Karfreitag 2009 I In der Vesper vom Palmsonntag, am Eingang zur

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Karfreitag 2009 I In der Vesper vom Palmsonntag, am Eingang zur
Karfreitag 2009
I
In der Vesper vom Palmsonntag, am Eingang zur
Karwoche, da heisst es in der Antiphon zum
Magnificat:
„Ihr werdet alle irre werden an mir. Es steht ja
geschrieben: Den Hirten will ich schlagen, und
die Schafe werden sich zerstreuen. – Doch
wenn ich auferstanden bin, gehe ich euch
voraus nach Galiläa.“
Eben hörten wir die Passion, die
Leidensgeschichte Jesu. Diese Geschichte ist
zum irre werden. Jede Leidensgeschichte ist
zum irre, zum verrückt werden.
Wir sehen in diesen Tage die Bilder des
Erbebens von Italien an. Es sind Bilder, die uns
die Heile-Welt-Idee gründlich über den Haufen
werfen.
Wir sehen Bilder von leidenden, hungernden Menschen, von Flüchtlingen und Kranken. Zum
irre werden.
Und möglicherweise steckt man selber in Schwierigkeiten, in einer Krankheit, in der
Arbeitslosigkeit, in einer Beziehungskrise, in sonst einem Schlamassel. Zum irre werden.
Vielfach manövrieren wir uns selbst in schwierige Situationen hinein, sodass wir nichts
anderes tun können, als die Konsequenzen tragen, die leidvollen Konsequenzen
II
Der Tod Jesu am Kreuz ist jedoch mehr als ein Spiegelbild des menschlichen Leids. Der Tod
Jesu ist mehr, als ein beispielhaftes Tragen des Lebenskreuzes.
Der Hebräerbrief betont, Jesus habe nicht gesündigt.
Er muss als nicht, wie wir, die Konsequenzen seiner Sünden, seines Fehlverhaltens tragen.
Er trägt und erträgt konsequent und radikal aus Liebe das sündige und schuldhafte Verhalten
von uns Menschen. Er übernimmt jene Last einer Schuld, die nicht die Seine ist. Er trägt die
Sünde der Welt.
Wir können unser menschliches Verhalten nun einmal nicht schönreden.
Die ganze menschliche Boshaftigkeit wird uns in der Leidensgeschichte drastisch vor Augen
geführt, Grausamkeiten, die bis heute zur menschlichen Realität gehören, denken wir nur an
die Foltermethoden.
Und das ist ja des Erschreckende. Tief drin in unserer Seele schlummert dieses ganze Arsenal
an Grausamkeit. Wehe, die Schleusen werden geöffnet!
Im Kreuz Jesu wird uns einerseits diese menschliche Grausamkeit vor Augen geführt.
Andrerseits, und daran können wir auch beinahe irre werden, weil es letztlich nicht zu
begreifen ist:
Jesus hält diese Grausamkeit aus. Er hält stand im Vertrauen auf Gott, um uns die masslose
Liebe seines und unseres himmlischen Vater zu erweisen.
„Durch Leiden hat er Gehorsam gelernt.“ So beschreibt es der Hebräerbrief. Durch Leiden
wird die verwundete Schöpfung geheilt.
III
Der Blick aufs Kreuz erinnert mich immer wieder daran: Mach dir keine Illusionen. Tief in dir
schlummert auch diese Boshaftigkeit.
Der Blick aufs Kreuz erinnert mich aber ebenso sehr:
In all meinen Schwächen, Fehlern und Sünden bin ich umfangen und gehalten von Gottes
Liebe.
Diese Liebe gibt die Kraft, die Konsequenzen der eigenen Fehler zu tragen, gibt auch Kraft,
an der Leidensgeschichte der Menschen, verschuldet oder unverschuldet, nicht zu
zerbrechen.
Mehr noch: In der Versöhnungsfeier auf Ostern hin haben wir gehört:
Alles hängt mit allem zusammen. Die ganze Schöpfung ist wie ein Netz. Unsere Fehler,
unsere Sünden wirken sich aus auf die ganze Welt, selbst auf Menschen, die wir nicht
kennen.
Das Leiden Christi für das Heil der Welt zeigt uns auf: Nehmen wir im Geiste Jesu unsere
Leiden, verschuldet oder unverschuldet an, dann wirkt sich dies ebenso sehr aus.
In Christus und mit dem leidenden Christus können wir durch unser Leiden beitragen zur
Heilung und zum Heil der Welt.
IV
Das Kreuz und das Leiden Christi weisen uns aber auch darauf hin: Alle Leidensgeschichten
und alle Geschichten von Schuld sind nicht endgültig. Seit dem Karfreitag von damals dürfen
wir glaubend wissen:
Christus geht uns im Leiden und im Tode voran, geht uns voraus, um uns zur Auferstehung
zu führen, um all die Leiden zu verwandeln.
Nicht die tödlichen, sündhaften Mächte behalten die Oberhand, sondern Gottes Liebe, die
auch das Böse zum Guten wendet.
Erich Guntli