1 Interpretation "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke

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1 Interpretation "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke
Interpretation "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke" (Leis)
Schon der Titel des Gedichtes löst Irritationen aus, denn Benn hat bei diesem Text "das
Widerspiel von Erwartung und schockartiger Enttäuschung in die Titelformulierung selbst
hineingelegt." Der Auftakt mit "Mann und Frau" erweckt vielleicht bei dem einen oder
anderen Leser die Erwartung eines Liebesgedichtes; aber das trifft nicht zu, denn beide "gehn
durch die Krebsbaracke", eine notdürftig eingerichtete Unterkunft, in der Krebspatientinnen
ihrem Tod entgegen dämmern. Es handelt sich dabei um Frauen die entweder Unterleibs- oder
Brustkrebs haben: "Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße / und diese Reihe ist zerfallene
Brust."
Es weist schon auf das Menschenunwürdige der Situation hin, dass die Sterbenden nicht in
einem Krankenhaus untergebracht sind, das zumindest so etwas wie Behaustheit oder gar
Geborgenheit bietet, sondern in einer Baracke, einer elenden Massenunterkunft. Diese
menschenverachtende Unterbringung steht zudem in zynischem Gegensatz zum Versmaß,
dem Blankvers, fünffüßige Jamben, die Lessing 1779 in seinem Theaterstück „Nathan der
Weise“ auf der deutschen Bühne einführte und der seitdem als klassischer Dramenvers gilt,
der eine gewisse Form von Würde und Erhabenheit suggeriert. Hier aber steht seine
Klassizität im krassen Widerspruch zu dem makaberen Inhalt des Textes.
Das Gedicht wird von einem anonymen "Mann", wahrscheinlich einem Arzt, dominiert, der
eine schweigende Frau, vielleicht seine Geliebte, durch die "Krebsbaracke" führt und ihr
emotionslos "zerfallene" Körperteile zeigt, und zwar "Schöße" und Brüste, genuin erotische
Körperteile, in ihrem Endstadium: Sie "lenken den Blick nicht bloß allgemein auf die geringe
Beständigkeit des menschlichen Baumaterials – sie zeigen das Geschlecht als das bevorzugte
Einfallstor und den Empfängnis- und Austragungsort der tödlichen Krankheit".
Außerdem "stinken" die Sterbenden, so dass die "Schwestern [...] stündlich" wechseln
müssen, weil sie den Gestank nicht länger ertragen.
Durch den gemeinsamen Gang von "Mann und Frau", die vertrauliche Anrede "DU", durch
Imperative wie "Komm, hebe", "Komm, sieh" oder "Fühl ruhig hin", "gewinnt das Gedicht
an szenischer Präsenz und Unmittelbarkeit, der sich der Leser nicht entziehen kann."i Dazu
tragen auch die sinnlichen Eindrücke bei: die Frau hört dem Mann zu, beide riechen die
stinkenden Betten, sie soll die "weichen Knoten" fühlen und beide sehen das Elend in der
"Krebsbaracke".
In der zweiten Strophe verringern Mann und Frau die Distanz zu den Kranken: Er fordert sie
regelrecht sanft auf, "diese Decke" aufzuheben, sodass sie einen "Klumpen Fett und faule
Säfte" sieht, eine Brust, die "einst irgendeinem Mann groß" und auch das Objekt seiner
sexuellen Begierde war, die ihm früher zum Beispiel beim Geschlechtsakt einen "Rausch"
verschaffte, in dem er sich heimisch fühlte. Der "Klumpen Fett" kann sich nur auf die Brust
beziehen, da sie sehr viel Fett enthält, die Vulva dagegen, die ja auch dem Mann "Rausch und
Heimat" sein kann, kommt nicht in Frage, weil sie keins enthält.
In der dritten Strophe bittet der Mann seine Begleiterin zweimal, die "Narbe an der Brust" zu
befühlen. Die "Narbe" stammt von einer Operation her, die vergeblich war. Er vergleicht
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blasphemischerweise die "Knoten", die den Brustkrebs bezeichnen mit einem "Rosenkranz".
Diese zynische Umdeutung des Rosenkranzes spricht der Religion jegliche Bedeutung ab. Der
Ausdruck "Rosenkranz" bewirkt sogar das Gegenteil, er schreibt sich buchstäblich in Form
von Krebs-"Knoten" in die Kranke ein, er wird sie sogar töten und ist alles andere ein
religiöser Heilbringer.
In der vierten Strophe zeigt der Mann seiner Begleiterin – zweimal eingeleitet durch das Wort
"Hier" – das Leid zweier Frauen; die eine scheint fast in ihrem eigenen Blut zu ertrinken, der
anderen hat "man / erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß" geschnitten, eine Geburt
also, die schon im Zeichen des Todes steht und damit den Lebenskreislauf aus der
Verfallsperspektive und seinem kreatürlichen Elend heraus beschreibt.
In der fünften Strophe weist der Mann die Frau darauf hin, dass die Sterbenden mit Hilfe von
Medikamenten ruhig gestellt werden, damit sie "Tag und Nacht" schlafen. So spüren sie ihre
Schmerzen und ihr nahes Ende weniger, aber auch die "Schwestern" sind dadurch entlastet,
weil sie weniger Arbeit mit den halbbetäubten Patientinnen haben. Die "Neuen", die
Todgeweihten, werden gleich am Anfang belogen: "Hier schläft man sich gesund": Eine
persönliche Kommunikation mit den Kranken ist von Ärzten und Schwestern offenbar nicht
erwünscht, sie wäre sogar lästig, weil zeitraubend; die Krebskranken werden ganz bewusst
aus der Gemeinschaft der Gesunden ausgegrenzt. Allenfalls "Sonntags / für den Besuch lässt
man sie etwas wacher."
In der sechsten Strophe wird der erbärmliche Zustand der Kranken noch drastischer
geschildert: Ihre "Rücken sind wund", "Fliegen" ernähren sich dort von den Körpersäften,
wogegen die Menschen nur noch wenig "Nahrung" verzehren. Die "Schwester", die ja zur
christlichen Nächstenliebe verpflichtet ist, "wäscht" zwar die Kranken, aber nur unbeteiligt,
als wären es "Bänke, und erniedrigt sie damit zu Gegenständen.
In der siebten Strophe zieht der Mann sein Fazit aus all den gesammelten Eindrücken und
findet plötzlich zu poetischen Bildern: "Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett"; das
"Fleisch" ist so sichtbar im Verfall begriffen, dass es "sich zu Land" zu ebnen scheint, zu
einem flachen Grabhügel zum Beispiel; auch die Körpersäfte "rinnen" bereits aus der Hülle
des Leibes und streben zur "Erde", die "ruft" und die "Glut" des Lebens "gibt sich fort" – eine
plötzlich schöne, fast versöhnliche Wendung nach all den nackten Gräueln, die vorangingen.
Dennoch ist auch nur noch vom "Fleisch" die Rede; von der Seele, dem Geist oder gar der
Unsterblichkeit, die doch den Menschen so wichtig sind, kein Wort: "Es bleibt bei dem
nüchternen Bibelwort: 'Denn du bist Erde und sollst Erde werden' (Gen. 3,19) ohne einen
Ausblick auf eine 'Auferstehung des Fleisches'." Metaphysik und Religion spielen im Gedicht
nicht die geringste Rolle; Benn reduziert den Menschen, wie auch in Kleine Aster und Schöne
Jugend, auf seine bloße Körperlichkeit, die im Kreislauf des Lebens die "Erde" als Ziel hat:
"Fleisch ebnet sich zu Land". Trotzdem besitzt die letzte Strophe etwas Tröstliches, denn die
"Erlösung liegt [...] in der 'Auflösung', in dem Heraustreten aus der Individualität", im
Einswerden mit der unbewussten, ewig fühllosen Natur.
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Große (Anm. 3), S. 36.
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