Zur Theologie von Händels Messias Das Libretto des

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Zur Theologie von Händels Messias Das Libretto des
Zur Theologie von Händels Messias
Das Libretto des Oratoriums im Spannungsfeld von anglikanischer Orthodoxie,
Antijudaismus und Deismus
PD Dr. Rainer Schwindt (Trier, Bonn)
- Anders als in Händels Opern oder sonstigen Oratorien gestaltet das Libretto des „Messias“
keinen durchgehenden Handlungsablauf mit verteilten Rollen
- Librettotext greift ausschließlich auf biblische Texte zurück: daher quasi von
überkonfessioneller, überzeitlicher Bedeutung
- Kenntnis der damaligen zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen notwendig, um die
Theologie des Textbuchs verstehen zu können
- Die geistesgeschichtliche Strömung des Deismus steht für eine dem englischen
Empirismus und Rationalismus verpflichtete Anschauung, die die Existenz eines personalen
Schöpfergottes bejaht, aber dessen Offenbarungs- und Wirkmächtigkeit in Natur und
Geschichte verneint
- Ziel: eine moralisch-rationale Reinigung des Glaubens
- Mittel: eine historisch-kritische Bibelexegese
- Verfasser des Librettos: Charles Jennens (1700-1773), kunstsinniger und theologisch
interessierter Freund Händels
- umfangreiche Privatbibliothek mit theologischen Abhandlungen und Predigtbänden
- Jennens ist hauptsächlich beeinflusst von dem Traktat „A Demonstration of the Messias“
von Richard Kidder, London 21726. Intention: Nachweis von Jesu Messianität /
apologetisches und polemisches Werk, dass die Juden als Gegner betrachtet
Textzusammenstellung und theologische Bedeutung des Librettos
- Als Strukturprinzip der Verskompilation dient die gesamte biblische Heilsgeschichte: die
alttestamentlichen Verheißungen, Geburt, Kreuzestod und Auferstehung Christi
- Vita Jesu in entscheidenden Wegmarken präsent
- Gliederung stützt sich auf die Lesungen zum Kirchenjahr nach dem „Book of Common
Prayer“ (1662)
- Die drei Teile greifen je Texte aus der Weihnachtsliturgie, der Fasten- und Osterzeit und
der Trauerliturgie auf
- In Teil 3 besonderer inhaltlicher Akzent, der die biblische Erwartung eines Heilsbringers
für das Volk Israel bzw. die gesamte Menschheit individualisiert
Textbuch der Londoner Erstaufführung von 1743:
Erster Teil: Die Weissagung über den Messias und ihre Erfüllung
(I)
Prophezeiung, dass Gott die Menschheit retten wird
(II)
Prophezeiung, dass der Messias kommen wird und das Gericht erfolgt
(III) Prophezeiung, dass der Messias Mensch wird und sich der Menschheit offenbart
(IV) Verkündigung der Geburt des Messias
(V)
Die heilende Priesterschaft des Messias
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Zweiter Teil: Von der Passion zum Triumph
(I)
Die Passion des Messias
(II)
Kreuzigung, Niederfahrt zur Hölle und Auferstehung
(III) Himmelfahrt
(IV) Verherrlichung im Himmel
(V)
Pfingsten (Gabe des Zungenredens), das Evangelium wird in der Welt verkündet
(VI) Die Welt lehnt das Christentum ab
(VII) Der Herr schlägt die Feinde der Religion, ewiger Triumph des Christentums
Dritter Teil: Die Rolle des Messias im Leben nach dem Tode
(I)
Der Glaube an die persönliche Auferstehung und Erlösung
(II)
Auferstehung aller Menschen
(III) Tod und Sünde werden abgeschafft; der Messias als Fürsprecher beim Jüngsten Gericht
(IV) Anbetung des Messias durch die Seligen im Himmel
Die Messiasvorstellung aus der Sicht heutiger Bibelwissenschaft
- Was ist mit dem Begriff „Messias“ genauer gemeint?
- Komplexe und umstrittene Fragestellung
- Unter einem „Messias“ versteht man eine von Gott am Ende der Tage gesandte und mit
der Errichtung der Gottesherrschaft beauftragte Rettergestalt von menschlicher und zugleich
transzendenter göttlicher Qualität
- Begriff „Messias“ im Alten Testament:
- Gräzisierte Form des aramäischen Begriffs für „der Gesalbte“: məšîchā’, hebräisch:
hammāšîach
- Im Alten Testament ist Titel „Gesalbter“ vor allem Königen vorbehalten
- Salbung Teil des Königsrituals / sichtbares Zeichen göttlicher Erwählung, Geistbegabung
und Sendung
- Das „messianische Triptychon“ Jes 7,10-17; 9,1-6; 11,1-9 schildert Ankündigung, Geburt
und Herrschaftsantritt eines verheißenen Königs: reiches Motiv-Repertoire
- Neuere Judaistik betont, dass es im Judentum nie eine zusammenhängende Messianologie,
sondern je nach sozialem und politischem Kontext unterschiedliche Reaktionen gegeben hat
- Rettervorstellungen, die mit Melchisedek, Mose, Elija oder dem Erzengel Michael und
auch dem himmlischen Menschensohn aus Dan 7 verbanden wurden
- Zur Zeit Jesu kein klares Bild einer Messiaserwartung
- Bibelwissenschaft ist zurückhaltend, Jesus zu Lebzeiten ein Messiasbewusstsein
zuzuschreiben
- Jesu Vollmachts- und Autoritätsanspruch unbestritten, doch tritt die direkte
Selbstverkündigung Jesu offensichtlich hinter seine Verkündigung der nahen
Gottesherrschaft zurück
- Jesus ist Bote und Repräsentant einer den Menschen neu eröffneten Gottesnähe (vgl. die
geheimnisvolle Rede Jesu vom Menschensohn, Dan 7,13)
- Nachösterliche „Messianisierung“ durch Übertragung des Messiastitels auf den
Gekreuzigten und Auferstandenen kaum plausibel
- Neutestamentliche Christologie ist weit mehr als eine Reformulierung frühjüdischer
Messiasvorstellungen
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- Leidender Messias im AT belegt nur in der Gestalt des Gottesknechtes aus Jesaja (vgl. die
Gottesknechtslieder Jes 42,1-9; 49,1-9c; 50,4-9; 52,13-53,12)
- Gekreuzigter nach dem jüdischen Gesetz Dtn 21,23 ein von Gott Verfluchter
- In Gal 3,13 stellt Paulus Christus den galatischen Gesetzeseiferern als einen, „der für uns
zum Fluch geworden ist“, vor
- Jesu Messianität liegt in seiner unüberbietbaren Gottesbeziehung begründet
Zum Libretto
- „Messias“ keineswegs ein „Weihnachts-Oratorium“
- Teil 1 ein nicht zu leugnendes Gewicht zu, analog der neutestamentlichen Überlieferung in
den Kindheitsgeschichten bei Mt und Lk mit ihren zahlreichen Prophetenzitaten
- Libretto beginnt mit Jesaja 40,1-5, einem Trosttext für Israel in der babylonischen
Gefangenschaft
- V. 3-5 werden von allen Evangelisten auf Johannes den Täufer als den Vorläufer Jesu
gedeutet (Mk 1,3; Mt 3,3; Lk 3,4-6; Joh 1,23):
„3 Die Stimme dessen, der ruft in der Wüste: bereitet ihr den Weg des Herrn; macht gerade in der
Wüste eine Bahn für unseren Gott. 4 Jedes Tal soll erhöhet sein, und jeder Berg und Hügel werden
niedrig, das Gekrümmte gerade und das Raue glatt. 5 Und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart
werden, und alles Fleisch soll es (gemeinsam) sehen; denn der Mund des Herrn hat’s gesprochen.“
- Damalige Exegese deutete die Wüste als spirituellen Zustand des Gottesvolkes, das nicht
auf die Ankunft Gottes vorbereitet ist / Anlass, die jüdische Werkgerechtigkeit als Hindernis
für Gottes Weg anzuprangern
- Wahrscheinlich hat auch Jennens Juden, Heiden und insbesondere Deisten im Blick
- Die „Weihnachtssszene“ beginnt mit der Geburtsverheißung Jes 7,14 / erläuternder Zusatz,
dass der Immanuel-Name „Gott mit uns“ bedeutet
- Motiv des Mitseins Gottes ist Grundmotiv des Librettos
- Jes 9,5: Christus ist „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“ / Betonung der
Friedensherrschaft Christi gegenüber Juden, welche den unbefriedeten Weltzustand gegen
die Messianität Christi anführen
- Hirten- und Engelszene aus der lukanischen Weihnachtsgeschichte 2,8-14* bietet als
einzige Szene einen narrativ dramatischen Handlungsablauf
- Geburt des Retters, Christus, des Herrn, „in der Stadt Davids“ (2,11) ist messianischer
Schriftbeweis
- Eine frohe Botschaft verkündigt der Engel, weil in diesem Kind Gott selbst, in seiner
universalen Herrschaft und Rettermacht, gegenwärtig ist
- Die beiden übrigen Hauptteile blicken auf Jesu Passion, seine Auferstehung und
Himmelfahrt
- Passion beginnt mit Täuferspruch Joh 1,29, der Jesus als das Gotteslamm vorstellt, das die
Sünden der Welt hinwegnimmt
- dann Zitate aus dem vierten Gottesknechtslied Jes 53 und dem Klagepsalm 22: Jesu
Leiden als heilbringendes Sühneleiden gedeutet
- Die mythischen Bildern des Ps 24,7-10 beschreiben Christi Einzug in den Himmel:
„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe…“
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- Weitere Szenen: Ausschüttung des Geistes und Verbreitung des Evangeliums
- Am Ende stehen die Halleluja-Rufe aus Offb 19,6; 11,15; 19,16, die Gottes endgültigen
Triumph verkünden und seine Herrschaft dankbar preisen
- Der dritte Teil des Librettos lenkt den Blick Ijob 19,25f auf die einzelnen Gläubigen:
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass er aufstehen wird am letzten Tag auf der Erde. Und
obwohl Würmer diesen Leib zerfressen, werde ich dennoch in meinem Fleisch Gott sehen“.
- Längere Passage aus 1Kor 15: Argumente des Paulus für den Auferstehungsglauben
- Gegen Deisten gerichtet, die dem Ostermysterium skeptisch gegenüberstanden
- Argumente sind die Adam-Christus-Typologie 1Kor 15,21f (adamitische Todverfallenheit
aller Menschen in Christus aufgehoben) und apokalyptisches Hoffnungsbild 1Kor 15,51-57
(Toten werden auferstehen und alle werden verwandelt)
- Libretto endet mit hymnischen Stücken, mittels deren sich Sänger und Hörer des
Heilstodes Christi vergewissern und diesen preisen können: Röm 8,31.33f (Erlösungswerk
Christi ist Tun „für uns“) und der Lobpreis auf das geschlachtete Christus-Lamm Offb 5,1214*:
„... Preis und Ehre, Ruhm und Macht sei dem, der sitzet auf dem Thron, und dem Lamm für immer
und ewig. Amen“ (Offb 5,13f*).
Schluss
- Libretto des „Messias“ muss auch als theologisches Opus gewürdigt werden
- Textpartien aus biblischer Überlieferung geschöpft und doch unverkennbar
zeitgeschichtlich situiert
- Der gesellschaftlich-kirchliche Kontext bestimmt weitgehend die Textauswahl und
Zusammenstellung
- Polemische und apologetische Intentionen bilden aber nicht die Hauptsache
- Individuelle Heilsperspektive strahlt einen enthusiamierenden Impetus aus, der jenseits
möglicher Abgrenzungen für sich selbst spricht
- Rückgriff auf prophetische Texte sichert dem Werk inhaltlich-intentional eine in gewissem
Sinn zeitlose Zukunftsgerichtetheit
- Wissen um kirchenpolitischen Hintergründe bringt heutige Rezeption in Verlegenheit
- Bibelauslegung eines R. Kidder mahnt zur Sensibilität gegenüber jedem Anspruch einer
eigenen Deutungshoheit
- Hoffnungsbilder des AT unterliegen trotz ihres universalen Anspruchs einer rezipientenabhängigen Hermeneutik
LITERATUR
- Tassilo ERHARDT, Händels Messiah. Text, Musik, Theologie, Bad Reichenhall 2007
- Richard KIDDER, A Demonstration of the Messias, London 21726
- Paul-Gerhard NOHL, Geistliche Oratorientexte. Entstehung, Kommentar, Interpretation, Kassel
u.a. 2001
- Andreas WACZKAT, Georg Friedrich Händel. Der Messias, Kassel u.a. 2008
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