KorII 12,9

Transcrição

KorII 12,9
„Es reicht“. Predigt über 2. Kor 12:9 „Lass dir an meiner Gnade genügen“ Bad Hersfeld 9.Sept 2012, Ev. Gemeinschaftsverband Hessen -­‐Nassau Ein Mann, der erschöpft von der Arbeit nach Hause kommt, schimpft: „Pfui -­‐ das war wieder eine Woche!” Seine Frau antwortet verwundert: „Ich muss Dich leider enttäuschen, es ist erst Montag.” – Kennen Sie diese Uzufriedenheit mit dem Bestehenden? Es reicht vorne und hinten nicht, egal wieviel ich tue. -­‐ Ich würde gerne etwas ändern, weiß aber nicht wie und was fehlt. -­‐ Ich scheitere mehr als dass ich etwas zu Stande bringe. -­‐ Ich komme häufiger an meine Grenzen als zu meinen Möglichkeiten. Paulus hat einen zentralen Satz von seinem Herrn geschenkt bekommen, der uns dieses Jahr als Jahreslosung begleitet: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – in der Übersetzung von Roland Werner: meine Gnade reicht für dich aus, denn die Kraft vollendet sich mitten in der Schwachheit“. Ich konzentriere mich auf den ersten Teil:„Meine Gnade reicht für dich“, am Nachmittag geht es dann um den zweiten Teil. Wir waren zu Hause fünf Kinder: da gab es häufig Rangeleien und Streit. Wenn meine Mutter allerdings sagte: Jetzt reicht’s! – dann war uns Geschwistern klar: Alarmstufe rot. Mutter war ausgebildete Erzieherin und uns locker gewachsen. Sie ließ uns viel Freiheit, aber sie konnte auch klare Grenzen markieren. „Jetzt reicht’s“ hieß: Bis hierhin und nicht weiter. – Wenn ich am Fischstand gefragt werde: „Darf’s etwas mehr sein?“ – dann kann ich entscheiden: gerne das größere Stück Seelachs – oder auch nicht. Ich entscheide, ob es reicht oder ob ich mehr will. Wenn der auferstandene Christus seinem Apostel Paulus sagt: Meine Gnade reicht für dich!, dann wird damit keine Grenze rot markiert. Dann soll Paulus auch nicht über einen Nachschlag entscheiden. Dann sitzt er in der Schule des Herrn, der ihn befreit von falschen Vorstellungen über Gott. Paulus erzählt uns in 2. Kor 12 etwas, was er in dieser Schule lernen musste, bis er seinen Abschluss machen konnte. Gelernt hat er: die Gnade Gottes reicht für uns, egal was uns aus unserer Sicht zu mangeln scheint. Drei Akzente zu diesem Vers. 1. Vertrauen statt Vermeiden Die Bibel erzählt von Gnade anders als wir heute. Viele verstehen Gnade als: beide Augen zudrücken. Der Bundespräsident hat das Recht zur Amnestie, er kann einen Gnadenerlass ausfertigen. Dann gleicht Gnade Defizite aus, repariert nach Zerbruch, ergänzt Nichtvorhandenes. Aber in der Bibel drückt Gnade Gottes Wesen aus, Barmherzigkeit bestimmt ihn. Gnade ist keine Reparatur, kein Nachbessern, sondern Zuwendung und Liebe. In der Bibel gibt es an zentralen Stellen die sog. ‚Gnadenformel’: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“. So ist Gott! Nicht weil er nachbessern muss, sondern weil es ihm entspricht. Wenn Gnade das Wesen Gottes ist, dann geht es um unsere Berührung damit, um Veränderung, um Füllung: Wir leben in der Gnade, wir kommen von Gnade her und werden einmal völlig umfangen sein von ihr. Sie ist kein Durchgangsstadium, sondern unser Ziel. Also: Es geht nicht ums Vermeiden, sondern ums Vertrauen. Wir sollen nicht gegen die Sünde, sondern für Gott leben – denn da wo Gott uns erfüllt, haben Sünde, Tod und Teufel keinen Raum mehr. Sie können das griech. Wort für Gnade, Charis, auch einfach mit ‚Geschenk’ übersetzen. Es geht nicht zuerst darum, Sünde zu vermeiden, aus Angst vor Fehltritten – und dann zu hoffen, dass Gott ausgleicht, was uns dabei nicht gelingt. Sondern wir dürfen für Gott leben, weil er sich uns schenkt, uns nahe ist, uns liebt – unsere Energien und Gaben sind sein Geschenk, nicht seine Forderung. Vertrauen ist wichtiger als Vermeiden: Neues Leben entsteht aus Gottesnähe, nicht aus Sündendistanz. Luthers Freund Melanchthon war ein eher zögerlicher und unsicherer Mensch, Er war oft angefochten, weil er an sich soviele Fehler, solche Macht der Sünde erlebte. Luther hat ihm einmal einen ebenso wunderbaren wie missverständlichen Rat gegeben. Er schrieb ihm: »Wenn du ein Prediger der Gnade bist, predige nicht eine erdichtete Gnade, sondern eine echte! Wenn es eine echte Gnade ist, dann soll sie auch eine echte Sünde wegnehmen, nicht bloß eine erdichtete. Sei also ein Sünder und sündige tapfer (pecca fortiter), aber noch tapferer glaube und freue dich in Christus, der der Sieger über Sünde, Tod und Welt ist! Solange wir hier leben, werden wir sündigen (...) aber es reicht, dass wir durch den Reichtum der Herrlichkeit Gottes das Lamm kennen, das die Sünde der Welt trägt. 2 Von ihm kann uns die Sünde nicht wegreißen, auch wenn wir tausendmal am Tag ehebrechen oder töten. .. Bete tapfer, auch wenn du ein noch so großer Sünder bist!«1 Es ist nicht egal, ob wir sündigen und versagen oder nicht. Aber es ist egal, wie oft oder wie schwer, solange wir uns an Christus hängen – was er getan hat reicht, egal wie tief wir sinken, wie weit weg wir treiben, wie unehrlich wir leben. Wir sind Sünder und bleiben es, bis wir in Gottes neuer Welt ankommen. Aber wir dürfen als begnadigte Sünder leben – das ist der Unterschied. Christi Gnade reicht aus -­‐ immer, für alles und für alle. 2. Lernen statt können Wir wissen bis heute nicht, was dieser Stachel im Fleisch ist, von dem Paulus erzählt: Irgendeine gravierende Beeinträchtigung seines Lebens, Denkens oder Handelns. Vielleicht eine Krankheit, die ihn immer wieder außer Gefecht setzte, etwas wie Epilepsie oder Migräne. Vielleicht war es seine rhethorische Schwäche, die seine Gegner gegen ihn wendeten. Der Vater von D. Bonhoeffer war Psychiater, er hat auf eine Veranlagung zur Depression getippt: Dass ein Menschen über Monate und Jahre in einem tiefen Tal ohne Licht sitzt, eingesperrt in einer Zelle, zu der er selber den Schlüssel nicht hat. Was auch immer, wir wissen es nicht genau. Aber wir wissen, dass Paulus lange Jahre um eine Befreiung von diesem Engel Satans gebetet hat. Diese Schwäche war eine tiefe Anfechtung: Er hat von seinem Herrn Sieg und Frucht erwartet, und er erlebte Versagen. Er las die großen Verheißungen der Schrift, er betete um den Hl. Geist, aber seine Anfechtung blieb. Wie ein Stachel, der bei jedem Schritt schmerzt. Was macht das mit einem Menschen? John Ortberg analysiert in einem seiner Bücher die Undankbarkeit unserer modernen ‚Beschwerdegesellschaft’. Die Menschen heute haben den Anspruch, „dass alle ihre Wünsche erfüllt werden. Wir betrachten das als Teil unseres Geburtsrechtes. Wir sehen uns in der Rolle des Opfers, wenn unsere Ansprüche nicht erfüllt werden.“ Und er fährt fort: „Das beherrschende Gefühl eines modernen westlichen Menschen, der alle Vorteile von Wohlstand, Bildung und Kultur genießt, ist das Gefühl der Enttäuschung.“2 Es gibt auch unter Christenmenschen eine weit verbreitete Unzufriedenheit. Sie kann sich tarnen als Kleinglauben, als Neid oder als Rechthaberei. Sie kann ebenso zu Überarbeitung wie zu Resignation führen. Manche erleben sie nach innen gerichtet, lange vor einer Depression liegt die Freudlosigkeit oder der Verlust der Hoffnung. Manchmal richten wir unsere Unzufriedenheit nach außen, auf andere und bestreiten ihnen das, was wir uns wünschen. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“, sagt Sören Kierkegaard. Dann wird aus uns ein gesetzlicher Mensch, der anderen sagt, was nicht geht – oder noch schlimmer ein freudloser Zeuge Jesu, der nur noch Pflichtpakete auf den Schultern spürt. Paulus hat über lange Jahre lernen müssen: Dass Gottes Gnade ohne ihren Stachel bei uns nicht zum Zuge kommen kann. Dass unsere Schwächen in das Gesamtpaket gehören, weil wir Gnade nur brutto erfahren können. Dass wir einem Herrn folgen, dessen Schwachheit am Kreuz die Voraussetzung für Gottes Sieg war. Und dass keine Schwäche bei uns Gottes Wirken aushebeln kann. Das kann man nicht können, aber man kann es lernen. Nicht durch mehr Argumente, Seminare oder durch Predigen. All dies können Bausteine zu einer wachsenden Klarheit werden. Aber solch eine lebensverändernde Erkenntnis ist ein kostbares Ergebnis aus schweren Erfahrungen, aus durchgehaltenen Anfechtungen, aus wieder und wieder erbetener Vergebung und aus gewachsener Geduld mit uns selber. So etwas über lange Zeit zu lernen ist der Prozess der Gnade: wir müssen es nicht können, aber wir dürfen es lernen. 3. Annehmen statt rechnen Im Anspiel wurde die Rechnerei in unserer Gesellschaft karikiert: alles ist Geben und Nehmen, und du musst für den Ausgleich sorgen. Jenseits aller Ironie ahne ich eine tiefe Unbarmherzigkeit: Wenn man alles rechnet, kann es keine Gnade geben, da muss alles aufgehen, oder ich bin abgehängt. Passt Gnade überhaupt noch in unsere Landschaft? In den letzten Wochen gab es in der Presse eine heftige Diskussion über die Entscheidung belgischer Nonnen, Michelle Martin, eine der schlimmsten Verbrecherinnen des Landes, bei sich im Kloster aufzunehmen. Die Frau hat ihrem Komplizen Dutroux geholfen, junge Mädchen zu foltern, zu missbrauchen und hat sie verhungern 1 BoA 6,53 (Brief vom 1.8.1521) 2 J.Ortberg: Die Liebe, nach der du dich sehnst, Asslar 2000, 108f 3 lassen. In Belgien wie an dem Ort des Klosters erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Gibt es nicht eine Grenze für Gnade? Die Dresdener Philosophin Hanna Gerl-­‐Falkovitz hat in einem tiefen Interview zu dieser Entscheidung gesagt, sie verstehe die Empörung der Menschen: „Gerechtigkeit ist ja auch nach 16 Jahren nicht hergestellt. Sie kann Dinge nur aufwägen. Aber wie wägt man ein solches Verbrechen auf?“ Allerdings entspräche solch ein Handeln der Berufung dieser Clarissinnen: „Ich gebe meine Existenz für eine anderes Leben, auch, wenn es verpfuscht und grauenhaft ist und selbst nicht mehr auf die Beine kommt.“ – Und auf die Frage, ob es eine Chance für diese Frau gibt, dort zur Umkehr zu kommen, sagte die gläubige Katholikin: Ja – es sei denn, sie verschließt sich vor der Barmherzigkeit. „Gottes Barmherzigkeit endet da, wo ich mich weigere, wo ich so verbohrt bin in mein Unglück, in meine Schweinerei, dass mich niemand mehr erreicht. Ein furchtbarer Zustand. Die Tore der Hölle werden von innen zugehalten.“3 Der Gedanke an Gnade für solch einen Menschen fällt mir unglaublich schwer: ich bin selber Vater. Ich habe in der Seelsorge von missbrauchten Menschen gelernt, wie tief Missbrauch ein Leben eindringen und wie er das gesamte Leben beschädigen kann. Können Täter auch Gnade erfahren? Gestern stand in unserer Tageszeitung ein Bericht über die Eltern von Mirco aus Krefeld. Der Junge ist missbraucht und ermordet worden, die Eltern haben sich aus ihrem christlichen Glauben heraus dem Täter verziehen – ich habe ein bewegendes Gespräch im Fernsehen mit ihnen gesehen. Ein starkes Zeugnis der Gnade in einer gnadenlosen Welt. Gnade beschenkt uns: wir dürfen mit beiden Händen zugreifen. Der französische Schriftsteller François Mauriac hat es so ausgedrückt: "Das ist das Geheimnis der Gnade: es ist nie zu spät". Wahrscheinlich braucht unsere Gesellschaft kaum etwas so nötig in wie Gnade – und kaum etwas ist so schwer zu erklären wie Gnade. Wir werden hier nach Leistung und Erfolg gewogen, alle kennen die Erfahrung: gewogen und für zu leicht befunden – da ist Gottes Gnade etwas Unglaubliches. Eines der bibl. Wörter für Gnade ist „Freundlichkeit“ (Chäsäd): Lasst uns von Gottes unverdienter Freundlichkeit erzählen. Ich habe eine kleine Sammlung von Geschichten der Gnade auf meinem Computer begonnen. Eine teile ich mit Ihnen zum Schluss. Der amerikanische Soziologe Tony Campolo kam zum Urlaub nach Hawai. Wegen des Zeitunterschiedes geriet er morgens um drei in Kneipe, wo nur noch ein paar Prostituierte rumstanden. Eine von ihnen, Agnes, erwähnte, dass sie am nächsten Tag Geburtstag habe – und noch nie eine richtige Party. Als sie weg war, fragte Tony den Barkeeper Harry, ob er am nächsten Abend wiederkommen und eine Party schmeißen dürfte. „O. k.“, sagte Harry, „aber wir übernehmen Essen und Torte.“ Tony beschreibt die Nacht so. Um 2.30 Uhr war ich wieder im Lokal, mit Deko-­‐Krepp und einem großem Schild: „Herzlichen Glückwunsch, Agnes“. Irgendwie hatte alle davon erfahren, um 3.15 Uhr befanden sich sämtliche Prostituierten von Honolulu in dem Lokal. Als Agnes die Tür öffnete, sangen wir alle: „Happy Birthday..“ Ich habe noch nie einen so verblüfften Menschen gesehen: Ihre Knie wurden weich, sie riss den Mund auf – und ihre Augen waren feucht. Als der Kuchen reingetragen wurde, fing sie an zu weinen. Sie konnte kaum die Kerzen ausblasen – und wollte sich von dem Kuchen gar nicht trennen. „Harry, ist es o.k., wenn ich den Kuchen noch ein bisschen behalte?“ Harry: „Natürlich. Wenn du ihn behalten willst, kannst du ihn mit nach Hause nehmen.“ – „Wirklich?“ Sie schaute mich an: „Ich bring den Kuchen nur eben heim, dann komme ich wieder“. Sie trug den Kuchen raus, als wäre es der heilige Gral. Wir standen alle bewegungslos – über dem ganzen Lokal lag ein betäubtes Schweigen. Weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, fragte ich: „Habt ihr was dagegen, wenn ich bete?“ – Wenn ich heute zurückschaue, ist das sonderbar, dass ein Soziologe nachts um 3.30 Uhr mit Prostituierten in einem Lokal betet. Aber damals hatte ich das Gefühl genau das Richtige zu tun. Ich betete für Agnes. Ich bat Gott, dass sich ihr Leben verändern würde. Dass Gott gut zu ihr sein würde. Als ich fertig war, lehnte sich Harry mit einem leichten Anflug von Ärger über die Theke: „He, Sie haben mir nie gesagt, dass Sie Prediger sind. Zu was für einer Kirche gehören Sie denn?“ – Die richtigen Worte flogen mir irgendwie zu und ich antwortete: „Zu einer Kirche, die morgens um 3.30 Geburtstagspartys für Nutten schmeißt.“ -­‐ Harry wartete einen Moment, dann sagte er fast höhnisch: „Nein, das stimmt nicht. Solche Kirchen gibt es nicht. Wenn es so eine Gemeinde geben würde, würde ich sofort beitreten.“ Gott schenke uns Gemeinden, wo die Gnade Jesu reicht: Sie werden eine große Anziehungskraft in einer gnadenlosen Gesellschaft entwickeln. Amen Verfasser: Pfr. Hans-­‐Hermann Pompe, EKD-­‐Zentrum für Mission in der Region Dortmund – www.zmir.de 3 Süddeutsche Zeitung 29.8.2012