Hagia Sophia - Abenteuer Philosophie

Transcrição

Hagia Sophia - Abenteuer Philosophie
Hagia Sophia
Die göttliche Weisheit zu Istanbul
T E X T: S A B I N A J A R O S C H
philoART
G
eöffnet täglich außer Montag.
Und heute ist Montag.
Als ich am nächsten Tag
wiederkomme, betrete ich eine Baustelle.
Es wird renoviert. Eintausendfünfhundert
Jahre sind eine lange Zeit…
Die eine Hälfte des riesigen Innenraumes ist von einem Gerüst verstellt, welches das Licht, das durch die vielen Fenster im oberen Teil einfallen sollte, abblockt. Dieses „Strahlen“, von dem der
byzantinische Geschichtsschreiber Prokopius schwärmt, diese „Fülle von Licht“,
das die riesige Kuppel wie von innen
erleuchtet erscheinen ließ und früher
von den polierten Marmorflächen
und den blendenden Goldmosaiken
zurückgeworfen wurde, ist nur noch
als schwacher Abglanz erkennbar.
Stafette vom untergegangenen Rom übernahm? All das wurde sichtbar, wenn der
byzantinische Kaiser die Kirche besuchte.
Dann wurde der Weg mit Blumen bestreut und die Gebäudefronten wurden mit
kostbaren Stoffen verkleidet.
Der Kaiser, mit Juwelen beschwert, begleitet von zahllosen Würdenträgern in erlesenen Gewändern, wurde an der Vorhalle der Kirche von den höchsten Geistlichen begrüßt.
Dann trat er durch die hohe Mitteltür,
die nur ihm vorbehalten war, in den ei-
Hagia Sophia:
Hier, so verfügte
Gott, sollten Völker
und Cäsaren rasten.
(Osip Mandelstam, russischer Dichter, 1912)
Ganz anders am 26. Dezember
537, dem Tag des Hl. Stephan. Byzanz weihte seine Staatskirche und
entfaltete dabei allen Glanz, den es
aufbieten konnte - und das war viel!
Die Zeremonie, bei der jeder Schritt,
jede Bewegung genau festgelegt war,
sollte die kaiserliche Macht zur
Schau stellen, aber auch die Harmonie
des Universums widerspiegeln, wie sie
sich in der rechten Ordnung eben dieser
Zeremonie zu erkennen gab. „Taxis“, das
Ordnen, das Einrichten, stellte im byzantinischen Denken einen hohen Wert dar.
Byzanz ... erweckt nicht schon allein der
Name Assoziationen an Prunk und Geschmeide, an Goldemaille und ausgefeilte
höfische Zeremonien? An die politische
und geistige Macht, die Byzanz wie eine
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Justinian I (527 - 565), Mosaik aus San Vitale in Ravenna
gentlichen Kirchenraum.
Als sich die „Königstür“ für Kaiser Justinian, diesen genialen Emporkömmling,
öffnete, waren seit Beginn der Bauzeit
noch keine sechs Jahre vergangen. Bei seinem Eintritt soll er, so die Überlieferung,
in imperialer Bescheidenheit gesagt haben: „Ehre sei Gott, der mich für würdig
erachtet hat, solch ein Bauwerk zu schaffen. Salomon, ich habe dich übertroffen!“
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Das Heiligtum,
es badet in der Welt
Und füllt uns
doch mit Scheu.
Die Fenster,
vierzig an der Zahl,
preisen das Licht.
(Osip Mandelstam)
Die vierzig Fenster, von denen
Mandelstam hier spricht, sind wie ein
Perlenband um die Basis der Kuppel
herum angeordnet. Im Ganzen gibt
es noch sehr viel mehr Fenster, die alle das „Licht preisen“.
Diejenigen, die dieses Bauwerk
tatsächlich geschaffen hatten - neben
den unzähligen Handwerkern und
Bauarbeitern, die leicht vergessen
werden -, waren die beiden Baumeister Anthemios von Tralles und Isidorus von Milet, beides Griechen aus
Kleinasien.
Der Erstere war der hervorragendste Mathematiker seiner Zeit, der
Letztere der bedeutendste Geometer
der Spätantike. Isidorus war Leiter
der berühmten Platonischen Akademie in Athen gewesen, bevor Justinian es als seine christliche Pflicht ansah, sie zu schließen.
Beide waren also keine Baumeister im
engeren Sinne, aber ohne die Fortschritte
in der Mathematik, die gerade damals gemacht worden waren, wäre der Bau, und
vor allem die Kuppel - diese Kuppel! Ihr
Scheitel liegt 56 Meter über dem Boden,
sie ist leicht elliptisch mit 31 bzw. 33 Metern im Durchmesser - nicht möglich gewesen. Trotzdem war es ein völlig experimenteller Prozess. Da wurde etwas in der
Theorie errechnet, was noch nie vorher in
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Stein ausgeführt worden war. Eines allerdings muss man Justinian lassen: Gerade
Anthemios und Isidorus mit dieser Aufgabe zu betrauen, war ein Akt der inspirierten Eingebung.
Die Hagia Sophia steht an der Schnittstelle zwischen klassischer Antike und byzantinischem Mittelalter. Nie hat Byzanz
etwas Größeres gewagt!
Aus und vorbei. Um ein Gefühl für die
schiere Dauer zu bekommen und für das,
was hier alles geschehen ist, geht der
Weg für mich von der überwältigenden Großartigkeit des Raumes zu
den sinnlich fassbaren Einzelheiten. Der Fußboden ist so
ein Indikator.
Man kann ihn zuerst mit den Augen abgehen.
Dann wird
man bemer-
ken, dass viele der Platten gesprungen
sind, oft in kleine Stücke. Das erinnert unweigerlich an die Massaker und wilden
Gelage, die hier in diesem heiligen Raum
stattfanden.
Das war einmal 1204, als die „Franken“, die Teilnehmer des vierten Kreuzzuges unter dem venezianischen Dogen
Enrico Dandolo, Konstantinopel stürmten
und - christliche Brüder hin oder
her - nicht nur die Stadt plünderten, sondern auch das Innere
der Hagia Sophia verwüsteten, ausraubten und alle,
die darin Zuflucht gesucht hatten, massakrierten.
Gleiches geschah
1453 noch einmal,
als die Stadt von
Mehmet dem Eroberer für die
Osmanen eingenommen
wurde. Nach
all dem, was
diese Steinplatten
über sich ergehen lassen mussten, wären
sie vermutlich allein schon aus Scham gesprungen!
A starlit or a moonlit
dome disdains
All that man is.
(William Butler Yeats, 1930)
Frei könnte man diesen Vers vielleicht
so übersetzen, dass eine „sternen- oder
mondbeschienene Kuppel alles in Frage
stellt, was der Mensch ist“. Zumindest im
Hinblick auf manche Verhaltensweisen …
siehe oben.
Nachdem man den Boden so betrachtet hat, kann man ihn mit den Füßen erkunden. Man muss langsam kreuz und
quer gehen, unten und auf der Empore. Seekrank könnte man werden!
Ob es die Erdbeben waren, die
das Gebäude mehrfach beschädigten, oder die Millionen von
Füßen, die, wie man weiß, ja immer einem unsichtbaren
gemeinsamen
Pfad fol-
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gen, jedenfalls ist der Boden bewegt wie das wilde
Meer.
Die Kirche als Schiff, das durch die Zeiten fährt.
Da passt es gut, dass die hölzerne, nicht besonders
schöne „Königstür“ aus dem Holz der Arche Noah
gefertigt sein soll.
Nun gehen die Augen auf Spurensuche. Versteckt
unter Bögen und geschützt in Ecken liegend, entdeckt man noch einige Originalmosaike des 6. Jahrhunderts: nicht figürlich, mit stilisierten Blumenund Sternenmotiven, dunkel, geheimnisvoll, für das
Auge weich wie Samt. In der Mitte der Apsis dagegen, dunkelblau gewandet auf goldenem Grund,
thront die Muttergottes, das Kind auf dem Schoß.
Sie ist nicht zu übersehen und scheint mir doch
sehr allein, nachdem niemand von den vielen Besuchern sie mehr grüßt. Dieses Mosaik war das erste,
das nach dem Bilderstreit für die Hagia Sophia gefertigt wurde.
Der Bilderstreit. Auch das war ein Kampf, der das
byzantinische Reich fast zu zerreißen drohte. Kann,
darf man Gott und seine Heiligen bildlich darstellen?
Die Fronten prallten unversöhnlich aufeinander,
und schließlich setzte sich das „Ja“ durch, mit einer
Einschränkung: keine vollplastischen Figuren, die
auch bis heute in der orthodoxen Kirche nicht erlaubt
sind.
Als Mehmet der Eroberer dem Wüten seiner Soldateska Einhalt geboten hatte, streute er sich als Zeichen der Demut Erde auf sein Haupt, zog seine Schuhe aus und ließ einen Muezzin zum Gebet rufen.
Aus der Kirche wurde die Moschee Aya Sofia. Und
das blieb sie, bis Ata Türk sie 1935 in ein Museum
umwandelte. Gut so. So kamen nicht nur die christlichen Mosaiken, die einfach übertüncht worden waren, wieder ans Licht; sie soll auch niemand „gehören“, solange Menschen verschiedenen Glaubens
nicht fähig sind, an ein und demselben Ort zu beten.
And therefore I have sailed
the seas and come to the
holy city of Byzantium
W.B. Yeats in seinem 1926
erschienenen Gedicht „Sailing to Byzantium“
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Die Muttergottes mit dem Kind auf dem Schoß
Die 40 Fenster an der Basis der Kuppel
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Wir sind beeindruckt, überwältigt von
diesem Gebäude, vielleicht auch ein bisschen gerührt, wenn wir mit den Fingern
die Namensgraffiti nachzeichnen, die,
noch in byzantinischer Zeit, von Besuchern der endlos langen orthodoxen Gottesdienste in das Holz der Empore geschnitzt wurden. Aber mehr?
Der irische Dichter und Nobelpreisträger William Butler Yeats (1865 - 1939) hat
in der Endfassung seines Gedichts „Sailing to Byzantium“ die Hagia Sophia
selbst nicht mehr erwähnt, und doch wurden besonders ihre Kuppel und ihre Mosaiken für ihn zu Metaphern der Ewigkeit,
losgelöst von Raum und Zeit.
Er war nie in Istanbul, und sein Byzanz
gleicht eher dem himmlischen Jerusalem
oder einem platonischen Ideal: Es ist das
Bild für eine innere Suche. Yeats selbst
schreibt in einem Kommentar, er habe By-
zanz (das er, in der ersten Strophe seines
Gedichtes, dem „jungen“ Irland gegenüberstellt) als Symbol für das geistige Le-
Seminarhaus
gesucht!
ben gewählt. So kann man dieses Haus
der göttlichen Weisheit also auch betrachten.
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Sailing to Byzantium
Seefahrt nach Byzanz
(William Butler Yeats)
(William Butler Yeats)
That is no country for old men. The young
In one another's arms, birds in the trees Those dying generations - at their song,
The salmon-falls, the mackerel-crowded
seas,
Fish, flesh, or fowl, commend all summer
long
Whatever is begotten, born, and dies.
Caught in that sensual music all neglect
Monuments of unageing intellect.
Das ist kein Land für alte Männer.
Was noch jung umarmt sich, Vögel im
Gezweig - Die sterbenden Geschlechter beim Gesang,
Der Lachs im Wasserfall, makrelensattes
Meer, Fisch, Fleisch und Vogel preisen
sommerlang
Was je gezeugt, geboren wird und stirbt.
Wen diese Sinnenmelodie erfasst, vergisst die Monumente alterslosen Intellekts.
An aged man is but a paltry thing,
A tattered coat upon a stick, unless
Soul clap its hands and sing, and louder
sing
For every tatter in its mortal dress,
Nor is there singing school but studying
Monuments of its own magnificence;
And therefore I have sailed the seas and
come
To the holy city of Byzantium.
O sages standing in God's holy fire
As in the gold mosaic of a wall,
Come from the holy fire, perne in a gyre,
And be the singing-masters of my soul.
Consume my heart away; sick with desire
And fastened to a dying animal
It knows not what it is; and gather me
Into the artifice of eternity.
Once out of nature I shall never take
My bodily form from any natural thing,
But such a form as Grecian goldsmiths
make
Of hammered gold and gold enamelling
To keep a drowsy Emperor awake;
Or set upon a golden bough to sing
To lords and ladies of Byzantium
Of what is past, or passing, or to come.
Ein alter Mann ist nur ein jämmerliches
Ding, ein Kleid aus Lumpen über einem
Stock, wenn nicht
Die Seele händeklatschend singt, und
lauter singt für jeden Fetzen ihres sterblichen Gewands.
Doch Singeschulen gibt es nur, wo sie
studiert die Monumente ihrer eigenen
Herrlichkeit,
Und deshalb fuhr ich übers Meer und
kam zur heiligen Stadt Byzantium.
William Butler Yeats
* 13. Juni 1865 in Sandymount bei Dublin,
† 28. Januar 1939 in Roquebrune-Cap-Martin bei
Nizza, Monaco, begraben in Drumcliff, Irland
O Weise ihr, die ihr in Gottes heiligem
Feuer steht wie im goldnen Mosaik auf einer Wand,
Entsteigt dem heiligen Feuer, im Wirbel
kreist und seid für meine Seele Lehrer im
Gesang.
Verzehrt mein Herz, von Sehnsucht krank
Und angekettet an ein Tier, das stirbt,
Weiß es nicht, was es ist. Und nehmt
mich auf ins Kunstgebilde eurer Ewigkeit.
Entrückt aus der Natur entnehm ich niemals mehr einem Naturding meine körperliche Form,
Nur solche Form, wie Griechenkunst sie
schuf, aus Gold getrieben und mit GoldEmail, und halte einen schlafestrunknen
Kaiser wach,
Oder ich sing auf einem goldnen Zweig
Den Herrn und Damen von Byzantium
Von dem, was war, vorübergeht, und
kommt.
(Aus: dtv. Englische und amerikanische Dichtung.
Zweisprachige Ausgabe. München, 2000)
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