Es ist der Wahnsinn, es ist ein Rausch!

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Es ist der Wahnsinn, es ist ein Rausch!
Laufen ■ GESUNDHEIT
„Es ist
der Wahnsinn,
es ist
ein Rausch!“
Laufen gehen — das klingt nach Tempo
und Schweiß und Ausdauer. Aber Laufen kann ganz anders sein.
Wenn man die dicken Sohlen weglässt und den Boden
unter den Füßen spürt. In der Uckermark
hat BRIGITTE WOMAN-Autorin
Nataly Bleuel ihren Lieblingssport neu entdeckt
F O T O S ALEXANDRE DUPEYRON
I
ch bin jetzt kurz davor. Ich
liege auf einem Schaffell in
der Wiese, die Sonne hüllt
mich in goldene Wärme.
Hinter mir plumpst ein Apfel vom
Baum. Und wenn ich durch die
Lider blinzle, sehe ich jenseits
meiner Füße – die in Dingern
stecken, die ich als „Hobbit-Schuhe“ bezeichnen würde – den berauschendsten Flecken Natur
um Berlin, die Uckermark in ihrer Mischung aus Wildheit und
Milde. Jetzt spüre ich noch in
mich rein, genauer: in das, was
ich fühle, wenn ich ein Fußgelenk
anwinkle. Die Zehen gehen nach
oben, die Ferse nach unten. Eine
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kleine Bewegung. Die man andauernd macht. Ohne sich dessen
bewusst zu sein. Wir wiederholen
sie gerade ein dutzend Mal. Ich
schiele durch die Lider: Die anderen grinsen auch. Die Nachbarin im Garten hält uns sicher
für komplett meschugge. Aber
sie hat ja keine Ahnung.
Gleich werde ich aufspringen.
Und so gut wie barfuß über den
märkischen Sandweg laufen, in
den Wald hinein, wo ich dann
möglicherweise das tun werde,
was man mir zu Beginn des
Feldenkrais-Workshops prophezeite: mir im Laufen auch noch
die Kleider vom Leib reißen. Im
Überschwang, hier draußen in
der Natur. Weil ich wie ein Kind
laufe, leicht und sinnlich.
Der Feldenkrais-Typ, der mich
an diesen Ort gebracht hat, zum
Workshop „Feldenkrais und Laufen“, das muss ich der Ehrlichkeit
halber sagen, ist ein alter Freund
von mir. Ich bin also besonders
kritisch. Weil ich schon immer
dachte: Der hat einen Spleen, mit
seiner Bewusstheit-durch-Bewegung-Methode. Ich kenne ihn
aus einer Zeit, als er es punkig
fand, mit zwei verschiedenen
Schuhen in die Schule zu kommen. Und 25 Jahre später treffe
ich Leute, die ihn als ihren
Hallo, Füße, erst mal wieder Kontakt herstellen:
Nataly Bleuel macht sich und ihre Gelenke
warm fürs Barfußlaufen. Die ersten Schritte auf
dem Asphalt sind für die Kursteilnehmer
noch gewöhnungsbedürftig, richtig schön wird‘s
in freier Natur und auf Sandboden
„Lehrer“ bezeichnen. So nennen
sich die Feldenkrais-Profis, weil
sie nichts mit herkömmlicher
Therapie, Gurus oder Esoterik zu
tun haben möchten.
Moshé Feldenkrais, Physiker und
Judo-Lehrer, wollte den Menschen helfen, sich die Bewegungen ihres Körpers bewusst zu
machen und sie, wenn nötig, zu
korrigieren. Schon in den vierziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts hatte Moshé Feldenkrais den Eindruck, dass viele
Menschen den Bezug zu ihrem
Körper verloren und ein ziemlich
verschrobenes Bild von sich selbst
haben. Weil sie sich nicht spüren.
Weil sie krank sind, abgestumpft,
gestresst oder ein bisschen auf
dem falschen Trip.
So wie mein Mann. Der sich
Schaumstoff und Airbags unter
die Füße schnürt und nicht ohne
Jogging-App, Pulsmesser und
Marathon-Ziellinie um den Park
herumrennt (statt mittendurch),
weil das schneller geht. Ich laufe
durch den Park, immer dieselbe
Strecke, immer 35 Minuten, und
das seit sieben Jahren dreimal die
Woche. Ich laufe, weil ich meine
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Ruhe haben will. Ich laufe, weil
ich morgens das Licht durch die
Blätter funkeln sehen will. Ich
laufe, weil ich dabei meinen Körper ­spüre. Ich laufe, weil es mich
glücklich macht.
Und dann sah ich eines Morgens dieses große Kind durch
den Park rennen. Es fiel mir
schon aus der Ferne auf. Es sah
anders aus. Es beugte den Oberkörper nach vorn, es schlenkerte
mit den Unterarmen, und seine
Füße setzten anders auf dem Boden auf, erdiger; pitsch, patsch,
wie die nackten Füßchen eines
Kindes. Als das große Kind näher
kam, sah ich es: Die Füße und
jeder einzelne Zeh waren umhüllt von einem eng anliegenden
Kunststoff, der wirkte wie eine
Kreuzung aus Surf-Schuh und
Zehen-Socke. Der Mann, der wie
ein Kind wirkte, lief quasi barfuß, und das änderte seine Haltung offensichtlich. Es sah ausgelassen aus, leicht und frei, und
ich dachte: Das will ich auch!
Doch ich traute mich nicht. Weil
ich Angst hatte: vorm Barfußlaufen, über Steine und Scherben
und Hundekacke. Und weil mich
der Verkäufer im Hightech-Laufschuh-Tempel am videoüberwachten Fließband inmitten seiner 437 Super-Air-Max-SpezialSneakers davor gewarnt hatte, jemals ungepuffert zu laufen. Denn
das wäre für meine Knochen, meine Sehnen, meine Muskeln und
mich der Tod. „80 Prozent aller
Jogger haben einmal pro Jahr eine
Verletzung“, sagte er und schob es
auf die falschen Schuhe (womit er
recht hatte, wie ich jetzt weiß).
Aber dann traf ich meinen alten
Freund, den Feldenkrais-Lehrer Florian Schäffler, und er erzählte mir eine Geschichte: Ein
Freund von ihm war plötzlich
gestorben, dessen Witwe schickte
ein Päckchen, und darin lag ein
Paar getragener Zehen-Schuhe.
Florian zog sie über. Sie waren
zwei Nummern zu groß. Aber das
machte nichts. Seither laufe er
barfuß durch den Park und am
Wochenende durch die Uckermark. „Es ist der Wahnsinn, es ist
ein Rausch, ich spür den Boden
unter mir, die Erde, ich tauche in
die Natur ein“, sagte er, und seine
Augen blitzten, und dann kam
die Ansage, von wegen: In den
Wäldern wolle er sich am liebsten
die Kleider vom Leib reißen und
jubeln und jauchzen vor Freude.
Das hat mich überzeugt. Nun
liege ich vorm Apfelbaum, atme
tief in den Bauch und werde total
schwer statt leicht. Sich auf kleine
Bewegungen zu konzentrieren
strengt an. Ich
„Jahrtausendelang
frage mich, woher
die Kraft kommen sind Menschen gelaufen,
soll, aufzustehen ohne sich Polster unter
und ausgelassen in
die Sohle zu binden”
den Wald reinzulaufen, quasi auf die Bäume zurück. Wonach mir definitiv ist.
Mein alter Freund hatte mir aber
auch nüchterne Argumente gegeben. Er las sämtliche Bücher und
Studien zum Thema „Natural
Running“, einer Bewegung, natürlich aus den USA, die mittlerweile sogar die Hightech-Schuhindustrie umschwenken ließ. Auf
Schuhe mit dünner Sohle und
geringer „Sprengung“ zwischen
Ferse und Ballen, also wenig Höhenunterschied. „Der Mensch“,
sagt Florian Schäffler, „ist zum
Laufen geboren, nicht zum Sitzen
und nicht mal zum Gehen.“
Schimpansen seien Geher, das
könne ich im Zoo beobachten,
aber Menschen Läufer. Früher
lief der Mensch viele Kilometer
am Tag durch die Wälder, um Futter zu finden. Und jahrtausendelang tat er das, ohne sich Polster
unter die Sohlen zu binden. Die
besten Läufer der Welt kämen
aus Regionen, in denen man die
Menschen nicht nur oft in der
Hocke sieht, sondern auch barfuß: Äthiopien, Kenia, Nordmexiko. Um dem Geheimnis der mexikanischen Tarahumara auf die
Fersen zu kommen, hat der Sportreporter Christopher McDougall
ein Buch geschrieben: In „Born to
Run“ erfährt man, dass diese
Menschen tagelang durch die
Canyons laufen, als Kinder und
auch noch als Alte. Barfuß oder in
Sandalen. Ihre Füße sind kräftiger, ihre Haltung besser und ihr
Körpergefühl konsistenter. Und:
Diese Leute laufen nicht wegen
der Leistung, sondern wegen der
Leichtigkeit des Seins.
Feldenkrais und Laufen, das ist
Philosophie, denke ich, schleu-
dere meine Polsterschuhe unter
den Apfelbaum und werde jetzt
in die Zehen-Treter schlüpfen.
Sie liegen eng an, die Spitzen der
Steine schmerzen nicht. Vorsichtig gehe ich die ersten Schritte.
Und dann schneller. Ich spüre
den Boden, zuerst unter den Ballen, dann an den Zehen und kurz
­unter der Ferse. Ich laufe.
Schneller mit kleinen Schritten
zu laufen ist weniger anstrengend
als mit großen langsam; den Effekt kenne ich auch, wenn ich
zu Hause die fünf Stockwerke zu
unserer Wohnung hochlaufe. Und
dann fühlt es sich an, als gäbe es
eine Art Aquaplaning unter meinem Fußballen; als plustere sich
zwischen meinem Körper und
dem Boden ein Luftpolster auf.
Aber nicht ohne dieses Pitschpatsch-Geräusch. Ich muss lachen. Es ist so albern, denke ich,
eine erwachsene Frau muss „lernen“, barfuß zu laufen. Und dabei
gluckst es in ihrem Bauch.
Den anderen in der Gruppe geht
es ähnlich, schmunzelnd werten
wir unsere Erfahrungen aus. Einige sind hier, weil sie sich die
Beweggründe ihres Körper be-
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Laufen ohne Schuhe
Barfuß laufen kann prinzipiell jeder, aber
auf das rechte Maß kommt es an. Langsam
beginnen, anfangs nur ein paar Minuten,
und aufhören, sobald es irgendwo schmerzt.
Es kann zunächst Ziehen in den Achillessehnen zur Folge haben, Muskelkater oder
auch Druckgefühle in den Ballen.
„Schneller mit kleinen Schritten zu laufen
ist weniger anstrengend
als mit großen langsam. Ich muss lachen.
Und dabei gluckst es im Bauch“
wusst machen wollen. Die meisten joggen regelmäßig, manche
trainieren sogar auf den Marathon. Und alle staunen, wie viel
leichter es sich ohne dicke Sohlen läuft. Man läuft aufrechter;
man macht kleinere Schritte. „Die
optimale Schrittfrequenz“, sagt
Florian, „liegt bei 180 Beats per
Minute, das haben viele Analysen
gezeigt.“ Wir stehen im Kreis auf
der Wiese, und unser Lehrer
zückt ein Taktell. Es macht 180
Pieper pro Minute. Mit dem
Rhythmus hüpfen wir von einem
Bein auf das andere. Ungewohnt
rasch. Wir grooven uns ein, erst
im Stehen, und dann geht’s los...
Eine Gruppe von Städtern läuft
piepend durchs Dorf. Außerirdische, denke ich und versuche
jetzt nicht zu lachen, sondern nur
noch zu spüren: die Schritte, den
Boden und meine Beine.
Ich bin sehr konzentriert, der
Körper bekommt alle Aufmerksamkeit. Es ist ein Wechsel von
Schwere im Liegen zu Leichtigkeit im Laufen. Feldenkrais-Lehrer kennen diesen Überraschungseffekt, Florians Kollegin
Kirsten erzählt von Leistungs-
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turnerinnen, die sie unterrichtete und die nach einer Stunde
klagten: wie kaputt sie sich fühlten und wo es überall schmerzte.
Es ist nicht so, dass Feldenkrais
müde macht. Sondern dass man
dadurch merkt, wie müde der
Körper ist. Was er alles leistet.
Aber eben auch: wann er sich
wohl fühlt. Mein Quantensprung kommt, als wir am zweiten Morgen aus dem Dorf hinauslaufen, an einem Weinberg vorbei, der Sand auf dem Weg wird
immer goldener, wir schmeißen
jetzt auch die Zehenschuhe unter
eine Buche und laufen ganz barfuß. Anfangs zaghaft, doch nach
ein paar Metern beginnen die Ballen wieder zu schweben, es gluckst
im Bauch, ich blinzle in die Sonne, und dann ist es, als bekäme
ich einen Schub, kurze schnelle
Schritte, 180 Beats per Minute,
ich laufe wie in Trance, ich renne,
und dann hebe ich ab. Und wären
da nicht diese Steinchen aufgetaucht, ich wäre weitergerannt,
Hemd weg, Hosen runter, nur
Leichtigkeit, Freiheit und Laufen.
Bis rein nach Berlin.

Oberste Regel: Nichts übertreiben,
den „inneren Schweinehund“ gibt es in
der Sprache von Feldenkrais nicht.
Barfuß-Schuhe sind gerade in. Wenn der
Körper jahrelang Schuhe mit viel Polsterung
oder einer hohen Sprengung gewöhnt war,
muss er sich an flache oder keine Sohlen
gewöhnen. Dadurch ändert sich die gesamte
Körperhaltung, man kann also etwa die
Wirbelsäule zu spüren bekommen. Natürlich
spielt auch der Untergrund eine Rolle. Beton
oder Sand? Kopfsteinpflaster oder Wald­
boden? Klar, auf weichen Böden läuft es sich
leichter. Generell gilt: Beim Barfußlaufen zählt
nicht Leistung, sondern Leichtigkeit und In­tui­
tion. Also immer auf den Körper und seine Signale reagieren. Alle großen Schuhfirmen sind
auf den Trend aufgesprungen, bieten Laufschuhe mit wenig Sohle und fühlbarem Bodenkontakt an und nennen das Free, Minimal,
­Natural oder Bio Running. Selbstverständlich
kann man in ihnen auch gehen. Zehen-Schuhe,
beispielsweise vom italienischen Kunststoff­
hersteller Vibram, gibt es mittlerweile auch in
­et­lichen Varianten: mit dünnen oder dickeren
Sohlen, aus Leder, Wolle, mit Pailletten.
Infos von Florian Schäffler und Kirsten Jacobs
in Berlin: www.feldenkrais-mitte.de
Zum Vertiefen
• „Born to Run: Ein vergessenes Volk und
das Geheimnis der besten und glücklichsten
Läufer der Welt“ von Christopher McDougall.
Das ist so unterhaltsam und zugleich informativ, dass man es am liebsten im Laufen lesen
möchte (400 S., 15,99 Euro, Blessing)
• Mühelos und leicht zu laufen kann man
lernen — anlesen lässt es sich bei Wim Luijpers,
der sagt: „Kleine Kinder wissen noch nicht,
dass Laufen eine Sportart ist, bei der man sich
anstrengt, um etwas zu erreichen.“ Luijpers
ist Lauftrainer nach Feldenkrais, er gibt Seminare in Europa und hat Bücher geschrieben, zum
Beispiel: „Bio Running. Laufen für die Seele.
Die Luijpers-Methode nach Feldenkrais“
(160 S., 19,90 Euro, Orac)
• Und noch etwas Beschwingendes zum
Auslauf: Um auf 180 Schritte pro Minute zu
kommen — und dabei zu bleiben —, kann man
sich den Rhythmus musikalisch vorgeben lassen, all diese Songs haben 180 bpm: http://
running.about.com/od/musicforrunning/
a/Running-Songs-At-180-Bpm.htm