mehdizadeh vorläufig ausgesetzt. Bevor er bewusstlos werde, wolle er dem Leiter des Hagener Sozialamts mitteilen, dass dieser keinerlei Verfügung über seinen lebenden Körper haben Seele brennt, doch im Körper Eiszeit Die lokalen Behörden hatten Ehsan Mehdizadeh bislang nur ein Gespräch mit dem sozialpsychiatrischen Dienst und mit der Sozialdezernentin zu bieten. Der örtliche Grünen-Fraktionsvorsitzende und ein - iranischer - Professor aus Osnabrück, die ihn besuchten, stellten fest: „Der hungerstreikende Asylbewerber braucht nicht den dürfe. Den Körper einsetzen, um die Seele nicht sterben zu lassen, um die Selbstachtung und Gesundheit zu retten, das haben in den letzten Wochen und Monaten viele Flüchtlinge in ganz Deutschland gemacht. Alles sei „ganz normal“ gelaufen auch in diesem Fall, sagen die lokalen Behördenvertreter. Stimmt. Das ist ganz normaler Alltags-Rassismus für Flüchtlinge in Deutschland dieser Tage. Foto: Karawane 81 Asylbewerberleistungsgesetz Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat kein mensch ist illegal The Voice Africa Forum Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen Iranische Gemeinde (Kargah e.V.) Nds. Flüchtlingsrat e.V. Lessingstraße 1, 31135 Hildesheim Kontaktadresse: An den nds. Innenminister Herrn Heiner Bartling Clemensstr. 17 Geschäftsstelle Nds. Flüchtlingsrat Lessingstr. 1 31135 Hildesheim Tel.: 0 51 21 / 1 56 05 Fax: 0 51 21 / 3 16 09 E-mail: [email protected]. 30169 Hannover Hildesheim, 21.8.2000 Offener Brief Sehr geehrter Herr Innenminister, seit nunmehr vier Wochen befindet sich der iranische Flüchtling Ehsan Mehdizadeh aus Osnabrück in einem unbefristeten Hungerstreik. Er wendet sich mit seinem verzweifelten Protest gegen die menschenunwürdigen Bedingungen, denen er ebenso wie viele andere Flüchtlinge unterworfen ist: o Nach wie vor gilt für Flüchtlinge ein absolutes Arbeitsverbot. Gleichzeitig werden die Betroffenen jedoch mit der Drohung weiterer Leistungskürzungen gezwungen, sog. „gemeinnützige Arbeit“ zu leisten, die nicht bezahlt, sondern mit einer sog. „Aufwandsentschädigung“ in Höhe von 2 DM pro Stunde vergütet wird. Ein solcher Arbeitszwang ohne Arbeitsrecht erscheint uns nicht nur verfassungsrechtlich fragwürdig, sondern auch vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte mehr als problematisch. o Flüchtlinge erhalten nach dem „Asylbewerberleistungsgesetz“ für mindestens 3 Jahre reduzierte Sozialleistungen, die rund 25% niedriger bemessen sind als der Sozialhilfesatz, der das Existenzminimum markiert. Diese gekürzten Sozialleistungen können, soweit Sachleistungen nicht in Frage kommen, in Form von Gutscheinen oder Bargeld gewährt werden. Die in Niedersachsen übliche Ausgabe von Gutscheinen statt Bargeld stellt eine zusätzliche Diskriminierung von Flüchtlingen dar, die nicht durch das Gesetz gefordert ist. Im Hinblick auf das bestehende Arbeitsverbot für Flüchtlinge haben Sie sich dankenswerterweise mehrfach auch öffentlich für eine Aufhebung desselben eingesetzt. Dass es bis heute nicht zu einer Rücknahme des Arbeitsverbots gekommen ist, hat die Bundesregierung zu verantworten, die sich bis heute nicht zu diesem Schritt durchringen konnte. Wir können Sie deshalb nur bitten, erneut beim Bundesarbeitsministerium die Abschaffung des Arbeitsverbots anzumahnen und im Übrigen dafür Sorge zu tragen, dass die Betroffenen nicht weiterhin zu Zwangsarbeiten verpflichtet und erpresst werden. Auch das Asylbewerberleistungsgesetz kann von der Landesregierung nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Die Landesregierung hat jedoch bei seiner Umsetzung einen erheblichen Gestaltungsspielraum, insbesondere in der Frage der Art und Form der Leistungsgewährung. Das niedersächsische Innenministerium hat sich 1997 dazu entschieden, die Kommunen im Wege der Weisung zur Ausgabe von Gutscheinen statt Bargeld an Flüchtlinge zu zwingen. Viele niedersächsische Kommunen (u.a. Hannover, Göttingen, Hildesheim, Osnabrück,...) haben sich lange gegen die Einführung von Gutscheinen gewehrt. Die Gutscheinausgabe ist nicht nur diskriminierend, sondern auch teuer, da das Gutscheinsystem die kommunalen Kassen zusätzlich belastet. Auch für die (Einzel-) Händler vor Ort entstehen zusätzliche Kosten. Nur wenige Bundesländer fahren in dieser Frage einen derart rigiden Kurs. In allen benachbarten Bundesländern stellt das Land den Kommunen zumindest frei, welche Leistungsform sie je nach den Umständen anwenden wollen, oder gewährt den Betroffenen flächendeckend Bargeld. 82 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz Für Flüchtlinge bedeutet das Leben mit Gutscheinen Bevormundung (keine freie Wahl der Geschäfte und Artikel), Demütigung und sichtbare Abstempelung als unerwünschte Personen. Jeder Einkauf wird zur Praxisprüfung im Kopfrechnen, da eine Bargeldrückgabe nur begrenzt möglich ist. Und der Spießrutenlauf bei wartender Kassenschlange beginnt, wenn die erlaubt Wechselgeldmenge unterschritten ist. Kassierer/-innen werden durch das Gutscheinsystem zu Ordnungskräften gemacht, die den Einkauf ihrer Gutschein-Kunden überprüfen sollen. Viele alltägliche Dinge können mit Gutscheinen nicht bezahlt werden, z.B. Buskarten, Briefmarken, Telefonkarten, Kopfschmerztabletten und insbesondere die für Flüchtlinge unverzichtbaren Rechtsanwälte. In vielen Kommunen gibt es kommerzielle Gutscheinhändler, die die Notlage der Flüchtlinge ausnutzen und Flüchtlingen die Gutscheine unter Wert abkaufen. Im Gegensatz dazu solidarisieren sich zahlreiche Menschen mit den Gutscheinempfängern, tauschen Gutscheine im Verhältnis 1:1 in Bargeld um und setzen sich für die Abschaffung des Gutscheinsystems ein. Mindestens 20 organisierte Umtauschinitiativen von Flüchtlingen, Migranten und Deutschen gibt es in Niedersachsen. In Anerkennung der Verdienste für die Demokratie hat der Deutsche Bundestag die Hildesheimer Gutscheinumtausch-Initiative im Dezember 1999 sogar mit dem „Förderpreis DEMOKRATIE LEBEN“ ausgezeichnet. „Öffentlichkeit und politisch Verantwortliche sollen ... auf die diskriminierenden und demütigenden Wirkungen des Gutscheinsystems aufmerksam gemacht werden“, heißt es dazu in der Laudatio des Bundestags. Die Anhörung des landesweiten „Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und für interkulturelle Verständigung“ im Dezember 1999 hat noch einmal bestätigt, dass das Gutscheinsystem die Ausgrenzung von Flüchtlingen fördert und dem latenten und offenen Rassismus in Teilen der Bevölkerung neue Nahrung gibt. Wenn es der Landesregierung ehrlich ist mit der Absicht, fremdenfeindliche Gewalt und Rassismus zu bekämpfen, sollte sie auch dafür Sorge tragen, dass Flüchtlinge wie Ehsan Mehdizadeh nicht weiterhin auf administrative Weise diskriminiert und stigmatisiert werden. In diesem Sinne appellieren wir an Sie, dafür Sorge zu tragen, dass der hungerstreikende Iraner Ehsan Mehdizadeh angesichts seines besorgniserregenden Gesundheitszustands sofort Bargeld statt Gutscheine erhält, den Ausführungserlass des Landes zum AsylbLG zurückzunehmen und den Kommunen die Ausgabe von Bargeld statt Gutscheinen an Flüchtlinge wieder zu ermöglichen. sich langfristig dafür einzusetzen, dass das „Asylbewerberleistungsgesetz“ abgeschafft wird. In der Hoffnung auf Ihre Unterstützung verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Aus unserer Reihe: Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft Jeder Bürger wird zum Grenzwächter Red. I n Hemmingen wandte sich ein Jurist wegen der Aktion „Wertgutscheine statt Bargeld“ in seiner Kirchengemeinde an die Bezirksregierung. In Hemmingen gehen Mitglieder der Umtausch-Initiative mit den Flüchtlingen gemeinsam einkaufen – die Flüchtlinge bezahlen mit Gutschein und vor dem Laden kaufen die UmtauscherInnen ihnen die Waren wieder ab. Der Jurist fragte an, wie es denn sein könne, dass Deutsche die Gutscheine umtauschten, das sei doch rechtswidrig und laufe den gesetzlichen Absichten zuwider. Die Denunziation war erfolgreich, die Bezirksregierung befragte den Land- „Die Umtauschinitiative will dazu beitragen, Flüchtlingen, die nach Gesetzeslage lediglich Gutscheine erhalten, durch die Verfügung über Bargeld „ein Stück Menschenwürde“ zurückzugeben. Durch das Projekt wird praktische Solidarität gelebt, indem Bürger Geld gegen Gutscheine tauschen. Öffentlichkeit und politisch Verantwortliche sollen auf diese Weise auf die diskriminierenden und demütigenden Wirkungen des Gutscheinsystems aufmerksam gemacht werden. Langfristiges Ziel ist die Abschaffung der Gutscheinregelung.“ kreis Hemmingen und griff dann den Kirchenvorstand an. Sie wurden aufgefordert, ihre Aktion einzustellen, denn sie stelle eine „Unterminierung gesetzlicher Regelungen für Aus der Laudatio des Dt. Bundestages zur Verleihung des Förderpreis DEMOAsylbewerber“ dar. Es KRATIE LEBEN an die Umtauschinitiative Hildesheim handele sich „nicht um ein Kavaliersdelikt oder um einen nal-Zeitung veröffentlicht worden tolerierbaren zivilen Ungehorsam, war, geschah nichts mehr. Die Resondern um eine unrechtmäßige daktion empfiehlt für solche Fälle: Verwertung der Gutscheine“, so Lesen Sie, was der Deutschen Bunder Vorwurf der Bezirksregierung. destag dazu zu sagen hat. Er Nachdem ein Leserbrief von Mit- spricht nicht von Kavaliers-Delikt, gliedern der Umtausch-Gruppe so- sondern von - preiswürdigem wohl in der Lokal – als auch Regio- „Demokratie Leben“. 83 Asylbewerberleistungsgesetz Gutschein-Betrug: Wer sind die Betrogenen? Ein Kommentar Omwenyeke E. Sunny Mitglied von The VOICE, Africa Forum, Wolfsburg International Human Rights Association, Bremen Übersetzung aus dem Englischen: Britta Marquart Vorbemerkung: Im Januar 2000 wird in Wolfsburg Anklage wegen Betrugs gegen zwei Männer und eine Frau erhoben, einer davon Asylbewerber: „Sie sollen Asylbewerbern Warengutscheine unter Wert abgekauft und mit einer von der Stadt zwischengeschalteten Firma die volle Summe abgerechnet haben. ... Der Stadt gegenüber stellten sie dann die gesamte Summe für angeblich gelieferte Lebensmittel und Kosmetikartikel in Rechnung. ... Die Stadt soll ihr Geld so schnell wie möglich zurückbekommen.“ (Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 21.1. 2000) fahren gegen sie eingestellt wird, wenn sie eine Geldbuße bezahlen zwischen 100 und 500 DM, zahlbar an den niedersächsischen Judoverband. (Red.) Kommentar Die Geschichte eines angeblichen betrügerischen Ex-Chefs eines Kosmetikstudios in Wolfsburg und seiner beiden angeblichen Komplizen bezüglich “Gutscheinen”, erschienen am 21. Januar in der Wolfsburger Allgemeinen, spricht für Fragen über das System auf, welches das “Herz” der unpassenden, diskriminierenden und unmenschlichen Behandlung aufzeigt, der Asylsuchende in Deutschland und besonders in Niedersachsen ausgesetzt sind. Die Umstände betrachtend und die Tatsache, dass einiges auf dem Spiel steht, möchte ich mich mit dem ´Warum` und ´Warum Nicht` dieser “Saga” nicht befassen. Anders gesagt, ist dieser Kommentar nicht als Rechtfertigung oder Verurteilung dieser fortlau- Am 15.2. 2000 werden die drei Gutschein-Händler verurteilt – zwischen einem Jahr und einundzwanzig Monaten Haft lautet das Urteil. Den Gewinn sollen sie „zurückzahlen“ – an wen, bleibt in der Presse unklar. Unsere Nachfrage ergibt: an das Sozialamt der Stadt Wolfsburg. Der Autor dieses Kommentars lebt als Flüchtling in einem Wolfsburger Wohnheim und bekommt ebenfalls Gutscheine. Wenige Tage nachdem er den Beitrag eingereicht hat, erhalten 11 seiner Mitbewohner im Heim Vorladungen bei der Polizei: als Beschuldigte sollen sie wegen „Beihilfe zum Betrug“ vernommen werden. Eine Nachfrage beim zuständigen Sozialamt ergibt, dass gegen ca. 70 Flüchtlinge aus Wolfsburg ermittelt wird. Es sind dies Flüchtlinge, deren Gutscheine über die Firma der Verurteilten abgerechnet wurden. Ihre Namen wurden über die Registriernummern der Gutscheine ermittelt. Wenige Wochen später erhalten die Flüchtlinge Post von der Staatsanwaltschaft. Mit dem Angebot, dass das Ermittlungsver84 Foto: Lars Klingbeil sich und ruft ganz sicher nach einem Kommentar. Man kann nicht nur kategorisch darüber klagen, in welchem Umfang das “vortreffliche” System der “Gutscheine” missbraucht und ausgenutzt wird (von wem und wievielen, das weiß nur Gott allein), egal ob vorsätzlich oder nicht, die Bemühungen des Staatsanwaltes, hier Recht zu schaffen, können allenfalls als gut gemeinte Versuche angesehen werden. Auf jeden Fall wirft diese gerade enthüllte skandalöse Geschichte eine Reihe von kritischen fenden Geschichte gemeint. Ich möchte hier nur einige Punkte aus der Sicht eines Asylbewerbers klarstellen. Zuallererst ist es sehr unglücklich, dass einige Asylbewerber direkt oder indirekt in die ausbeuterischen Handlungen einiger schmutziger Individuen verwickelt sind. Jedoch wirft diese Geschichte die Frage auf, welche Rechtfertigung es für die Ausgabe von “Gutscheinen” anstatt von Bargeld für Asylsuchende es überhaupt gibt – die- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz se befinden sich ohnehin auf der untersten Stufe der sozialen Leiter und werden auch weiterhin von zahlreichen und stadtbekannten Personen, die auf der Grundlage von “Gutscheinen” gute Geschäfte machen, ausgenutzt. Seit Jahren schon fordern Asylsuchende und (wohlmeinende) Unterstützer dazu auf, diese diskriminierende und demütigende Praxis abzuschaffen. Doch trotz der offensichtlichen Unzulänglichkeiten besteht die Regierung auf der Fortsetzung dieser Praxis. Es gibt kaum ein nachvollziehbares Argument für die Gutscheinausgabe, zumal sie teurer und arbeitsintensiver ist. Dieses unhaltbare System, das Flüchtlinge ausnutzt und unterdrückt, hat keinen anderen Grund, als von staatlicher Seite her Flüchtlingen ihre Rechte zu verweigern. Ich habe dieses schon bei anderen Gelegenheiten festgestellt: Wenn es keine “Gutscheine” gäbe, gäbe es auch nichts, was unter Wert zu verkaufen wäre! Und weiter: denjenigen, die die Hauptlast der staatlichen Asylpolitik tragen, wird das simple Recht verwehrt, zu wählen was sie kaufen möchten, auch in Läden, die Gutscheine verweigern. Und während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sicherlich die Geschäfte und den Missbrauch durch die Angeklagten beenden werden, habe ich keinen Zweifel daran, dass dieses Modell schon vielfach kopiert wurde und in vielen anderen Orten, in denen die Gutscheinausgabe praktiziert wird, Anwendung findet. Ich kann nicht abschätzen, ob der Staatsanwalt oder irgendeine der betroffenen Behörden hofft, einem weiteren Vorkommen dieses häßlichen Szenarios vorzubeugen, aber man kann sicher sein, dass diese einzelne gerichtliche Verfolgung kein Ende dieser Ausbeutung herbeiführen wird. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn die Bemühungen der Staatsanwaltschaft ein Ende der gängigen Ausnutzung von Flüchtlingen bewirken sollten, die durch die von staatlicher Seite ausgegebenen “Gutscheine” erst möglich gemacht wird. Sollte nur ansatzweise ein Interesse an der Lösung dieses Problems existieren, so müsste man das Problem an der Wurzel packen. Das bedeutet, dass die gängige Praxis so umgewandelt werden muss, dass es keinerlei Möglichkeiten gibt, aus der Not und der Lage von Flüchtlingen Kapital zu schlagen. Es wird sicherlich Stimmen geben, die Flüchtlinge als kriminell einstufen, weil sie ihre “Gutscheine” in Bargeld umtauschen – selbst unter Wert. Aber diese Leute wissen womöglich nicht, dass es hier in Wolfsburg und in vielen anderen Städten Flüchtlinge gibt, denen die Bargeldleistung (sog. Taschengeld) auf 10 – 20 Mark monatlich gekürzt wurde, warum, wissen allein die Behörden. Wie sollen Flüchtling in diesem Fall Geld für zum Beispiel Briefporto oder Busfahrscheine bezahlen - hier werden keine “Gutscheine” akzeptiert. Und obwohl die Flüchtlinge weniger als das festgelegte Minimum an Sozialhilfe erhalten, verlieren sie durch den Umtausch von “Gutscheinen” noch zusätzlich. Vor diesem Hintergrund ist es nur klug, vernünftig und logisch, die Ausgabe von “Gutscheinen” sofort zu beenden, erstens um das Recht auf freie Wahl für die Flüchtlinge wieder herzustellen und zweitens um das alltägliche Ausnutzen zu minimieren, das derzeit so offenkundig ist. Aus unserer Reihe: Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft Jede Kassiererin wird zur Grenzwächterin Rosemarie Müller, Umtauscherin A ls 1997 die Gutscheinaktionen in Cuxhaven begannen, stellten sich sofort einige Kassiererinnen des Supermarkts Comet (gehört zur Kette Metro) dagegen, obwohl der Filialleiter sich mir gegenüber zunächst einverstanden erklärt hatte. Er ließ sich von einer Kassiererin überzeugen, dass es illegal für Einheimische sei, Gutscheine für geduldete Flüchtlinge umzutauschen. Die Kassiererinnen unterhielten sich in meinem Beisein darüber, dass sie alle unterschrieben hätten, von Einheimischen keine Gutscheine entgegenzunehmen. Nach einer Eingabe von 10 Kunden erlaubte der Filialleiter dann den Umtausch, was einige Kassiererinnen veranlasste, ihrem Ärger gegen die mit Gutscheinen kaufenden Kunden durch Bemerkungen wie „Schweinerei“ u.ä. Luft zu machen. Im Frühjahr diesen Jahres erschien an zwei Kassen eine vergrößerte Kopie eines Zeitungsberichts, wonach Menschen mit Gutscheinen DM 120 000 ergaunert hatten. Anfang Mai wurde eine Umtauscherin zum dritten Mal beim Filialleiter vorstellig und mahnte ihn, den diskriminierenden Artikel zu entfernen, oder zum Ausgleich einen Zeitungsbericht daneben zu hängen, in welchem von kriminellen „deutschen“ Betrügereien auf höchster bundesdeutscher Ebene die Rede war (Es ging um die Spendenaffäre). Der Filialleiter argumentierte daraufhin , dass er allein zu entscheiden habe, was er in seinem Geschäft aufhänge. Auf mein Argument, dass er bei solch diskriminierenden Verhalten mich und andere als Kunden verlieren würden entgegnete er, dass es ihm auf en paar Kunden nicht ankäme. Der diskriminierende Aushang wurde dennoch Ende Juni entfernt. 85 Asylbewerberleistungsgesetz Erste Erfahrungen mit § 2 AsylbLG im Landkreis Hildesheim Das Privileg der Benachteiligten Andrea Kothen S eit dem 1. Juni 2000 kommt § 2 AsylbLG zur Anwendung. Flüchtlinge, die bereits über einen Zeitraum von drei Jahren die abgesenkten Leistungen des AsylbLG erhalten haben, sollen unter bestimmten Voraussetzungen Leistungen analog BSHG erhalten. Dies gilt zunächst für alle Flüchtlinge, die sich auch nach 3 Jahren noch im Asylverfahren befinden. Für die geduldeten Flüchtlinge erweist sich die neue Regelung vornehmlich als Luftnummer. In der Praxis erfüllen etliche geduldete Flüchtlinge die Dreijahresfrist. Dennoch stellte z.B. das Sozialamt der Stadt Hildesheim nach Prüfung durch die Ausländerbehörde von 450 Fällen gerade mal 25 auf Leistungen analog BSHG um. In den meisten dieser Fälle, so die Aussage des Sozialamts, sei die Ausländerbehörde der Ansicht, dass eine freiwillige Rückkehr in die betreffenden Länder möglich sei und daher eine Anwendung von § 2 Abs.1 AsylbLG ausscheide. In anderen Landkreisen und Städten sieht es kaum besser aus. Afghanen z.B. erreichen bei manchen Sozialämtern relativ umstandslos die Umstellung, andere Ämter verweisen auf die Möglichkeit einer freiwilligen Rückreise und verweigern Leistungen nach § 2 AsylbLG. In einer dritten Variante wird die Unzumutbarkeit einer freiwilligen Rückreise nach Afghanistan zwar nicht bestritten, aber darauf verwiesen, dass laut Erlass (s. u. Service) eine Umstellung nach § 2 AsylbLG nur für die Personen erfolgen könne, die im Besitz einer Duldung nach § 55 Abs,2 AuslG seien. Die Betroffenen hätten aber nur eine Duldung nach § 55,4 AuslG erhalten. Leistungen nach § 2 AsylbLG erhielt der Betroffene wegen einer Unterbrechung der tatsächlichen Bezugsdauer dennoch nicht. Wie immer bei der Praxis von Leistungskürzungen ist auch hier zu befürchten, dass weitere ähnliche rechtswidrige Bescheide nach § 1a ergangen sind, die ihr (Spar-) Ziel auf Kosten von Flüchtlingen nicht verfehlt haben, da die Betroffenen sich nicht zur Wehr gesetzt haben. Aus Kalkül oder - der Eindruck drängt sich manchmal auf - aus schlichter Verwirrung wird die Umstellung nach § 2 und die damit verbundene Prüfung der Ausländerbehörden in mehreren Fällen offenbar zum Anlass genommen, für bestimmte Personen gleich eine Kürzung nach § 1a AsylbLG vorzunehmen. Dies geschieht häufig unter Hinweis auf die Ausreisepflicht und ohne jede weitere Begründung, so beispielsweise im Fall eines Irakers. Auf Nachfrage erklärte die zuständige Sachbearbeiterin, dass sowohl eine Abschiebung als auch eine freiwillige Rückreise in den Irak aufgrund fehlender Verkehrswege derzeit nicht möglich sei, dass aber aufgrund der Passlosigkeit des Antragstellers eine Kürzung nach § 1a rechtmäßig erfolgt sei. Diese Argumentation wurde allerdings nach erfolgter Eilantragstellung zurückgenommen. Im Landkreis Hildesheim stellten Flüchtlinge diverse Eilanträge - mit bislang niederschmetternder Bilanz: In fast allen bekannt gewordenen Entscheidungen des VG Hannover wurde den Betroffenen ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 abgesprochen. Grundsätzlich vertritt das VG die Auffassung, dass folgende Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen: • 36monatiger tatsächlicher Leistungsbezug nach § 3 • Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise • Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen, humanitären oder persönlichen Gründen bzw. aus Gründen des öffentlichen Interesses. (Beschluss vom 11.7.2000 - 7 B 2839/00 und ergänzend vom 17.7.2000 - 7 B 3076/00). Zu beachten ist hierbei, dass die faktische Unmöglichkeit der Abschiebung vollkommen irrelevant ist. Denkbar wäre also beispielsweise eine Verweigerung des Anspruchs auf Leistungen nach § 2 im Falle der Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise, da gleichzeitig die Abschiebung lediglich an der fehlenden Verkehrsanbindung scheitert. Die Unzumutbarkeit der freiwillige Ausreise kann (!) nach Auffassung des Gerichts allerdings gleichzeitig ein Abschiebungshindernis (z.B. persönlicher oder humanitärer Art) darstellen. Foto: 3.Welt Saar 86 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Asylbewerberleistungsgesetz Im Einzelnen sind uns inzwischen folgende Entscheidungen des VG Hannover bekannt geworden: • Der Eilantrag einer afghanischen Familie aus Kabul wurde abgelehnt. Die freiwillige Ausreise nach Afghanistan sei auf dem Landweg über Pakistan oder Turkmenistan möglich und im vorliegenden Fall auch zumutbar (nicht zumutbar wäre es beispielsweise für Frauen und Kinder ohne männliche Begleitung). Eine Rückkehr in Regionen außerhalb Kabuls sei grundsätzlich zumutbar, sofern dort familiäre Auffang-Strukturen bestehen. Die Kläger hätten diesbezüglich die Unzumutbarkeit einer freiwilligen Rückkehr nicht ausreichend dargelegt. (AZ: 7 B 2966/00) In Asylverfahren wird die Bedrohung durch die Taliban-Herrschaft in weiten Teilen Afghanistans nicht bestritten. Afghanische Flüchtlinge werden aber regelmäßig auf die Möglichkeit verwiesen, außerhalb der Talibangebiete Schutz zu finden.1 Was asylrechtlich als Vorwand dafür herhält, Flüchtlingen aus Afghanistan die Anerkennung zu verweigern, wird hier - aus sozialrechtlicher Perspekive - völlig auf den Kopf gestellt, indem behauptet wird, die Flüchtlinge könnten freiwillig in die von den Taliban beherrschten Gebiete zurückkehren. Im Übrigen hatte nicht einmal der Beklagte in diesem Verfahren darauf bestanden, die Unmöglichkeit einer freiwilligen Ausreise individuell zu begründen. Die Ausländerstelle hatte auf Anfrage des Gerichts erklärt, dass sie eine freiwillige Ausreise nach Afghanistan derzeit für unzumutbar hielte. • Auch im Fall einer Roma-Frau aus dem Kosovo nimmt das VG Hannover an, dass die Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise individuell nicht genügend glaubhaft gemacht wurde. Der “bloße Hinweis” auf die Volkszugehörigkeit und die Stellung eines Asylfolgeantrages sah das Gericht als nicht ausreichend an. Zwar stehe durch die Stellung eines Asylfolgeantrags und der deshalb nicht ergangenen Abschiebungsandrohung augenblicklich ein rechtlicher Grund entgegen, nicht aber der freiwilligen Ausreise. (AZ:7 B 3296/00) Einen Anlass, die Warnungen von UNMIK oder UNHCR betreffend eine Rückkehr der Roma im Kosovo zur Kenntnis zu nehmen bzw. sich mit der nds. Erlasslage auseinanderzusetzen, die die Abschiebung von Roma derzeit nicht zulässt, sah das Gericht offenbar nicht. • Bei neu geborenen Kindern gilt nach Auffassung des VG eine eigene Dreijahresfrist, auch dann, wenn die Eltern Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten. Für die minderjährigen Antragsteller, die erst im Oktober 1999 geboren sind, ist ein Anspruch nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen worden, da sie noch nicht über eine Dauer von 36 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten hatten. Im Übrigen entspräche es dem Gleichheitsgrundsatz, so das Gericht, “wenn differenziert nach der Dauer des tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet auf jede Person die Fristenregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG gesondert angewandt und damit Ungleiches ungleich behandelt wird.” (7 B 3184/00) Hier erübrigt sich wohl jeder weitere Kommentar. • Der Antrag eines in Mazedonien geborenen Mannes albanischer Volkszugehörigkeit wurde abgelehnt. Er hatte zuletzt im Kosovo gelebt und sich vergeblich um die Ausstellung eines Passes bemüht. Die Passlosigkeit der Kläger begründe lediglich ein tatsächliches Abschiebungshindernis, kein recht liches oder humanitäres, so das Gericht. Die Unmöglichkeit der Passbeschaffung sei in der Weigerung der Konsulate der BR Jugoslawien und Mazedoniens begründet, Passpapiere auszustellen. Daher ließen sich die fehlenden Papiere ebensowenig als persönliches Abschiebungshindernis klassifizieren. Auf die Frage, ob die Antragsteller ihren Aufenthalt selbst zu vertreten haben, komme es nicht an. (AZ: 7 B 3076/00) Diese Argumentation dürfte für viele potentielle Betroffene eine entscheidende Hürde bei der Gewährung von Leistungen nach § 2 darstellen. Ungeachtet der Tatsache, dass weder die freiwillige Ausreise noch eine Abschiebung möglich ist, und obwohl der Betroffene seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist, wird er auf unbestimmte Zeit auf die abgesenkten Leistungen nach § 3 AsylbLG verwiesen. • Gleiches traf einen Kläger mit ungeklärter Staatsangehörigkeit, dem sowohl die syrische und die irakische als auch die libanesische Botschaft keine Papiere ausstellten. Hier liege lediglich ein rein tatsächliches Abschiebungshindernis vor, das in § 2 Abs. 1 nicht genannt sei. Obwohl der Kläger freiwillig allen Anordnungen zur Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit Folge geleistet hatte, wurde sein Antrag abgelehnt. Weiter erklärte das Gericht Folgendes: “Denkbare, sich daraus in wenigen Einzelfällen ergebende Härten - etwa wenn trotz intensiver Bemühungen des Ausländers um den Nachweis seiner Staatsangehörigkeit und um Reisedokumente sein Heimatstaat grundlos derartige Papiere verweigert (...), so dass wegen nur tatsächlicher Abschiebehindernisse der Ausländer quasi unbegrenzt von der Regelung des § 2 AsylbLG ausgenommen bliebe - können durch Maßnahmen des Ausländerrechts (= Erteilung einer Befugnis, d. Verf.) ausgeglichen werden.” (AZ 7B 3044/00) Diese Argumentation erscheint geradezu zynisch. Das Gericht verweist hier hilfebedürftige Flüchtlinge auf Ansprüche, die sie eben nicht geltend machen können, solange sie hilfebedürftig sind. Die Befugnis wird nach allgemeiner Praxis nämlich nur dann erteilt, wenn keine staatlichen Leistungen bezogen werden. Dass sich in diesem Fall die Frage einer Umstellung nach § 2 AsylbLG überhaupt stellt, ist eine Konsequenz des restriktiven Umgangs der Ausländerbehörden bei der Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen. Hier werden gerade die Personen, deren Rückkehr und Abschiebung objektiv nicht möglich ist und die dennoch keine Befugnis erhalten, im Kontext der Leistungsgewährung zusätzlich bestraft. • Positiv entschied das VG Hannover einzig bei einem geduldeten Ehepaar aus dem Kosovo. Die Ausländerstelle hatte aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung der Frau bestätigt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs.3 und 4 vorlägen, eine Befugnis könne ihr aber aufgrund Sozialhilfebezuges nicht erteilt werden. Das Sozialamt lehnte den Antrag 87 Asylbewerberleistungsgesetz auf Leistungen nach § 2 unter Hinweis auf die Erlasslage mit der Begründung ab, die Antragstellerin verfüge nur über eine Duldung nach § 55,4 AuslG. Die Unzumutbarkeit der freiwilligen Rückkehr war unstreitig. Das Gericht entschied, dass aufgrund der Feststellungen der Ausländerbehörde eine Duldung nach § 55,2 AuslG i.V. m. § 53 Abs. 6 S. 1 zu erteilen sei. Damit läge in der Erkrankung der Antragstellerin sowohl ein persönliches als auch ein rechtliches Abschiebungshindernis vor, das zum Bezug von Leistungen nach § 2 AsylbLG berechtige. (AZ: 7 B 2839/00) Gerade dieses positive Beispiel verdeutlicht noch einmal, welche weitgehenden Bedingungen bei der Umstellung nach § 2 AsylbLG erfüllt sein müssen. In mehreren der o.g. Fälle wird derzeit versucht, eine positive Entscheidung des OVG herbeizuführen, hier liegen allerdings noch keine Beschlüsse vor. Bislang ergibt sich aus alledem, dass die Auslegung des § 2 AsylbLG von allen beteiligten Stellen derart restriktiv ausfällt, dass sich glücklich schätzen darf, wer überhaupt die Bedingungen für Leistungen nach § 2 AsylbLG erfüllt. Sollte es sich ursprünglich um eine Regelung handeln, die die abgesenkten Leistungen nach dem AsylbLG grundsätzlich befristet, so erscheint in der Praxis nun die Nichtbefristung im Normalfall festgeschrieben. Eine Anpassung der Leistungen gemäß BSHG, die eigentliche “Normalisierung”, wird zum Vorrecht einzelner. Die nicht nur von Behörden gern gebrauchte euphemistische Formulierung der “Privilegierung” dieser Personen macht in dieser Hinsicht einen traurigen Sinn. Die ursprüngliche Rechtfertigung des Asylbewerberleistungsgesetzes, die auf das “Existenzminimum” abgesenkten Leistungen seien durch ihre zeitliche Begrenzung akzeptabel, erweist sich einmal mehr als Feigenblättchen, das den tatsächlichen Intentionen einer dauerhaften Diskriminierung zum Zwecke der Abschreckung und des Vergraulens von Flüchtlingen kaum im Wege steht. 1 Neuesten Meldungen zufolge wird sich daran jetzt endlich Grundlegendes ändern: Das Bundesverfassungsgericht hat den Taliban eine quasi-staatliche Gebietsgewalt zugesprochen und insofern die geltende Rechtsprechung zur Korrektur gezwungen (vgl. Länderberichte in diesem Heft). Berlin: Aushungerpolitik zuende? Presseerklärung des Flüchtlingsrat Berlin, 18. Juli 2000 A m 13. Juli 2000 hat das Berliner Abgeordnetenhaus mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und PDS den Senat aufgefordert, unverzüglich neue Ausführungsvorschriften zur Anwendung des novellierten Asylbewerberleistungsgesetzes zu erlassen. Damit wurde endlich ein politisches Signal gegen die rechtswidrige Politik des Aushungerns von Flüchtlingen durch einige Bezirksämter in dieser Stadt gesetzt. Bisher waren ca. 3000 Flüchtlinge vom vollständigen Entzug sozialer Leistungen betroffen, weiteren Tausenden wurden die Leistungen gekürzt, d.h. der einzige Barbetrag (Taschengeld) von 80,00 DM / Monat gestrichen. Die Flüchtlinge unterliegen zugleich einem gesetzlichen Arbeitsverbot. Sie werden durch die Sozialhilfestreichung obdach– und mittellos. Durch den Entzug jeglichen Bargeldes können sie z.B. keine BVG – Karten kaufen und werden so faktisch zum „Schwarz – Fahren“ gezwungen. Selbst bei schweren akuten und 88 schmerzhaften Krankheiten werden ihnen Krankenbehandlungsscheine verweigert. Die betreffenden Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien, Jugoslawien oder dem Libanon können auf Grund vorliegender Abschiebungshindernisse nicht zurück kehren und sind im Besitz ausländerrechtlicher Duldungen. Auf den Umweg des Leistungsentzugs sollte ihre Ausreise durchgesetzt werden. In der politischen Debatte wurde jetzt von CDU – Abgeordneten kolportiert, dass es sich um sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge handeln würde, die nur Kosten verursachen würden. Ihnen sei gesagt, dass die Flüchtlinge vor Krieg und Vertreibung geflohen sind. Sie konnten daher auch keine Einreisevisa erwerben, so dass die jüngste Forderung der CDU nach einer Verordnung zur Leistungsverwehrung bei illegal eingereisten Ausländern zynisch und menschenverachtend ist. Die Unterstellung eingereist zu sein „um Sozialhilfe“ zu erlangen war für die Sozialämter das Hauptargument für die willkürliche Leistungsverweigerung bzw. –kürzung. Angesichts der geschilderten Fluchtgründe ist es nur zu begrüßen, dass entsprechend des aktuellen Beschlusses des Abgeordnetenhauses die Beweislast dafür nun bei den Behörden liegt. Außerdem ist diese Behauptung generell diskriminierend und unterstützt rassistische Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen. Mit dem erwähnten Beschluss des Abgeordnetenhauses soll nun künftig sichergestellt werden, dass alle Flüchtlinge in dieser Stadt ein Mindestmaß an sozialer und medizinischer Versorgung erhalten. Der Flüchtlingsrat Berlin fordert den Senat auf, den Beschluss des Abgeordnetenhauses umgehend durch Erlass einer neuen Ausführungsvorschrift, an die die Bezirksämter gebunden sind, umzusetzen. Von der Bundesregierung fordern wir die Aufhebung des Arbeitsverbots und die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes. Wir können nur all jenen zustimmen, die die Würde des Menschen nicht als Frage des Geldes empfinden. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Geteilte Medizin Geteilte Medizin Flüchtlinge sind von der regulären Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Einige Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Physio- und PsychotherapeutInnen stellen sich den gesetzlichen Einschränkungen entgegen. Sie behandeln Menschen ohne Aufenthaltsstatus und Flüchtlinge, denen die Behörden eine angemessene Versorgung verweigern, unentgeltlich. Das ist keine Lösung. Jeder muß ein Recht auf medizinische Betreuung haben. Die gesetzliche Ausgrenzung von Flüchtlingen können wir nicht hinnehmen! Menschenwürde ist unteilbar – Gesundheit für alle Kampagne für die uneingeschränkte medizinische Versorgung von Flüchtlingen Rassismus und Gewalt: Ärztlich attestierter Rassismus Hannover. Eine 66-jährige Frau ließ sich einen verbalen rassistischen Angriff von einem Arzt mit einem Attest legitimieren. Die Frau hatte in einem InterRegio einen Afrikaner mit den Worten angepöbelt: „Gehen Sie zur Seite, ich kann Schwarze nicht ausstehen!“ Den Zugbegleitern teilte sie mit: „Was will der Neger im Zug, ich habe eine Allergie gegen Schwarze.“ Der Kameruner erstattete Strafanzeige, die Frau erhielt einen Strafbefehl über 900 DM wegen Beleidigung. Sie jedoch legte Einspruch ein und präsentierte bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht ein „Attest“. Darin bescheinigt ihr ein Hamburger Arzt, dass die Frau „glaubwürdig auf die Nähe von Menschen mit schwarzer Hautfarbe mit psychosomatischen Beschwerden“ reagiere. Eine Medizinerin, die diese Meldung in der Zeitung gelesen hatte, reagierte. Sie schickte nebenstehenden Brief an den IPPNW, den Marburger Bund und die Bundesärztekammer. Die Ärztekammer Hamburg antwortete Anfang Juni und teilte die „Sehr geehrte Damen und Herren, im Göttinger Tageblatt vom 27.5. 2000 habe ich lesen müssen, dass ein Hamburger Arzt eine offen und beleidigend rassistisch auftretende Frau mittels eines ärztlichen Attestes in Schutz genommen habe. Er habe attestiert, die Frau reagiere „glaubwürdig“ mit psychosomatischen Beschwerden auf die Nähe von Menschen mit dunkler Hautfarbe. Wenn sich dies tatsächlich so zugetragen haben sollte, ist dies ein Skandal ersten Ranges! Es ist nicht zu fassen, dass sich Personen, die elementare ethische Grundsätze mit Füßen treten und die Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen missachten, hinter dem Leid seelisch Kranker verstecken. Sicherlich kann sich nur ein „krankes“ Herz und Hirn zu Sprüchen wie „Ich habe eine Allergie gegen Schwarze“ hinreißen lassen, die dahinterstehende „Krankheit“ ist aber keine bemitleidenswerte psychosomatische, sondern übler Rassismus in Reinkultur. Diese „Krankheit“ allerdings ist erschreckenderweise in der Mitte unserer Gesellschaft tief verankert. Umso wichtiger wäre es, dass sich Ärztinnen und Ärzte, die sich der Gesundheit (im Sinne der WHO) und der Menschlichkeit verpflichtet haben, gegen jede Form von Menschenverachtung und Rassismus wenden. Das Verhalten des Hamburger Arztes steht dem Rassismus seiner „Patientin“ in nichts nach und beleidigt die Berufsehre der gesamten Ärzteschaft. Ich bitte sie um eine deutliche und öffentliche Stellungnahme zu den obengenannten Vorgängen. Die Zeit zu schweigen ist lange vorbei! Mit freundlichen Grüßen Dr. med. Silke Reineke (Mitglied des IPPNW/Marburger Bundes) 89 Geteilte Medizin Empörung der Medizinerin aus Niedersachsen. Fall und Arzt waren ihnen jedoch unbekannt, aber: „Wir werden jetzt alles tun, um dieses herauszufinden, damit der betroffenen Arzt berufsrechtlich und berufsgerichtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Rechtsgrundlage hierfür ist der § 16 unserer Berufsordnung für Hamburger Ärzte, in der die Pflicht zur Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei Ausstellung ärztlicher Atteste verankert ist. Allem Anschein muss es sich hier um ein Gefälligkeitsattest handeln, so dass eine Berufspflichtverletzung vorliegt, die nach einer berufsgerichtlichen Verurteilung verlangt. Sie sehen daraus, dass die Ärztekammer Hamburg Ihrer politischen und rechtlichen Bewertung in vollem Umfang zustimmt. Ich werde mit unserem Pressesprecher darüber reden, inwieweit neben einer berufsrechtlichen Verfolgung die von Ihnen angeregte öffentliche Stellungnahme zum jetzigen oder einem späteren Zeitpunkt möglich und sinnvoll ist. ...“ (Ärztekammer Hamburg, 9.6. 2000). Todesurteil auf Raten? Landkreis Gifhorn will schwerkranken Dialyse-PPatienten abschieben Kai Weber D er Landkreis Gifhorn will einen schwerkranken Dialysepatienten und seine Familie in den Libanon abschieben, obwohl die Abschiebung für den Familienvater Lebensgefahr bedeuten würde. Ein fachmedizinisches Gutachten besagt, dass der Betroffene aufgrund diverser Erkrankungen „aus flugmedizinischer Sicht als normal reisender Flugpassagier nicht als flugreisetauglich anzusehen“ ist. Um die Abschiebung dennoch durchführen zu können, will der Landkreis den Libanesen in Begleitung eines Arztes auf der Bahre transportieren und ihm - auf Empfehlung der Deutschen Botschaft für ein Jahr die lebenswichtigen, im Libanon jedoch unerschwinglichen Medikamente mitgeben. Eine solche, mit humanitären Maßstäben kaum in Einklang zu bringende Vorgehensweise würde letztlich darauf hinaus laufen, ein „Todesurteil auf Raten“ auszusprechen. Der seit 1992 in der Bundesrepublik lebende Flüchtling erkrankte 1995 an einer schweren Niereninsuffizienz und muss sich dreimal wöchentlich für 5 Stunden einer Dialysebehandlung unterziehen. Ein Abbruch der Dialysebehandlung würde nach Aussagen des 90 Foto: novum Flughafeb Hannover Facharztes „mit Sicherheit den Tod des Patienten innerhalb kurzer Zeit zur Folge haben“. Auch wenn der Libanese den Flug in den Libanon überlebte, wäre eine weitere medizinische Versorgung ohne Hilfe von außen kaum gewährleistet. Zwar gibt es auch im Libanon eine Reihe von Dialysestationen. Die libanesische Familie (Vater, Mutter, drei Kinder) hat im Libanon jedoch keine Verwandten oder sonstige soziale Bindungen und wäre nicht in der Lage, die teuren Me- dikamente zu kaufen. Aufgrund der Erkrankung ist dem Familienvater die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit objektiv kaum möglich. Rechtsanwalt Waldmann-Stocker aus Göttingen hat sich jetzt mit einer Petition an den niedersächsischen Landtag gewandt und gefordert, der Familie eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen zu erteilen. Darüber hinaus stellte er einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Geteilte Medizin Oldenburg: Apartheid in der Röntgenabteilung Schwangere geröntgt - ohne Schutz , ohne Aufklärung Maria Wöste F lüchtlinge, die in die ZAST Oldenburg/Blankenburg kommen, werden geröntgt, ihnen wird Blut abgenommen – Routine-Untersuchungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes. In der ZAST befindet sich eine Außenstelle des Gesundheitsamtes Oldenburg mit Röntgenapparat und Untersuchungsräumen - Routine-Ausstattung. Was es bislang aber offenbar nicht gab sind Bleiwesten und andere Schutzvorkehrungen, die im „normalen“ Gesundheitssystem selbstverständlich sind. Bleiwesten wurden erst nach Intervention durch einen externen Arzt angeschafft, nachdem die schwangere Kurdin Sükran K., die ohne Schutz geröntgt wurde, eine Abtreibung vornehmen ließ. Im normalen Gesundheitssystem wird vor einer Röntgen-Untersuchung immer gefragt, ob eine Schwangerschaft vorliegt und dann i.d.R. nicht geröntgt. Dolmetscher sind aber in der ZAST nach Angaben des Gesundheitsamtes grundsätzlich beim „Aufklärungsgespräch“ nicht anwesend. Wenn unklar sei, ob eine Schwangerschaft vorliegt, werde diese Frage “per Gestik” geklärt. Im Januar diesen Jahres wurde Sükran K. im Rahmen der routinemäßigen Aufnahme-Untersuchungen in der ZAST Blankenburg geröntgt, ohne Bleischutz. Auch als ihr Mann geröntgt wurde, war sie bei ihm im Röntgen-Raum. Nach wenigen Tagen wurde sie erneut zum Röntgen bestellt. Warum die zweite Röntgenaufnahme notwendig geworden war, erklärte niemand. Auf dem Rückweg von der Gesundheitsstation traf sie eine Bekannte, der sie erzählte, das sie soeben vom Röntgen käme. Die Bekannte war entsetzt: Frau K. sei doch schwanger, ob sie nicht wisse, dass Röntgen schädlich für das Kind sei, es behindert auf die Welt komme. Frau K. war fassungslos. Sie suchte den Arzt erneut auf, machte ihm mit Zeichensprache deutlich, dass sie schwanger sei. „Darauf wirkte er, seinem Gesicht nach, sehr erstaunt.“ Frau K. wird an einen ambulanten Arzt überwiesen, wo das erste Mal ein Dolmetscher zugegen ist. Frau K.. „Ich sagte, dass ich sehr viel Angst hätte, sehr große Schuldgefühle hätte und nicht weiterwisse. Er sagte, dass er die Abtreibung selbst nicht vornehmen würde, sondern in einem Krankenhaus unter Vollnarkose, und dass ich keine Angst zu haben brauche“. Nachdem eine Beratungsstelle – mit Dolmetscher – die Indikation zur Abtreibung bestätigt hat, wird die Abtreibung in einem Krankenhaus durchgeführt. Die Nachuntersuchungen von Frau K. durch die Ärztin des Gesundheitsamtes und einen hinzugezo- berleistungsgesetz - und Illegalisierten grundsätzlich - medizinische Versorgung verweigert wird. Die „Geteilte Medizin“ greift auch, wenn bei Flüchtlingen routinemäßig – ohne Aufklärung und Entscheidungsmöglichkeiten – Röntgenaufnahmen vorgenommen werden. Und ebenfalls, wenn bei einem „Aufklärungsgespräch“ kein Dolmetscher vorhanden ist, eine Schwangerschaft nicht abgeklärt wird. In einer „normalen“ Praxis hätten sich Patientinnen längst darüber beschwert, wenn es keine Schutzwesten gäbe. In der regulären Gesundheitsversorgung gibt es Aufklärungsgespräche und Röntgenpässe, müssen Frauen unterschreiben, dass sie nicht schwanger sind. Foto: Lars Klingbeil genen Frauenarztes blieben ohne Befund. Ein unabhängiger Frauenarzt, den Sükran K. Ende Mai wegen starker Schmerzen aufsuchte, stellte jedoch eine anormale Schwellung des Uterus fest und wunderte sich, dass dies erst jetzt von ihm und nicht von anderen Ärzten festgestellt wurde. Frau K. erstattete Strafanzeige. Und so bilanziert Sükran K.: „Ich habe jedes Mal, wenn ich bei Ärzten war, gesagt, dass sie mich zwingen, das Kind abzutreiben. Schließlich haben sie mich zweimal geröntgt. Später habe ich erfahren, dass es sogar gefährlich für eine schwangere Frau ist, sich nur im Röntgenraum zu befinden.“ Unter der „Geteilten Medizin“ haben Flüchtlinge nicht nur zu leiden, wenn ihnen nach Asylbewer91 Geteilte Medizin Traumatisierte I: Kriminalisierung von Ärzten und Flüchtlingen M Zusammengestellt von der Redaktion it der Repressionskeule hat in Berlin die Staatsgewalt zum Gegenschlag ausgeholt. Der Polizeiärztliche Dienst hatte fast allen traumatisierten BosnierInnen, die bis dato ein Bleiberecht wegen einer attestierten Traumatisierung erhalten hatten um sich einer Therapie zu unterziehen, die Traumatisierung „aberkannt“. In einem Schnellverfahren waren sie – ohne qualifizierte Dolmetscher, teilweise mit Übersetzung durch die eigenen Kinder – durch ÄrztInnen des Polizeiärztlichen Dienstes „begutachtet“ worden, die z.T. nicht einmal FachärztInnen waren. Keines dieser Gutachten des polizeiärztlichen Dienstes hielt bislang einer Überprüfung durch die Gerichte statt, eine wissenschaftliche Untersuchung fällt ein vernichtendes Urteil über die fachlichen Standards (vgl. Geteilte Medizin. FLÜCHTLINGSRAT 68, S. 45). Trotzdem werden die betroffenen Flüchtlinge abgeschoben, die behandelnden MedizinerInnen und die Flüchtlinge kriminalisiert. (Red.) “Für das Verwaltungsgericht Berlin muss das Vorgehen des polizeiärztlichen Dienstes „als offensichtlicher, durch nichts zu rechtfertigender ärztlicher Kunstfehler angesehen werden“. „Davon unbeeindruckt ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegen zwei niedergelassene Ärzte, die rund 600 Flüchtlingen eine Traumatisierung attestiert haben. Allerdings konnte der Vorwurf der Gefälligkeitsatteste nicht belegt werden. Vielmehr wurde in bislang zehn Fällen von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen die ursprüngliche Diagnose über eine Kriegstraumatisierung bestätigt. Dennoch hat die Polizei die Praxis der Ärzte durchsucht und die Patientenakten beschlagnahmt. Gegen die betroffenen Patienten wird ebenfalls ermittelt. Ihnen wird vorgeworfen, unrichtige Gesundheitszeugnisse zu gebrauchen und damit gegen das Ausländergesetz zu verstoßen. Offenbar genügen der Staatsanwaltschaft die umstrittenen polizeiärztlichen Gutachten als Grundlage für ein Ermittlungsverfahren. „Ich halte das für ungeheuerlich“, sagt der Rechtsanwalt der beschuldigten Ärzte. Hier werde nach einem Weg gesucht, Flüchtlinge zu kriminalisieren. Damit erhöhe man den Druck auf die Betroffenen, „die Segel zu streichen“ Traumatisierte II: Die beschuldigten Ärzte sind überzeugt, dass in Berlin versucht wird, die Medizin für die Politik zu instrumentalisieren. Den Vorwurf, dass sie rund 600 Patienten eine Traumatisierung attestiert haben, erklären sie damit, dass es neben den Institutionen wie dem Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin nur zwei Fachärzte gebe, die Serbokroatisch, die Muttersprache der Patienten, sprechen – Voraussetzung für eine angemessene Therapie. „Wir sind von der Flüchtlingsproblematik überrollt worden,“ sagt einer der Ärzte, die in ihrem Praxisalltag feststellen, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Patienten verschlechtert, je länger deren unsicherer Aufenthaltsstatus andauert. Zusätzlich belastend, teils retraumatisierend, seien die Untersuchungen beim Polizeiärztlichen Dienst. ... Ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Polizeiärztinnen, denen vorgeworfen wurde, Patientendaten an die Kriminalpolizei weitergegeben zu haben, verlief ergebnislos.” (Auszug aus „Zwischen Staatsraison und Patientenwohl“, Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9.Juni 2000) Foto: Nazi - Aufmarsch Ärztetag gegen Abschiebung A uf dem 103. Deutschen Ärztetag verlangten die 250 Delegierten, Flüchtlingen einen gesicherten Aufenthaltstatus zu geben, solange sie wegen der Nachwirkungen von Folter und Verfolgung behandlungsbedürftig seien. Dazu müsse es Untersuchungen von unabhängigen Ärzten geben, die ausreichend mit posttraumatischen Belastungsstörungen vertraut seien. Wenn ärztliche Stellungnahmen sich für eine Behandlung aussprechen, müsse bei der oft schwierigen Entscheidung zwischen Bleiberecht und Abschiebung im Zweifel zugunsten des Bleiberechts entschieden werden 92 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Geteilte Medizin Traumatisierte III: Schily gegen Abschiebung B undesinnenminister Schily schreibt am 26. 5. 2000 an die „Sehr geehrten Kollegen“: „Anknüpfend an unsere Gespräche mit Herrn Bürgermeister a.D. Hans Koschnik in Görlitz und unser Kamingespräch in Düsseldorf möchte ich Ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Frage der aufenthaltsrechtlichen Behandlung traumatisierter Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina sowie dem Kosovo lenken. Zu diesem Fragenkomplex erreichen mich in jüngster Zeit vermehrt Eingaben aus Kreisen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände, in denen beklagt wird, dass auch schwertraumatisierte Personen und ehemalige Lagerhäftlinge zur Ausreise aufgefordert werden und ihnen die Abschiebung angedroht wird. Schon diese Androhung, erst recht aber die erzwungene Rückkehr führe bei den Betroffenen regelmäßig zu einer Retraumatisierung und mache mühevoll erreichte Behandlungserfolge wieder zunichte. In vielen Fällen sei zudem eine ausreichende Anschlussbehandlung nicht sichergestellt. Im Interesse der medizinischen Behandlung sollte meines Erachtens von der Erteilung auf drei Monate befristeter Duldungen grundsätzlich abgesehen und der gesetzliche Rahmen ausgeschöpft werden. Foto: Nazi - Aufmarsch Im Übrigen sollte bei chronisch traumatisierten Menschen eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. Dabei gehe ich davon aus, dass sich diese schwere Form der Traumatisierung medizinisch konkret beurteilen lässt und als Anknüpfungspunkt für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis sachgerecht ist.“ (siehe auch „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“) Traumatisierte IV: Keine Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien D er gemeinsame Expertenausschuss zum deutsch-bosnischen Rücknahmeabkommen hat seine Einschätzungen zu den Behandlungsmöglichkeiten traumatisierter Personen in Bosnien-Herzegowina revidiert. In der abgestimmten Niederschrift der 9. Sitzung des Expertenausschusses vom 11. bis 12. Mai 2000 in Berlin wird konstatiert, die erwartete Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten sei bisher nicht eingetreten. Noch bei seiner vorletzten Sitzung im Oktober 1999 hatte der Expertenausschuss die Erwartung geäußert, dass sich die Möglichkeiten der therapeutischen Behandlung in Bosnien-Herzegowina im Jahre 2000 verbessern würden. Dem widersprachen UNHCR, Auswärtiges Amt, die deutsche Botschaft und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, die Traumatisierte betreuen und therapieren. Dennoch hatten die meisten Innenministerien der Länder unter Verweis auf die Einschätzung des Expertenausschusses ihre Ausländerbehörden angewiesen, Flüchtlinge, die bisher nicht in intensiver fachärztlicher Betreuung stehen bzw. erst in der letzten Zeit ihre Traumatisierung gegenüber Therapeutinnen und Therapeuten offenbarten, auf die angeblich ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien zu verweisen und zur Ausreise aufzufordern. In einigen Bundesländern haben die Abschiebungen traumatisierter Flüchtlinge bereits begonnen. Pro Asyl kritisierte die Ergebnisse des Expertenausschusses. So werde eine Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten traumatisierter Personen ohne jegliche Grundlage nunmehr einfach für den kommenden Herbst in Aussicht gestellt. Auch sei es inakzeptabel, dass die Leiterin der deutschen Delegation, Ministerialdirigentin Cornelia Rogall-Grothe, bei der Sitzung des Expertenausschusses in den Raum gestellt habe, man kön- ne eine qualifizierte Weiterbehandlung durch die Erteilung von Duldungen bis zu 12 Monaten ermöglichen. Damit falle sie hinter die Position von Bundesinnenminister Schily zurück. Ebenso wie UNHCR und Wohlfahrtsverbände fordert PRO ASYL eine abschließenden Bleiberechtsregelung für die nur noch etwa 37.000 ausreisepflichtigen Flüchtlinge aus Bosnien. Die Länderinnenministerien seien aufgefordert, die auf den bisherigen Aussagen des Expertenausschusses basierenden Erlasse, die Traumatisierte zur Ausreise auffordern, aufzuheben. (aus: Presseerklärung Pro Asyl 29. Juni 2000. Die Abgestimmte Niederschrift des Gemeinsamen Expertenausschusses gemäß Artikel 9 des deutsch/bosnisch-herzegowinischen Rückübernahmeabkommens vom 11.05. bis 12.05. 2000 in Berlin kann über die Geschäftsstelle von PRO ASYL bezogen werden) 93 Geteilte Medizin Traumatisierte V: Hauptsache weg D as Bundesinnenministerium führt Erhebungen in den Bundesländern (auch Niedersachsen) durch, um die Zahl der schwer traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina festzustellen. Diese Erhebung erfolgten „im Interesse eines gezielten Aufbaus von Therapieeinrichtungen in Bosnien-Herzegowina“. Der Versuch, so die politischen For- derungen nach Bleiberecht und Behandlung für schwer Traumatisierte zu unterlaufen, verhinderten auch in der Vergangenheit auf den Innenministerkonferenzen regelmäßig eine entsprechende Bleiberechtsvereinbarung. In Niedersachsen gilt immer noch der Erlass aus dem Frühjahr letzten Jahres, wonach schwer Traumatisierte nicht abgeschoben werden sollen. Was Hannover: Schutzimpfungen für Flüchtlinge Flüchtlinge, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, bekommen Krankenscheine nur auf Nachfrage beim Sozialamt ausgehändigt. Die Krankenscheine enthalten in vielen Kommunen den Aufdruck: „Nur bei akuter und schmerzhafter Erkrankung“. Neben allen anderen Konsequenzen verhindert dieser Aufdruck auch die Versorgung von Flüchtlingen mit Schutzimpfungen und Vorsorge-Untersuchungen. Spezielle Krankenscheine dafür werden ihnen nicht ausgehändigt. Die Ständige Impfkommission (STIKO) gibt demgegenüber Empfehlungen aus, wonach in den Erstauf- nahme-Einrichtungen für Flüchtlinge schon die Grundimmunisierung mit den in Deutschland vorgesehenen Standard-Impfungen erfolgen sollte. In Hannover brachte die PDS eine Anfrage in die Ratsversammlung ein, wie denn die Versorgung mit Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen mit diesem Aufdruck zu vereinbaren sei und verlangte die Tilgung dieses problematischen Stempels und die quartalsweise Ausgabe von Krankenscheinen. Das Sozialamt Hannover versicherte Ende Juni, dass die Kosten für amtlich empfohlene Schutzimpfungen trotz Aufdruck über- nicht verhindert, dass ihre Traumatisierung angezweifelt und dennoch Abschiebungen versucht werden. So geschehen bei einem Jugendlichen aus dem Landkreis Uelzen im Mai diesen Jahres. Erst in letzter Minute stoppte das Innenministerium auf Intervention des Flüchtlingsrates die Abschiebung – der Jugendliche wurde aus dem Flugzeug geholt (vgl. Krankhafte Angst vor Abschiebung. In: Geteilte Medizin, FLÜCHTLINGSRAT 68). (Red.) nommen würden. Die Verwaltung will dies nun gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung klarstellen, schließlich gebe es ein „öffentliches Interesse“ an den – allerdings freiwilligen – Impfungen. Der Aufdruck auf den Krankenscheinen habe das Ziel, die Einreise von Flüchtlingen zum Zwecke der Krankenbehandlung zu vermeiden (Nach HAZ vom 23. 6.00). Nach unseren Erfahrungen dient der Aufdruck vor allem der Vertreibungspolitik und kommunalen Einsparinteressen auf Kosten der Flüchtlinge. (Red.) (Der Ratsantrag kann bei der Geschäftsstelle abgerufen werden) Keine Operation wegen fehlender Deutschkenntnisse E ine schwer herzkranke Türkin ist von einer Herzklinik in Bad Oeynhausen nicht in die Warteliste für Herztransplantationen aufgenommen worden. Begründung: schlechte Deutschkenntnisse. Nachdem ihr zunächst zugesagt worden war, sie werde in die Warteliste aufgenommen, erhielt sie im Februar 2000 eine Ablehnung, wonach: „... insbesondere unter Berücksichtigung der sozialen Lage und der nicht vorhandenen Sprachkenntnisse eine Indikation zur Herztransplantation als nicht 94 gegeben“ angesehen werde. Die Nachbetreuung nach Herztransplantationen ist lebenswichtig. Soziokulturelle Probleme, große Sprachdefizite verhinderten nach Ansicht des verantwortlichen Mediziners in der Herzklinik eine ausreichende Nachsorge – wie die Erfahrung zeige. PatientInnen, die bestimmten Risiko-Gruppen angehören (Raucher, Alkoholiker), würden ebenfalls wegen geringerer Überlebenschancen nicht auf die Liste gesetzt. Die fließend deutsch sprechende Tochter versi- cherte der Herzklinik, dass sie rund um die Uhr als Dolmetscherin für die Mutter zur Verfügung stehe. Doch die Mediziner in Bad Oeynhausen ließen sich nicht umstimmen. Mittlerweile wurde Frau E. jedoch vom Herzzentrum Münster in die Warteliste aufgenommen – vermittelt durch einen Oberarzt der Uniklinik Gießen, der Mitbegründer der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung ist. (Red.) FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Ehe und Familie Ehe und Familie Rassismus und Gewalt: Prügel als Abschiebungsgrund Bettina Stang D ie Geschichte der Kurdin A. ist geeignet, auch hartgesottenen Kennern der behördlichen Ignoranz gegenüber menschlichem Leid die Haare zu Berge stehen zu lassen. A. reist im August vergangenen Jahres mit einem Visum zur Familienzusammenführung zu ihrem Ehemann nach Deutschland ein. Die Ehe wurde durch die Eltern der Brautleute arrangiert, A. war sie nur widerwillig eingegangen. A. wird eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Seit Oktober liegt A. mit schweren Verletzungen im Krankenhaus, nachdem sie sich vor der Gewalttätigkeit ihres Mannes durch einen Sprung aus dem Fenster rettete. Verdacht auf Querschnittslähmung. Noch im Krankenhaus erreicht sie ein Brief der Ausländerbehörde: Wegen Sozialhilfebezugs habe sie trotz ihrer Heirat ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland verwirkt. “Sie nehmen seit dem 1.12.1999 Sozialhilfeleistungen in Anspruch. Ihre befristete Aufenthaltserlaubnis ist somit mit der Inanspruchnahme von Sozialhilfe er- loschen.” Die Kurdin, so stellt die Sachbearbeiterin fest, habe ihren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung im übrigen zu spät gestellt und halte sich illegal in Deutschland auf: “Aufgrund der verspäteten Beantragung gilt ihr Aufenthalt gemäß §69 i.V.m. § 42 des Ausländergesetzes (AuslG) bis zur Entscheidung über den Antrag nicht als erlaubt oder geduldet.” Damit nicht genug. Der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei außerdem abzulehnen. “Sie haben sich im Oktober 1999 bei einem Sprung aus dem Fenster, durch den Sie sich vor erneuten Schlägen durch Ihren Ehemann retten wollten, erhebliche Verletzungen zugezogen. Daher leben Sie derzeit in der Klinik für..., mithin derzeit von Ihrem Ehemann getrennt(...) Es ist nicht davon auszugehen, dass Sie im Anschluss an Ihren Klinikaufenthalt zu Ihrem Ehemann zurückkehren und die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufnehmen werden. Da aufgrund Ihrer Trennung keine eheli- che Lebensgemeinschaft mehr besteht, beabsichtigen wir, Ihren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abzulehnen und Sie unter Fristsetzung und Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufzufordern.(...) Wir weisen Sie darauf hin, dass es Ihnen nach § 70 Abs.1 S.1 Ausländergesetz (AuslG) obliegt, Ihre Belange und für Sie günstige Umstände, soweit Sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen...”. (Hervorhebungen von der Redaktion) Mit diesem Schreiben - elf Tage vor Inkrafttreten des reformierten §19 AuslG - wollte die Behörde offenbar der neuen Gesetzgebung zuvorkommen. Nach der Neufassung eines eigenständigen Aufenthaltsrechtes ausländischer Ehegatten ist die Ausreiseaufforderung eindeutig unrechtmäßig. Der Inhalt des neuen Gesetzes war schon lange bekannt - der Bundestag beschloss die Gesetzesänderung schon im März! Der böse Wille ist unverkennbar. 95 Ehe und Familie INFO Die Neufassung des § 19 sieht vor: - eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits nach zwei Jahren ehelicher Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet und - im Fall einer "besonderen Härte" schon vorher (ohne Fristsetzung). Eine "besondere Härte" liegt gemäß der Begründung der Gesetzesinitiative dann vor, wenn - einer der Ehegatten physisch oder psychisch misshandelt wird, - das in der Ehe lebende Kind vom Ehegatten sexuell misshandelt wird, - bei einer Rückkehr ins Herkunftsland "gesellschaftliche Diskriminierung" eine eigenständige Lebensführung unmöglich machen, - im Herkunftsland der Kontakt mit dem eigenen Kind(ern) "willkürlich" untersagt wird oder der Frau im Herkunftsland eine Zwangsabtreibung droht. Das Wohl "eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes" ist nach der neuen Gesetzesfassung ebenfalls als "schutzwürdiger Belang" anzusehen. Laut Gesetzesbegründung soll "insbesondere Alleinerziehenden" die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift "nicht deshalb versagt werden, weil sie wegen der Betreuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf den bezug von Sozialhilfe angewiesen sind". Entsprechend ist der Bezug von Sozialhilfe grundsätzlich kein Hindernis. Sozialhilfebezug kann aber dann zur Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis führen, wenn die Behörden meinen, hierfür sei die (der) Betroffene verantwortlich. §19 Abs. 1 Satz 3 lautet: "Zur Vermeidung von Missbrauch kann die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in den Fällen des Satzes 1 Nr.2 (im Falle der besonderen Härte) versagt werden, wenn der Ehe- gatte aus einem von ihm zu vertretenden Grund auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe angewiesen ist." Nach Auskunft des niedersächsischen Innenministeriums liegt eine Verwaltungsvorschrift des Bundes noch nicht vor. Im Erlass des Ministeriums wird deshalb nur darauf verwiesen, dass die alten Verwaltungsvorschriften aufgehoben sind und alles weitere bis zur Erstellung neuer Vorschriften dem neuen Gesetzestext zu entnehmen sei. "Auch in Fällen, in denen bereits rechtskräftig oder unanfechtbar die Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts abgelehnt wurde, ist auf Antrag nach der neuen Rechtslage erneut zu entscheiden; es sei denn, die Ausländerin oder der Ausländer ist oder war nicht nur vorübergehend unbekannten Aufenthalts", heißt es im Ausführungserlass des MI vom 29.06.2000. Apartheid T. u. J.Paul Familienglück I : Eheleute unter dem Argwohn der Behörden Bettina Stang W ird bei binationalen Eheschließungen das Schnüffeln in privaten Angelegenheiten zur Routineübung? Fälle, wo Visa verweigert, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert und trotz (beabsichtigter) Eheschließung Abschiebungen eingeleitet werden, scheinen seit der Neufassung des Eheschließungsgesetzes deutlich zuzunehmen. Drei Beispiele: „Deutschland kein Einwanderungsland“ Der Nigerianerin B. wird die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis nach drei Jahren Ehe mit einem Deutschen allein aus dem Grund verweigert, weil dieser wiederholt angeblich “ohne triftigen Grund” aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war - 16 Monate insgesamt. Sie und ihre beiden Kinder werden nach einem Aufenthalt 96 von zehn Jahren in Deutschland zur Ausreise aufgefordert. Die Ausländerbehörde behauptet, es bestehe - trotz erfolgter Heirat - nur eine „Begegnungsgemeinschaft“ (was immer das ist) und erwidert auf den Widerspruch des Rechtsanwalts: “In diesem Zusammenhang sind nämlich Ihre Ausführungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer und Erwerbstätigkeit unerheblich.(...) Es besteht ferner ein öffentliches Interesse daran zu verhindern, dass sie (die Nigerianerin B.) die nur zum Zwecke der Familienzusammenführung erlangte Aufenthaltserlaubnis dazu benutzt, sich in das wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und sich hier dauernd niederzulassen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwan- derungsland ist, und es somit pflichtgemäßer Ermessensausübung entspricht, Ausländern die weitere Anwesenheit im Bundesgebiet zu verwehren, die durch ihren Aufenthalt zu den wirtschaftlichen und sozialen Problemen beitragen können.(...) In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass die Kinder im Bundesgebiet geboren sind.(...) Ich verkenne nicht, dass sich die Kinder bei der Rückkehr nach Nigeria unter Umständen an etwas andere Lebensumstände gewöhnen müssen. Dies sind jedoch allgemeine Härten, die jede Ausreiseverpflichtung mit sich bringt.” Das Verwaltungsgericht bestätigt diese skandalöse Entscheidung der Ausländerbehörde. Auch der angeordnete Sofortvollzug der Ausweisung wird vom Verwaltungsgericht nicht beanstandet. Frau B. er- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Ehe und Familie leidet in dieser Situation einen Nervenzusammenbruch und muss in die Psychiatrie eingewiesen werden. Die behandelnden Ärzte stellen das Vorliegen einer Reiseunfähigkeit fest und verhindern so die Durchführung der Abschiebung. Erst das Oberverwaltungsgericht ordnet im Eilverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage wieder an: Bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren besteht Abschiebeschutz. Die Tatsache, dass der Ehemann vorübergehend außerhalb der gemeinsamen Wohnung lebte, sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts noch nicht als “Scheitern der Ehe” zu deuten. Auszugehen sei vielmehr von einer aktuellen Versicherung des Ehemanns, dass die Ehe aufrecht erhalten wird. Oldenburg: In den Fluss gehetzt In Oldenburg wird der Algerier C. nach einem Gerichtstermin von der Polizei in einen Fluss gehetzt, aus dem er schließlich vor dem Ertrinken gerettet werden muss. C. gilt als ausreisepflichtig, sein Aufenthalt als illegal, obwohl er eine Heirat mit einer Deutschen vorbereitet. Dem Paar wurde vom Standesamt unterstellt, nur eine Scheinehe zu beabsichtigen und mit dieser Begründung die Eheschließung verweigert. Dagegen klagten sie, es kommt zu einem Landgerichtstermin, bei dem das Gericht feststellt, dass einer Heirat grundsätzlich nichts im Wege stehe. Vor den Türen des Gerichts warten Polizeibeamte, um C. in Abschiebehaft zu nehmen – die Ausländerbehörde hatte von dem Gerichtstermin erfahren. Freunde des Paares werfen sich zwischen Polizei und C.. C. flüchtet in die Hunte und wird nach seiner “Rettung” aus dem Fluss in Haft genommen. Erst auf Intervention des Flüchtlingsrates wird er wieder aus der Haft entlassen – die Ausländerbehörde war von dem positiven Ausgang des Gerichtverfahren nicht unterrichtet worden. Mittlerweile ist das Paar verheiratet. Ein hoffentlich nur vorläufig erschreckendes Ende nahm folgendes Heiratsdrama, das sich im ohnehin in seinem Umgang mit Asylsuchenden besonders übel beleumdeten Thüringen abspielte: Abschiebung trotz Ehe schließung - verschwunden Im März wird der Nigerianer John Paul im Haus seiner Schwiegereltern in Thüringen verhaftet und drei Monate später aus der Abschiebungshaft heraus abgeschoben. Seitdem hat seine Frau nichts mehr von ihm gehört, niemand weiß, wo er sich befindet. Die deutsche Botschaft kann nur mitteilen: Aufenthalt unbekannt, die nigerianischen Behörden hätten mitgeteilt, dass Herr Paul „nach Überprüfung der Fahndungslisten aus dem Gewahrsam der Immigration entlassen worden sei“. Das Auswärtige Amt hatte Frau Paul jedoch nach der Abschiebung bestätigt, dass gegen ihren Mann ein nigerianischer Haftbefehl bestehe. Das Paar hatte sich kennengelernt, als John Paul in Thüringen in einem Asylbewerberheim wohnte. Sie heirateten schließlich in Frankreich, nachdem John Paul mehrfach in Thüringen von Rechtsradikalen überfallen wurde. Eine Ausweisungsverfügung, die gegen ihn erlassen wurde, erreicht ihn nie. Arglos reiste John Paul wieder nach Deutschland ein und meldeten sich in der Ausländerbehörde. Dort wurde P. mitgeteilt, die Ausweisungsverfügung gegen ihn sei immer noch maßgeblich, er halte sich illegal in Deutschland auf, die Heirat in Frankreich ändere nichts daran. Wenige Tage darauf wurde P. verhaftet. Anwaltlich schlecht beraten, konnte Frau Paul in den drei Monten Abschiebungshaft für P. letztlich nichts erreichen. Mit den Behörden erlebte sie ein wahres Katz-und-Maus-Spiel. Sie bekam Fehlinformationen über den Aufenthaltsort ihres Mannes oder ihr wurden Informationen verweigert. Einmal ließ sich die Abschiebung noch am Flughafen Frankfurt verhindern. Doch schließlich wurde ihr Mann doch abgeschoben, ohne dass die Behörden sie darüber informierten. Jetzt versucht eine neue Rechtsanwältin, Licht in die Sache zu bringen. Selbst wenn John Paul in Nigeria wiederauftaucht, wieder nach Deutschland kommen könnte er nur, wenn die Abschiebungskosten bezahlt sind - von dem Ehepaar Paul. Und die automatische Wiedereinreisesperre nach einer Abschiebung müsste nachträglich befristet werden, dann wäre eine Duldung wegen der Heirat möglich, so die Ausländerbehörde heute. Doch - bislang sei aus Nigeria kein solcher Antrag eingegangen. Nähere Informationen und Fax-Kampagne: Menschenrechtsverein Bremen www.humanrights.de Familienglück II: Gemeinsames Kind und Ausreisepflicht D em ausländischen Elternteil eines minderjährigen deutschen Kindes ist zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das besagt §23 AuslG. Doch die Ausländerbehörden argumentieren, dass die illegale Einreise das Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung verwirkt, und berufen sich hier auf § 8 AuslG. Nach §8 AuslG darf eine Aufenthaltserlaubnis nur bekommen, wer legal in das Bundesgebiet eingereist ist. Allein diejenigen illegal Eingereisten, die im Bundesgebiet eineN DeutscheN heiraten, sind von dieser Bestimmung u.U. ausgenommen (§9 AuslG). Was aber machen diejenigen, die Kinder mit Aufenthaltsberechtigten/Deutschen haben, aber nicht verheiratet sind - etwa weil die Papiere nicht beschafft werden können? Nach Auffassung der Ausländerbehörden müssen sie zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch einmal ins Heimatland reisen, um nachträglich ein Visum - zur Familienzusammenführung - einzuholen. Grundsätzlich hat das Bundesverwaltungsgericht schon 1997 (Informationsbrief Ausländerrecht 97 Ehe und Familie 1998, S. 276ff) festgestellt, dass der Schutz von Ehe und Familie höher zu bewerten sei als die deutschen Einreisebestimmungen. Deshalb könne bei Härtefällen, in denen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht möglich ist, auch eine Aufenthaltsbefugnis nach §30,3 AuslG erteilt werden: Und zwar dann, wenn eine Ausreise ins Heimatland zur nachträglichen Einholung eines Einreisevisas - etwa mit Blick auf den grundgesetzlich verbürgten Schutz von Ehe und Familie - “unzumutbar” erscheint. Eine Aufenthaltsbefugnis ist ein weitaus schwächerer Status als eine Aufenthaltserlaubnis. Sie sieht beispielsweise die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ohne Rücksicht auf den Arbeitsmarkt erst nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Deutschland vor. Immerhin kann die Befugnis aber nach zwei Jahren - auch bei illegaler Einreise, sagt das MI in einem weiter unten näher erläuterten Erlass - in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden. Nur wenige Behörden scheinen dieser Kann-Bestimmung nachzukommen. Die Regel ist immer noch, dass der unverheiratete Elternteil zur Ausreise aufgefordert wird. Das Auswärtige Amt hat deshalb die zuständigen Landesbehörden schriftlich aufgefordert, diese Möglichkeiten stärker zu nutzen. Moniert wird, dass „die Mehrheit der Bundesländer sich leider stoßes gegen das Visumverfahren im Rahmen des Familiennachzugs ausdrücklich aus, so kommt die Ermächtigung einer grenznahen Auslandsvertretung in Betracht.” Dies soll aber nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Ausnahme bleiben: “Die Ausländerbehörden sollen aber ihre rechtliche Handhabe ausschöpfen und ihre eigene Verwaltungstätigkeit nicht vorschnell durch Verweis auf die Ermächtigung einer grenznahen Auslandsvertretung entlasten.” Der größte Pferdefuß wird bei einem solchen Verfahren im übrigen die voraus gesetzte legale Einreise ins Nachbarland sein. Niedersachsen hat mit einem eigenen Erlass vom 7. Mai 1999 auf das BVerwG-Urteil reagiert und für mit Deutschen verheiratete Ehepartner Bedingungen formuliert, bei deren Vorliegen die Heilung von Visumsverstößen möglich ist. Doch für unverheiratete ausländische Elternteile ergibt sich aus dem Erlass kein Vorteil. Mit Deutschen verheiratete Ausländer müssen bei Nichterfüllung der im Erlass genannten Härtegründe weiterhin mit einer Abschiebung rechnen. Auch unverheiratete binationale Paare mit einem deutschen Kind sind unter bestimmten Umständen in Gefahr, durch Abschiebung getrennt zu werden, obwohl das neue KJHG das Recht des Kindes auf Erziehung durch beide Elternteile betont. Zwei Beispiele: * L. aus Togo, wohnhaft in Sachsen-Anhalt, hat mit S. aus Helmstedt ein gemeinsames Kind. Während S. studiert, kümmert sich L. um die Tochter. Dazu hat er den ihm zugeteilten Landkreis verlassen. L. hält sich also unerlaubt in Helmstedt auf. Eine Umverteilung ist beantragt, doch das Verfahren ist langwierig, und die Chancen stehen schlecht. nicht dazu bereit fand, in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz eine klarstellende Regelung aufzunehmen.” Die Ausländerbehörden sollen, so das AA, eine sorgfältige Prüfung vorzunehmen. “Schließt eine Ausländerbehörde als Ergebnis ihrer Prüfung eine Heilung des Ver98 Eine Rechtsanwältin beantragt schließlich die Aufenthaltserlaubnis für den Vater. Die Stadt Magdeburg antwortet, dass die illegale Einreise die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zulasse. Später verweist die Ausländerbehörde Magdeburg auf die Zu- ständigkeit Helmstedts, das “die tatsächliche Verhältnisse in seinem Bezirk, hier etwa die Frage danach, ob der Antragsteller tatsächlich in Lebensgemeinschaft mit seiner Verlobten und dem gemeinsamen Kind lebt, im Zweifel wegen der Ortsnähe einfacher beurteilen” könne als die “auswärtige Behörde”. Die Stadt Helmstedt erklärt sich jedoch ebenfalls für unzuständig, da L. in Helmstedt nicht gemeldet sei. Über das weitere Schicksal der Familie ist dem Flüchtlingsrat nichts bekannt. * der Nigerianer I., Mitglied von The Voice in Jena, hat mit seiner deutschen Verlobten eine gemeinsame Tochter. Die Papiere für eine Heirat werden seit Monaten von der Deutschen Botschaft in Lagos zur Bearbeitung gesammelt. Bis eines der Papiere bearbeitet war, hatte das andere schon seine Gültigkeit verloren und musste von Verwandten I.s neu besorgt werden - der gewöhnliche Horror von binationalen Heiratswillligen. Die Mutter H. hat in Hamburg eine Ausbildung begonnen, aber I. darf sich aus seinem alten Wohnort nicht ummelden. Besuche in Hamburg müssen zuvor von der Behörde in der nächsten Kreisstadt genehmigt werden. I. betreut die gemeinsame Tochter also an seinem Wohnort in Thüringen. Selbst nach einem Krankenhausaufenthalt des Kleinkindes darf I. nicht in Hamburg bleiben, sondern muss für die Weiterbehandlung neue Ärzte in seiner näheren Umgebung aufsuchen. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen reicht im thüringschen Landtag eine Petition für das Paar ein, die abgelehnt wird: Der Mann habe zwar grundsätzlich nach §23 das Recht, seine Tochter in Deutschland zu betreuen, müsse zuvor aber ausreisen. I. fürchtet in Nigeria seine Verhaftung. Außerdem ist ungewiss, wann die Botschaft soweit ist, ein Visum zu erteilen. Anfang diesen Jahres wird I. schließlich in der elterlichen Wohnung seiner Verlobten verhaftet und zur nigerianischen Botschaft nach Bonn gefahren. Da diese keine Reisepapiere ausstellt, muss er wieder frei gelassen werden. Der Ausgang des Familiendramas ist noch ungewiss. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Ehe und Familie Der „Fall Sürül“ und die Folgen Neue Kindergeld- und Erziehungsgeld-Ansprüche Kai Weber Anspruch auf Kindergeld und Erziehungsgeld unabhängig vom Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder -b berechtigung für ArbeitnehmerInnen türkischer, tunesischer, algerischer, marokkanischer Staatsangehörigkeit, Konventionsflüchtlinge, (jugoslawische Staatsangehörige) D er Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem Verfahren der Familie Sürül mit Urteil vom 4.5.1999 - Rs C-262/96 (Sürül) entschieden, dass ArbeitnehmerInnen mit türkischer Staatsangehörigkeit aufgrund der Regelung des Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB) EWG/Türkei Nr. 3/80 Anspruch auf Gleichbehandlung bei der Gewährung von Familienleistungen (hier: Kindergeld) haben. Voraussetzung dafür ist dem EuGH zufolge allein die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80, auf den Aufenthaltsstatus kommt es nicht an. (Urteil abgedruckt in: Informationsbrief Ausländerrecht InfAuslR 78/99, S. 324-330). Das EuGH-Urteil ist damit auch für Personen mit Aufenthaltsbefugnis oder -bewilligung sowie für Flüchtlinge mit Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltsbewilligung oder Duldung von Bedeutung. Allerdings bestreitet die Bundesregierung mit mehr als fragwürdiger Begründung weiterhin die Anwendbarkeit des EuGH-Urteils auf nicht anerkannte Flüchtlinge und verweist zur Rechtfertigung auf einen Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts vom 16.12.1999. Das Bundessozialgericht will mit seiner Vorlage an den EuGH ausdrücklich festgestellt wissen, ob die Entscheidung vom 4.5.99 auch auf Personen Anwendung findet, die als Flüchtlinge eingereist und später als ArbeitnehmerInnen beschäftigt wurden. Die Chancen für eine positive Entscheidung stehen gut. Flüchtlinge, die die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne der unten gemachten Ausführungen erfüllen, sollten daher unbedingt einen Antrag auf Kindergeld stellen und ggfs. bei Ablehnung Rechtsmittel einlegen. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 4.5.1999 festgestellt, dass die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 dann vorliegt, wenn die betreffende Person „auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, ohne dass es darauf ankommt, ob sie in einem Arbeitsverhältnis steht“. Das bedeutet, dass nicht nur diejenigen türkischen ArbeitnehmerInnen, die in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen, diese Arbeitnehmereigenschaft erfüllen. Auch wenn für einen Elternteil Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt werden, ist die „Arbeitnehmereigenschaft“ gegeben. Gleiches gilt, wenn türkische Staatsangehörige regelmäßig und auf Dauer eine geringfügige Beschäftigung mit einem Verdienst bis 630,- DM ausüben, da diese Beschäftigungen seit dem 1.4.1999 der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung unterliegen. Die Rechte aus der Arbeitnehmereigenschaft stehen auch den EhepartnerInnen zu, selbst wenn diese nicht selbst im System der sozialen Sicherheit versichert sind, sofern der/die andere Ehepartner/in entsprechend versichert ist. Unter Umständen er- füllen auch SozialhilfeempfängerInnen die geforderten Bedingungen, wenn sie (z.B. aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung) selbst Mitglied einer Krankenversicherung sind, deren Kosten vom Sozialamt lediglich übernommen werden. Ein Anspruch könnte u.U. sogar dann gegeben sein, wenn im Rahmen einer „gemeinnützigen Beschäftigung“ über die Gemeindeunfallversicherung die Risiken eines Arbeitsunfalls abgedeckt werden. Die Ausführungen zum Kindergeld- und Erziehungsgeldanspruch wurden zusammengestellt aus Aufsätzen von Bernd Tobiassen und Georg Classen und ergänzt um eigene Recherchen. Auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs können sich nicht nur türkische ArbeitnehmerInnen berufen, sondern auch Konventionsflüchtlinge sowie WanderarbeitnehmerInnen und ihre Familienangehörigen aus Marokko, Algerien und Tunesien. Für geduldete Staatsangehörige aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien (also z.B. auch Bosnier/innen) hat das Bundessozialgericht einen Anspruch unabhängig vom ausländerrechtlichen Status auf Grund des dt.-jugoslawischen Sozialabkommens sogar explizit festgestellt(s. Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.04. 2000 / Az. B 14 KG 3/99 R, IBIS e.V. C1552). In der amtlichen DURCHFÜHRUNGSANWEISUNG ZUM KINDERGELD wird der Kindergeldanspruch unabhängig vom Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung nur für Konventionsflüchtlinge sowie türkische ArbeitnehmerInnen bestätigt (s. Kasten). Positiv: Bei Konventionsflüchtlingen reicht für den Anspruch auf Kindergeld die Rechtskraft der Flüchtlingsanerkennung, auf die Ausstellung des Konventionspasses und Erteilung der Aufenthaltsbefugnis kommt es nicht an. 99 Ehe und Familie “DA 62.4.2 Flüchtlinge und Asylberechtigte (1) Anerkannte Flüchtlinge sind aufgrund des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl. 1953 II S. 59 und des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen, BGBl. 1976 II S. 473, Deutschen gleichgestellt, die im Inland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Dies bedeutet, dass für Flüchtlinge vom Zeitpunkt der Anerkennung durch unanfechtbaren Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder von der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen an die zusätzlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG [=Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung; Anmerkung Georg Classen] nicht erfüllt sein müssen. ... DA 62.4.3 Staatsangehörige aus einem anderen EWR-Staat, der Schweiz und der Türkei Das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung gilt nicht für Staatsangehörige des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) und die sie begleitenden Familienangehörigen. Nach den Rechtsvorschriften der EU i.V.m. dem EWR-Abkommen haben diese Personen, wenn sie im Inland wohnen, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Kindergeld wie Deutsche. Dasselbe gilt für Staatsangehörige der Schweiz aufgrund des deutsch-schweizerischen Abkommens über Soziale Sicherheit sowie für türkische Arbeitnehmer i.S. des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980. Eine Person ist dann Arbeitnehmerin i.S. dieses Beschlusses, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Zum Europäischen Wirtschaftsraum gehören neben der Bundesrepublik Deutschland folgende Staaten: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Liechtenstein, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien.” aus: DA Einkommenssteuergesetz, Bundessteuerblatt 2000 Teil I, S. 648 f. zu §62 EStG, Kindergeld - Anspruchsberechtigte - IBIS e.V. C1556. 100 Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes: Erziehungsgeld für ab 1.1.2001 geborene Kinder anerkannter Konventionsflüchtlinge gesetzlich geregelt Flüchtlingsanerkennung, auf die Ausstellung des Konventionspasses und Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung kommt es also nicht mehr an. Mit dem am 7.Juli 2000 vom Bundestag in 2. und 3. Lesung verabschiedeten, im Bundesrat nicht zustimmungspflichtigem, am 1.1.2001 in Kraft tretenden GESETZ ZUR ÄNDERUNG DES BUNDESERZIEHUNGSGELDGESETZES werden umfassende Änderungen des Erziehungsgeld- und urlaubsrechtes vorgenommen. In § 1 BErzGG wird klargestellt, dass auch Ausländer Ansprüche haben, für die das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes unanfechtbar festgestellt worden ist (Konventionsflüchtlinge). Weitere Verbesserung: Für Konventionsflüchtlinge und Asylberechtigte zählt der Anspruch künftig ab Rechtskraft der Allerdings: Für Kinder, die vor dem 1.1.2001 wurden, sind die Vorschriften des BErzGG in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung weiter anzuwenden (Übergangsvorschriften - § 24 BErzGG neu). Ansprüche vor dem 1.1.2001 geborener Kinder von Konventionsflüchtlingen müssen daher wie bisher gerichtlich geltend gemacht werden, vgl. dazu UNHCR “Bundeserziehungsgeld für Flüchtlinge nach der GK”, IBIS e.V.: C1409 sowie die Stellungnahme der Europäischen Kommission “Persönlicher Anwendungsbereich der VO 1408/71”, IBIS e.V.: C1410, sowie die Rechtsprechungsübersicht Classen, Entscheidungen zum Flüchtlingssozialrecht (s.u.). Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales: Anspruch auf Erziehungsgeld für ArbeitnehmerInnen aus der Türkei, Marokko, Tunesien und Algerien Das Niedersächsische Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales (MFAS) hat das EuGH-Urteil in einem Erlass vom 10.10.1999 umgesetzt und die zuständigen Erziehungsgeldstellen darüber informiert, dass türkische Staatsangehörige, die die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des ARB Nr. 3/80 erfüllen, Anspruch auf die Gewährung von Erziehungsgeld haben. In einem Erlass vom 20.3.2000 hat das MFAS zudem noch einige Anwendungshinweise konkretisiert. Die Arbeitnehmereigenschaft muss nachgewiesen werden. Sie liegt vor, wenn •eine Bescheinigung der Krankenkasse präsentiert wird, aus der zu entnehmen ist, seit wann und bis zu welchem Zeitpunkt ein Beschäftigungsverhältnis besteht und ob für dieses Beschäftigungsverhältnis Sozialabgaben entrichtet wurden, •Leistungsnachweise über den Bezug von Arbeitslosengeld oder hilfe vorliegen, •eine Bescheinigung oder Bestätigung des Rentenversicherungsträgers über Kindererziehungszeiten ausgestellt wird, •Leistungen in Krankheitsfällen für SozialhilfeempfängerInnen nicht als „Sachleistung“ erbracht, sondern Beitragszahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung vom Sozialamt übernommen und an die Krankenkassen abgeführt werden. Eine Familienversicherung nach § 10 SGB V reicht zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft aus Bei Trennung/Scheidung sowie eheähnlichen Gemeinschaften muss die antragstellende Person selbst die Bedingungen erfüllen. Schließlich stellt der Erlass klar, dass nicht nur türkische StaatsbürgerInnen sich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs berufen können, sondern auch „Wanderarbeiter und ihre Familienangehörigen aus Marokko und Algerien sowie ... Tunesien“ FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Ehe und Familie In einem Nachtrag vom 30. Mai 2000 stellt das MFAS jedoch einschränkend fest: „Eine Abstimmung innerhalb der Bundesregierung (BMA, BMI, BMFSFJ) zu den Auswirkungen des Urteils Sürül auf Bezug von Erziehungsgeld hat ergeben, dass weder eine Aufenthaltsgestattung noch eine Duldung ausreichende Aufenthaltstitel sind, die auch nach Ergehen des vorgenannten Urteils zur Leistung berechtigen. Dies gilt auch für die Fälle der fiktiven Aufenthaltsgestattung nach §69 Abs. 3 AuslG. ... Bei Türken, Marokkanern, Algeriern und Tunesiern, die im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis sind, ist zu prüfen, ob die Aufenthaltsbefugnis nach den §§30 und 31 AuslG gemäß Anordnung nach §32 AuslG erteilt worden ist. In diesen Fällen ist das Antragsverfahren bis zur Klärung mit dem Einverständnis des Berechtigten auszusetzen.“ Mit anderen Worten: Flüchtlinge sollen - entgegen den früheren Erlassen des niedersächsischen Mini- steriums für Frauen, Arbeit und Soziales - so lange vom Erziehungsgeldanspruch ausgeschlossen bleiben, bis der Europäische Gerichtshof über den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts vom 16.12.1999 entschieden hat. Treibende Kraft ist hier die Bundesregierung, die auf Zeit spielt und alles daran setzt, den Kreis der Anspruchsberechtigten so klein wie möglich zu halten. Flüchtlinge ohne Anerkennung sollen auch weiterhin keine Leistungen erhalten. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 4.5.1999, die ohne Ansehen der Einreisemotive lediglich auf die Arbeitnehmereigenschaft als solche abstellt, erscheint diese Haltung mehr als fragwürdig. Flüchtlinge, die als „ArbeitnehmerInnen“ im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 4.5.1999 zählen, sollten daher unbedingt Anträge auf Kindergeld und Erziehungsgeld stellen und bei Ablehnung dieser Familienleistungen den Rechtsweg bestreiten. Eine Langfassung des Aufsatzes von Bernd Tobiassen zum Kindergeldanspruch für türkische Arbeit- „Goldener Folterknecht“ nehmerInnen kann bei der Uni Oldenburg - Projekt Migrationssozialarbeit - (E-mail: [email protected]) bestellt oder unter: www.proasyl.de aus dem „Infonetz Asyl“ von PRO ASYL, Infomappe 36, abgerufen werden. Die Texte von Georg Classen, dem wir auch die folgenden Hinweise verdanken, sind unter folgender Adresse abrufbar: http://www.proasyl.de , Verzeichnis “aktuell” Die Neufassung des BErzGG zum download (vom Bundesfamilienministerium) als word-datei: http://195.227.51.240/infoc/download/gesetz_neu_internet1.doc Die von Georg Classen verfasste ausführliche Rechtsprechungsübersicht “Entscheidungen zum Flüchtlingssozialrecht” ist zum download als Word-Datei erhältlich unter: http://www.dim-net.de/start/Urteile2.doc Die unter einer IBIS e.V. -Nummer erfassten Dokumente können gegen Erstattung der Kosten bestellt werden: IBIS e.V., Donnerschwerstr. 12, 26123 Oldenburg, FAX: 0441-9849606 E-Mail: [email protected] Dieter Hildebrandt kommentierte die drohende Abschiebung einer kurdischen Familie in die Türkei in der Scheibenwischer-Sendung vom 12. April (ARD) mit den Worten: „Eine kleine Zwischenfrage sei gestattet: Was für Menschen sind eigentlich in der Ausländerbehörde in Wiesbaden, die einen Kurden, der schon zweimal halbtot der Folter in der Türkei entkommen ist, Abdulcabbar Akyüz, wieder verhaftet hat und ein drittes Mal hingeschickt hat und dann nachher noch Frau und Kinder nachgeschickt hat? Da frage ich mich, was sind das für Menschen? Und dann meinen sie noch, es wäre eine große Heldentat gewesen, jedenfalls tun sie so. Wollen diese Damen und Herren vielleicht nachträglich noch in die SS eintreten, oder gehören sie zu den Leuten, die, ohne geprügelt zu werden , immer laut schreien, sie wären stolz darauf, Deutsche zu sein? Oder sind es gar keine, vielleicht sind sie sogar rechtsradikale Türken und man weiß es nicht? Der Ministerpräsident dieses Landes, Koch, jedenfalls bekommt dafür seine erste Kochmütze und der türkische Geheimdienst wird ihm demnächst des goldenen Folterknecht überreihen am Bande – ich gratuliere!“ Der Wiesbadener Oberbürgermeister hat ein anderes Verständnis von Satire und stellte Ende Juni Strafantrag gegen Hildebrandt, aus „allen rechtlichen Gründen“. Besonders schlimm fand er die „erschreckende Wirkung“, die die bundesweite Ausstrahlung der Sendung ausgelöst habe: es waren Briefe bei der Ausländerbehörde eingegangen, deren Verfasser ihre Beurteilung des Handelns der Ausländerbehörde durch Hildebrands Beitrag bestätigt sahen. Besonders schlimm finden wir dagegen die erschreckende Wirkung, die das Handeln von Schreibtischtätern in diesem Land auslöst. (Red.) 101 Ehe und Familie Freie Wohnortwahl für Konventionsflüchtlinge Kai Weber Bundesverwaltungsgericht: Konventionsflüchtlinge haben im gesamten Bundesgebiet Anspruch auf ungekürzte Sozialhilfe D as Bundesverwaltungsgericht hat in zwei Urteilen vom 18.5.2000 (5 C 29.98 und 5 C 2.00) entschieden, dass Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention auch dann Anspruch auf volle Sozialhilfe haben, wenn sie in ein anderes Bundesland gezogen sind. Das Europäische Fürsorgeabkommen, das als Spezialvorschrift dem Bundessozialhilfegesetz vorgehe, sichere auch Konventionsflüchtlingen am jeweiligen Aufenthaltsort im Bundesgebiet ungekürzte Sozialhilfe zu. Das Urteil gibt nicht jedem Konventionsflüchtling das Recht auf einen Umzug unter allen Umständen: Gibt z.B. ein anerkannter Flüchtling ohne wichtigen Grund ein bestehendes Arbeitsverhältnis auf und zieht in ein anderes Bundesland, verhält er sich möglicherweise „sozialwidrig“ i.S.d. §25 BSHG. Auch Umzugskosten dürften nach allgemeinem Sozialhilferecht nur dann zu übernehmen sein, wenn der Umzug (z.B. zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit) erforderlich ist. Konventionsflüchtlinge, die Sozialhilfe beziehen, dürften jedoch nach erfolgtem Umzug in jedem Fall einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt am neuen Aufenthaltsort haben. Der Erlass des Innenministeriums vom 15.07.1998, der vorsieht, dass jede Aufenthaltsbefugnis bei ihrer Erteilung oder Verlängerung mit der Auflage zu versehen ist, den Wohnsitz im Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde zu nehmen, ist insofern mehr als problematisch. Das niedersächsische Innenministerium hat den Erlass bislang nicht zurückgezogen, weil das Bundesverwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit von räumlichen Beschränkungen der Aufenthaltsbefugnis für Konventionsflüchtlinge offen lässt und nur die Verweigerung von Sozialhilfeleistungen für rechtswidrig erklärt. Ein Konventionsflüchtling, der aus gutem Grund umziehen will, dem aber eine wohnsitzbeschränkende Auflage in seinem Pass eingestempelt wurde, sollte daher wie folgt vorgehen: Kindeswohl nach Kurdistan? Generalstaatsanwaltschaft stellt Verfahren gegen Ausländeramts-LLeiter ein M itte 1998 hatte sich die 15jährige Sevim Demir bei den Behörden beklagt, sie werde von ihrem Bruder Lokman Demir "schlecht behandelt" und wolle "zu ihren Eltern in die Türkei" zurückkehren. Der Leiter der Ausländerbehörde ließ Sevim Demir daraufhin eine (rechtsungültige) Rücknahme des Asylantrags unterschreiben und organisierte hinter dem Rücken des Rechtsanwaltes die "freiwillige Ausreise". Das Jugendamt wurde gar nicht erst eingeschaltet, und der Vormund des Mädchens wurde absichtlich nicht informiert. Die Ausländerbehörde wäre laut Anweisung aus dem niedersächsischen Innenministerium 102 überdies gehalten gewesen, sich zu vergewissern, dass eine Auffangstruktur für das Mädchen vorhanden ist. Ihr war aus der Ausländerakte bekannt, dass der Vater von Sevim als politischer Häftling seit 1994 im Gefängnis sitzt und der Aufenthaltsort der Mutter ungewiss war. Dennoch informierte sich die Ausländerbehörde in keinster Weise über die Verhältnisse vor Ort und schickte Sevim unbegleitet auf die Reise: Sevim musste sich über Hunderte von Kilometern alleine nach Nusaybin durchschlagen. Dort stellte sie fest, dass ihre Mutter ebenfalls verfolgt und festgenommen wurde. In einem Brief an ihren Bruder Lokman aus No- 1. Widerspruch einlegen gegen die wohnsitzbeschränkende Auflage 2. Durchführung des Umzugs an den neuen Wohnort 3. Antrag auf Sozialhilfe am neuen Wohnort unter Bezugnahme auf die o.g. Entscheidung des BVerwG 4. Bei Ablehnung des Sozialhilfeantrags: Widerspruch und Eilantrag an das Verwaltungsgericht Sofern die Umzugskosten nicht selbst getragen werden können, wäre ggfs. vor der Durchführung des Umzugs ein Antrag an das Sozialamt am alten Wohnort zu stellen und bei Ablehnung ein Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht anzustrengen. Die Durchsetzung der Übernahme von Umzugskosten dürfte jedoch ungleich schwieriger sein als die Durchsetzung eines Sozialhilfeanspruchs am neuen Wohnort, da die mit dem Umzug verbundenen zusätzlichen Kosten sozialhilferechtlich begründet werden müssen. vember 1999 heißt es: "Ich habe keine Verwandten, aber ich habe nur eine alte Oma, die ist sehr krank und ich arbeite alleine hier. Wir haben kein Haus, kein Essen, keine Sachen und wir sind sehr unglücklich..." Auf Antrag des Flüchtlingsrates wurde deshalb ein Ermittlungsverfahren wegen Kindesentziehung gegen den Leiter der Ausländerbehörde des Landkreises Verden, Herrn Gerd Depke, eingeleitet. Der Flüchtlingsrat warf dem Ausländerbehördenleiter vor, das Kindeswohl missachtet zu haben und hinter dem Rücken von Jugendamt und Vormund mit List die Rückführung organisiert zu haben. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle entschied jetzt mit Beschluss vom 13.06.2000, das Ermittlungsverfahren einzustellen. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kirchenasyl Kirchenasyl Kirchenasyl ist ein Dazwischentreten Hans-Peter Daub Am Morgen des 25. Februar wurde der 17-jährige Kurde Hakki Yildirim von der Polizei gewaltsam aus dem Kirchenasyl in Lilienthal herausgeholt und nur wenige Tage später in die Türkei abgeschoben. Hiergegen richtete sich eine Protestdemonstration am 18.03.2000 in Lilienthal. Stellvertretend drucken wir den Redebeitrag von Pastor Hans-Peter Daub ab. HansPeter Daub ist Mitarbeiter im Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in Niedersachsen. D iese Demonstration drückt einen dreifachen Protest aus: 1. gegen die Abschiebung eines Menschen in die Türkei und damit die Leugnung der Menschenrechtssituation und der Lebensbedingungen in der Türkei 2. gegen die Abschiebung eines Jugendlichen von 17 Jahren und damit einen klaren Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen 3. gegen den wiederholten Bruch eines Kirchenasyls in Niedersachsen 1. Zum ersten Punkt haben vor mir verschiedene Redner gesprochen. Mir ist in der Ergänzung dazu vor allem wichtig: Ein humanes Asylrecht fragt nach den konkreten Lebensbedingungen, denen Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland ausgesetzt sind. Welche das für Hakki Yildirim sind, hat der Bericht von Stefan Schmidt deutlich gemacht: Leben in einem Bürgerkriegsgebiet, permanente Bedrohung durch „Sicherheits“-Kräfte, die drohende Einberufung in die türkische Armee, die „Option“ als Dorfschützer im Auftrag des türkischen Regimes gegen die eigenen kurdischen Landsleute ein bescheidenes Auskommen zu fristen, jetzt aber zunächst vor allem Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, Depression. Wir protestieren gegen ein staatliches Handeln, das nach Anlässen und Rechtfertigungen sucht, Flüchtlinge außer Landes zu schaffen, und dabei die konkreten Bedingungen ignoriert und die Verhältnisse in den Ländern, in die abgeschoben wird, schönredet. 2. In der Konvention über die Rechte des Kindes, die seit 1989 143 Staaten der Erde ratifiziert haben – nach langem Hin und Her 1992 auch die Bundesrepublik Deutschland - lautet Artikel 1: „Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat.“ Der inhaltlich für die ganze Konvention maßgebliche Artikel 3 beginnt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Artikel 22 redet explizit von der Situation geflüchteter Kinder und Jugendlicher: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen... festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in der Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.“ 103 Kirchenasyl Im Fall von Hakki Yildirim beharren die Behörden auf der Behauptung, dass alles nach Recht und Ordnung vorgegangen sei. Wer sich mit Asylverfahren auskennt weiß, dass das nicht mehr heißt, als dass das Handeln sich mit juristischen Kunstgriffen gegenüber dem Text des geschriebenen Rechts rechtfertigen kann. Es ist aber völlig offensichtlich, dass ein solches Handeln nichts, aber auch gar nichts mit dem Geist und dem Sinn eines humanen Rechts zu tun hat, wie es beispielhaft in den zitierten Artikeln der Kinderrechtskonvention zum Ausdruck kommt. „Das Wohl des Kindes/des Jugendlichen vorrangig zu berücksichtigen“ – an welcher Stelle, in welchem Augenblick behördlichen und staatlichen Handelns gegenüber Hakki Yildirim hat dieser Rechtsanspruch auch nur den Hauch von Bedeutung gehabt? Ich weiß, dass es in Lilienthal und anderswo Mensche gibt, die sagen wegen des Wohles ihrer Kinder hätte so mit Hakki Yildirim verfahren werden müssen. Ich kenne die Vorwürfe nur vom Hörensagen, kann darum nichts bestätigen oder zu Recht rücken. Wenn andere Kinder Angst gehabt haben oder geschädigt wurden, ist das schlimm und muss geklärt werden. Aber unsere Gesellschaft ist ihrem Anspruch nach keine Rachegesellschaft und lehnt Strafe anders als zu Zwecken der Reintegration und Resozialisierung mit guten Gründen ab. Es spricht manches dafür, dass Hakki Yildirim überhaupt im Kirchenasyl zum ersten Mal die Erfahrung gemacht hat, dass sich Erwachsene intensiv mit seinem Schicksal auseinandersetzen und sich vorbehaltlos für ihn einsetzen. Wir sind hier, um gegen eine Mentalität des Abschiebens zu protestieren, die längst nicht mehr allein Flüchtlinge trifft, sondern auch sogenannte schwierige Jugendliche aus der Mitte unserer Gesellschaft. Wie so oft ist auch in dieser Frage Asyl ein Kristallisationspunkt für Probleme, die unsere Gesellschaft hat auch ganz ohne Flüchtlinge. Integration heißt nicht Gleichheit und nicht Anpassung, sondern dass sich eine Gesellschaft auf den mühevollen Versuch einlässt, miteinander ein Auskommen zu finden. In den 20er Jahren plädierten Alt-Nazis dafür, Juden und Jüdin104 nen nach Madagaskar zu verfrachten. Apartheidsideolgen entwarfen Homelands für Menschen, deren gesellschaftliche Integration sie verweigerten. Wer schwierige Jugendliche ins Ausland verfrachtet, folgt denselben verführerischen Ideen der Trennung und Apartheid. Wir werden uns dieser Mentalität entschieden entgegenstellen und auch gegen den kalten Zeitgeist in diesem Land für eine Kultur der Integration eintreten. 3. Wir sind hier, um gegen den Bruch eines Kirchenasyls zu protestieren. Das ist deutlich nachgeordnet, weil Kirchenasyl kein Selbstzweck ist, sondern Einsatz für jeweils konkrete Menschen. Allerdings ist die Abschiebung von Hakki Yildirim auch in dieser Hinsicht ein ungeheuerlicher Vorgang. Das Innenministerium behauptet, es hätte sich nicht um einen sakralen Raum gehandelt bzw. Vertreter der Kirchengemeinde hätten Hakki erst angesichts des Polizeieinsatzes in den Gottesdienstraum entkommen lassen. Diese Diskussion und Argumentation ist absurd und zynisch. Niemals behaupten Kirchengemeinden unantastbare, sakrale Räume. Wir in den Kirchenasylinitiativen bestreiten auch zu keiner Zeit, dass das Recht dieses Landes an allen Orten angewendet werden soll. Es geht nicht um rechtsfreie Räume, sondern um das Engagement eben für den Erhalt einer an der Menschenwürde orientierten Rechtsordnung. Ein aufgeklärtes, humanes Gemeinwesen wird nicht leichtfertig über den Einspruch des Gewissens einer großen Zahl seiner MitbürgerInnen hinweggehen. Und das sind ja keine Leute, die willkürlich ein Ehrenwort oder ihre eigene politische Überzeugung über geltendes Recht stellen, sondern das sind Menschen, die danach fragen, was der Artikel 1 des Grundgesetzes in diesem Land heute konkret heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie klingt dieser Grundsatz unserer Rechtsordnung angesichts der Bilder von einem mit Fuß- und Handfesseln gebundenen 17-jährigen Jugendlichen, dem nichts anderes vorgehalten wird als seine Herkunft aus einem fremden Land. Kirchenasyl ist kein Raum, sondern das sind Christinnen und Christen, die etwas davon wissen, dass sich Humanität immer zu allererst an der Haltung gegenüber Fremden erweist. Wenn es im Evangelium von Jesus selbst heißt: Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen bzw. eben nicht aufgenommen, - dann verweist das auf diesen ganz grundsätzlichen und unverbrüchlichen Zusammenhang. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich regelmäßig am deutlichsten an ihrem Verhältnis zu den Fremden. Mit dieser Demonstration weisen wir den Zynismus zurück, der den Buchstaben zweit- und drittrangiger Gesetze gegen den Sinn und die Grundlagen unserer demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsordnung auszuspielen versucht. Wir appellieren an alle Verantwortlichen in den Gerichten, Verwaltungen und Parlamenten, sich auf diese Grundlagen zurückzubesinnen. Kirchenasyl ist ein Dazwischentreten, um Zeit zur Orientierung zu gewinnen, Orientierung an dem, was für unser Zusammenleben wirklich wichtig ist: das Recht und die Lebenschancen der Menschen. Foto: Lars Klingbeil FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kirchenasyl Braunschweig: Pastoren auf der Anklagebank Präzedenzfall: Wegen Kirchenasyl als Schlepper angeklagt Presseerklärung Nds. Flüchtlingsrat; PRO ASYL; BAG Asyl in der Kirche vom 28.4.2000 „N icht die Unterstützer des Kirchenasyls gehören auf die Anklagebank, sondern die deutsche Asylpraxis!“ Mit diesen Worten kommentierte PRO ASYLSprecher Heiko Kauffmann die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte der BRD aufgrund eines Kirchenasyls ein Verfahren gegen zwei Pastoren nach dem sogenannten „Schlepper-Paragraphen“ eröffnet wurde. Wegen „täterschaftlichen Einschleusens von Ausländern“ müssen sich vor dem Amtsgericht Braunschweig ein Pastor und eine Pastorin der evangelisch-reformierten Gemeinde Braunschweig verantworten, die einer pakistanischen Flüchtlingsfamilie seit über 3 Jahren Kirchenasyl gewähren. PRO ASYL unterstützt die Pastoren auch finanziell über seinen Rechtshilfefonds. Das im Januar 2000 beim Amtsgericht Braunschweig eröffnete Verfahren wurde zunächst unterbrochen, um die Position des nds. Innenministeriums zum Braunschweiger Kirchenasyl einzuholen, und soll demnächst fortgesetzt werden. Parallel bat der niedersächsische Flüchtlingsrat das nds. Justizministerium um eine Stellungnahme zu diesem Präzedenzfall. Das Niedersächsische Justizministerium, vertreten durch Oberstaatsanwalt Dr. Hackner, hat sich in einer Einlassung gegenüber der niedersächsischen Ausländerkommission mit Schreiben vom 24.3.2000 ausdrücklich hinter die Ermittlungen gestellt und dies mit einer angeblich geänderten Rechtslage begründet: Nach einer Änderung des § 92a AuslG, die am 30.10.1997 in Kraft getreten ist, mache sich, so Staatsanwalt Hackner, nunmehr auch derjenige strafbar, der weniger als fünf Ausländer dabei unterstütze, ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bleiben. Eine Verurteilung nach § 92a Abs. 1 AuslG kann eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe nach sich ziehen. Fakt ist jedoch, dass die pakistanische Familie, der die evangelischreformierte Kirche in Braunschweig Kirchenasyl gewährt, aus 8 Personen besteht. Eine Änderung der Rechtslage ist insofern für die hier vorliegende Konstellation gar nicht eingetreten. „Offenkundig sind die von Oberstaatsanwalt Hackner angeführten rechtliche Aspekte also nur vorgeschoben: Tatsächlich handelt es sich um einen kaum ka- Bischöfin: Kirchenasyl nicht illegal Die Hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann forderte vor der Synode der evangelischen Landeskirche in Hannover ein flexibles Einwanderungsgesetz und ein Asylgesetz, das den Notfällen gerecht werde. Das jetzige Asylrecht erfülle nicht den Verfassungsgrundsatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde, kritisierte die Bischöfin: „Grundsätzlich halte ich das Kirchenasyl nicht für ein illegales Mittel.“ Wenn die Gemeinde die Kirchenasylfälle transparent gestalten, sei der Aufenthaltsort den Behörden bekannt und damit kein Abtauchen in die Illegalität gegeben. Auch andere Kirchenvertreter kritisierten die jetzige Fassung des Asylrechts. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte sei in der Bundesrepublik 1993 „ massiv eingeschränkt“ worden, erklärte der Leiter des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses zur „Woche der ausländischen Mitbürger“ in Frankfurt. Gefordert sei die uneingeschränkte Umsetzung des internationalen Flüchtlingsrechts in Deutschland. (nach epd-Wochenspiegel 21/2000) schierten Versuch, die KirchenasylBewegung durch juristische Verfolgung und Kriminalisierung einzuschüchtern“, so Norbert Grehl-Schmitt vom Vorstand des nds. Flüchtlingsrat. Aus „Respekt und Rücksichtnahme“ gegenüber den Kirchenasyl gewährenden Gemeinden wolle das Land nicht in sakrale Räume gewaltsam eindringen, erklärte das nds. Innenministerium noch 1999. Von Respekt und Rücksichtnahme ist jedoch in der Stellungnahme des Justizministeriums nichts zu spüren: Für denkbar hält Oberstaatsanwalt Dr. Hackner auch die Anwendung der weiteren Absätze der §§ 92a, 92b AuslG gegen Kirchenasylgemeinden, z.B. wegen „bandenmäßig begangener Verstöße“. Eine Verurteilung kann eine Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren nach sich ziehen. Wird Kirchenasyl demnächst als organisierte Kriminalität gewertet? Dass in Niedersachsen offenbar mit besonderer Härte gegen Kirchenasylgemeinden vorgegangen wird, legt die Statistik über den bisherigen Umgang der deutschen Verfolgungsbehörden mit Kirchenasyl zumindest nahe: „Uns ist bislang kein einziger Fall einer Verurteilung von Pastoren/-innen oder sonstigen Unterstützern/innen von Kirchenasyl bekannt. Den Erkenntnissen der Bundesarbeitsgescheinschaft Asyl in der Kirche zufolge hat es bundesweit rund 35 Ermittlungsverfahren nach § 27 StGB wegen „Beihilfe“ zum illegalen Aufenthalt von Flüchtlingen gegeben, die sämtlichst eingestellt wurden“, erklärte Hildegard Grosse von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“. In zwei Fällen erfolgte die Einstellung mit der Auflage von Bußgeldern. Gegen die jetzt angeklagten Braunschweiger Pastoren war ein Ermittlungsverfahren im Dezember 1997 zunächst sanktionslos eingestellt, dann aber 1999 neu eingeleitet worden. In Ausübung ihrer Glau- Asyl ist keine Handelsware 105 Kirchenasyl Foto: Göttingen 29.1.2000, Lars Klingbeil bensverantwortung und im Rückgriff auf christliche Tradition und Lehre gewähren Kirchengemeinden Flüchtlingen seit Jahren Unterkunft, Verpflegung und Betreuung in ihren Räumen. In vielen Fällen konnte so die drohende Abschiebung verhindert, ein humanitäres Bleiberecht oder sogar eine Asylanerkennung erreicht werden. Auch gegenüber anderen Kirchenasyl gewährenden Gemeinden hat sich die Gangart der Justizbehörden deutlich verschärft: Mehrere Kirchengemeinden erhielten unmissverständliche Drohungen, man werde bei Fortsetzung des Kirchenasyls über einen von den Behörden gesetzten Zeitpunkt hinaus mit strafrechtlichen Mitteln gegen die Kirchengemeinden vorgehen. Mit der Gewährung einer sanktionsfreien „Schonfrist“ trägt die Staatsanwaltschaft allerdings der Tatsache Rechnung, dass die weitaus meisten Kirchenasyle zu einem Aufenthaltsrecht für die aufgenommenen Flüchtlinge führten. „Die Defizite der deutschen Asylpraxis werden gerade auch durch den erfolgreichen Ausgang der überwiegenden Mehrheit der Kirchenasyle nachdrücklich belegt“, so PRO ASYL - Sprecher Heiko Kauffmann. Der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ zufolge waren 1999 26 der 39 Kirchenasyle erfolgreich. Eines davon im niedersächsischen Sandhorst bei Aurich. Dort erhielt eine kurdische Familie nach 941 Tagen im Kirchenasyl endlich den zunächst verweigerten Flüchtlingsstatus zugesprochen. Hintergrund: Die bereits 1989 eingereiste pakistanische Familie, die sich seit Dezember 1996 im Braunschweiger Kirchenasyl befindet, gehört der Glaubensgemeinschaft der „Ahmadiyya“ an, welche in Pakistan verfolgt und unterdrückt wird. Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde der Asylantrag 1996 rechtskräftig abgelehnt. Ende 1996 beantragte die Familie daraufhin die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach der damaligen Bleiberechtsregelung für Personen mit langjährigem Aufenthalt. Trotz prominenter Unterstützung durch den damaligen Landtagsabgeordneten und heutigen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel und entgegen eindeutiger Zusagen aus dem Innenministerium wurde die gestellte Petition für ein Bleiberecht der Familie in Deutschland im Mai 1997 schließlich mit der Begründung abgelehnt, die Familie habe zu wenig Arbeitstätigkeiten nachgewiesen und sei nicht hinreichend wirtschaftlich integriert. Seither bemüht sich die Familie mit guten Chancen um eine Weiterwanderung nach Kanada. Eine Entscheidung über die Erlaubnis zur Einreise nach Kanada steht unmittelbar bevor. Nachtrag Mittlerweile hat die Familie, die in Braunschweig im Kirchenasyl ist, eine Vorab-Zusage aus Kanada erhalten. Bis die Weiterwanderung jedoch endgültig geklärt ist, wird es noch dauern. Das Niedersächsische Justizministerium zeigt sich von dieser Perspektive unbeeindruckt. Das Verfahren gegen die Pastoren wird fortgesetzt. Spenden zur Unterstützung der Kirchengemeinde wegen der „Sonderausgaben“ durch den Prozess und die Kosten für das lange Kirchenasyl: Konto-Nr. 21 373-306, BLZ 250 100 30, Postbank Hannover, Ev.ref. Gemeinde Braunschweig, Stichwort „Kirchenasyl“ Foto: Lars Klingbeil 106 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Kirchenasyl Wanderkirchenasyl: Gefangen in der Unmenschlichkeit aus der mailinglist von kein mensch ist illegal V or einem Jahr erhielt das Wanderkirchenasyl den Aachener Friedenspreis. Die Auszeichnung galt dem Mut, mit dem 450 Flüchtlinge aus der Türkei, unterstützende katholische und evangelische Kirchengemeinden und die Kampagne kein mensch ist illegal für elementare Menschenrechte eintreten. Seit Amtsantritt von Schily und Fischer hat sich die dt. Innen- und Außenpolitik kaum verbessert. Im Gegenteil. Im Frühjahr 2000 wurden die ersten Friedenspreisträger in die Türkei abgeschoben: Yusuf Demir wurde direkt bei Ankunft in Istanbul verhaftet, zum Wanderkirchenasyl verhört und misshandelt. Er muss sich derzeit vor Polizei und Militär verstecken. 2 Kinder wurden Fatma Bag per Abschiebung entrissen. Ihre Schicksale sind typisch für ca. 30.000 jährliche Abschiebungen. Illegale Menschen im Kirchenasyl leben in einer Art offenem Gefängnis: Bei Aufgreifen durch die Polizei sind sie jederzeit von Abschiebung in die Türkei bedroht. In Duisburg wurde z.B. Anfang Juli das Kirchenasyl der Roma-Familie Zumberov aus Makedonien polizeilich abgeräumt. Im Wanderkirchenasyl leben noch fast 300 Menschen seit 2 ½ Jahren in ungewisser Situation. Perspektivlosigkeit und fehlender Schutz machen psychisch krank. Schlaflosigkeit, schwere Depressionen, Traumatisierungen und gravierende psychosomatische Störungen bis hin zur Suizidgefährdung sind einige Folgen. kirchenasyl reicht jedoch bei weitem nicht! Wir brauchen Unterstützung! Wir brechen auf zum politischen Protest gegen die repressiv fortgesetzte Flüchtlingspolitik rotgrüner Regierungsmehrheiten. Unter dem Motto „Gefangen in der Unmenschlichkeit - wir brechen auf!“ organisierte die Aachener Gruppe des Wanderkirchenasyls am 26. August mit Unterstützung aus anderen NRW- Städten zu einem „Protestmarsch mit demonstrativen Inszenierungen zum Wanderkirchenasyl“ in NRW (aus dem Aufruf zum Protestmarsch). Erneut Flüchtling aus dem Wanderkirchenasyl in Abschiebehaft Nach Asylfolgeanträgen und anderen Individualmaßnahmen während des Kirchenasyls im Rahmen des bestehenden Ausländerrechts verhält sich die individuelle Situation der WanderkirchenasylTeilnehmerInnen wie folgt: Von den 477 haben mittlerweile 47 ein dauerhaftes/langfristiges Bleiberecht, 4 Menschen wurden abgeschoben, 145 sind weiter “illegal” geblieben, die restlichen Flüchtlinge verfügen lediglich über kurzfristige Duldungen. Und die sind kein dauerhafter Schutz, wie das jüngste Beispiel zeigt: Am 16. August 2000 wurde Mehmet Sagir von der Kölner Polizei verhaftet. Obwohl er eine Bescheinigung über seine Teilnahme am Wanderkirchenasyl vorwies, und obwohl noch eine Klage im Asylverfahren vor dem Verw.Gericht Köln läuft, wurde er am nächsten Tag in das Abschiebegefängnis nach Büren transportiert. Sollte Mehmet Sagir abgeschoben werden, befürchten wir das Schlimmste: Laut aktuellem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die Türkei sind Flüchtlinge aus dem Wanderkirchenasyl in der Türkei gefährdet. Dort wird ausführlich über die Misshandlungen von Yusuf Demir, der aus dem Wanderkirchenasyl Anfang diesen Jahres abgeschoben wurde, berichtet: In Bezug auf den Bericht der Betreuerin von Yusuf Demir stellt der Lagebericht fest: Wir brechen auf ! Das Wanderkirchenasyl und andere Initiativen zeigen: Sowohl die politische Isolation, als auch die wirtschaftliche und soziale Gefangenschaft illegalisierter Menschen kann aufgebrochen werden. Das erfolgreich errungene Bleiberecht für einige Flüchtlinge im Wander- Foto: Grenzcamp 2000 107 Kirchenasyl “... dass sich das Interesse der türkischen Polizei an Yusuf Demir in den Verhören auf Informationen über exilpolitische Strukturen kurdischer Aktivisten und deutscher Unterstützer sowie weiterer Teilnehmer des Wanderkirchenasyls gerichtet habe...“ Trotz dieses neuen Lageberichtes und zahlreicher Dokumentationen von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Flüchtlingsräten über schwerste Menschenrechtsverletzungen an abgeschobenen Flüchtlingen setzen gewissenlose deutsche Beamte das Leben von Flüchtlingen weiter aufs Spiel. Wie glaubwürdig sind PolitikerInnen, die öffentliche Kampagnen zum Schutz von Flüchtlingen starten aber die menschenrechtsverletzende Abschiebemaschinerie Foto: Lars Klingbeil nicht anhalten?! Seit dem 21.Januar 1998, dem Beginn der „Protestaktion gegen Abschiebung in die Türkei“ in der Antoniterkirche in Köln, beteiligt sich Mehmet Sagir aktiv am Wanderkirchenasyl. Er nahm teil an Demonstrationen, Hungerstreiks und gab Interviews, in denen er auch den türkischen Staat wegen der Kurdenverfolgung anklagt. “Ich verstehe die Logik des deutschen Staats und der europäischen Länder nicht. Auf der einen Seite wird die Türkei aufgrund der genannten Gründe(Folter und Menschenrechtsverletzungen) nicht in die EU aufgenommen und auf der anderen Seite werden Waffen an die Türkei verkauft, weshalb Menschen flüchten müssen oder getötet werden.“ (Mehmet Sagir in „Rückmeldung“, Zeitung des ASTA der Uni Köln , Februar 98) Zeigen Sie Zivilcourage, setzen Sie sich für das Leben von Mehmet Sagir ein! Faxen Sie an: Innenminster O. Schily: 0188 86812926 Innenminister Behrens:: 0211 8713355 Ausländerbehörde Bergisch-Gladbach: 02202 142810 Geschändet: Menschenkette am Jüd. Friedhof Göttingen Kirchenasyl in Tübingen Seit dem 1.8.2000 gibt es nun auch in Tübingen ein Kirchenasyl für eine kurdische Familie. Sieben katholische und evangelische Gemeinden Tübingens haben beschlossen, Familie Güler abwechselnd Schutz vor ihrer drohenden Abschiebung zu geben und sich hinter ihre Forderung nach einem Bleiberecht zu stellen. Wir begrüßen den couragierten Schritt des Arbeitskreises “Kurdenasyl” (Ev. Eberhardsgemeinde/Kath. St. Michael-Gemeinde, Ev. Bonhoefergemeinde, Ev. Martinsgemeinde, Ev. Stephanusgemeinde, ESG, KHG), der Familie Schutz und Solidarität in seinen Kirchenräumen anzubieten. 108 Seit Sommer letzten Jahres versucht ein Zusammenschluss aus mehreren Gemeinden Württembergs zusammen mit kein mensch ist illegal Gruppen aus Tübingen und Stuttgart, kurdische Flüchtlinge in ihrem Kampf gegen drohende Abschiebungen zu unterstützen. Während letztes Jahr noch die Androhung eines politischen Kirchenasyls für eine Gruppe von 15 Flüchtlingen ausreichte, die Kirchenhierarchie zum Handeln und das Innenministerium zum Einlenken zu bewegen, waren alle bisherigen juristischen, politischen und kirchendiplomatischen Versuche für Familie Güler erfolglos. (siehe Frankfurter Rundschau vom Freitag 4.1. 2000 zum Kirchenasyl: “Ein Gnadenakt ohne Gnade”) Auch wenn das Tübinger Kirchenasyl nun auf die kleine einjährige Kampagne von einigen Kirchengemeinden und kein mensch ist illegal gegen die rigorose Abschiebepolitik Baden-Württembergs und für einen Abschiebestopp in die Türkei aufbauen kann, ist verstärkter politischer Druck auf die Landesregierung notwendig. Tübinger Initiative kein mensch ist illegal c/o Frauen International Tübingen Ammergasse 14—72070 Tübingen FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Länderberichte Länderberichte Ausführliche Hinweise und Berichte zur Situation in Herkunftsländern unter: http://www.asyl.net Photo: 3.Welt Saar Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen veranstaltete an mehreren Nationentagen auf der EXPO in Hannover Protestaktionen, mit denen sie auf die reale politische Situation in den jeweiligen Herkunftsländern von Flüchtlingen hinwiesen. Informationen: www.humanrights.de Hoffnung für Flüchtlinge aus Afghanistan und anderen Bürgerkriegsländern Bundesverfassungsgericht kippt die Asylrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verfolgung durch Bürgerkriegsparteien F lüchtlinge aus Afghanistan und anderen Bürgerkriegsländern, die in ihren Asylverfahren in Deutschland gescheitert sind, dürfen jetzt Hoffnung auf Asylschutz hegen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zu Afghanistan gekippt hat. In der am 10. August 2000 ergangenen Entscheidung heißt es: “Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beschwerdeführern Asylrecht auf Grund einer zu eng gefassten Begrifflichkeit für die Erscheinungsform der quasi-staatlichen Verfol- gung versagt, die zudem letztlich politische mit staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung vollkommen gleichsetzt; es hat damit die Anforderungen an das Vorliegen politischer Verfolgung im Sinne von Artikel 16a, Abs. 1 überspannt.” Das Bundesverfassungsgericht rügt das Bundesverwaltungsgericht mit der Bemerkung, die Frage der Staatlichkeit der Verfolgung dürfe nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des “politisch” Verfolgten betrachtet und nach “abstrakten staats- theoretischen Begriffsmerkmalen” Presseerklärung Pro Asyl geprüft werden. PRO ASYL be- 18.8. 2000 grüßt diese deutliche Orientierung des Bundesverfassungsgerichts an der konkreten Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bislang die Auffassung vertreten, dass eine Herrschaftsorganisation nur dann zu politischer Verfolgung fähig sei, wenn sie auf einer nach innen und außen völlig stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruhe. In einem andauernden Bürgerkrieg, der die Herrschaftsmacht immer wieder in 109 Länderberichte Frage stelle, gebe es eine solche nicht. In der Praxis bedeutete diese Rechtsprechung: Obwohl die Taliban den weitaus größten Teil des Territoriums Afghanistans seit sechs Jahren beherrschen und staatliche Strukturen weithin existieren, gibt es dort nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts keine politische Verfolgung. PRO ASYL zeigt sich erfreut darüber, dass die schlichte Formel: “Im Bürgerkrieg keine politische Verfolgung” in dieser Form keinen Bestand mehr haben kann. ! Neue Chance für abglehnte afghanische Flüchtlinge Immerhin stellt das Bundesverfassungsgericht in der aktuellen Entscheidung fest: “Die Frage, ob in einer Bürgerkriegssituation dem Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen kann, beurteilt sich folglich maßgeblich danach, ob diese zumindest in einem “Kernterritorium” ein solches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität (...) tatsächlich errichtet hat.” Eine anhaltende militärische Bedrohung schließe dies nicht zwingend aus. Die Verfassungsbeschwerden der betroffenen Afghaninnen und Afghanen, die von dem Frankfurter Asylrechtsexperten Dr. Reinhard Marx vertreten und unter anderem aus dem Rechtshilfefonds von PRO ASYL unterstützt wurden, haben vermutlich weitreichende Konsequenzen für vergleichbare Fallkonstellationen. Die Sachen sind zunächst an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen. Dessen Aufgabe ist es, nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts den Begriff der “quasistaatlichen Verfolgung” zu präzisieren.(Aktenzeichen: - 2 BvR 260/98 – 2 BvR 1353/98) Nachtrag: Bundesverfassungsgericht fordert Bundesamt zur Durchführung von Asylfolgeverfahren für afghanische Flüchtlinge auf Mit Schreiben vom 18.08.2000 hat Bundesverfassungsrichter Dr. Broß vom 2. Senat das Bundesamt zur Durchführung von Asyl-Folge- Demokratische Republik Kongo: „Afrikanischer Weltkrieg“ Abschiebestopp gefordert S eit fast zwei Jahren tobt in Zentralafrika ein Krieg, dessen humanitäre und wirtschaftliche Folgen schwer zu beziffern sind: es wird geschätzt, dass dieser Krieg seit August 1998 bereits 1,7 Millionen Menschen das Leben gekostet hat (laut ICR = International Rescue Committee), dass täglich um die 2.600 Menschen infolge des Krieges sterben, dass die Zahl der „displaced persons“ 1,1, Millionen Personen beträgt, dass ca. 280 000 Personen ins Exil mussten, hauptsächlich in die Nachbarländer. Da die Wirtschaft des Landes gänzlich zusammengebrochen ist, lebt ein Großteil der Bevölkerung unter katastrophalen Lebensbedingungen. Die Zeitung Le Monde sprach in der Ausgabe vom 6.4.2000 von einem „Afrikanischen Weltkrieg“. Dass unter diesen Umständen die Menschen110 rechte keine Rolle mehr spielen, ist nicht verwunderlich. Mehrere kongolesische Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten im März 2000 einen Bericht für die von verschiedenen kirchlichen Organisationen geplante „Nationale Anhörung (Consultation nationale). Die Liste der dort aufgeführten Verletzungen der Menschenrechte ist lang. Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein hat eine Dokumentation zur Menschenrechtssituation in der D.R. Kongo zusammengestellt (Bezug: Geschäftstelle). Am 15.8. 00 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen – ebenso wie die Flüchtlingsräte anderer Bundesländer – angesichts der Lage in der D.R. Kongo einen Abschiebestopp beim niedersächsischen Innenminister eingefordert. anträgen aufgefordert. Wörtlich bittet Dr. Broß das Bundesamt um Prüfung, ob es "dem Anliegen der Beschwerdeführer dadurch Rechnung zu tragen vermag, dass es Asylfolgeverfahren anhand des im Kammerbeschluss dargelegten Maßstabs unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Afghanistan durchführt; auf den Kammerbeschluss vom 8. Oktober 1990 - 2 BvR 643/90 - (InfAuslR 1991, 20 = NVwZ 1991, 258) sei hingewiesen." In einem ergänzenden Schreiben an RA Freckmann (Hannover) teilt Dr. Broß unter Bezugnahme auf eine weitere anhängige Verfassungsbeschwerde wörtlich mit: "Es wird - auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) - angeregt, beim Bundesamt unter Hinweis auf den Kammerbeschluss vom 10. August 2000 einen Asylfolgeantrag zu stellen." Alle afghanischen Flüchtlinge, deren Asylanträge wegen des angeblichen Fehlens einer "quasi-staatlichen Verfolgung" abgelehnt wurden, sollten jetzt unter Hinweis auf die Entscheidung vom 10.8.2000 einen Asylfolgeantrag stellen! Yeziden aus Georgien Yeziden aus Georgien sind in Deutschland akut von Abschiebung bedroht. In den Niederlanden, in Frankreich und Belgien dagegen werden sie als politische Flüchtlinge anerkannt; grundsätzlich werden sie in diesen Staaten nicht an ihr Verfolgerland ausgeliefert. In den letzten Wochen erhielten Yeziden – nach unseren Kentnissen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – reihenweise Ausreiseaufforderungen. Dagegen organisiert sich Widerstand: Demonstration : Bleiberecht für Yeziden am 9. September, 12 Uhr in Detmold, Auftakt: Ameide/Bruchberg Eine mehrere hundert Seiten lange Dokumentationen, die den Lagebericht des AA widerlegt, ist von ibz zusammengestellt worden. Informationen: Internationales Beratungszentrum (ibz)/Antidiskriminierungsbüro, Elisabethstr. 8; 32756 Detmold; Tel.: 05231/38811; Fax: 05231/39953; e-mail: [email protected] FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service Service Urteile: Infomappe 5 B auf der homepage des Nds. Flüchtlingsrat www.nds-fluerat.org Papierfassungen können bei der Geschäftsstelle bestellt werden Erlasse und Verwaltungshinweise Erlass des MI zum neuen Einbürgerungsrecht Die Verwaltungsvorschriften des Bundes umfassen 84 Seiten. Bezugsadresse: www.bmi.bund.de/themen/index.html oder www.bundesausländerbeauftragte.de Ergänzungen zur Bleiberechtsregelung gem. IMK vom 19.11.1999: Mit Erlass vom 11.04.2000 hat das MI klargestellt, dass Familien mit Kindern auch dann eine Aufenthaltsbefugnis nach der Bleiberechtsregelung zu erteilen ist, wenn die Kinder inzwischen volljährig geworden sind und kein weiteres minderjähriges Kind zu der Familie gehört. Das nds. Innenministerium hat im Juni 2000 einen Erlass herausgegeben, nach dem Asylerst- oder -folgeanträge von vietnamesischen Staatsbürgern, die zwischen 8.3.1999 und 31.1.2000 in zeitlichem Zusammenhang mit der Bekanntgabe des Rückführungstermins gestellt wurden, nicht mehr als „missbräuchlich“ im Sinne des ursprünglichen Erlasses vom 10.12.1999 gelten. Inkrafttreten § 19 AusländerG (s. im Kapitel „Ehe und Familie“) MI: Keine Möglichkeit der Passbeschaffung für jugoslawische Staatsangehörige Mit Rundschreiben vom 29.06.2000 stellt das Nds. Innenministerium klar, dass jugoslawische Staatsangehörige ohne gültigen Pass "derzeit keine Möglichkeit" besitzen, einen Pass "in zumutbarer Weise zu erlangen". Die Betroffenen hätten daher Anspruch auf die Ausstellung eines Ausweisersatzes (§39 AuslG). Heiratswillige jugoslawische Staatsangehörige könnten nicht mehr zwecks Ausstellung eines jugoslawischen Passes an das Generalkonsulat verwiesen werden. Hintergrund: Das BMI hat den Ländern mitgeteilt, dass auch die Zahlung von Gebühren für die Ausstellung und Verlängerung jugoslawischer Pässe durch jugoslawische Auslandsvertretungen dem Finanzembargo der EU gegen die Bundesrepublik Jugoslawien unterliegen. Zwar hat die Bundesregierung eine Ausnahmegenehmigung bei der Europäischen Kommission beantragt; über diesen Antrag wurde jedoch bislang nicht entschieden. Die UNKIK stellt zwar Heiratsurkunden, Sterbeurkunden, Geburtsurkunden, Ledigkeitsbescheinigungen und Bestätigungen über die Existenz einer Person aus, jedoch keine Pässe, da dies ein Eingriff in die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik Jugoslawien darstellen würde. Das serbische "Passport Office" in Pristina stellt offenbar nur Reisepässe für im Kosovo lebende Personen aus. Kosovo: „Rückführung von Kosovo-A Albanern“ Erlass des MI vom 7.4.2000 (weitere Erlasse s. im Kapitel „Kriegsflüchtlinge“) Seit dem 7.4.2000 sind Abschiebungen von Kosovo-Albanern in den Kosovo „auch ohne Wonhsitznachweis“ möglich. Ausgenommen von Abschiebungen sind vorerst nur andere ethnische Gruppen, konkret genannt werden Serben, Roma und Ashkaeli. Kosovo-Albaner, die straffällig geworden sind (Verurteilung ab 50 Tagessätze) oder nach dem 11.6.1999 eingereist sind, sollen vorrangig abgeschoben werden. Persönliche Belange (z.b. Beendigung einer begonnenen Ausbildung, bestehende Arbeitsverhältnisse pp.) können bei der Festlegung der Ausreisefrist berücksich- Kai Weber tigt werden, wenn die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise glaubhaft gemacht wird. In der Regel soll dies jedoch nur möglich sein, wenn keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen werden. Duldungen „zur sozialverträglichen Auflösung von Arbeitsverhältnissen“ sollen dem Erlass zufolge grundsätzlich nicht über den 31.10.2000 hinaus erteilt werden. Mittlerweile hat sich nach telefonischer Auskunft des MI jedoch herausgestellt, dass eine Rückkehr aller Kosovo-Albaner in diesem Jahr nicht durchzusetzen sei. Auf der nächsten IMK werde es daher eine Diskussion um eine weitere Staffelung der Rückkehr geben. Niedersachsen erwäge, dem Beispiel SchleswigHolsteins und Baden-Württembergs zu folgen und erwerbstätigen ausreisepflichtigen Flüchtlingen aus dem Kosovo unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einzuräumen, bis Mitte des Jahres 2001 in Deutschland zu bleiben, um die Mittel für den Aufbau einer neuen Existenz im Kosovo zu erwerben. Rückkehrprämien für Kosovo-A Albaner Erlass des MI vom 11.07.2000 (und 13.4.2000) Zur „Förderung der freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen aus dem Kosovo“ hat das Land auf Beschluss des Kabinetts zusätzlich 7 Mio DM bereitgestellt. Damit werden in Niedersachsen Mittel auf der Grundlage der REAGund GARP-Programme wie folgt ausgezahlt: a) im Rahmen der REAG-Förderung: Kosten für die Fähre von Italien nach Albanien einschl. Mautgebühren in Höhe von pauschal 180 DM pro Person und 300 DM pro PKW, jedoch nur bis zu 1.100 DM pro Familie. Reisebeihilfen (150 DM für Erwachsene 111 Service und Jugendliche, 75 DM für Kinder bis zu 12 Jahren, maximal 750 DM pro Familie), Gepäckkostenzuschuss (150 DM für Erwachsene und Jugendliche, 75 DM für Kinder bis zu 12 Jahren, maximal 750 DM pro Familie), Benzinkostenzuschuss (bei Rückreise mit dem Privat-PKW) in Höhe von 400 DM pro Fahrzeug (max. 2 Fahrzeuge pro Familie) oder Übernahme der Beförderungskosten mit dem Flugzeug, Bahn oder Bus b) Nach dem GARP-Programm erhalten freiwillige Rückkehrer höhere Überbrückungshilfen: Erwachsene 1000 DM (bisher 450 DM), Kinder bis 12 Jahre 550 DM (bisher 225 DM), Familien maximal 4.500 DM (bisher 1.350 DM). Diese Leistungen werden erst im Kosovo ausgezahlt. Die aufgestockten Mittel können bis zum 31.12.2000 beantragt werden. Die Rückkehrhilfen werden nicht mehr gewährt, „wenn bereits ein konkreter Termin zur zwangsweisen Rückkehr festgelegt worden ist Aufenthaltserlaubnisse für Berufssportler/innen und Trainer/innen Erlass vom 13.04.2000 Dieser Erlass des MI regelt, unter welchen Voraussetzungen Berufssportler/innen und Trainer/innen nach §5 Nr. 10 der Arbeitsaufenthaltsverordnung (AAV) eine Aufenthaltserlaubnis zu Arbeitszwecken in Niedersachsen erhalten können. Leistungen nach §2 AsylbLG Erlass des MI vom 28.04.2000 (s. Asylbewerberleistungsgesetz) Der Ausführungserlass des MI zum §2 AsylbLG, der seit dem 1.6.2000 erstmals seit der Verschärfung des Gesetzes im Jahr 1997 zur Anwendung kommt, regelt die Frage, welcher Flüchtling unter welchen Voraussetzungen nach dreijähriger Leistungskürzung einen Anspruch auf Leistungen analog dem BSHG hat. Dabei geht es im wesentlichen um folgende Festlegungen: a) Wann gilt die 3-Jahres-Frist als abgelaufen? Das Land vertritt hierzu den Standpunkt, dass die Wartefrist bei Unterbrechung des Leistungsbezugs wegen endgültiger Ausreise und Wiedereinreise sowie bei einer Unterbrechung durch Zeiten, in denen der Betroffene untergetaucht war, von Neuem beginnt. Zeiten, in denen der Betroffene eigenes Einkommen erzielt oder sonstige Leistungen Dritter erhalten hat, sollen ebenso wenig auf die Wartezeit angerechnet werden wie Zeiten des Leistungsbezugs nach §1a AsylbLG oder Zeiten, in denen gar keine Leistungen beantragt und bezogen wurden. Bei Asylfolgeantragstellung ohne vorangegangene Ausreise beginnt die Wartefrist nicht von Neuem. Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.1996 -BVerwG 1 C 41.93 (InfAuslR 1996, 294) legt das MI mit diesem Erlass fest, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Führung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft in Deutschland unter folgenden Voraussetzungen zu gewähren ist: b) Wer erhält nach 3 Jahren Leistungsbezug gem. §3 AsylbLG Leistungen gem. § 2 AsylbLG? Der Gesetzestext besagt, dass Leistungen nach §2 AsylbLG zu gewähren sind, wenn weder die freiwillige Ausreise noch die Abschiebung erfolgen kann, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen. Dies gilt für alle Flüchtlinge mit einer Aufenthaltsgestattung (Flüchtlinge im Asylverfahren) sowie für Flüchtlinge mit einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG, „wenn zugleich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 3 oder 4 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erfüllt sind“. 1. Es liegt eine gefestigte, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft vor (Einzelfallprüfung, keine zwingenden Mindestzeiten) 2. Es liegt ein öffentlich bekundeter Partnerschaftsvertrag vor, der eine ausreichende wirtschaftliche Absicherung für den Fall der Trennung regelt. 3. Die Führung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft in einem anderen Land ist unzumutbar. Dies gilt grundsätzlich immer für Deutsche und EU-Angehörigen mit Aufenthaltserlaubnis. Drittstaatenangehörige müssen besondere Umstände (z.b. Bestrafung im Herkunftsland pp.) geltend machen 4. Die Einreise muss legal erfolgt und auch sonstige Regelversagungsgründe nach §7,2 AuslG, §8 AuslG dürfen nicht vorliegen. Ggfs. muss eine Verpflichtungserklärung nach §84 AuslG vorgelegt werden, dass keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen werden. In der Praxis bringen viele Sozialämter die normierten Voraussetzungen für Leistungen nach §1a AsylbLG und §2 AsylbLG durcheinander. Vereinfacht gesprochen: Leistungen nach §2 AsylbLG werden gewährt, wenn weder eine Abschiebung noch eine freiwillige Ausreise unter zumutbaren Bedingungen möglich ist. Bei der Anwendung von §1a AsylbLG kommt es hingegen auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise nicht an, sondern nur auf die Motive der Einreise sowie auf die Frage, ob die Abschiebung aus Gründen nicht möglich ist, die der Flüchtling zu vertreten hat. Das Visum muss weiterhin bei der deutschen Botschaft im Ausland beantragt werden, welches die örtliche Ausländerbehörde jedoch danach befragt, ob gegen die Erteilung eines Visums Einwände erhoben werden. Die Aufenthaltserlaubnis wird zunächst auf ein Jahr befristet und bei Fortbestehen der Lebensgemeinschaft um jeweils 2 Jahre verlängert. Nach 5 Jahren kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach den §§24 und 27 AuslG erteilt werden. §19 AuslG findet ausdrücklich keine Anwendung. Besondere Bedingungen gelten für Personen mit Aufenthaltsbewilligung bzw. Aufenthaltsbefugnis. Auswärtiges Amt: Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in einzelnen Ländern (Lageberichte): 112 Aufenthaltsrechtliche Behandlung von Ausländerinnen und Ausländern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften Erlass des MI vom 23.03.2000 Albanien 3/2000; Afghanistan 1/2000;Angola 12/99; Äthiopien 4/2000; Algerien 1/2000; Bangladesch 1/2000; Bosnien – Herz. 1/2000; Eritrea 4/2000; Irak 10/99; Kongo 3/2000; Ad-hoc-Lagebericht Kosovo 2/2000; Lettland 1/2000; Mazedonien, 2/2000; Pakistan 1/2000; Somalia 2/2000; Syrien 1/2000 Sri Lanka 4/2000 und Ad-hoc-Lagebericht 7/2000; Togo 1/2000; Türkei 6/2000;Tschetschenien 2/2000; Bezug über Nds. Flüchtlingsrat, Geschäftsstelle FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service Material, Veranstaltungen, Aktionen Andrea Kothen „Es sagt ja keiner, dass wir keine Ausländer annehmen...“ Zugangsbarrieren für Flüchtlinge und Migrant/innen im System der sozialen Regeldienste. VAS-Verlag Frankfurt 2000; ISBN 3-88864-289-2, 29,80 DM „Selbstverständlich würden wir auch Einwanderer und Flüchtlinge beraten.“ Das sagen fast alle Mitarbeiter/innen von sozialen Beratungsstellen, wenn sie zu ihrer beruflichen Praxis befragt werden. Nach wie vor sind Migrant/innen im System der sozialen Regeldienste jedoch deutlich unterrepräsentiert. Das in diesem Jahr neu erschienene Buch „Es sagt ja keiner, dass wir keine Ausländer annehmen...“ von Andrea Kothen analysiert die Ausgrenzungsmechanismen, denen Flüchtlinge und Migrant/innen in den sozialen Regeldiensten unterworfen sind. Der erste Teil des Buches gibt zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung von Arbeitsmigration und Flucht in Deutschland und den politischen Umgang damit sowie die Entstehung und Entwicklung der Spezialdienste für Flüchtlinge und Migrant/innen. Der zweite Teil des Buches greift die Fachdiskussion um eine „Interkulturelle Öffnung“ der sozialen Regeldienste auf. Die Analyse von zwölf Interviews mit Mitarbeiter/innen sozialer Beratungsstellen zeigt, dass auch wohlmeinende Menschen – Pädagog/innen, Psycholog/innen und Sozialwissenschaftler/innen - nicht gegen ausgrenzende Denkmuster gefeit sind. Dem / der Leser/in wird detailliert vorgeführt, wie Ausgrenzung funktioniert, wie sie legitimiert und aufrechterhalten wird. Die Mitarbeiter/innen der Regeldienste, so ein zentrales Untersuchungsergebnis, schreiben Flüchtlingen und Migrant/innen vielfältige Defizite zu, die deren mangelnde Teilhabe und unbefriedigend verlaufende Inanspruchnahme der Dienste begründen sollen. In vielen Beschreibungen werden Migrant/innen, häufig nur unterschwellig, als ängstlich, gehemmt unselbständig oder hilflos dargestellt. Auch andere Defizitzuschreibungen an die Adresse von Migrant/innen lassen sich in den Äußerungen der befragten Mitarbeiter/innen finden: Mangelnde Qualifikation, sprachliche Inkompetenz (soll heißen mangelnde Deutschkenntnisse), mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Integration, d.h. der selbst verschuldete bzw. kulturell verursachte Ausschluss aus dem System der sozialen Dienste. Alternative Wahrnehmungen, die Fähigkeiten von Flüchtlingen und Migrant/innen sichtbar werden lassen, erscheinen dem gegenüber nur selten und auch nur für speziell zugewiesene Bereiche. Nur vereinzelt werden auch solche Umstände in den Blick genommen, die auf gesellschaftliche Bedingungen (rechtliche Lage, Diskriminierung, Rassismus usw.) abzielen. Bestehende Schwierigkeiten resultieren i.d.R. aus dem „Fremdsein“ von Flüchtlingen und Migrant/innen und werden als individuelle und individuell veränderbare verstanden und damit pädagogisiert. Die aktive Rolle, die die Beratungsstelle in ihrem Verhältnis zu den Klient/innen spielt, wird gänzlich unterschlagen. Konsequenterweise sehen die Mitarbeiter/innen der Dienste keinen Bedarf, selbst aktiv zu werden: Angesprochen auf die konkreten Möglichkeiten einer „interkulturellen Öffnung“ ihrer Beratungsstelle nennen sie eine Reihe von Gründen, nach denen dies in letzter Konsequenz abzulehnen ist: Fehlende Mittel und Kapazitäten, fehlender Bedarf auf Seiten der Migrant/innen, Überforderung durch migrationsspezifische Fragestellungen, fehlendes Interesse an der Berücksichtigung von Migrant/innen, gar die Vermeidung einer unerwünschten Bevorzugung von Migrant/innen. Öffnung beinhalten eine Akzeptanz des Status Quo der Benachteiligung von Flüchtlingen und Migrant/innen. In den Einstellungen und Denkweisen der Mitarbeiter/innen der sozialen Dienste spiegelt sich die zum Teil politisch provozierte und gewollte gesellschaftliche Ausgrenzung von Migrant/innen wieder - und dies, obwohl eine ausgrenzende Haltung und Praxis dem Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen gar nicht entspricht. Die Analyse zeigt, dass auch scheinbar wohlwollende Äußerungen nicht im Widerspruch zu ausgrenzenden Denkmustern stehen, sondern ein notwendiger Bestandteil davon sind und als solcher - unbewusst und ungewollt - dazu dienen, eigene Verantwortlichkeiten zu negieren und anderen zuzuschieben, seien es Ämter, Spezialdienste oder, nicht zuletzt, Flüchtlingen und Migrant/innen selbst. Das Buch kann Menschen, die sich für Flüchtlinge und Migrant/innen einsetzen, Einsichten in die Schwierigkeiten einer „Interkulturellen Öffnung“ vermitteln. Zahlreiche Zitate der „ganz normalen Ausgrenzung“ können Grundlage für Gespräche und Auseinandersetzung mit den lokalen Regeldiensten sein und so dabei helfen, das Thema „Interkulturelle Öffnung“ an die Regeldienste heranzutragen. Schließlich ist das Buch interessant für alle Menschen in sozialen Berufen, in Beratungsstellen und bei Behörden, da es die Bewusstmachung der eigenen Mitwirkung an Ausgrenzungsprozessen ermöglicht. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Ausgrenzungsmechanismen ist ein erster Schritt für eine wirkliche „interkulturelle Öffnung“ der Gesellschaft. Schlussfolgerung: Die Erklärung und Legitimierung der gegebenen Situation wie auch die Argumente gegen eine 113 Service Material Zusammengestellt von Justus Reuleux Thomas von der Osten-Sacken, Thomas Uwer, WADI e.V.: „...keinen staatlichen Sanktionen unterworfen“. Eine Analyse der Mängel im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum Irak. 8/2000, ca. 100 S., Förderverein PRO ASYL e.V. - Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge -, PSF 160624, 60069 Frankfurt/M., Tel.: 069/ 230688, Fax:069/ 230650. Untersuchungsgegenstand ist der Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum Irak. An diesem Lagebericht üben die Autoren scharfe Kritik, da die Quellenauswertung und viele relevante Informationen über frühere Verfolgungspraktiken des irakischen Regimes unberücksichtigt bleiben. Des weiteren behandeln die Verfasser des Lageberichtes fälschlicherweise die regelhafte Verfolgungspraxis des irakischen Regimes weiterhin als Ausnahme und spekulieren über deren „Wahrscheinlichkeit“. Gewalt aber ist im Irak keine Ausnahme, sondern vielmehr die „normale“ Verkehrsnorm zwischen staatlichen Institutionen und der Bevölkerung. Als grundlegendes Problem kritisieren die Autoren, dass die Darstellung der Menschenrechtslage im Irak trotz einer ungewöhnlich breiten Palette an Informationsmöglichkeiten lückenhaft, ungenau, mit Mutmaßungen und an vielen Stellen äußerst euphemistisch ausfällt. Weiterhin werden dem Verfasser fragwürdig gezogene Schlüsse und die Sachverhaltsschilderungen vorgehalten. Versteht sich der Lagebericht etwa als Reflektor der Interessenlage europäischer Abschottungspolitik ? Recherche: Situation der Menschenrechte, Rückgefährdung und Anwendung gem.§54 AuslG in D.R.KONGO, Broschüre: 31.7.2000; Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., Oldenburger Str.25, 24143 Kiel, Ansprechpartner: Herr Martin Link - Tel.:0431/ 735000, 040/ 526000, Fax: 0431/ 736077 Der Schwerpunkt dieser Arbeit ist eine Einschätzung über den Anwendungsbedarf des §54 AuslG für Flüchtlinge aus der D.R. KONGO , gleichzeitig soll die Recherche zu einer Einleitung des Konsultationsverfahren im Bund und in den Ländern führen Asyl-Beratungsstellen 2000/2001 Buch DM 24,80 ISBN 3-86059-485-0, zusätzlich erhältliche CD DM 12,-. Die Neuausgabe enthält die aktuellen Adressen aller Flüchtlingsberatungsstel- 114 len der Wohlfahrtsverbände, von amnesty international und weiteren Hilfsorganisationen, Flughafensozialdienste, die Rechtsberater, die Beratungsstellen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und die Erstaufnahmeeinrichtungen selbst. Hubert Heinhold: Recht für Flüchtlinge 3. vollständig überarbeitete Neuausgabe, Großformat, 350 S., kart., DM 29,80 ISBN 3-86059-495-8, in englischer und französischer Übersetzung DM 24,80. Der bewährte Leitfaden des erfahrenen Asyl-Anwaltes jetzt endlich in der Lange erwarteten Neuausgabe 2000. Das Buch enthält auf aktuellem Stand alles, was Haupt- und Ehrenamtliche über das Asylverfahren wissen sollten. Viele Regelungen des allgemeinen Ausländerrechts betreffen Flüchtlinge unmittelbar. Der vorliegende Leitfaden vermittelt deshalb auch das notwendige ausländerrechtliche Grundwissen. Erläutert werden Rechtswege, Fristen, die Grundlagen des materiellen Asylrechts in einer auch für NichtjuristInnen verständlichen Form. Außerdem: Flughafenverfahren, Abschiebungshaft, Zustellungsfrage, Datenschutz.. Neben ausführlichen Hilfestellungen, Formularen etc. sind auch alle relevanten Gesetze wiedergegeben Dankwart und Angelika von Loeper Handbuch der Asylarbeit Aktualisierte Fassung von Dezember 1999, 800 großformatige Seiten, mit Ordner, ISBN 3-86059-469-9 (kostenloses Prospekt anfordern) Das umfassende Informations- und Arbeitsbuch aus der Praxis für die Praxis. Neben Hintergrundartikeln, Erfahrungsberichten, Einführungen und Kommentaren kompetenter Fachleute, allen relevanten Gesetzestexten, Kurzübersichten und vielfältigen Hilfestellungen enthält das Handbuch zahlreiche konkrete Arbeitsmittel: Checklisten, Formulare, Adressen, Schaubilder, Übersichtstabellen, fremdsprachige Informationen, ein Lexikon der Fachbegriffe, weiterführende Literatur usw.. Eine Registerleiste, zusätzliche Marginalien und Piktogramme sowie ein Stichwortverzeichnis erleichtern das Auffinden. Stefan Keßler: Ratgeber-Soziale Beratung von Asylbewerbern 2. völlig überarbeitete Auflage 6/2000; 50 S., ISBN 3934004-03-2, Verlag: IBIS-Interkulturelle Arbeitsstelle e.V., Alexanderstr.48, 26121 Oldenburg, Tel.: 0441/ 884016, Fax: 0441-9849606. Herausgeber: Informationsverbund Asyl / ZDWF e.V., Königswinterer Str.29, 53227 Bonn, Fax: (0) 228/ 4221132. Dieser Ratgeber ist sowohl an „Einsteiger“ als auch an erfahrene Berater gerichtet. Als Leitfaden gibt er einen Überblick über wichtige Fragen bei der sozialen Betreuung von Asylsuchenden. Die Lage der als politisch Verfolgte Anerkannten (Art.16a Abs.1 GG) oder wegen drohender Verfolgung Abschiebeschutz genießenden „Konventionsflüchtlinge“ (§51 Abs.1 AuslG) sowie die besonderen Probleme der „Geduldeten“ und der sog. „Illegalen“ bleiben weitgehend ausgeklammert . Roland Kugler, Der Weg zum Deutschen Pass Ein Rechtsratgeber 1999. LamuvTaschenbuch 269, 159 Seiten. Das Buch ist als Überblick über das Staatsangehörigkeitsrecht, insbesondere für Beratungsstellen von Einbürgerungsinteressenten, gut geeignet. Enthält außerdem: wesentliche Gerichtsentscheidungen, Text des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) und weitere wichtige Rechtsvorschriften. Film in verschiedenen Sprachen: Rund um das neue Staatsangehörigkeitsrecht Video S-VHS, VHS ca. 60 min Initiative für ein Internationales Kulturzentrum e.V., Bettfedernfabrik 1, 30451 Hannover, Tel.:0511/ 440484, Fax: 0511/ 4583728 Der Film richtet sich an Menschen mit nicht-deutscher Herkunft und gibt ihnen Informationen über die seit dem 1.Januar 2000 neu bestehenden Gelegenheiten, sich einbürgern zu lassen. Im Film werden die wichtigsten Änderungen des neuen Einbürgerungsrechtes in Arabisch, Bosnisch, Kurdisch, Persisch, Dari und Türkisch übersetzt, zusammengefasst und erklärt. Auf besonderen Wunsch und Anfrage hin stellt die IIK eine Kopie dieser Videoaufnahme zur Information von Migranten/innen und Einwanderern in anderen Städten zur Verfügung. Peter Kühne, Harald Rüßler Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland Campus 2000, 654 Seiten, 98,DM, ISBN 3-593-36485-9 Seit Ende der 80er-Jahre ist eine deutliche Zweiteilung des Anteils nicht-deutscher Einwanderer in die Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen. Neben die Arbeitsimmigrant(inn)en aus den Anwerbeländern treten nun vorrangig Fluchtimmigrat(inn)en. Die Autoren analysieren die Situation derjenigen Flüchtlinge, die sich bereits seit Jahren in der Bundesrepublik aufhalten und, soweit nicht „anerkannt“, unter Bedingungen extremer sozialräumlicher Isolierung und rechtlich-admi- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service nistrativer Ausgrenzung leben. Fragen der Arbeitsmarktintegration wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Ausgehend von aktuellen asyl- und arbeitsmarktpolitischen Diskursen plädieren die Autoren für eine Politik nachholender Anerkennung und sozialer Integration. Ordnung“ und viertens die „Verantwortung der Völker am Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen“. Darin mit behandelt wird die Frage nach der Bedeutung und aktuellen politische Relevanz der genannten „Charta“-Inhalte für die Außenpolitik der Berliner Republik. Heinz Fassmann, Reiner Münz (Hg.) Migration in Europa 1945-2000 Aktuelle Trends, soziale Folgen, politische Reaktionen 1997. 483 Seiten, 88,DM, ISBN 3-593-35609-0 Dieser Band ist eine umfassende Informationsquelle zum Thema Migration in und nach Europa mit einer Fülle von Daten, Grafiken und Übersichtskarten von Wanderungsströmen. Nach einer gesamteuropäischen Übersicht werden in dreizehn Länderkapiteln die aktuellen Ab- und Zuwanderung sowie die Migrationsströme der letzten Jahrzehnte dargestellt. Pro Asyl e.V., Verfolgte Frauen schützen! Materialien zum Umgang mit geschlechtsspezifischer Verfolgung und Flüchtlingsfrauen in der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern. Pro Asyl e.V., Frankfurt 1998, 210 Seiten Der Reader enthält grundlegende Quellen wie z.B. Beschlüsse des Bundestages und der Frauenministerinnenkonferenz, Empfehlungen der Härtefallkommission des Landes Nordrhein-Westfalen, die kanadischen Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Verfolgung, Beschlüsse des UNHCR usw. Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald (Hg.) 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung, Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte 1999. 341 Seiten, geb., 58,- DM, ISBN 3-59336369-0 Jörg Stolz, Soziologie der Fremdenfeindlichkeit, Theoretische und empirische Analysen, 2000. 336 Seiten, 78,DM, ISBN 3-593-36471-9 Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 90 Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im vereinten Deutschland: Erscheinungsformen und Gegenstrategien, 88 Seiten, 12/1999, ISBN 3-86077788-2 Holger Kuhr: „Geist, Volkstum und Heimatrecht“. Zur Aktualität der “Charta der deutschen Heimatvertriebenen” vom 5. August 1950 Broschüre zum 50. Jahrestag der Verkündung der „Vertriebenen-Charta“, 64 Seiten, 7,- DM, Bestellung: GNN-Verlagsgesellschaft Schleswig-Holstein/Hamburg, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg, Tel.: 040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21 oder über E-mail: [email protected] In der Broschüre werden die vier zentralen politischen und ideologischen Kernaussagen, die in der “Charta” enthalten bzw. mit ihr transportiert werden, kritisch analysiert: Es sind dies erstens der postulierte „Gewaltverzicht“, zweitens die „Heimat“-Ideologie mit der Forderung nach einem „Recht auf die Heimat“, drittens die Europakonzeption als „wahrhaft übernationale politische Pro Asyl e.V.: Die Würde des Menschen ist Ausweisbar Broschüre von Pro Asyl zum Tag des Flüchtlings am 29.9.2000 Bezug: Flüchtlingsrat Niedersachsen, Geschäftsstelle Synopse zur „Altfallregelung” Flüchtlingsrat Schleswig Holstein. In: Schlepper 10 Abschiebehaft: 73 Tage Hungerstreik des Algeriers Moussa Moussaoui Dokumentation, April 2000, 5 DM plus Versand. Arbeitsgemeinschaft für Menschen in Abschiebehaft Mannheim. Bestellung bei : Bücherladen Neckarstadt, Kobellstraße 17, 68167 Mannheim, Tel:: 0621 - 377729 Folter – An der Seite der Überlebenden 300 Seiten, 24,- DM, ISBN 3- ???39283 Das Buch dokumentiert die schwierige und komplizierte Arbeit des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin. Es berichtet von den Belastungen, denen die Helfenden selbst ausgesetzt sind, von der Schwierigkeit, Folter zu diagnostizieren, sowie von den häufig unlösbar erscheinenden Problemen, zu Folteropfern einen therapeutisch wirksamen Kontakt aufzubauen zu können. Refugio München: Verfolgung, Flucht – und dann? 138 Seiten, 23,80 DM, ISBN 3- ???-500 In diesem Buch werden Therapieeinrichtungen, Formen der Krisenintervention und Beratung dargestellt. Deutlich wird, wie abhängig die Arbeit mit Folterüberlebenden von der Gesetzgebung ist. Ralf Weber:Extremtraumatisierte Flüchtlinge in Deutschland, Asylrecht und Asylverfahren 1998. 225 Seiten, 39,80 DM, ISBN 3-593-36118-3 Neben der Darstellung der Grundbegriffe wird das deutsche Asylrecht und –verfahren und –ausführlich – der Stand der Folterforschung beschrieben. Den Schwerpunkt bildet die Untersuchung von Asylverfahren von gefolterten Flüchtlingen und ebenfalls die Bedeutung der Folterbiographie analysiert. Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein: Der Schlepper Nr. 11/12 Schwerpunkt: Traumatisierung Bezug für 7,- DM über Nds. Flüchtlingsrat Susanne Czuba-Konrad: Integration Eine Pädagogische Handreichung Grenzüberschreitung, Bd. 1, 168 Seiten, Paperback, Fadenheftung, DIN A4, 29,80 DM, ISBN 3-86099-182-5, Auslieferung ab September 2000 Gerade die Schule ist ein Ort, an dem Integration zum umfassenden Lernziel wird. Der Band enthält vielfältige Anregungen, um das Thema Integration auf lebendige Weise schulform- und jahrgangsstufenübergreifend im Unterricht zu vermitteln. LehrerInnen der Sekundarstufen I und II, DozentInnen und TutorInnen finden zahlreiche Hintergrundinformationen, Texte aus Literatur und Praxis, Lernaufgaben und Gruppenspiele, didaktisch aufbereitet und mit methodischen Anregungen versehen. Wegweiser zur Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Bildungsnachweise Hrsg. Zukunfts-Werkstatt e.V. Göttingen, IBKM Universität Oldenburg. AMFN Verlag. 2000. Der Wegweiser enthält in einer übersichtlichen Gliederung Informationen zum Schul- und Ausbildungssystem, zu Anerkennung von mitgebrachten Abschlüssen und Qualifikationen, sowie die erforderlichen Kontaktstellen mit Adressen bezogen auf das Land Niedersachsen. Ebenfalls ist ein Abschnitt zum Bereich Studium aufgenommen. A.Hadeed, B.Sacher, S.Sljoka, R.Zinner: Zur schulischen Situation zugewanderter Kinder und Jugendlicher am Beispiel allgemeinbildender Schulen in Göttingen. Hrsg. Projektverbund „Migration und Schule“. AMFN Verlag. 1999. Der Projektverbund ist in einer einjährigen Studie der Frage nach den Ursachen der Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen im deutschen Schulsystem am Beispiel von Göttingen nach115 Service gegangen. Interessant an dieser Studie ist, dass Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen. Neben konkreten Statistiken und den Ergebnissen der ExpertInnen-Befragungen, die in Themenblöcken gut gegliedert zusammengefasst sind, ist in der Studie auch das Modell der interkulturellen Albanischule beschrieben. Im Anhang finden sich Fragebögen und Erlasse, aus denen sich die Vergabe von Geldern für Sondermaßnahmen ableiten. Bereits ein kurzer Blick auf die Schaubilder verdeutlicht einen konkreten Handlungsbedarf: Fast 25 % der Schülerinnen und Schüler mit ausländischem Pass verlassen die allgemeinbildenden Schulen in Stadt und Landkreis Göttingen ohne jeglichen Abschluß. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit deutschem Pass, die ohne Abschlußzeugnis ins Berufsleben eintreten müssen, liegt dagegen nur bei 3,2 %. Alarmierend ist, dass sich trotz umfangreicher Fördermaßnahmen der Landesregierung diese negative Bilanz in den letzten 15 Jahren verstärkt hat. Die Studie fragt nach den Ursachen für diese Entwicklung, die fast zwangsläufig zu Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug und Ausgliederungsprozessen bei Migranten-Jugendlichen führt. In ihrem Resümee halten die Autoren fest, dass für die Beseitigung der Ursachen der hohen Schulabbrecherquote unbedingt das Zusammenarbeiten von Eltern, Schulen, Schulverwaltung und Politik und Verwaltung auf Landes- und kommunaler Ebene erforderlich ist. Wichtiges Ziel ist hierbei, die eigenverantwortlichen Teilhabe der EinwohnerInnen nichtdeutscher Herkunft am Bildungsweg ihrer Kinder (und sich selbst) im Rahmen ihrer Partizipation an der Gestaltung ihrer Lebensbereiche und ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwohl zu fördern. Konkret bedeutet dies, dass die Schulen neue Wege der Ansprache und der Kommunikation mit zugewanderten Eltern finden müssen. Dazu gehört gezielte Informations- und Aufklärungsarbeit über das deutsche Schulsystem sowie über die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Eltern. Dabei können lokale Migrantinnenvereine gezielt einbezogen werden. Insgesamt, so das Schlußwort der Studie, läßt sich zur schulischen Situation von zugewanderten Kindern und Jugendlichen konstatieren, dass die interkulturelle Realität diese Gesellschaft in Schulstrukturen, Lehrplänen und Lehrerausbildung nicht ausreichend berücksichtigt wird. Zwar gilt die Schule als Spiegelbild der Gesellschaft; das Schulsystem jedoch er116 weist sich als zu schwerfällig, um auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können. Auch in der Zukunft aber bleibt die Öffnung der Schulen eine unverzichtbare Voraussetzung interkultureller Pädagogik. VAMV-Bundesverband e.V: Allein erziehende Migrantinnen Der Bezug der kostenlosen Broschüre ist gegen Einsendung von Porto z.B. beim Landesverband alleinerziehender Mütter und Väter e.V., Bocksmauer 19, 49074 Osnabrück, möglich. In dieser Broschüre, eine Tagungsdokumentation, hat sich der Verband alleinerziehender Mütter und Väter mit den Problemen von allein erziehenden Migrantinnen beschäftigt und deren rechtliche Situation problematisiert. Im Bereich der Migration fordert der VAMV für alle sich in Deutschland tatsächlich aufhaltenden Eltern und Kinder ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Trennung und Scheidung unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Der Nachzug von minderjährigen Kindern zu einem in Deutschland lebenden Elternteil muß unbürokratisch möglich sein. Regionale Adressen zu den über 200 Beratungs- und Informationsstellen des VAMV sind über den Bundesverband, als Ansprechpartner, erhältlich. VAMV-Bundesverband e.V., Beethovenalle 7, 53173 Bonn, Tel.: 0228/352995, Fax: 0228/358350 Menschenrechtsreport Nr. 23: Unter den Augen der KFOR: Massenvertreibung der Roma, Aschkali und KosovoAgypter Bestellung über Tel.: 0551/49906-11 In der fünften Auflage ist der Dokumentationsteil bis März 2000 aktualisiert worden. Auch die „Bestandsaufnahme gefährdeter Siedlungen der Roma und Aschkali“ wurde überarbeitet und liegt jetzt in einer Fassung vor, in der die Volksgruppen differenzierter angegeben und die Ortsnamen in albanischer und serbischer Fassung enthalten sind. Die Forderungen des im Januar 2000 neu gegründeten „Forums der Roma, Aschkali und Ägypter aus dem Kosovo“ sind in dem Report aufgenommen, außerdem Informationen und Dokumente zur aufenthaltsrechtlichen Situation der Minderheitsangehörigen aus dem Kosovo in Deutschland. Helmut Dietrich, Eberhard Jungfer: Kosovo - Der Krieg gegen die Flüchtlinge FFM Heft 7, VLA 2000, ca. 100 Seiten, 12.- DM, ISBN 3-922611-79-6 Zum ersten mal setzte die Europäische Union während des NATO-Krieges ge- gen Jugoslawien und um den Kosovo eine Flüchtlingspolitik durch, an der die verschiedenen Schengener und andere Gremien gearbeitet hatten: Flüchtlingsbewegungen sollten regionalisiert, d.h. bereits in der Herkunftsregion aufgehalten werden. Die NATO errichtete nahe am Kriegsgeschehen stacheldrahtumzäunte Lager und machte mit vereinter NGO-Hilfe aus Flüchtlingen Heimatvertriebene. In dem Heft wird die Lagerpolitik während des Krieges in den Zusammenhang der EU-Politik gegenüber Südosteuropa gestellt. Die Verwaltung der displaced persons wird zum wichtigsten Baustein des entstehenden Protektorats auf dem Balkan. Strategie- und Konzeptpapiere zum neuen Hinterhof Westeuropas werden in dem Heft kurz vorgestellt. Torsten Jäger, Jasna Rezo: Zur sozialen Struktur der bosnischen Kriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland 5/2000, Bezug: Pro Asyl, Postfach 160624, 60069 Frankfurt am Main, Tel.: 069/230688, Fax: 069/230650, EMail: [email protected] Die „top-down“- Struktur der Studie resultiert aus der – über den Willen zur Darlegung der sozialen Struktur der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland hinausgehenden – Intention der Verfasser, die Rückführungspolitik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Kriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzogowina zunächst in einen europäischen Gesamtkontext zu stellen, um anschließend gemeinsame Verhaltensweisen der Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland aufzuzeigen und die gewonnenen Erkenntnisse anschließend an der konkreten Rückführungspolitik einzelner Städte zu überprüfen. Italien, Legalisierung der Flüchtlinge – Militarisierung der Grenzen? FFM Heft 8, VLA 2000, ca. 80 Seiten, 12.- DM, ISBN 3-922611-82-6 Die italienische Gesellschaft hat sich bis vor kurzem selbst als immigrantenfreundliches Land dargestellt, die Regierung legalisierte in den vergangenen Jahren den Aufenthalt von über 300.000 Clandestini, die überwiegend in der süditalienischen Landwirtschaft und in den norditalienischen Fabriken arbeiten. Doch je stärker die italienische Wirtschaft Albanien als Billiglohnland nutzte und der italienische Staat seinen Führungsanspruch in der Adria und in Albanien durchsetzte, desto häufiger kam es zu regelrechten Hetzkampagnen gegen albanische Flüchtlinge in Italien. FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service In dem Heft wird ausführlich auf die innergesellschaftlichen Veränderungen durch den Wechsel in der Flüchtlingspolitik eingegangen. Thema sind u.a. die Bürgerinitiativen, die sich früher um soziale Belange gekümmert haben, nun aber zur sozialrassistischen Säuberung der Innenstädte übergegangen sind. Jan Niessen, Susan Rowlans: Die Amsterdamer Vorschläge, Einflußnahme auf die Asyl- und Einwanderungspolitik 4/2000, ISBN 1-901833-04-6 Bettina Hartmann: Illegal in Berlin 127 Seiten, Bezug; Erzbistum Berlin Migrationsfragen, Tübinger Str. 5, 10715 Berlin, Tel.: 030/85784142, Fax: 030/85784137 Illegal in Berlin ist ein Projekt, das vor allem mit journalistischen Mitteln arbeitet: „Illegale“ kommen darin zu Wort und schildern die Hintergründe ihrer Immigration, ihren Alltag als „heimliche Menschen“ in Berlin und ihre Zukunftserwartungen. Diesen Beiträgen sind Gespräche mit legal hier lebenden Ausländern und Deutschen gegenübergestellt. Die Momentaufnahmen vom Leben „Illegaler“, die sich aus den Interviews und Portraits dieser Broschüre ergeben, sollen ein Beitrag sein zu einer vertieften Auseinandersetzung mit diesem Problem in Kirche und Staat – ein Beitrag zu der politischen und sozialen Debatte über Illegalität, ein ethischer Reflexionsimpuls, der die menschenrechtlich fragwürdige Situation der Betroffenen nicht aus den Augen verliert. Lohneinforderung für illegal Beschäftigte. Hinweise. (Handzettel) Bezug: Flüchtlingsrat, Geschäftsstelle Tagungsdokumentationen von Migration DGB Vertrieb: Toennes Satz + Druck GmbH, Niermannsweg 1-5, 40699 Erkrath, Tel.: 0211/92008-26, Fax: 0211/92008-38, E-Mail: [email protected] Globalisierung und Migration Dokumentation der Arbeitstagung von Juni 1999 über die Bedeutung von internationalen Konventionen für Wanderarbeitnehmer/-innen Migration und Prekäre Beschäftigung Dokumentation der Workshops „Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in prekären Beschäftigungsverhältnissen: Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Ansprache und Einbeziehung“ von Mai 1999 Basisinformationen/ Argumentationshilfen zu HIV und AIDS für Rechtsberater in Abschiebeverfahren für HIV-infizierte Asylbewerber 9 Seiten, Kopie erhältlich über Nds. Flüchtlingsrat Vortrag für die Rechtsberaterkonferenz in Berlin am 19.5.2000 Rolf Meinhardt, Winfried Schulz-Kaempf: Informationsdienst Migrationssozialarbeit in Niedersachsen Nr. 1/2000 Rundsendung Juli 2000 Bezug für 10,DM von Universität Oldenburg, Institut für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, Koordinationsstelle Migrationssozialarbeit in Niedersachsen, Postfach 2503, 26111 Oldenburg, Tel.: 0441/7984009, Fax: 0441/7982239, E-Mail: [email protected], Internet: www.uni-oldenburg.de/fb1/ibkm Rechtliche und soziale Bedingungen für Flüchtlinge in Ländern West-, Zentralund Ost-Europas. Mai 2000, 340 Seiten. Hrsg.: Europ. Kommision, Dänischer Flüchtlingsrat. Bezug: Danish Refugee Council, Borgergade 10, DK-130 Copenhagen K, Tel.: +45-33735000, Fax: +45-33328448, E-Mail: [email protected], Preis DKK 100 (ca. 25 DM); Runterladen: www.drc..dk oder als Kopie bei Nds. Flüchtlingsrat (gegen Unkosten) Aufkleber: kmii und deportation class Bestellungen: k.m.i.i., c/o Druckluft, Am Förderturm 27, 46049 Oberhausen. Geliefert wird nur gegen Spende/Vorkasse Film: Willkommhöft für blinde Passagiere!, I prefer to see That again! Video VHS 33 Minuten, 29,50.- DM + Porto Vertrieb: Stroux, Schäferstrasse 18, 20357 Hamburg, Fax: 040/41356670 Der Film von Marily Stroux, zeigt eine Aktion im Hamburger Hafen, um blinde Passagiere willkommen zu heißen, die im November 1999 stattfand. [über die grenze]: Grenzcampfilm 45 min, VHS, für 30.- DM zu bestellen bei: [email protected] oder Tel. 01728910825 Der 45min-Film zum Grenzcamp der Kampagne “kein Mensch ist illegal” ist ein kleines Meisterwerk. Links zum Thema Migration: http://www.bonn.iz-soz.de/themen/migration/ Aktionen, Veranstaltungen AKTIONCOURAGE fordert und fördert die gesellschaftliche Teilhabe und politische Mitbestimmung von Menschen ausländischer Herkunft. AKTIONCOURAGE ist ein Zusammenschluss von engagierten Bürgern unterschiedlicher Kulturen und Identitäten aus allen Regionen der Welt in Deutschland und sucht Mitglieder und Fördermitglieder. Projekte von AKTIONCOURAGE sind Schule ohne Rassismus, Ausländische Betriebe bilden aus, Interkulturelles Management in deutschen Betrieben, Ausländer und Polizei begegnen sich, Integration von Muslimen und muslimischen Organisationen, Seniorenarbeit mit Migranten, Fluchtursachenbekämpfung Adresse: AKTIONCOURAGE e.V., Postfach 2644, 53016 Bonn, Tel.: 0228213061, fax: 0228-262978, E-Mail: [email protected], www.aktioncourage.org INFOTEGRA Ein Projekt der Uni-Oldenburg, unterstützt vom Land Niedersachen und der EU, dass sich um die berufliche Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen in Niedersachen kümmert. Tel.: 0441/683712 E-Mail: [email protected] , www.uni-oldenburg.de/zww AGEF – Arbeit für Kosova und Bosnien Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit. Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projekts kann das AGEF den in Deutschland oder einem andern EU-Land lebenden Flüchtlingen aus Kosova seit Februar 2000 Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung anbieten. Das Projekt umfaßt eine Jobbörse zur Stellenvermittlung nach Kosova, ergänzend hierzu eine Vermittlung von einzelnen hochqualifizierten Kandidaten auf Praktikumsplätze noch vor der Rückkehr, ferner Bewerbungstrainings und Seminare für Existenzgründer. So sucht z.B. AGEF ständig geeignete Fachkräfte mit Berufserfahrung und guten Deutschkenntnissen aus dem Kreis der albanischen Flüchtlinge und vermittelt diese an Firmen, die ein Interesse haben am Aufbau von Geschäftskontakten ins Kosovo. AGEF Königswinterstraße 1 10318 Berlin, Tel.: 030/501085-21, Fax: 030/ 5097804, E-Mail: [email protected], [email protected], www.agef.de, www.getjobs.net, Antirassistische Demonstration: Sa. 16.9.2000, Soest, Treffpunkt 11 Uhr am Soester Hauptbahnhof. Anlaß ist der Todestag des Marokkaners Rachid Sbaai, der am 30. August 1999 117 Service in dem Abschiebegefängnis Büren ums Leben kam. Rachid Sbaai starb unter ungeklärten Umständen bei einem Brand in seiner Arrestzelle, in die er während einer siebentägigen Isolationshaft gesperrt war. Seminar: S7 Sozialpolitik und Migration – grenzüberschreitende Sozialleistungen 30.10-1.11.2000, im DGB-Bildungszentrum Niederpöcking, Anmeldung: DGB-Bundesvorstand, Referat Migration, Postfach 110372, 10833 Berlin, Tel.: 030/24060742, Fax: 0211/4301134 Das Seminar will über „alte“ wie „neue“ soziale Risiken in Zusammenhang mit grenzüberschreitender Migration informieren. Es geht zunächst vor allem um Arbeitslosigkeit, Armut, individuellen Notlagen sowie Diskriminierungen und Ausbeutung. In einem zweiten Schritt sollen soziale Rechte, Schutz- und Sicherungsregelungen dargestellt und kritisch in Hinblick auf ihre Funktion beleuchtet werden. In einem dritten Schritt geht es um die Frage der Weiterentwicklung sozialer Rechte und Möglichkeiten der Umsetzung in Betrieb und Politik. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehören: Pflegeversicherung, Krankheit im Ausland, Arbeitslosigkeit – aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung, insb. EUGH. S6 Fremdenfeindlichkeit und Rassismus – Anti-Rassismus-Training 2 2.104.10.2000, in der ÖTV-Bildungsstätte Berlin-Wannsee, Anmeldung: DGB-Bundesvorstand, Referat Migration, Postfach 110372, 10833 Berlin, Tel.: 030/24060742, Fax: 0211/4301134 Schwerpunkte des Seminars werden Diskussionen über die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und ihre möglichen Prävention sein, sowie Übungen zur Wahrnehmung von diskriminierendem Verhalten und zum gewaltfreien Einschreiten gegen Angriffe. Kongress: Streit um Einwanderungspolitik - Zwischen Bevölkerungsschwund und Überfremdungsangst, zwischen ökonomischem Kalkül und humanitären Prinzipien 26.9.2000 im Freizeitheim Vahrenwald, Vahrenwalderstr. 92, 30165 Hannover, Anmeldung: NLPD, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover, Tel.: 0511/3901-277/294, Fax: 0511/3901290, www.nlpd.de In den nächsten Jahrzehnten kommt es in Deutschland zu einer dramatischen Änderung des Bevölkerungsaufbaus, die Rückwirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche haben wird. Vor diesem Hintergrund beginnt in der Bundesre118 publik die Diskussion über eine langfristig angelegte Einwanderungspolitik. Erstmals deutet sich hierbei eine Veränderung der Perspektive an vom begehrten Wohlfahrtsland zu einem Land, das international um qualifizierte Migranten konkurrieren muß. Die demographische Änderungen und ihre Folgen für zentrale Politikbereiche sind Thema eines ersten Arbeitsabschnittes, Renommierte Fachleute gehen sodann der Frage nach, ob und wie Einwanderung zur Lösung von Zukunftsproblemen beitragen kann, welche Konflikte hierbei entstehen können und welche Integrationsangebote von Seiten der Aufnahmegesellschaft gemacht werden müssen. Journalisten und Politiker vertreten abschließend die unterschiedlichen weltanschaulichen Leitbilder und Interessen, die im Politikfeld Migration aufeinander stoßen. Tagung: Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft 27.-29.9.2000 Landesstelle Unna-Massen, Wellersbergplatz 01, 59427 Unna, Tel.:02303/ 954-0, Fax: 02303/ 954-401. Anmeld. für Übernachtungsplätze unter Tel.: 02303/954-100. Veranstalter: Werkstatt Weiterbildung. Anmeldung: bis zum 08.September beim Landeszentrum für Zuwanderung NRW, PSF 110426, 42664 Solingen, Frau Andrea Müller, Fax: 0212/ 2323918. Innerhalb des Landeszentrums für Zuwanderung NRW erhalten Sie weitere Auskünfte im Sachgebiet Weiterbildung und Service, Kelderstraße 06, 42697 Solingen; bei Frau Dr. Sabine Jungk: Tel.: 0212/ 2323930/931 und Herr Jan Motte Tel.: 0212/ 2323931. Die Einwanderungsgesellschaft ist eine der zentralen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft im 21.Jahrhundert. Das Landeszentrum für Zuwanderung NRW stellt im Rahmen der zweiten WERKSTATT WEITERBILDUNG innovative Modelle politischer Bildung in der Einwanderungsgesellschaft vor. Sie sollen Anregungen geben für die Praxis und Anlass für konzeptionelle, methodische und politische Diskussionen. Theoretisch-konzeptionelle Ausführungen sollen die einzelnen Inhaltsforen zu folgenden speziellen Themen und Ansätzen in einen größeren Gesamtkontext einbetten: -Information, Orientierung, Partizipation durch politische Bildung Teil I, II, Migrations-Geschichte(n) I: Historischbiografische und kulturelle Ansätze in der politischen Bildung, -Migrations-Geschichtee(n) II: Rundfunk und Ausstellungen als Medien der politischen Bildung. 6. Landesweite Konferenz von MigrantInnen und Flüchtlingen in Niedersachsen „Was heißt schon Integration? – Partizipationsmöglichkeiten auf dem Prüfstand“ Veranstalter: AMFN, AG KAN und NLPB 11.11.2000 Niedersächsischer Landtag, Hannover, Informationen: Nds. Landeszentrale für politische Bildung, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover, Tel.: 0511/3901-277/294, Fax: 0511/ 3901290, E-Mail: [email protected] Migrantinnen und Migranten formulieren ihre Vorstellungen von Integration zwischen eigenen Anpassungsleistungen und Partizipationsangeboten der Aufnahmegesellschaft. Dabei spielen die Bereiche Arbeit, Schule, Lebensbedingungen der 2. und 3. Generation sowie Antidiskriminierungsmaßnahmen eine zentrale Rolle. Tagung: Professionelles Handeln in Konfliktsituationen in der Flüchtlingsarbeit 11.-13.10.2000 AWO-Tagungszentrum Haus Humboldstein, 53424 RemagenRolandseck, Veranstalter: AWO-Akademie Helene Simon, AWO-Bundesverband e.V., Anmeldung: AWO-Akademie Helen Simon, Postfach 410163, 53023 Bonn, Fax: 0228/6685-209, Infos: Maria Krumrey, Fachbereich Migration beim AWO-Bundesverband e.V., Oppelner Str. 130, 53119 Bonn, Tel.: 0228/6685257, www.awo.org, E-Mail: [email protected] Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften sind ungeliebte Nachbarn. Oft schon im Vorfeld der Unterbringung und Betreuung in speziell errichteten Unterkünften entstehen in Städten und Gemeinden Schwierigkeiten, weil Nachbarschaften die Anwesenheit von Flüchtlingen in ihrem Wohnumfeld zu verhindern versuchen. Aber auch die Formen der oft langen Unterbringung in großen und vielfach schlecht ausgestatteten Einrichtungen sind häufige Ursache weiterer vielschichtiger Probleme, die für die Beratungsarbeit ständig neue Herausforderungen bedeutet. Die Art und Weise, wie die Beratung, Unterbringung und Betreuung der ausländischen Flüchtlinge in den einzelnen Kommunen verwirklicht wird, weisen eine erhebliche Bandbreite auf. Woche der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche 23. September 2000 in Hannover: 10.00 Uhr - Interkulturelles Fest des Ausländerbeirates um die Marktkirche, 15.00 Uhr - Ökumenischer Gottesdienst in der Marktkirche, 16.30 Uhr - Empfang im Neuen Rathaus, Gobelinsaal Veranstalter: Ökumenischer Vorberei- FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service tungsausschuss, die Stadt Hannover, der Ausländerbeirat der Landeshauptstadt Hannover und die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Vortrag: Die Türkei auf dem Weg nach Europa? Eindrücke einer Reise im April 2000 geschildert von Dr. med. Gisela Penteker Vorstandsmitglied der IPPNW Veranstaltung organisieren über den Nds. Flüchtlingsrat! Ausstellung: Flüchtlingsalltag in Niedersachsen Nur noch digitalisiert, als CDRom bei der Geschäftsstelle des Niedersächsischen Flüchtlingsrat, 10 DM Fortbildungsreihe Flüchtlingsrat EU-Beitritt Ungarns – das Ende eines liberalen Flüchtlingsschutzes?? 12.9.2000 Referent: Lazlo Lehel, Geschäftsführer des ökumenischen Hilfswerks Ungarn Die praktizierte Flüchtlingspolitik Ungarns konnte sich bislang in Europa im positiven Sinn als human und effektiv beurteilen lassen. Mit den EU-Beitrittsbemühungen muß nun jedoch befürchtet werden, dass auch Ungarn in die Festung Europas eingebunden und seine Außengrenzen zu einem Bollwerk gegen Flüchtlinge ausgebaut werden. Die Abschottung Ungarns als primäres außenpolitisches Ziel vornehmlich der westeuropäischen EU-Länder dürfte auch innerhalb des Landes erhebliche Nachteile für den Flüchtlingsschutz mit sich bringen, - Grund genug, der Frage nachzugehen, ob bereits jetzt die Weichen für eine solche Abschottungs- und Abschreckungspolitik in Ungarn gestellt werden und wie darauf reagiert wird? (Anmeldung s.u.) Flüchtlingsschutz in den EU-Beitrittsländern Polen, Tschechien und Slowakei – eine Bestandsaufnahme 5.12.2000 Referent: Dominique John, Mitarbeiter der Forschungsstelle Flucht und Migration e.V. Im Verlauf der Debatte um eine gemeinschaftliche Asylpolitik der EU sind die Binnen- und Außengrenzen der o.g. Beitrittsländer strategisch bedeutsame Faktoren des Ausgrenzungs- und Abschottungswillens Westeuropas geworden. So wurden und werden diese Grenzgebiete mit großem personellen und finanziellen Aufwand zu einem neuen „Eisernen Vorhang“ aufgebaut. Äußerungen aus dem politischem Raum, Asylverfahren künftig nur noch an den Außengrenzen der EU durchzuführen, zeigen die Brisanz dieser Entwicklung. Die Einhaltung und Anwendung der GFK besitzt dabei nicht die erste und oberste Priorität. Anmeldung über: Caritasverband f.d. Diözese Osnabrück e.V., Referat Migration/Ausländische Flüchtlinge, Norbert Grehl-Schmitt Johannisstraße 91, 49074 Osnabrück EU-PProjekt “Lokales Kapital für soziale Zwecke” EU-Gelder für Klein-Projekte zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration von Aussiedlern, Ausländern, LangzeitarbeitsEms! losen, Kindern und Jugendlichen im Regierungsbezirk Weser-E Angesprochen sind Initiativen der Selbsthilfe, Gruppen, Vereine und einzelpersonen, die neue Wege und Ideen zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration von ausgegrenzten Mitbürgern weiterentwickeln und erproben wollen. Besonders innovative Projekte sollen gefördert werden, um die Lebensbedingungen der genannten Zielgruppen zu verbessern. Kleinere Projekte, die sogenannten “Mikro-Projekte”, können mit in der Regel bis zu 20.000 DM gefördert werden. Informationen und Beratung: LEB Bezirksbüro Frau Gabriele Wosnitza (Projektleitung) Drosselweg 2, 49134 Wallenhorst Tel.: 05407-2091 + 895726 Fax: 05407-31888 Mobil: 0171-2115270 E-Mail: [email protected] LEB Projektbüro Westerstede Tel.: 04488-862233 Fax: 04488-862209 Außerdem informieren sie alle LEB - Bezirksbüros, die Bezirksregierung sowie die Sozialämter in den Landkreisen und Städten in Weser-Ems Widerspruch, Heft 39: Rechtspopulismus - Arbeit und Solidarität 204 S., Fr./DM 21, im Buchhandel oder Widerspruch, Postfach, CH - 8026 Zürich, Tel./Fax 0041 (0)1-273 03 02, [email protected]; www.widerspruch.ch In Westeuropa tragen die Regierungslinken, die sozialdemokratischen Parteien, die Grünen und die Gewerkschaften politische Mitverantwortung am Erstarken des modernen Rechtspopulismus. Worin bestehen die Probleme, Chancen und Perspektiven einer sozialen Demokratiepolitk, einer solidarischen Arbeits- und Sozialpolitik, die das Terrain nicht den Rechten überlassen? The VOICE e.V. Africa Forum, Human Rights Group, Schillergäßchen 5, 07745 Jena, Tel.: 03641-665214 / 449304, Fax:03641-423795 /42027 E-mail:[email protected]. Kto.Nr.: 231633 905, BLZ: 860 100 90, Postbank Leipzig Following the resolutions and declaration of the Karawane congress in Jena which took place from the 21st April to 1st May, 2000, with participants from 24 nationalities from all the continents, the 3rd of October was planned as the day of exposure of the civil disobedience in Hannover against the Residenzpflicht for refugees. This is coming after regional actions were carried out on the 8th of July against this discriminative law by Karawane groups in over 12 different cities. The campaign against residenzpflicht was initiated during the congress mobilisation by The VOICE Africa Forum, a refugee self-organised human rights group in coordination with the Karawane for the rights of refugees and migrant. We are calling for solidarity and financial support for the actions against residenzpflicht. (C.Y.) For more information contact :www.humanrights.de 119 Service Terminliste 12.09. 16.09. 19.09. 21.09.- 22.09. 26.09. 02.10 - 4.10. 03.10. 22.10. - 27.10. 25.10. 26.10. 27.10. 30.10. - 01.11. 04.11. 11.11. 17. - 19.11. 05.12. Flüchtlingsrat-Fortbildungsveranstaltung: EU-Beitritt Ungarns – das Ende eines liberalen Flüchtlings schutzes??; mit Lazlo Lehel, Geschäftsführer des ökumen. Hilfswerks Ungarn; nähere Infos: Flüchtlingsrat Antirassistische Demonstration in Soest Expo-Nationaltag: Nepal/ Karawane-Kettenkampagne Karawane - Demo in Bonn Keine Botschafts-Kollaborationen bei Abschiebungen! Kongress der Landeszentrale für polit. Bildung: „Streit um Einwanderungspolitik ...“, Freizeitheim Var renwald; nähere Infos: Flüchtlingsrat Seminar des DGB: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus – Anti-Rassismus-Training 2; Referat Migration; nähere Infos: Flüchtlingsrat Expo-Nationaltag: Deutschland/ Karawane: Aktionstag gegen Residenzpflicht Informationsreise in die Tschechische Republik; Veranstalter: Nds. Flüchtlingsrat und VNB Expo-Nationaltag: Togo/ Karawane-Kettenkampagne Expo-Nationaltag: Nigeria/ Karawane-Kettenkampagne Expo-Nationaltag: Iran/ Karawane-Kettenkampagne Seminar des DGB: Sozialpolitik und Migration – grenzüberschreitende Sozialleistungen. DGB-Referat Mi gration; nähere Infos: Flüchtlingsrat Flüchtlingsrat-Sitzung in Wolfsburg, 13.00 Uhr 6. Landesweite Konferenz von MigrantInnen und Flüchtlingen in Niedersachsen: „Was heißt schon Inte gration... ?“ Veranstalter: AMFN, AG KAN und NLPB; nähere Infos: Flüchtlingsrat Klausurtagung des Flüchtlingsrat (?); Ort ist noch unklar Flüchtlingsrat-Fortbildungsveranstaltung: Flüchtlingsschutz in den EU-Beitrittsländern Polen, Tschechien und Slowakei – eine Bestandsaufnahme; mit Dominique John, FFM; nähere Infos: Flüchtlingsrat weitere Infos betr. die Kettenkampagne der Karawane zu den jeweiligen Nationaltagen: Internationaler Menschenrechtsverein Bremen, Wachmannstr. 81, 28207 Bremen, Tel. 0421 - 5577093, Fax 0421 / 5577094, [email protected], http://www.humanrights.de/ The Voice e.V., Schillergäßchen 5, 07745 Jena, Tel. 03641 / 665214, Fax 03641 / 423795, [email protected] Mitglieder 120 FLÜCHTLINGSRAT – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 69/70, August-September 2000 Service Materialliste Niedersächsischer Flüchtlingsrat Bezug: Nds. Flüchtlingsrat, Lessingstr. 1, 31135 Hildesheim Tel.: 0 51 21 / 15 605, Fax: 0 51 21 / 31 609, E-mail: [email protected] 1996 FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 31/32 (Heimliche Menschen - Illegalisierte Flüchtlinge) 10,00 DM 10,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 38/39 (Flüchtlingsalltag und Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen) „Katalog zur Ausstellung mit Texten zu Migration, Rassismus und Flüchtlingsarbeit sowie 48 Bilddokumenten“ 1997 FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 41 (Festung Europa - Ausländerrecht - „Rückführung“) 8,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 42/43 (Bürgerkriegsflüchtlinge - Bosnien - Kosovo) vergriffen FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 44/45 (Kurdenverfolgung - Kirchenasyl - Härtefallregelung) 12,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 46/47 (AVE MARIA für die Menschlichkeit) „Kirchenasyl“ vergriffen FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 48/49 (Kein Mensch ist illegal) Bilanz der nds. Flüchtlings-Sozialpolitik 1997 vergriffen 1998 FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 50 (Forderungen an die neue Landesregierung) 8,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 51 (Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa) 8,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 52 (Rassismus und Strategien gegen Rassismus) vergriffen FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 53/54 (Einmal Folter und zurück) 12,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 55 (Die Grenze) „Flüchtlingsjagd in Schengenland“ 8,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 56/57 (20 DM für Kirchenasyl !?) 12,00 DM 1999 FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 58 (Ausländerrecht) Grundlagen für die Praxis 15,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 59 (Das Leistungsrecht) Grundlagen für die Praxis 15,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 60/61 (Grenzen auf für Flüchtlinge) 12,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 62 (Die soziale und rechtliche Situation von Flüchtlingen) 15,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 63 (Reise in den Tod) 8,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 64/65 (JAHRTAUSENDWENDE) 12,00 DM 2000 FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 66 (Leitfaden für Flüchtlinge) (Kopie des vergriffenen Originals) 10,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 67 (Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz in Niedersachsen) 12,00 DM FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 68 (Geteilte Medizin) 12,00 DM Von Deutschland in den türkischen Folterkeller, 2.erw. Auflage geg. frank. u. adrs. Rückumschlag/ ab 10 Stück 1 DM/Expl. Weitere Materialien Zur Kampagne gegen (Flug-)Abschiebungen sind bei der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrat zu beziehen: Tragetaschen (Plastik) mit Aufdruck: „Deportation class. Lufttransaction spezial“ (blau-orange, optisch sehr ansprechend) Stück 20 Pf Wichtiger Hinweis für Flugreisende - Faltblatt von Pro Asyl Internationale Sicherheitsstandards, Doppelseitiges Flugblatt mit Rotem Rand, offizieller Eindruck, doppelseitig bedruckt, kartoniert, Stück 15 Pf ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 53 (02/1993) 3,00 Rechtsberaterkonferenz: Art. 16a GG und seine Folgen ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 55 (12/1993) 3,00 Rechtsberaterkonferenz: „Das neue Asylrecht“ ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 57 (09/1994) 5,00 Asylum in Germany ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 61 (07/1995) 5,00 Verantwortung verlagern - Die Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen in der EU und Nord-Amerika ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 62 (10/1995) 3,00 Abschiebungshaft in Deutschland - Rechtliche Aspekte DMDMDM DMDM- ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 65 (01/1997) Flüchtlinge, Verfassungsrecht und Menschenrechte ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 67 (03/1997) „Unschuldig im Gefängnis?“ - Zur Problematik der Abschiebehaft ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 69 (05/1997) Familienzusammenführung von Flüchtlingen in Deutschland ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 71 (02/1998) Die Gemeinschaftsunterkunft für asylsuchende Flüchtlinge - Rechtsverhältnisse ZDWF-SSchriftenreihe Nr. 72 (05/1998) Traumatisierte Flüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland 5,00 DM5,00 DM 3,00 DM5,00 DM5,00 DM- 121 Petition für die Abschaffung des "Gutscheinsystems" Auf Weisung der Landesregierung von 1998 geben alle Kommunen Niedersachsens die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) an Flüchtlinge nur noch in Form von Gutscheinen bzw. Chipkarten anstelle von Bargeld aus. Die Kommunen tun dies vielfach gegen ihren Willen, da das Gutscheinsystem die kommunalen Kassen zusätzlich belastet. Auch für die (Einzel-) HändlerInnen vor Ort entstehen zusätzliche Kosten. Für Flüchtlinge bedeutet das Leben mit Gutscheinen Bevormundung (keine freie Wahl der Geschäfte und Artikel), Demütigung und sichtbare Abstempelung als unerwünschte Personen. Jeder Einkauf wird zur Praxisprüfung im Kopfrechnen, da eine Bargeldrückgabe nur begrenzt möglich ist. KassiererInnen werden durch das Gutscheinsystem zu OrdnungshüterInnen gemacht, die den Einkauf ihrer Gutschein-KundInnen überprüfen sollen. Viele alltägliche Dinge können mit Gutscheinen nicht bezahlt werden, z.B. Buskarten, Briefmarken, Telefonkarten, Kopfschmerztabletten und insbesondere die für Flüchtlinge unverzichtbaren RechtsanwältInnen. In vielen Kommunen gibt es kommerzielle GutscheinhändlerInnen, die die Notlage der Flüchtlinge ausnutzen und Flüchtlingen die Gutscheine unter Wert abkaufen. Im Gegensatz dazu solidarisieren sich zahlreiche Menschen mit den GutscheinempfängerInnen, tauschen Gutscheine im Verhältnis 1:1 in Bargeld um und setzen sich für die Abschaffung des Gutscheinsystems ein. Mindestens 20 organisierte Umtauschinitiativen von Flüchtlingen, MigrantInnen und Deutschen gibt es in Niedersachsen. Darüber hinaus schaffen Flüchtlinge untereinander vielfach privat Solidaritäts-Tauschnetze. Wir finden es unerträglich, Flüchtlinge aus offen erklärtem Abschreckungswillen zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren und so den latenten und offenen Rassismus in der Bevölkerung zu schüren. Das AsylbLG ermöglicht sowohl die Gutschein- als auch die Bargeldausgabe. Alle Nachbarländer Niedersachsens haben auf den Zwang zur Gutscheinausgabe verzichtet und den Kommunen die Wahl gelassen. Wir fordern daher die Landesregierung Niedersachsens auf, die Weisung von 1998 zurückzunehmen und den Kommunen so die Ausgabe von Bargeld an Flüchtlinge wieder zu ermöglichen. Name Adresse Unterschrift initiiert vom Niedersächsischen Plenum gegen rassistische Sondergesetze. Bitte zurücksenden an: Plenum c/o Umtauschinitiative Hildesheim, Lessingstr. 1, 31134 Hildesheim, Tel. 05121 / 13 28 20, Fax 05121 / 39448