Aneinander Vorbeireden
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Aneinander Vorbeireden
1 Aneinander Vorbeireden Zum Vater-Sohn-Verhältnis in drei Texten von Ulrich Plenzdorf Kurs: Deutsche Prosa im 20. Jahrhundert WS2001-02 Professor: Dr. Elmar Engels Von: Edgar Berdahl Abgabe: 8.3.02 WEN: 62.01.02.01 Siegmunds Hof 2-4 10555 Berlin (030) 39 88 11 77 Email: [email protected] Studiengang: Elektrotechnik 2 Inhalt 1 Einleitung 2 Die neuen Leiden des Jungen W. 2.1 Hintergrund 2.2 Träume von dem Vater 2.3 Edgars Annäherungsversuch 2.4 Des Vaters Annäherungsversuch 2.5 Auseinandersetzung nach dem Tod 3 kein runter kein fern 3.1 Die Familie und der unzufriedene Vater 3.2 Die Strafen für Nonkonformismus 3.3 Ursache der Störung 3.4 Vater als Staat 3.5 Vorbeireden im Verhör 3.6 Pessimistischer Blick auf die DDR 4 Vater Mutter Mörderkind 4.1 Hintergrund 4.2 Mörderkind 4.3 Besuche in der Justizvollzugsanstalt 4.4 Vorbeireden 5 Abschluss 5.1 Was mir gelungen ist 5.2 Was ich zeigen wollte, andere offene Fragen 6 Liste der benutzten Literatur 6.1 Primärliteratur 6.2 Sekundärliteratur 3 1 Einleitung In dem Kurs Deutsche Gegenwartsliteratur in den USA las ich, unter anderen, Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf. Hier an der Technischen Universität Berlins belegte ich Deutsche Prosa im 20. Jahrhundert und wählte ein Referat über Plenzdorfs kein runter kein fern, da ich Plenzdorf früher interessant gefunden hatte. In den beiden Texten merkte ich, dass die Verhältnisse in der Familie, und insbesondere das Vater-Sohn-Verhältnis, eine wichtige Rolle spielen. Deswegen las ich auch fünf andere Texte von Plenzdorf, und fand das Szenarium Vater Mutter Mörderkind in dem selben Sinne bemerkenswert, da das Verhältnis zwischen dem Vater und Sohn nötig für Verständnis ist. Ich wollte auch herausfinden, wie Plenzdorfs echtes Verhältnis zu seinem Vater war, aber es gab keine ausführliche Biographien über Plenzdorf und nichts, das etwas Nennenswertes zu seiner Familie erwähnte. Ich ging so weit, dass ich versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, um ein kurzes Interview mit ihm durchzuführen, da ich wusste, dass er in Berlin wohnt. Leider standen nur Familienmitglieder im Telefonverzeichnis, und sie halfen mir nicht. Die Witwe von Plenzdorfs Vater meinte, sie wolle nichts mehr mit Ulrich Plenzdorf zu tun haben, und es gab mir den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen Plenzdorf und seinem Vater vielleicht problematisch war, aber leider werde ich nichts darüber sagen können, da es die Grenzen dieser Arbeit überschreiten würde. In dieser Hausarbeit werde ich die Vater-Sohn-Verhältnisse in den drei vorher erwähnten Texten untersuchen und versuchen zu zeigen, dass der Vater oft zu einem gewissen Grad abwesend ist, und wenn er überhaupt da ist, dass der Vater und Sohn aneinander vorbeireden. 4 2 2.1 Die neuen Leiden des jungen W. Hintergrund Diese Erzählung handelt von einem jungen Mann namens Edgar Wibeau, der immer gute Zeugnisse von seiner Berufsschule bekommt und der deswegen als ein „Muttersöhnchen“1 von seinen Kommilitonen betrachtet wird. Eines Tages wird die Verantwortlichkeit und der Druck zur Anpassung zu groß für ihn, und als Ergebnis hört er mit seiner Ausbildung auf und flieht nach Berlin, wo er versucht, sich selbst zu verwirklichen. Seit Edgar im fünften Jahresalter war, war sein Vater abwesend und hat sich um ihn „jahrelang nur per Postkarte gekümmert“ 2. Edgar wird aber neugierig, weil seine Mutter versucht so zu tun, als ob er keinen Vater braucht und als ob es besser ist, dass der Vater abwesend ist. Sie unterschlägt die Postkarten von ihm und setzt besonders viel Druck auf Edgar, um ihm zu zeigen, dass die Familie auch ohne den Vater gut funktioniert, aber Edgar flieht nach Berlin wegen dieses Drucks: „Damit sind wir beim Thema, weshalb ich zu Hause kündigte. Ich hatte einfach genug davon, als lebender Beweis dafür rumzulaufen, daß man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann.“ 3 2.2 Träume von dem Vater In des Vaters Abwesenheit träumt Edgar oft von ihm. Seine Träume besitzen einige besonders dunkle Aspekte, und andere nicht sehr dunkle Aspekte. Die dunklen Aspekte in den Träumen hören sich an, als ob sie von seiner Mutter kommen. Dies scheint plausibel, wenn man berücksichtigt, dass Edgar seinen Vater eigentlich nicht mehr kennt aber sicherlich Sachen von seiner verbitterten Mutter hört. Edgar sagt zum Beispiel, dass sein Vater ein „Schlamper“ sei, der „soff und der es ewig mit Weibern hatte. Der schwarze man von Mittenberg. Da mit seiner Malerei, die kein Mensch verstand.“4 1Leiden, S. 21 2Leiden, S. 9 3Leiden, S. 23 4Leiden, S. 21 5 Die anderen Aspekte seiner Träume hören sich an, als ob er über sich selbst träumt. Edgars Malerei wird auch nicht verstanden, genau wie die Malerei des Vaters in dem vorherigen Zitat nicht verständlich ist. Charlie, eine Freundin, die er in Berlin kennenlernt, findet seine Malerei verwirrend: „Es war nur konfuses Zeug drauf. Das sollte wahrscheinlich abstrakt sein.“ 5 In der Urfassung des Drehbuchs gibt es eine besonders detailierte Beschreibung über seine Träume von seinem Vater: „An der leeren, grellen Felsenküste sitzt ein verwegen angezogener, vollbärtiger Mann. Er sitzt vor einer Staffelei, meditiert, hebt die Hand mit dem Pinsel nur sehr selten und auch nur sehr kurz. Ein glücklicher, bedürfnisloser Mann. Seine Gedanken sind heiter. Wahrscheinlich ist das Malen nur ein Vorwand für ihn. . . . Das ist Edgars Vater, der Plein-air-Maler Wibeau.“6 Edgar geht nach Berlin, um bedürfnislos zu werden, und dort verbringt er viel Zeit mit dem Meditieren, und man könnte sich gut vorstellen, dass das Malen auch nur ein Vorwand für Edgar ist, weil er nie ernst malt. Charlie erklärt wie er ernstem Malen ausweichen wollte: „Dabei kam ich auf den Gedanken, daß er ein Bild von mir machen sollte, diesmal ohne Hilfe. Wir waren ja allein. Was machte er? -- Diesen Schattenriß. Das kann schließlich doch jeder.“ 7 Das heißt, Edgars Träume von dem Vater sind eine Mischung von sich selbst und von Aussagen, die er von seiner Mutter gehört hat. 2.3 Edgars Annäherungsversuch Als Edgar in Berlin ist, entscheidet er sich, seinen Vater zu besuchen. Er sagt, er weiß nicht warum8, aber ich halte es für wahrscheinlich, dass er überprüfen will, ob seine Träume von seinem Vater die Wahrheit sind. Er war schon neugierig genug, um die Postkarten von seinem Vater sehen zu wollen, und er hat schon viel von dem Vater geträumt und gehört. Jetzt will er einfach mehr wissen. Obwohl Edgar sich als Heizungsmonteur kleidet, um in die Wohnung hereinkommen zu können, hat 5Leiden, S. 52 6Leiden (Urfassung), S. 77 7Leiden, S. 52 8Leiden, S. 103 6 er vor, sich später während des Besuchs erkennen zu lassen: „Gerade da [im Schlafzimmer] wollte ich mich umsehen, bevor ich mich zu erkennen gab.“ 9 Aber sobald er seinen Vater und die Wohnung sieht, insbesondere das Schlafzimmer, erkennt er, dass seine Träume nicht wahr waren. Erstens ist der Vater viel jünger als Edgar dachte: „Er sah aus wie dreißig oder so. Das warf mich fast völlig um. Ich hatte keine Ahnung davon. Ich dachte doch immer, daß er mindestens fünfzig war!“ 10 Zweitens gibt es keine Bilder oder Gemälde auf den Wänden, und Edgar erkennt, dass sein Vater wahrscheinlich kein „Plein-air-Maler Wibeau“ ist. Das einzige, was ihm gefällt, ist die Frau mit der sein Vater geschlafen hat. Er sagt, „Sie war, glaubte ich, das einzige im Zimmer, was mich nicht tötete. Alles andere tötete mich, vor allem die kahlen Wände.“11 Sein Vater ist auch tatsächlich kein Maler, sondern weit davon entfernt. Der Vater erklärt später (aber nicht zu Edgar), „Ich bin nicht Maler. Ich war nie Maler. Ich bin Statiker.“12 Edgar ist einfach unfähig, direkt mit seinem Vater zu reden, wahrscheinlich weil es ihm peinlich ist. Zum Beispiel sagt er, dass es „leider“ die Wahrheit sei, dass er seinen Vater besucht hat13. Und weil er nicht direkt reden kann, redet er an seinem Vater vorbei. Er schwafelt und vermeidet was ihm wichtig ist. Er stellt eine Frage über die Kinder von dem Vater (indirekt über sich selbst) aber wartet auf eine Antwort nicht: „Mal 'ne Frage: Haben Sie Kinder? Tip von mir: Kinder können malen, daß man kaputtgeht.“14 Da Edgar wirklich nichts direktes sagen kann, geht er letzten Endes weg, ohne sich erkennen lassen zu haben. Er wünscht sich aber, dass er aber alles seinem Vater erklären könnte: „Ich glaube, ich hörte erst auf zu reden, als ich wieder auf der Treppe stand, die Tür zu war und ich feststellte, daß ich kein Wort gesagt hatte, wer ich war und das. Aber ich brachte es einfach nicht 9Leiden, S. 106 10Leiden, S. 104 11Leiden, S. 108 12Leiden, S. 148 13Leiden, S. 103 14Leiden, S. 108 7 fertig, noch mal zu klingeln und alles zu sagen.“15 Er versucht durch den Besuch, sich seinem Vater anzunähern, aber er scheitert darin, da er an ihm einfach vorbeiredet. 2.4 Des Vaters Annäherungsversuch Der Vater versucht auch, sich seinem Sohn anzunähern, aber nur nach dem Tod Edgars. Um das zu verstehen, muss man die Erzählungsweise der Prosaauffassung wissen. Edgar ist schon tot, und sein Vater ist endlich neugierig über seinen Sohn geworden. Er versucht seinen Sohn zu verstehen, indem er Leute interviewt, die mit Edgars Aufenthalt in Berlin zu tun hatten. Der tote Edgar setzt sich damit auseinander, obwohl der Vater ihn nicht hören kann. Das erste Problem für den Verständnis des Vaters ist, dass diese Leute auch Edgar nicht verstehen. Ein Beispiel dafür ist sein Freund Willi in Mittenberg, der in einer Nachricht meint, weil er die durch Zitate von Goethe entschlüsselten Nachrichten von Edgar nicht verstehen kann, „Gib mir den neuen Code. Welches Buch, welche Seite, welche Zeile.“16 Das zweite Problem für den Vater ist, dass die Bilder und die Maschine, die Edgar geschaffen hat, alle zerstört wurden. Der Vater gibt zu, dass sein Annäherungsversuch scheitert: „Ich weiß nichts über ihn, auch jetzt nicht. Charlie, eine Laube, die nicht mehr steht, Bilder, die es nicht mehr gibt, und diese Maschine.“17 2.5 Auseinandersetzung nach dem Tod Als der Vater diese Interviews durchführt, setzt sich der tote Edgar damit auseinander, was gesagt wird. Deswegen kann der Leser die Geschichte und Edgar gut verstehen, da Edgar einige Sachen weiter erklärt oder manchmal korrigiert. Zum Beispiel sagt der Vater, „Bei mir war niemand,“ da er es nicht weiß, dass Edgar sich als Heizungsmonteur getarnt hat. Direkt danach erwidert Edgar, „Es 15Leiden, S. 108 16Leiden, S. 65 17Leiden, S. 148 8 stimmt aber leider.“ 18 Nur kann sein Vater nicht wissen, dass der tote Edgar die Interviews hört, und als Ergebnis redet sein Vater an dem toten Edgar vorbei. Auch bevor Edgar stirbt, hat der Vater an ihm tatsächlich vorbeigeredet, indem er nur mit dem Heizungsmonteur über überflüssige Sachen geredet hat, anstatt mit dem echten Edgar über wichtige Sachen. Und weil der tote Edgar weiß, dass sein Vater nicht hören kann, redet er an seinem Vater vorbei. Das heißt, Edgar und sein Vater reden an einander vorbei, während der Leser viel mehr als der Vater verstehen kann, weil Edgars Auseinandersetzungen mit den Interviews an den Leser gerichtet werden. 3 3.1 kein runter kein fern Die Familie und der unzufriedene Vater In dieser Erzählung wird der jüngere Sohn für das Vater-Sohn-Verhältnis betrachtet, da der jüngere die Hauptfigur ist. Dieser innere Erlebnis-Monolog handelt von einem Jungen, der mit seinem Vater und älterem Bruder in Ost-Berlin wohnt. Dieser Junge ist gestört: er hat Probleme mit Reden, klarem Denken ohne Themensprünge und Bettnässen. Seine Mutter ist in den Westen geflohen, und deswegen kann er nur den Vater und älteren Bruder um Hilfe bitten, aber wie gezeigt werden wird, helfen sie ihm wenig. Das Verhältnis zwischen dem Vater und Sohn ist wie ein brutaler Polizist gegenüber einem Verbrecher, indem der Vater seinen Sohn für seine Gestörtheit einfach streng strafen will, anstatt ihm mit den Problemen zu helfen. 3.2 Die Strafen für Nonkonformismus Es ist klar, dass er die Störung seines Sohnes zu streng und falsch behandelt. Man könnte verstehen, dass ein Vater unzufrieden wäre, wenn sein Sohn ein Versager ist, der in die Hilfschule gewechselt worden ist, aber dieser Vater nennt seinen Sohn einen Idioten und entscheidet sich, dass der Sohn selbst schuldig sei. Er sagt, „Mein Sohn ist nicht geschädigt! Einfach faul, von früh auf, keine 18Leiden, S. 148 9 Haltung.“19 Er will die Probleme durch Strafe lösen. Aber es sieht aus, als ob die Strafen besser geeignet für Probleme mit Nonkonformismus sind. Die Gestörtheit des jüngeren Sohns ist eigentlich eine Form von Nonkonformismus, indem der Sohn sich nicht normal benehmen kann. Der Sohn ist auch ein Linkshänder. Dieser Linkshändertum ist besonders bedeutend, denn wie Siegfried Mews meinte, dass eine gemeinsame Muster über Linkshändertum in den Werken Plenzdorfs gefunden werden kann: „Linkshänder zu sein ist bei Plenzdorf ein Zeichen des Nonkonformismus.“ 20 In Zusammenhang mit der Schule muss der gestörte Sohn unter Stubenarrest (kein runter) und Fernsehverbot (kein fern) leiden bis er, angeblich durch die Hilfe von dem älteren Bruder, einen Notendurchschnitt von 2,5 erreicht. Im Zusammenhang mit dem Bettnässen hat der Vater eine wirklich sinnlose Lösung, die den Ursprung des Problems auf keinen Fall löst. Er erklärt dem älteren Bruder, „Und noch ein Punkt: das Bettnässen. . . . Meine Meinung hierzu, daß wir ihm [dem gestörten Sohn] das Linksschreiben abgewöhnt. . .“ 21 Letzten Endes in Zusammenhang mit dem Streit, der manchmal zwischen den Brüdern ausbricht, hat der Vater die folgende Empfehlung: „Ich stifte [meinem jüngeren Sohn] ein paar Boxhandschuhe und damit kann er in Zukunft auf [den älteren Bruder] losgehen und dabei lernt er gleich etwas von der Technik.“22 Das heißt, die Strafen haben nichts zu tun mit der Gestörtheit sondern mit dem Problem des Nonkonformismus, den, es scheint, der Vater austreiben will. 3.3 Ursachen der Störung Im Gegensatz zu was der Vater sagt: „Das kann nicht schaden“23, schaden die Strafen dem jüngeren Sohn wahrscheinlich doch sogar. In Den neuen Leiden des jungen W. gibt es fast das gleiche Problem 19kein runter, S. 451 20Mews, S. 67. Linkshändertum wird so benutzt, um Nonkonformismus darzustellen, in kein runter kein fern, Die neuen Leiden des jungen W. und Die Legende vom Glück ohne Ende. 21kein runter, S. 454 22kein runter, S. 456 23kein runter, S. 456 10 wie in kein runter kein fern: ein Sohn ist Linkshänder, und er nässt sein Bett und hat Probleme mit Reden, wenn die Eltern versuchen, das Linkshändertum auszutreiben. Da das Problem fast das gleiche in den zwei Werken ist, nehme ich an, das es dasselbe Problem ist, das nur ein bisschen ausführlicher in Den neuen Leiden des jungen W. von Edgar erklärt wird: „Das war ungefähr das einzige, was Mutter Wibeau mir nicht abgewöhnen konnte. Sie machte alles mögliche, um es zu schaffen, und ich Idiot machte auch noch mit. Bis ich anfing zu stottern und ins Bett zu machen. An dem Punkt sagten die Ärzte stopp. Ich durfte wieder mit der Linken schreiben, hörte auf zu stottern und wurde wieder trocken.“ 24 Das heißt, es klingt wahrscheinlich, dass die Strafen von dem Vater wenigstens das Problem mit Reden und Bettnässen verursachten. Der ältere Bruder, der Polizist ist, ist auch ziemlich gemein, aber er überschreitet die Grenzen dieser Hausarbeit. Der Vater und Bruder verbunden mit der Abwesenheit einer Mutter oder irgendeiner Liebe-anbietenden Figur könnten zusammen erklären, warum der jüngere Sohn gestört ist. Vielleicht ist seine Gestörtheit überhaupt nicht biologisch. 3.4 Vater als Staat Das Verhalten des Vaters gegenüber dem Sohn ähnelt wirklich einem brutalen Polizisten, einem Vertreter des Staates, gegenüber einem Verbrecher. Der Vater bestraft den Sohn für seinen Nonkonformismus und gleichzeitig hilft ihm nicht mit seinen Problemen. Das beschreibt ein Bild von keinem sympatischen Vater, und man kann auch einen Symbolismus darin sehen. Nach Mews wieder: „Der Vater . . . praktiziert die autoritäre Politik des Staates gegenüber Außenseitern im Familienkreis. . . „25 Der Vater ist wie ein Staat (oder Polizist), der versucht, Nonkonformismus aus seinen Bürgern (oder Verbrechern) auszutreiben, auf Kosten von kranken Opfern, wie zum Beispiel der jüngere Sohn, der ein Opfer von seiner ganzen Umgebung ist: Familie und Staat. 24Leiden, S. 138 11 3.5 Vorbeireden im Verhör Auch wichtig zu berücksichtigen ist die Weise, auf die der Vater mit dem Sohn redet, oder genauer gesagt, nicht redet. Die Situation ist fast immer wie ein Verhör, in dem die anderen Familienmitglieder über den jüngeren Sohn reden, aber nicht direkt mit ihm. Zum Beispiel spricht der Vater den jüngeren Sohn in der ganzen Erzählung nie an, und der Vater redet so, wie ein Polizist im Verhör: „Ist dieses Kleidungsstück bekannt? Aha. Um was für ein handelt es sich? Sehr richtig, eine Bluse. Eine Mädchenbluse. Welchem Mädchen gehört beziehungsweise hat sie? Er weiß es nicht. Manfred, wo fast du diese Bluse?“ 26 Weiterhin ist das einzige mal, dass der schon als schuldig beurteilte Sohn es wagt, mit den Familienmitgliedern zu reden, als die Mutter noch anwesend ist. Er sagt, „MAMA MAMA MAMA wenn er da ist, darf ich nur aufs clo, wenn er bestimmt er stellt sich einfach vor die tür.“27 In dieser Verhörsituation, in der es von dem Vater vorher angenommen wird, dass der jüngere Sohn schuldig ist, weil er faul ist, reden der Vater und der Sohn aneinander vorbei. Der Sohn sagt seinem Vater nichts, und der Vater kann nicht mit dem jüngeren Sohn direkt reden, da der Sohn nichts sagt. Deswegen redet der Vater mit dem älteren Bruder während der jüngere zuhört und reagiert, und der jüngere Sohn redet mit seiner Mutter und manchmal mit seinem Bruder während sein Vater zuhört und reagiert. 3.6 Pessimistischer Blick auf die DDR Dieses besonders schreckliche Vater-Sohn-Verhältnis und die allgemeine Lage des jüngeren Sohns ist so schlimm, dass der gestörte Sohn versucht, Selbstmord mit Schlaftabletten zu begehen. Siegfried Mews meint, „Die Erzählung ist insofern das bei weitem pessimistischste Werk Plenzdorfs.“28 Was bedeutet das für den Vergleich zwischen diesem Text und den zwei anderen behandelten in dieser 25Mews, S. 66. 26kein runter, S. 457 27kein runter, S. 455 12 Arbeit? Eigentlich war Plenzdorf Kommunist und mag die DDR zum Teil. Er meinte, dass er von seiner Biographie und Tradition her „rot bis in die Knochen“ sei. Er mag die DDR wenigstens gut genug, um sie besser zu machen zu wollen, anstatt in den Westen umzuziehen. Auf die Frage „Warum er seinem Staat nun doch nicht den Rücken gekehrt habe?“ habe Plenzdorf geantwortet, „Einer muss ja noch da bleiben.“29 Er hat sogar 1954 Marxismus-Lenismus für drei Semester am Franz-MehringInstitut in Leipzig studiert.30 Wie noch gezeigt werden wird, ist das Vater-Sohn-Verhältnis in diesem Text schlimmer als in den anderen, die in dieser Hausarbeit untersucht werden, und dass könnte eine Folge von der Tatsache sein, dass alles in kein runter kein fern ein bisschen stärker und schlimmer ausgedruckt wird, da Plenzdorf eigentlich die DDR kritisieren wollte, obwohl er der Idee des Kommunismus zustimmte. 4 4.1 Vater Mutter Mörderkind Hintergrund In diesem Szenarium von 1994 ist der echte Vater total abwesend: er hat seinen Sohn Karl überhaupt nie gesehen. Deswegen wird in dieser Arbeit der Stiefvater Julius betrachtet, der ein ehemaliger Rote Armee Fraktion (RAF) Terrorist ist. Er entscheidet sich, den Terrorismus abzugeben, da er jemanden unabsichtlich erschießt, während er versucht, der Polizei zu entkommen . Um Verhaftung zu vermeiden, geht er in die DDR, wo er von der Stasi geschützt wird und sonstige Tarnung sucht. Diese Tarnung ist ein normaler Job an der Raffinerie und eine Familie: „Ich hatte mir vorgenommen, die erste Frau zu heiraten, die ich in der Stadt treffe.“ 31 Und das tut er auch. Er trifft Uschi im Bahnhof und lehrt ihrem Sohn Karl wie man die anderen Passagiere besser mit einer Wasserpistole ärgern kann, und das ist schon eine terroristische Idee: „Julius zeigte Karl, was noch besser war: mit 28Mews, S. 71 29Poppe, S. 18 30Mews, S. 8 31Mörderkind, S. 70 13 der Pistole senkrecht in die Luft spritzen und Regen machen. . .“ 32 Man kann fragen wie ernst er seine Tarnungsfamilie nimmt, und seine Frau spürt es auch: „Ich hab nicht verstanden, was Julius... was er an mir gefunden hat, einer wie der. . . . Tarnung!!“ 33 Kurz nach der Wende wird Julius verhaftet. Karl und Uschi sind überrascht, weil Julius sein Teilnehmen an Terrorismus nie erwähnt hat. Er versucht sich zu verteidigen: „Ich durfte doch nicht. Wegen der Sicherheit.“34 Karl versteht, dass sein Vater nichts gesagt hat, aber er und seine Mutter sind trotzdem natürlich unberuhigt, dass Julius die Wahrheit verschwiegen hat und sie vielleicht nicht so ernst genommen hat. 4.2 Mörderkind Der Stiefvater wurde wegen Mords verhaftet, aber die verdächtigen Leute in der Stadt beziehen diesen Begriff bald auf den Sohn. Während des Russischunterrichts beschwert sich sein Nachbar, „Ich hab keine Lust, neben einem Mörderkind zu sitzen.“ 35 Karl gewöhnt sich bald an den Terminus Mörderkind und fängt an, ihn vielleicht sogar zu mögen. Als ein Mädchen ihn fragt, ob er das Mörderkind sei, steht es in dem Szenarium: „Karl schweigt dazu --, aber es sieht nicht aus, als wäre ihm der Terminus unangenehm.“ 36 Karl fängt auch an, selbst Terrorist zu spielen. In einem Bunker schießen er und ein anderer Junge Signalpistolen. Später bekommen sie Granaten von einem Russischen Soldaten. Der andere Junge zittert, als er die Granate in der Hand hält, aber Karl hat keine Angst. Er zieht die Pinne und wirft die Granate, und nur kurz bevor die Granate explodiert. Es sieht aus, als ob Karl bereit ist selbst Terrorist zu werden, weil er seinen Vater retten will. Karl meint, sein Stiefvater bekomme 32Mörderkind, S. 42 33Mörderkind, S. 16 34Mörderkind, S. 14 35Mörderkind, S. 17 36Mörderkind, S. 45 14 „Lebenslänglich. Wenn ihn nicht einer rausholt.“ 37 Später wird Karl versuchen, seinen Vater zu befreien. 4.3 Besuche in der Justizvollzugsanstalt Karl besucht seinen Vater drei mal in der Anstalt. Sie können nie genau darüber reden, worüber sie reden wollen, da es einen Wächter gibt, der zuhört und der in der Gerichtsverhandlung berichten darf. Karl und sein Stiefvater reden aneinander einfach vorbei, und mit jedem Besuch wird Karl mehr unehrlicher. Am Anfang übermittelt er genau zwischen den Eltern, aber in dem letzten Besuch lügt er sogar. In dem ersten Besuch übermittelt Karl fast nur Auskunft zwischen Julius und Uschi, weil Uschi ihren Mann nicht mehr sehen will. Sonst sagt Karl nur, dass er oft besuchen wird, und sonst übt Julius seine Rechtfertigung, die er in der Verhandlung wiederholen wird.38 In dem zweiten Besuch ist Karl nicht mehr so ehrlich. Er übermittelt nicht mehr zwischen seinen Eltern, sondern er verzerrt und verschönert die Wahrheit: Karl behauptet, dass Uschi Grüße ausrichte, aber er antwortet die Frage darauf von seinem Vater nicht. Darin umgeht er die Wahrheit, dass sie eigentlich keine Grüße ausrichten lassen hat, aber diese Lüge ist nicht so schlimm wie seine spätere Lüge. Karl versucht auch seinem Vater durch ein Schachproblem geheim mitzuteilen, dass er ihn herausholen will. Der Leser weiß die Stellung nicht genau, aber er kann vieles lernen, von was gesagt wird. Karl erklärt zum Beispiel, „Dein Springer ist meine Geisel.“39 In der Stellung bedeutet dies, dass Julius sein Springer nicht bewegen darf, da der König sonst gefährdet wäre und matt entstehen würde. Karl meint aber, dass er den Wächter als Geisel nehmen will, um Julius zu befreien. Das Feld B3 wird auch oft von den Beiden erwähnt, und Karl erläutert dabei, „B3. Be, wie 37Mörderkind, S. 27 38Mörderkind, S. 34-37 39Mörderkind, S. 56 15 Besuch“40, um zu erklären, dass das Herausholen während eines Besuchs passieren soll. Leider versteht der Stiefvater nicht, und Karl hilft ihm auch nicht: „Er erwartet einen Tip von Karl. Aber Karl schweigt.“41 In dem letzten und dritten Besuch hat Karl vor, dieses mal seinen Vater zu befreien. Als der Wächter zunächst aus dem Zimmer ist und Karl mit seinem Stiefvater frei reden könnte, fragt der Vater, was Karl wirklich wolle, aber er antwortet nicht. Das heißt, Karl verweigert sich, die Möglichkeit direkt mit Julius zu reden. Dann reden sie weiter über Schach, und Julius lügt unabsichtlich über wo er geboren sei, weil er einfach daran gewöhnt ist. Er hat so gelogen zehn Jahre lang und kann nicht aufhören. Das heißt, er kann auch nicht direkt reden. Kurz danach kommt der Wächter herein, und Karl versucht ihn als Geisel zu nehmen. Sein Vater hat nichts verstanden und will auch nicht gehen. Karl lügt, um zu versuchen, seinen Vater zu überzeugen, dass er mitmachen soll. Karl behauptet, obwohl Uschi tatsächlich nichts von dem Befreiungsversuch weiß, „Uschi hat gesagt, sie würde alles mitmachen. Sie hat auch Schuld, weil sie dich nie was gefragt hat. Sie will mit dir nach Kuba.“ 42 Sein Versuch scheitert, weil er sich nicht gut genug darauf vorbereitet hat--im allgemein ist sein Plan unrealistisch, und die Pistole von dem Wächter ist auch nicht geladen. Der Direktor hört den Streit und kommt herein, aber der Wächter tut als ob alles normal ist, und Karl rennt aus dem Zimmer, um Reden mit seinem Vater wieder zu vermeiden. 4.4 Vorbeireden Das heißt, Karl versucht ein Terrorist wie sein Stiefvater zu werden, ohne zu verstehen, dass sein Vater etwas anders geworden ist, und nicht mitmachen will. Der Ursprung dieses Problems ist, dass er und sein Stiefvater immer aneinander vorbeireden: am Anfang, um ein Geheimnis zu schützten, und am Ende wegen der Gerichtshandlung und aus Gewohntheit. Am Ende gibt es auch die 40Mörderkind, S. 56 16 Möglichkeit direkt zu reden, aber Karl vermeidet dies. 5 5.1 Abschluss Was mir gelungen ist Es ist mir gelungen zu zeigen, dass in den drei Texten der Vater oft zu einem gewissen Grad abwesend ist. In Die neuen Leiden des jungen W. ist der Vater abwesend seit Edgar im fünften Jahresalter war, und in kein runter kein fern ist der Vater abwesend in dem Sinne, dass er einen riesigen Abstand zwischen sich selbst und seinem jüngsten Sohn schafft durch Vorbeireden. In Vater Mutter Mörderkind war der echte Vater nie da, und der Stiefvater ist abwesend in dem selben Sinne wie in kein runter kein fern. Diese Abwesenheit wird auch durch Karl geschaffen. Es ist mir auch gelungen, zu zeigen, dass wenn der Vater überhaupt da ist, dass er und der Sohn aneinander vorbeireden. Das war der Fall in Die neuen Leiden des jungen W., weil der Vater und der tote Edgar nicht direkt miteinander reden konnten, und weil sich der lebendige Edgar während des Besuchs nicht erkennen lassen will. In kein runter kein fern wagt der jüngere Sohn es nicht, mit seinem Vater zu reden, da sein Vater ihn wie einen Verbrecher behandelt und seinen Nonkonformismus austreiben will. Er redet an seinem Vater eigentlich vorbei, indem er nur mit den anderen Familienmitgliedern redet. Dann redet der Vater mit seinem Sohn nicht, weil der Sohn ihn nicht direkt antworten will. Deswegen redet der Vater mit den anderen Familienmitgliedern über den jüngeren Sohn, das heißt an seinem Sohn vorbei. Letzten Endes reden Karl und Julius in Vater Mutter Mörderkind aneinander vorbei, da Julius zuerst ein Geheimnis schützen will, da sie später wegen der Gerichtshandlung aufpassen müssen, und am Ende da Karl nicht 41Mörderkind, S. 57 42Mörderkind, S. 80 direkt reden will. 17 5.2 Was ich zeigen wollte, andere offene Fragen Eigentlich wollte ich die Vater-Sohn-Verhältnisse in Plenzdorfs Texten mit seinem echten Verhältnis zu seinem Vater vergleichen. Das erste Problem war, dass es nicht so viele biographische Auskunft über Plenzdorf gibt und sehr wenige über seine Familie. Das zweite Problem mit einer solchen Untersuchung ist, dass ich auch psychologische Literatur würde zitieren müssen, um zu zeigen, dass Aspekte von eines Künstlers Leben durch seine Kunst gesehen werden können, und das würde die Grenzen dieser Hausarbeit überschreiten. Aber seine Beziehungen zu den Texten, und besonders zu Die neuen Leiden des jungen W., waren ziemlich eng. Plenzdorf sagte, „daß Literatur ja auch für den gemacht wird, der sie schreibt. Ich spreche ja auch aus eigener Erfahrung, denn speziell Die neuen Leiden des jungen W. sind in einer Situation geschrieben worden, in der der Text für mich ganz wichtig war, wo er mir erlaubte, meine Identität wiederzufinden, von der ich glaubte, daß ich im Begriffe war, sie zu verlieren.“ 43 Wenn ich Schlussfolgerungen ziehen könnte, würde ich raten, dass Plenzdorfs Vater oft abwesend war, dass Plenzdorf und seinen Vater aneinander vorbeigeredet hatten und letztlich dass die Beziehung wahrscheinlich nicht so schlimm wie in kein runter kein fern war, wo der Vater als besonders gemein beschrieben wird, da er den Staat vertritt. Eine andere offene Frage wäre, warum Karl an seinem Vater vorbeiredet, wenn er endlich die Chance hat, direkt mit ihm zu reden. Es scheint, dass Karl seinen Vater wirklich verstehen und werden will, aber irgendwie kann er es nicht. Auch interessant zu untersuchen wären Plenzdorfs Konzept von einer idealen Familie und ob sie überhaupt seiner Meinung nach möglich wäre. 43Zeindler, S. 314 18 6 Liste der benutzten Literatur 6.1 Primärliteratur Plenzdorf, Ulrich. Die neuen Leiden des jungen W., Suhrkamp Verlag, Ebner Elm, 1976. Plenzdorf, Ulrich. Die neuen Leiden des jungen W. (Urfassung). In: „Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W.“ Ein Werk zu „Den neuen Leiden,“ hg. v. Peter J. Brenner, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1982, S. 71-138. Plenzdorf, Ulrich. kein runter kein fern. In: „Erzählte Zeit: 50 deutsche Kurzgeschichten der Gegenwart“. Anthologie von Kurzgeschichten, hg. v. Manfred Durzak, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1980, S. 447-464. Plenzdorf, Ulrich. Vater Mutter Mörderkind, Hinstorff Verlag, Rostock, 1994. 6.2 Sekundärliteratur Mews, Siegfried. Biographie und kulturpolitischer Kontext. In: „Ulrich Plenzdorf“. Ein Autorenbuch zu Ulrich Plenzdorf. Verlag C. H. Beck, München, 1984, S. 7-20. Mews, Siegfried. Kein runter kein fern. In: „Ulrich Plenzdorf“. Ein Autorenbuch zu Ulrich Plenzdorf. Verlag C. H. Beck, München, 1984, S. 64-71. Poppe, Reiner. Königs Erläuterungen und Materialen: Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. und kein runter kein fern., hg. v. Bahners, Eversberg und Poppe, C. Bange Verlag, Hollfeld, 1992. Zeindler , Peter. Glück des einzelnen vor dem Plansoll? Eine Begegnung mit dem DDR-Dramatiker Ulrich Plenzdorf. In: „Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W.“ Ein Werk zu „Den neuen Leiden, hg. v. Peter J. Brenner, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1982, S. 313-319.