Die Neunmalklugen - IG Metall Waiblingen
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Die Neunmalklugen - IG Metall Waiblingen
Quelle Seite Ressort Autor DIE ZEIT vom 16. 10. 2008 10 Politik Susanne Gaschke | Die Neunmalklugen Was haben sie uns nicht alles erzählt über den überlegenen Markt und die Wertlosigkeit des Staates und was hört man nun? Dröhnendes Schweigen Wer glaube, dass der Mensch aus Katastrophen lernen könne, müsse enttäuscht werden, schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk 1989 in seinem Buch Eurotaoismus: "Nur der reale Weltuntergang wäre eine überzeugende Warnung vor dem Weltuntergang. Die einzige Katastrophe, die allen einleuchtet, wäre die Katastrophe, die keiner überlebt." An einer solchen Katastrophe hat niemand Interesse: Auch derjenige nicht, der sich in den vergangenen 15 Jahren gelegentlich ein wirksames didaktisches Instrument gewünscht hätte gegen all die Marktideologen und Staatsverächter, gegen die Sinns und Rogowskis, die Hundts und Henkels, Merzens und Metzgers; gegen die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, gegen unzählige missionarisch tätige Mitarbeiter von Finanzdienstleistungsfirmen und die Deregulierungs-Textbausteine des Bundespräsidenten. Auch ohne Weltuntergang bringt eine Rezession, die uns nun noch bevorsteht, genug Angst und auch für NichtAktienbesitzer schmerzliche Konsequenzen mit sich: zum Beispiel Arbeitslosigkeit. Wir sollten also, Sloterdijks Pessimismus zum Trotz, die Finanzkrise als Warnkatastrophe zu begreifen versuchen. Von ihrer Unübersichtlichkeit her ist die gegenwärtige Situation, ist das großartige Scheitern aller neoliberalen Verheißung über die Weisheit der Märkte und die Überflüssigkeit des Staates, mit dem Untergang des Sozialismus verglichen worden. Im Gegensatz zu 1989 fällt allerdings ein Unterschied auf: Damals kam es schnell zu breiten Aufarbeitungsdebatten unter Historikern, politischen Akteuren vielen Intellektuellen, die zum düsteren Alltag des Realsozialismus in Sowjetunion und DDR gar nicht allzu viel beigetragen hatten, die aber trotzdem Verantwortung für ihre latenten Sympathien übernahmen. Und sich ein kleines bisschen schämten für manche ätzende Kritik am demokratischen, freiheitlichen System (nachzulesen zum Beispiel in einer großen ZEIT-Debatte vom Herbst 1989 und der FAZ-Serie Whats left im Win- ter 1992/93). Diese selbstkritische Betrachtung der eigenen Rolle, dieses kleine bisschen Scham ist in der aktuellen Krise aufseiten der ökonomischen Elite bisher nicht zu entdecken: wahrscheinlich, weil sich ihre Mitglieder tatsächlich nicht als Anhänger einer Weltanschauung unter mehreren, sondern als Inhaber einer unbestreitbaren Wahrheit betrachtet haben. Und diese Wahrheit dass der Markt praktisch alles besser könne als der Staat; dass die Börse letztlich das präzisere Abstimmungsinstrument sei als die demokratische Wahl; dass das Spitzenpersonal der Wirtschaft den Politikern himmelweit überlegen sei beschränkte sich keineswegs auf die wirtschaftliche Sphäre. Diese Wahrheit sollte überall gelten, für Recht und Politik, Militär und Verwaltung, Kirche, Kindergarten und Krankenhaus. Nur stimmte sie nicht einmal für den eigenen Bereich. Es wirkt kurios, wenn Bundespräsident Horst Köhler nun mehr Moral für die Märkte einfordert und sich gegen Selbstzufriedenheit und Zynismus der Manager wendet. Er müsste seine Referenten ins Archiv schicken und sich seine eigenen Reden vornehmen, zum Beispiel die zum Tag der Deutschen Einheit 2004. Da war es noch das "westdeutsche Regelwerk", das zu sehr geprägt war von "Selbstzufriedenheit", außerdem von "überzogenem Anspruchsdenken" und einem "alles durchdringenden Regulierungseifer". Köhler machte sich stark für einen "radikalen und nachhaltigen Abbau von Vorschriften und Bürokratie". Ähnlich HansWerner Sinn, laut Bild-Zeitung "Deutschlands klügster Wirtschaftsprofessor": "Jedes Land braucht eine Kulturrevolution, wenn der Filz über 50 Jahre akkumuliert wurde. Jetzt ist Deutschland so weit." Schon 2002 sah Arnulf Baring (Bild: "Deutschlands klügster Historiker") die Bundesrepublik als "DDR light", regiert von einer "drohnenhaften Herrschaftskaste" aus ahnungslosen Politikern und wehrlos ohne eine Notstandsverfassung à la Weimar. Deshalb fand Baring, die Si- tuation sei reif für "einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem. Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte Revolten liegen in der Luft." Antizipierte er den Zusammenbruch der Finanzmärkte und die steuerfinanzierten Milliardenrettungspakete für Banken? Nein, es ging um die staatliche Unfähigkeit zum echten Sozialabbau. In jener Zeit war auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall omnipräsent, die es sich zum gut bezahlten Ziel gesetzt hat, die "Einstellung der Bevölkerung zur Wirtschafts- und Sozialordnung" zu verändern. Sie ging Medienpartnerschaften ein, versorgte Zeitungen mit kompletten Interviews, platzierte wirtschaftsfreundliche Sätze in Vorabend-Soaps, kaufte sich sozialstaatskritische Fernsehbeiträge, präsentierte zweifelhafte Städte-Rankings (mit einem kommunalen Krankenhaus konnte eine Stadt nicht gewinnen, sie hatte dann garantiert zu viele öffentlich Beschäftigte). Und immer lautete die Botschaft Wettbewerb, Deregulierung, Privatisierung, Beschneidung der Arbeitnehmerrechte. Verschleudert der Staat das Geld der Bürger für "Sozialklimbim"? Den "weltbürgerkriegsähnlichen Zustand", den die FAZ vor ein paar Tagen konstatierte, hat freilich nicht das Parlament herbeigeführt, nicht das deutsche Wertpapierrecht oder die städtische Müllverordnung, nicht der erhöhte Mehrwertsteuersatz und auch nicht die Pflegeversicherung. Der unübersichtliche, beängstigende Zustand hat seinen Ursprung in der Sphäre der Wirtschaft, und jene nun gescholtenen Politiker und Beamten, die in Bankenaufsichtsgremien möglicherweise zu lange stillhielten, agierten in der beschriebenen staatsfeindlichen Großstimmung. Mit der Bundestagswahl von 2005 und dem zweitschlechtesten Ergebnis für die Union seit Kriegsende (35,2 Prozent) verloren die Deregulierer etwas an Schwung. (Laut einer Umfrage des In- 1 stituts Polis/Sinus im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung sprechen sich heutzutage übrigens sechs [!] Prozent der Bevölkerung für weitere "schmerzhafte Reformen" aus.) Aber am Ende war die Marktwahrheit damit noch lange nicht. Noch am 18. August schrieb Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche: "Gerade in diesen Monaten zeigt sich, dass der Steuerstaat bis über die Perversionsgrenze geht: Brutalstmöglich werden jetzt auch kleine Einkommen ausgebeutet Jeder Entlastung steht die Staatsgier entgegen. So will die SPD sogar die Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verhindern, um mit dem Geld der Beitragszahler Sozialklimbim zu finanzieren ". Acht Wochen später setzte die Bundesregierung das den Steuerbürgern abgepresste Geld für den größten Sozialklimbim aller Zeiten ein: für die Rettung der Hypo Real Estate. Ironischerweise lief das marktradikale Leitmotiv der vergangenen 15 Jahre immer darauf hinaus, dass die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, dass der Exportweltmeister Deutschland kurz vor dem Abgrund stehe und dass seine messbare Wirtschaftsstärke rein gar nichts bedeute. Gewiss war die Arbeitslosenzahl von fast fünf Millionen eine Katastrophe vor allem für die Betroffenen. Aber alle anderen Arbeitnehmer sollten gefälligst auch in der Angst leben, es könne ihnen bald ebenso ergehen und sich bescheiden und wirtschaftskompatibel verhalten. Jedes Jahr hielt der Bundesverband der Deutschen Banken sein "gesellschaftspolitisches Forum" ab. Nie ging es dort um Regelungsbedarf im internationalen Finanzwesen dafür umso öfter um Deutschlands Reformunfähigkeit, die "konfiszierte Freiheit", "Wettbewerb als Lebensform". Wir sollten lernen von denen, die in den vergangenen Jahren "out" waren Und Sabine Christiansen ließ Woche um Woche aus ihrer Berliner Sendekugel den Untergang des Standorts verkünden: "Konjunktur-Angst Aufschwung ade?", "Sind wir ein Volk von Sozialschmarotzern?" oder "Macht dieses Steuersystem Deutschland kaputt?". All diese Äußerungen, Sendungen, Veranstaltungen sind zurechenbar. Sie schufen einen Wahrnehmungsnebel, in dem das Land hochgefährdet, Parteien und Demokratie unfähig und gefährlich erschienen. Jetzt will es keiner gewesen sein, aber damals wussten alle genau, um was es ging: Effizienz. Rendite. Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Wer anders dachte, geriet schnell in die Defensive. Das Bildungsbürgertum ließ sich von der Kapitalfraktion ohne Widerstand majorisieren. Auch die Sozialdemokraten unter Gerhard Schröder zollten zumindest verbal Tribut an die Marktradikalen: Viel stärker als die Hartz-Gesetze (die ja auf echte Missstände am Arbeitsmarkt zu reagieren versuchten) oder die Rente mit 67 Jahren (die sich eines konkret bezifferbaren demografischen Problems annahm) war das SchröderBlair-Papier von 1999 ein Verrat an sozialdemokratischen Idealen. Das Manifest ist eine Orgie der Marktgläubigkeit. "Die Ansicht, dass der Staat Marktversagen korrigieren müsse, führte allzu oft zur Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik", heißt es dort in beflissenen Variationen. Nach so viel Gehirnwäsche können wir uns glücklich schätzen, dass es uns noch möglich ist, eine echte Krise zu erkennen, wenn wir sie vor der Nase haben. Und wir können lernen von all denen, die in den vergangenen, effizienzbesoffenen Jahren besonders out waren: Von den Schülern altsprachlicher Gymnasien zum Beispiel, die ihren marktgetrimmten Altersgenossen immer schlechter erklären konnten, wozu Latein und Griechisch denn gut seien. Von den AOKVersicherten, die darauf beharrten, durch ihren hohen Krankenkassenbeitrag ärmere, ältere, kränkere Patienten mitzufinanzieren. Von den Leuten, die sagen: Bei aller Liebe, ein Museum kann nicht nur ein Profitcenter sein. Von denen, die bis heute nicht verstanden haben, warum es eine marktwirtschaftliche Pflicht sein soll, die Stadtwerke deutscher Großstädte an chinesische Investoren zu verkaufen. Von Lehrern, die nicht glauben, dass sie ein Produkt herstellen sondern, dass sie Kinder erziehen. Von all diesen Menschen könnten auch die Marktradikalen etwas lernen: dass eine Gesellschaft andere Kraftquellen hat und andere Kraftquellen braucht als nur den Profit. Wenn sie es lernen würden, ließe sich einfacher darüber diskutieren, wie der Kapitalismus aussieht, den wir haben wollen. Aber vielleicht hat auch Sloterdijk recht. www.zeit.de/audio Abbildung: Propagandisten der regellosen Marktwirtschaft und Gegner des Staates. Horst Köhler, Bundespräsident, Friedrich Merz, Finanzexperte, Arnulf Baring, Historiker, Werner Sinn, Wirtschaftsexperte © 2008 PMG Presse-Monitor GmbH 2