Deutsche Sprachgeschichte

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Deutsche Sprachgeschichte
Deutsche Sprachgeschichte
Roland Mittmann, M.A.
Institut für Empirische Sprachwissenschaft
Die Entwicklung
des Niederländischen
• ursprünglich nicht weiter entfernt vom Hochdt. als das Niederdt.
– vgl. z.B. ahd. suohhen, anfr. (andl.) suocan, asächs. sōkian ‛suchen’
• frühmittelndl. limburgisch-brabantische Dichterspr. (H. von Veldeke)
• seit 13. Jh. flämisch-brabantische Literatursprache
(geprägt durch Werke Jacobs van Maerlant)
– begünstigt durch reiche Handels-/Industriestädte wie Brügge und Gent
– Bezeichnung: dietsch, duitsch (vgl. engl. Dutch)
• heutiger Begriff erst mit Buchdruck, Unterscheidung für Vermarktung wichtig:
„also wel … overlantsche als nederlantsche tale ende sprake“ (Gouda 1482)
• im 15. Jh. Niedergang der Wirtschaftsmacht des südniederld. Raums
– neues Zentrum Antwerpen
– nach dessen Eroberung durch Spanien 1585: Zentrum nördl. Niederld.
– südniederländ. Literatursprache weiterhin bedeutend
Die Entwicklung
des Niederländischen
•
im 17. Jh. Amsterdamer Dialekt als Norm
– auch durch Antwerpener Dichter Joost van den Vondel übernommen
– offizielle Bibelübersetzung von 1626–37
– auch (wenige) friesische Elemente
•
heutige Niederlande ab 1813, intensive pro-niederländische Sprachpolitik
•
heute Schriftsprache auch im Norden Belgiens (Flandern)
– 1839 Unabhängigkeit Belgiens mit Französisch als Staatssprache
– 1898 Gleichstellung mit Französisch, Sprachenstreit bis heute
•
Rückgang flämischer Dialekte in Westflandern (heute zu Frankreich)
seit Mittelalter, v.a. im 20. Jh.
•
•
Standardsprache für 20 Mio. Menschen (vgl. Deutsch: 95 Mio.)
sehr regelmäßige Rechtschreibung
Dialekte im Benelux-Gebiet
Die Arbeit der Grammatiker
• zunehmendes Bewusstsein für Fehlen
einer allgemein akzeptierten sprachlichen
Norm ab 2. Hälfte des 16. Jhs.
– Phonologie, Morphologie, Lexik, Syntax
– analog: politische Zersplitterung des dt.
Sprachraums
– Ziel einer Norm auch aus nationaler
Überzeugung
Die Arbeit der Grammatiker
• seit 15./16. Jh. Versuch, die Regeln der Sprache
zu beschreiben
– ab 1486 Leseanleitungen
– ab 1578 vollständige Sprachbeschreibungen,
zunächst auf Lateinisch
– insgesamt 120 Werke, z.B.
• Justus Georg Schottel (1648):
Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt Sprache
• Johann Christoph Gottsched (1748):
Grundlegung einer deutschen Sprachkunst
• Johann Christoph Adelung (1774/1786):
Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen
Mundart
Die Arbeit der Grammatiker
• Merkmale der Bestrebungen
– keine „Sprachwissenschaft“ wie heute:
• vier „Hauptsprachen“: Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Deutsch
• ab 17. Jh. „Hauptsprache“ ≈ Hochsprache
als theoretische Forderung einer von Regionalismen freien Sprache
– „Grammatik“ bezeichnet auch Rhetorik, Stil, Sprachkunst
– Wertung der Sprache
•
•
•
•
Ziel: „Reinheit“ (subjektiv)
willkürliche Normen
nur künstlerische Sprache wertvoll, Alltagssprache nicht
Sprache der sozialen Unterschichten und des ländlichen Raums:
„unrein“, „verderbt“, „pöbelhaft“
• bestimmte Sprachräume als besonders vorbildlich (z.B. Obersächs.)
Die Arbeit der Grammatiker
– nur sehr geringe Personenzahl beschäftigt sich mit Sprache
• nicht vergleichbar mit heutiger Diskussion um Rechtschreibreform
• Lesen und Schreiben auf bestimmte Schichten beschränkt
(Geistliche, Gelehrte, Verwaltungsbeamte)
• Lesen und Schreiben bei niederen Schichten (Bauern, Tagelöhnern,
Handwerkern) „schädlich“, „unmoralisch“, auch bei Frauen v.a. nur
Lesen in Bibel anerkannt
• keine Beschäftigung an Universitäten mit dt. Sprache
(Unterrichtssprache bis Ende 17. Jh. Latein!)
– keine Trennung verschiedener Formen von Sprache durch
Grammatiker
• schriftlich und mündlich (z.B. „vorbildhafte Sprache der Gebildeten“)
• Umgangssprache und Dialekt
Die Arbeit der Grammatiker
• Positionen bei der Normfindung:
– Analogisten (z.B. Justus Georg Schottel)
• tatsächliche Sprachformen alle fehlerhaft, korrektes Deutsch nur
überregional, „Idealsprache“
• theoretische Forderungen sollen in praktische Sprache umgesetzt
werden ( deduktiver Ansatz)
• Suche nach alten Stammwörtern
• attraktiv für alle aus einer nicht bevorzugten Dialektlandschaft
– Anomalisten
• Sprachgebrauch einer bestimmten Gruppe besonders vorbildlich
• Ziel, diesen zu beschreiben und zur Norm zur erklären
( induktiver Ansatz)
• oft Ostmitteldeutsch als besonders vorbildlich (Bezug auf Luther)
oder Sprachform des jeweiligen Grammatikers
Die Arbeit der Grammatiker
– Kompromiss
• beide Theorien an sich unvereinbar, aber:
– Wahl einer vorbildlichen Sprachlandschaft
(Obersächsisch/Meißnisch)
– allerdings nicht gesprochener Dialekt, sondern idealisierte
Literatursprache
• Obersächsisch/Meißnisch kein geschlossener Sprachraum,
sondern Dialektvielfalt
• Eindruck der Geschlossenheit aufgrund
– räumlicher Begrenztheit (verglichen mit Niederdt./Oberdt.)
– punktueller Vorbilder (Leipzig/Dresden)
• nicht zu verwechseln mit Missingsch, „Halbmundart“
– auf niederdt. Basis (Artikulation, Morphologie, Syntax)
– mit hochdt. Lautung (Lautverschiebung, Diphthongierung)
Die Gliederung
des Ostmitteldeutschen
Schriftsprachen des Deutschen
1. Hälfte des 17. Jhs.
letztes Viertel des 18. Jhs.
Die Arbeit der Grammatiker
•
Wörterbücher
– um 750 Abrogans (lat.-dt. Wortliste)
– erstes „richtiges“ Wb.: Vocabularius Teutonico-Latinus (1482)
• Lemmata nach dt. Lautung sortiert (vorher lat.)
– im 16. Jh. v.a. durch Schulmeister erstellt
• Auseinandersetzung mit Latein
– 1535/36 dt.-lat./lat.-dt. Wb. von Petrus Dasypodius (Straßburg), 19 Auflagen
• Zweck: Lateinunterricht
– 1561 Joshua Maaler: deutsche Erklärungen (statt lateinischer)
– im 17. Jh: Justus Georg Schottel
• Darlegung des Alters der dt. Sprache durch „Stammwörter“
– Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs (1691)
• Stammwörter mit Ableitungen und Zusammensetzungen
• auch viel Erfundenes: ungehelich unter Gehen
• alphabetisch: Gehen – Geher, Gang, -gang, Ganghaftigkeit, …
– 18. Jh.: Adelung, Gottsched, Campe
• Gottsched: keine „Provinzialwörter“
– 19. Jh.: Gebrüder Grimm: Deutsches Wörterbuch
Wörterbuchauszug (1691)
Die Arbeit der Grammatiker
• hohe Verbreitung der Grammatiken und Wörterbücher (v.a. in
Schulen)
normative Wirkung
• z.B. Orientierung Goethes, Schillers und Wielands an Adelung
– meist schon vorhandene Tendenzen aufgegriffen, in Regeln gefasst und
logisch begründet
– Absicht: Beschränkung der Varianten
– Hintergrund: stärker werdende Schriftlichkeit
• ab dem 18. Jh. Leise-Lesen üblich
– Ziel nun: „richtige“ Schreibung statt nur Erreichung des kommunikativen
Ziels (geeigneter Vorlesetext)
– Beschreibung sprachlicher Gesetzmäßigkeiten analog zu natürlichen
Phänomenen („Naturgesetze“)
• um 1800 relative Einheitlichkeit in gedruckten Werken, aber
– weniger in handschriftlichen Aufzeichnungen
– kaum in gesprochener Sprache
Der französische Einfluss
•
Alamodewesen:
– Eindringen eines breiten Stroms französischer Wörter ins Deutsche
– Dauer vom 16. bis 18. Jh.
– begünstigt durch Aufstieg der frz. Kultur, Macht des frz. Königtums und
Zersplitterung in Deutschland
•
Beginn in Adelskreisen mit Aufnahme französischer Korrespondenz Kaiser
Karls V. (1519–1556) mit deutschen Höfen
– ihm zugeschrieben: „Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisch zu den Frauen,
Französisch zu den Männern und Deutsch zu meinem Pferd.“
– Kopieren vieler frz. Sitten und Moden
– Aufenthalt der jungen Männer aus gutem Hause für einige Zeit in Frankreich
•
•
Weitere Begünstigung durch Aufnahme vertriebener Hugenotten und
Dreißigjährigen Krieg
Bericht Voltaires vom Hofe Friedrichs II. von Preußen:
„Ich bin hier in Frankreich. Man spricht unsere Sprache,
das Deutsche ist nur für die Soldaten und die Pferde.“
Der französische Einfluss
• „Wer des Französischen nicht mächtig war, der
versuchte wenigstens möglichst viele Fremdwörter
unters Deutsche zu bringen: Er machte Complimente,
trieb Plaisir, Coquetterie, oder Conversation, er
amüsierte sich mit Karessieren, Maskieren und logierte
im Palais, Hôtel, Kabinett, Salon oder in der Etage, mit
Möbeln, Sofas, Gobelins, Galerie, Balkon und Terrasse
… Und jede Dame wie ein Lakai fand ein Plaisir daran,
so zu parlieren und bei jeder Occasion den anderen sich
durch derartige Complimente zu obligieren.“
(König nach v. Polenz/Flemming)
• bis 1936 Französisch erste moderne Fremdsprache an
dt. Schulen, dann Ersatz durch Englisch
Der englische Einfluss
• Übernahme erster Lehnwörter durch angelsächsische
Mission
• im Mittelalter nur wenige Lehnwörter
– z.B. Boot < mengl. bōt (13. Jh.), Lotse < mengl. lodesman (1400)
• größere Beachtung Englands in Europa erst nach
Hinrichtung Königs Karls I. 1649
• Lehnübersetzungen
– Politik:
• 17. Jh.: Unter-/Oberhaus (Lower/Upper House), Sprecher
(Speaker), Hochverrat (high treason)
• 19. Jh.: Pressefreiheit (freedom of the press), Opposition, Koalition,
Demonstration, Jungfernrede (maiden speech), Streik (strike), „Hört,
hört!“ (Hear, hear!)
Der englische Einfluss
– Dichtung (ab 18. Jh. engl. Vorbilder statt frz.):
• Blankvers (blank verse), Volkslied (popular song),
tote Sprachen (dead languages)
– Philosophie und Naturwissenschaft:
• Freidenker (freethinker), Blutkreislauf (circulation of the blood),
positiv, negativ
– Finanzwesen und Industrie:
• Banknote (bank note), Budget, Export, Import
– Seefahrt:
• Schoner (schooner), Linienschiff (ship of the line), Brigg (brig[antine])
– Gesellschaft:
• Dandy, exklusiv, Snob, smart, jmdn. schneiden (to cut s.o. ‛übersehen’)
– Sport:
• Sport, starten, stoppen, Training, Fußball (football), kicken, Favorit, Tennis
– Industrie:
• Kartell, Trust, Wagon, Lokomotive, Tunnel, Lift, Koks, Dampfer (steamer),
Dampfmaschine (steam engine), Patent
Der englische Einfluss
– Allgemein:
• Gin, Grog, Brandy, boxen, Bulldogge, Partner, Keks,
Portwein, Sherry, Whisky, Tourist
• Ansehen des Englischen durch wirtschaftliche
Macht und liberales System
– im 18./19. Jh. England
im 20. Jh. USA, v.a. nach 2. Weltkrieg
– Übernahme der Fachsprache en bloc z.B. in
Flugwesen, Werbung, Computer
– nach wie vor ununterbrocher Strom an Lehnwörtern
– (noch?) geringer Einfluss auf Syntax und Morphologie
Sprachpflege und Purismus
• Textbeispiel (Klaglied eines Teutschen Michel):
„Fast jeder Schneider
will jetzund leider
Der Sprach’ erfahren sein
und redt latein,
Wälsch und französisch,
halb japonesisch,
Wann er ist doll und voll,
der grobe Knoll.
Ihr bösen Teutschen,
man sollt’ euch peitschen,
Daß ihr die Muttersprach so wenig acht.“
(Johann Michael Moscherosch, 1601–1669)
Sprachpflege und Purismus
• ab dem 17. Jh. Sprachgesellschaften
• v.a. Fruchtbringende Gesellschaft (Palmenorden)
– 1617 von Caspar von Teutleben gegründet
– Gründungsmitglied Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen
– Vorbild: Accademia della Crusca (1582, Florenz)
• ital. crusca ‛Kleie’ Einsatz nur für Fruchtbringendes
– bis zu 894 Mitglieder, u.a. Andreas Gryphius,
Johann Michael Moscherosch, Philipp von Zesen
– Ziele: Etablierung des Deutschen als Literatursprache,
Reinigung von „ausländischen“ Wörtern
– Stärkung der Dichter, die Muttersprache zu gebrauchen
– Neubildungen bei fehlenden einheimischen Wörtern
– neue Grammatik-Termini:
• Einzahl (Singular), Fall (Kasus), Geschlecht (Genus),
Hauptwort (Substantiv)
Sprachpflege und Purismus
• Deutschgesinnte Genossenschaft
– gegründet um 1643
– starker holländ. Einfluss (Niederl. 1648 unabhängig!)
• in Niederlanden bereits Schriftsprache
– auch Frauen zugelassen
– Gründer: Philipp von Zesen (1619–1689)
• Anschrift (Adresse), Bücherei (Bibliothek),
Grundstein (Fundament), Nachruf (Nekrolog),
Mundart (Dialekt), Glaubensbekenntnis (Credo),
Vollmacht (Plenipotenz), Verfasser (Autor),
Jahrbuch (Annalen), Vertrag (Kontrakt), Zweikampf (Duell),
Wörterbuch (Lexikon), Ausflug (Exkursion)
• erfolglos: Gottestum (Religion), Tageleuchter (Sonne),
Zeugemutter (Natur), Meuchelpuffer (Pistole)
Sprachpflege und Purismus
• im 18. Jh. Ausbau des Deutschen statt Verdeutschung:
– Philosophie (Chr. Wolff, 1679–1754):
Beweggrund, Bewusstsein, Begriff, Aufmerksamkeit,
Verständnis, Umfang
• ab 19. Jh. Verdeutschungswörterbücher
• Joachim Heinrich Campe (1746–1816):
– Freistaat (Republik), auswerten (evaluieren),
Erdgeschoss (Parterre), Zerrbild (Karikatur),
befähigen (qualifizieren), Ergebnis (Resultat),
Lehrgang (Kursus), Voraussage (Prophezeiung)
• Ziele: Erhöhung der Verständlichkeit
„sittliche Ausbildung“ auch einfacher Menschen
– erfolglos: Zwangsgläubiger (Katholik), Freigläubiger (Protestant),
Menschenschlachter (Soldat)
Sprachpflege und Purismus
• Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852):
– volkstümlich (populär), Eilbrief (Kurier)
– turnen nach ahd. turnen ‛lenken, wenden’ und fnhd. Turner ‛junger
Kämpfer’ –
• aber entlehnt: turnen aus lat. tornāre, Turner zu Turnier (frz.)
• neue puristische Gesellschaften
• seit 1885 Allgem. Deutscher Sprachverein; 1932: 50.000 Mitglieder
– Erfolg der Einführung einer deutschen Terminologie der Amtssprachen
• z.B. Kraftfahrzeugsteuer statt Autosteuer
• bei Post bis 1987/88: Fernsprechverzeichnis (Telefonbuch),
Selbstwählferndienst
• Nutzen von Fremdwörtern: Füllung von Lücken
– z.B. Baby (Säugling/Kleinkind), Job (Arbeit/Beruf)
– in England/Frankreich früher kein Widerstand gegen Fremdwörter:
• auf Englisch: hard words,
auf Französisch: mots savants ‛gelehrte Wörter’