DIE STUMMEN BILDER DER STRASSE

Transcrição

DIE STUMMEN BILDER DER STRASSE
DIE STUMMEN BILDER
DER STRASSE
Die Brutalität der Strassen wurde in den 50er und 60er Jahren zum Thema in der
Fotografie. New York als Welthauptstadt inspirierte und prägte die Künstler, die
eine neue Bildsprache in ihren Werken entwickelten: Die Strasse als Spiegel der
Gesellschaft.
Von Sandra Biberstein
«Street Photography» nennt sich die Kunst, die in der Nachkriegszeit die Strassen der Stadt aus einer neuen Perspektive
zeigte, gleichzeitig aber auch das Stadtbild veränderte. Dass
Städte schon immer ein beliebtes Sujet in der Kunst waren,
davon zeugen die vielen Darstellungen von Mittelalter bis in
die heutige Zeit. Mit der «Street Photography» kam eine neue
Wahrnehmung der Stadt auf. Es gibt kein fixes Ideal der Stadt,
denn jede Stadt ist anders. Es ist nicht nur die Architektur, welche die Wahrnehmung einer Stadt bestimmt, sondern hauptsächlich das Leben in ihr. Jede Stadt hat ihre eigene Strassenfotografie, die das Alltagsleben zeigt und der Gesellschaft
einen Spiegel vorhält. Sie repräsentiert in ihrer fotografischen
Form die kollektiven Erfahrungen der Menschen in den Strassen. Sie unterrichtet über die urbane Ökonomie, das kommerzielle Spektakel in der Stadt.
Die Suche nach einer neuen Poesie
Die US-amerikanische Fotografie machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Suche nach einer neuen Poesie in ihren
Bildern. Die Fotografen versuchten, mit belanglosen Motiven
und zufälligen Bildausschnitten den Formalismus und die professionellen Normen des Mediums zu überwinden. Die Strasse
wurde zum Ort der Fotografen, die ein anderes Bild von Amerika festhalten wollten. Es stand nicht mehr das romantisierende Bild des «amerikanischen Traumes» im Vordergrund, der
38
Schwerpunkt wurde auf soziale Themen verlegt. Dieser dokumentarische Stil lehnte sich stark an denjenigen von Walker
Evans an, der bereits in den 1930er Jahren das Soziale in seinen
Fotografien thematisierte. Die Fotografen suchten in der Stadt
nach Zeichen und Bedeutungen von Orten, die von der Gesellschaft vergessen worden waren. Die Motive selbst änderten sich kaum, die Art und Weise des Fotografierens allerdings
schon: Nun standen eher ästhetische als inhaltliche Fragestellungen im Mittelpunkt. Der Stil der frühen Strassenfotografien,
welche zum Beispiel die Schönheit einer Stadt in der Nacht mit
all ihren Leuchtreklamen und anderen Lichtern zeigte, wich in
der Nachkriegszeit einem finsteren, groben Stil – der Alltag
rauer Strassenszenen wurde dargestellt. Die Fotografen versuchten, ihre Bilder unpersönlich zu gestalten, um auf diese
Weise zu «brutaleren» Bildern zu kommen, wie es die grossen
New Yorker Verlage wie etwa das Life-Magazine forderten. Der
ungarische Fotograf André Kertész, der in den 1920er Jahren
zu den bedeutendsten Fotografen zählte, berichtete, dass seine Bilder bereits 1939 abgelehnt wurden, weil sie zu viel Inhalt
hatten. Die Verlage wollten Bilder, «die nicht zu viel erzählen».
Fotografen wie André Kertész oder Henri Cartier-Bresson, der
für seine Schnappschussästhetik bekannte Franzose, hatten
eine eigene poetische Rhetorik in ihren Bildern entwickelt. Die
Fotos der Nachkriegsjahre aber blieben stumm. Formalismus
wurde verbannt, um sich vom allgegenwärtigen Symbolismus
Bild: William Klein (oben) und Gary Winogrand (unten)
Bild: Lisette Model
«Street Photography»: Die Strasse wurde in den 50er und 60er Jahren zum Ort der Fotografen, die ein anderes Bild von
Amerika festhalten wollten. Die Bilder sollten stumm sein.
in der Kunst abzugrenzen. Die schonungslose Darstellung einer existentiellen Gleichförmigkeit sollte erreicht werden, in
der dennoch ein poetischer Anklang sichtbar wurde. In dem
begrenzten künstlerischen Spielraum, der den Künstlern im
Medium Fotografie zur Verfügung stand, bestanden sie darauf, dass ihre Bilder stumm sein sollten.
Die Inspiration einer Weltstadt
New York prägte das Bild der «Street Photography». Viele der
Strassenfotografen fotografierten zuerst in den Strassen New
Yorks, bevor sie in andere Städte fuhren oder Landstrassen
aufnahmen. New York war in der Kunst schon immer ein beliebtes Sujet. Die Stadt ist der Inbegriff einer multikulturellen
Weltstadt, die Künstler fasziniert und inspiriert. Nicht nur eine
architektonische Vielfalt hat sie zu bieten, sondern auch unterschiedliche Orte und Plätze, auf denen sich das Leben abspielt. Waren es Anfang des 20. Jahrhunderts Wolkenkratzer
und Leuchtreklamen, die New York nachts in ein Lichtermeer
verwandelten und das Stadtbild prägten, so wurde nun die
Strasse zum neuen Motiv der Fotografen.
Zwei Fotografen spielten für die Entwicklung dieser neuen Fotografie eine wesentliche Rolle: Der New Yorker William
Klein, der 1948 nach Paris übersiedelte und Anfang der 1950er
Jahren wieder nach New York zurückkam, und der Schweizer
Robert Frank, der 1947 nach New York auswanderte. Klein veröffentlichte 1956 einen Fotoband mit dem Titel «Life Is Good
and Good For You in New York: Trance Witness Revels» (Das
Leben ist gut und gut für dich in New York: Schwärmereien
eines trunkenen Augenzeugens). Mit dem Buch parodierte er
die Boulevardpresse, die in ihren Berichten über Autounfälle
und Schiessereien die Formulierung «chance witness reveals»
(zufälliger Zeuge berichtet). Das Buch wiederspiegelt Kleins
Motto und fasst seine fotografische Haltung pointiert zusammen. Seine Bilder sind meist unscharf und unleserlich, weil er
die Kamera beim Fotografieren stets bewegte. Er wollte Bilder
zeigen, die durch Zufall entstanden sind. Für ihn ist die Fotografie das Medium, das ihn zu höchster Kreativität brachte, es
ihm ermöglichte, «alle Regeln zu brechen» und seine Kamera
«brutal» einzusetzen.
Die Brutalität der Strasse
Klein wuchs in einem von Gewalt der Strassengangs bestimmten Quartier in Manhatten auf. Als er in den 50er Jahren wieder in seine Geburtsstadt zurückkehrte, fotografierte
39
Bild: Robert Frank
Die Fotografien des Schweizers Robert Frank zeigen die pessimistische Gefühlswelt Amerikas. Eine tiefe Ambivalenz
gegenüber dem Motiv prägen die Fotografien seiens Buches «The Americans».
er die Brutalität des New Yorker Strassenlebens. Sein Antrieb
war es, «mit seiner Vergangenheit abzurechnen». Die Kamera benutzte er als eine Art «Waffe». Klein ist ein Bilderstürmer:
Seine Fotografien sollten die Einstellung eines Publikums,
das Kultiviertheit und Sensibilität als ästhetisch betrachtete,
attackieren, wie die Phrase «chance witness reveals» andeutet, die Frechheit einer Boulevardzeitung haben und sie sollten «vulgär und brutal wirken», wie diejenigen Bilder in den
Skandalblättern von New York. Die Realität der aufgenommen
Personen und Szenarien dominieren die Fotografien in seinem
Buch und zeigen die Strassen New Yorks aus dem Blickwinkel
eines zufälligen Zeugen. Die Bilder selbst erzählen kaum etwas, doch sie wirken auf ihre Weise laut. Im Gegensatz dazu
stehen Robert Franks Bilder, die wirklich still sind. Frank thematisierte ebenfalls das Leben auf der Strasse und arbeitete
wie Klein mit einer persönlichen, informellen und offenen
Bildsprache, die eine tiefe Ambivalenz gegenüber dem Motiv
zum Ausdruck bringt. Beeinflusst haben sich die beiden Fotografen nicht, es sind die Strassen New Yorks, welche sie prägten. Ihr Einfluss ist in den Bildern sichtbar. Frank griff in seinem
Fotobuch «The Americans» die pessimistische Gefühlswelt auf,
die er in Amerika vorfand. Das Gefühl der Verständnislosigkeit und der totalen Andersartigkeit seines Gegenübers sind
die immer wiederkehrenden Motive seiner Bilder. Dass Frank
40
einerseits genügend Distanz zu Amerika hatte und gleichzeitig ein grosses Mitgefühl für die Bevölkerung hegte, liess das
Buch so erfolgreich werden. Die einzelnen Bilder ergeben erst
dann einen Sinn, wenn man sie in den Kontext mit den anderen Bildern stellt. Frank wollte nicht mehr alles in einem Bild
sagen, wie es die Fotografen der 20er und 30er Jahre noch
getan hatten. Durch das komplexe Gespräch der Bilder untereinander gelingt es Frank, seine ambivalenten Gefühle zum
Dargestellten angemessen zu formulieren.
The «decisive moment»
Klein und Frank sind die Pioniere der Strassenfotografie. Ihre
aggressive und aktive Haltung gegenüber der Strasse, aber
auch gegenüber dem Leben in der Stadt übernahmen in den
1950er Jahren immer mehr Fotografen und experimentierten
mit der für die «Street Photography» typischen Schnappschussästhetik. Schnelle Kamerabewegungen und das Abdrücken
im entscheidenden Moment dominierte die Fotografie der
Strasse, der «decisive moment», der entscheidende Augenblick, wie es Cartier-Bresson in seiner Theorie des Schnappschusses erklärte, wurde gesucht. Die Fotografen liefen zum
Teil in ganzen Gruppen durch die Strassen, die Kamera in der
Hand, und hielten nach möglichen Motiven Ausschau: «The
resulting images are grabbed, notational, and intrusive… me-
tropolitan life (is) no longer construed by events so much as
made up of a succession of sudden glimpses and ephemeral
instants».
Die Strasse stellte für die Fotografen ein Ort für Aktivitäten
und Events dar, um auch ein Publikum ausserhalb der Kunstwelt zu erreichen. Sie wollten eine Mischung aus Kunst und Leben erreichen. Lisette Model fotografierte bereits in den 40er
Jahren die Geschäftsmänner der Wall Street sowie die Beine
und Füsse von Menschenmengen, indem sie die Kamera auf
den Bürgersteig richtete. Ihre Bildserien aus New York vermitteln den Blickwinkel einer Person, die von einer Menschenmasse niedergetrampelt wird.
Der Zerrspiegel der Gesellschaft
«It’s important to see what is invisibe to others. Perhaps the
look of hope or the look of sadness. Also it is aways the instantaneous reaction to oneself that produces a photograph», äusserte sich Frank über seine Art zu fotografieren. Verschwommene Bildschärfe, ein seltsamer Blickwinkel, wenig Belichtung
dominieren die «Street Photography». Lee Friedlander, Diane
Arbus oder Gary Winogrand sind weitere bekannte Vertreter,
die mit denselben ästhetischen Mitteln arbeiten. Vor allem in
Diane Arbus Werk scheinen die Bilder wie ein Zerrspiegel zu
sein, den die Künstlerin der Gesellschaft vorhält. Sie fotografierte die Menschen in Parks, an Paraden und in Irrenanstalten.
Die Bilder der «Street Photography» erzählen nicht viel. Ihre
Aussagekraft haben sie im zufälligen Bild der Strasse, das ein
Szenario des Alltagslebens wiedergibt. Es sind einfache Bilder,
welche die Stadt von einer ganz anderen Seite zeigen und
die Themen einer Stadt auch aufnehmen. Es sind die Strassen der Stadt selbst, die den Inhalt der Bilder beeinflussen
und bestimmen. New York als Weltstadt bietet den Fotografen im Vergleich mit kleineren Städten mehr Möglichkeiten
für Motive. Die «Steet Photography» zeigt in ihren Bildern ein
New York der 50er und 60er Jahren, wie man die Stadt zuvor
noch nie auf Bildern gesehen hatte. Es sind Fotos, die einem
das tatsächliche Leben der Stadt näher bringen, die hinter die
Fassade des typischen Bildes von New York blicken lassen, die
soziale und politische Themen aufgreifen und ein Stück weit in
ihrer Aggressivität und brutalen Ästhetik den Betrachter in die
Strassen von New York versetzen.
Literaturverzeichnis
•
•
•
Stierli, Martino: Ins Bild gerückt. Ästhetik, Form und Diskurs
der Stadt, Dissertation der ETH Zürich, Zürich 2007.
Westerbeck, Colin: In der Stadt und auf dem Lande. Die Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten, in: Frizot, Michel (Hg.):
Neue Geschichte der Fotografie, Köln, 1998, S. 641-660.
Yee, Lydia: Street art and street life. From the 1950s to now,
New York 2008.
Bilder: William Klein
Die brutalen Fotografien des New Yorker William Klein.
41