Arbeit am Text: Lyrik
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Arbeit am Text: Lyrik
www.poekl-net.at - Gritas Deutsch-Seiten Arbeit am Text: Lyrik Texterarbeitung Die folgenden Arbeitsschritte dienen der Erarbeitung und sind Grundlage für die schriftliche Darstellung. Deshalb sollten die Ergebnisse jeweils stichwortartig notiert werden. Sie haben dann genügend Material für die Niederschrift und vergessen nichts. 1. Lesen (nach Möglichkeit laut, zumindest innerlich artikuliert) - hilft beim Erfassen von Metrum und Lautstruktur 2. Erfassen des Gegenständlichen (des Gehaltes an gegenständlicher Realität) 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 Schildert das Gedicht primär eine Situation, Szenerie? Gibt es einen oder mehrere Vorgänge? Wird eine Handlung dargestellt, eine Geschichte erzählt (erzählerisches Gedicht, z.B. Ballade)? (Dann müssen Methoden zur Analyse von Erzählungen auf das Gedicht übertragen werden (z.B. Personen / Charaktere, Konflikte, Entwicklung, Lösung)) Stehen bestimmte Gegenstände / Vorgänge im Zentrum des Gedichts, kommt ihnen eine zentrale Bedeutung zu? Gibt es ein bestimmtes Motiv einer bestimmten Motivgruppe: Naturlyrik (z.B. Herbstmorgen), Großstadtlyrik (z.B. Straßenszene) oder tritt Gegenständliches in den Hintergrund und direkter Ausdruck von Gefühlen und seelischen Zuständen dominiert? oder spielen weder konkrete Gegenständlichkeit noch Gemütszustände eine Rolle (Nonsense-Gedicht, konkrete Poesie, Sprachspiele) Wie ist die Raumdimension des Gedichtes? (z.B. in der Romantik: Sehnsucht nach der Ferne) Gibt es Bewegungsvorgänge im Gedicht? Wie ist die Zeitstruktur? Erscheint das Gegenständliche z.B. als präsent, vergangen etc.? Gibt es eine Entwicklung im Gedicht? Brüche? 3. Erfassen des Inhalts (Sinnzusammenhang des Gegenständlichen in seiner Beziehung zum Menschen (Lyrischen Ich, Leser) 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 Taucht ein lyrisches Ich auf? (nicht identisch mit dem Autor!) Handelt es sich eher um die Wiedergabe einer Stimmung (Stimmungslyrik) Welche Stimmung wird vermittelt? Welche Gefühle oder Gedanken werden direkt ausgesprochen? In welcher Beziehung steht das Lyrische Ich zu den gegenständlichen Elementen? bzw. Wie wirken die gegenständlichen Elemente auf den Leser? Welchen Anteil haben die einzelnen gegenständliche Elemente daran? Wie hängen sie dabei miteinander zusammen? Ergibt das Vorkommen von Farben eine bestimmte Sinnstruktur? 1 www.poekl-net.at - Gritas Deutsch-Seiten 3.7 Ist das Gegenständliche insgesamt bildlich zu verstehen? Wird eine bestimmte Situation zum Großbild einer bestimmten auch begrifflich formulierbaren Aussage (z.B. im Barockgedicht etwa der Abend als Bild der Vergänglichkeit) oder um die Reflexion eines Ereignisses (Gedankenlyrik) 3.8. handelt es sich dabei um ein Gedicht mit politischer Aussage (politische Lyrik) Wichtig! Nur in solchen Fällen (3.7, 3.8) sollte eine bestimmte Intention (Aussage) dem Autor unterstellt werden! 4. Sprachliche Form (und ihre Bedeutung, ihr Beitrag zum Sinn, zur Wirkung!!!) 4.1 4.2 4.3 4.4 Lassen sich Attribute, Adverbiale, Prädikate (Verben) nach bestimmten Wortfeldern systematisieren? In welcher Beziehung stehen diese zueinander? Weist die Syntax bestimmte Merkmale auf (z.B. viele Fragesätze)? Lautstruktur: 4.3.1 Vokalisation (tauchen bestimmte Vokale gehäuft auf mit der Absicht einen bestimmten Ton zu erzeugen?) 4.3.2 Konsonanz (auch die Konsonanten können eine beabsichtigte Klangwirkung erzeugen) 4.3.3 Gibt es Alliterationen? 4.3.4 Findet sich Lautmalerei im Gedicht? 4.3.5 Gibt es bestimmte Lautfiguren (z.B. Anapher, Wiederholungen,)? Tropik in ihrer Bedeutung: 4.4.1 Metaphern (einschl. Sonderformen: Personifikation, Synästhesie) 4.4.2 Metonymie 4.4.3 Bilder (größere Formen des nichtwörtlichen Sprechens, z.B. Vergleiche, Gleichnisse, Parabeln) 4.4.4 Symbole 4.4.5 Ist die Bildlichkeit konventionell, eigenwillig-originell, verstößt sie gezielt gegen die semantische Logik? 5. Lyrische Form (und ihre Bedeutung, ihr Beitrag zum Sinn, zur Wirkung!!!) 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 Metrum Rhythmus (deckt sich nicht ohne weiters mit Metrum, besonders bei Fehlen eines festen Metrums zu analysieren, freie Rhythmen) Pausen (z.B. Zäsuren) Reim Kadenzen (= Versschlüsse) Strophik (z.B. drei Vierzeiler) bestimmte Gedichtform (z.B. Sonett) 6. Entsprechung von Form und Inhalt 2 www.poekl-net.at - Gritas Deutsch-Seiten Beispiel Rainer Maria Rilke Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. Ausarbeitung: Gedichtinterpretation: "Der Panther", R.M. Rilke Das Gedicht "Der Panther" von R.M. Rilke ist die genaue, einfühlsame Beobachtung eines Panthers im "Jardin des Plantes", Paris. Der Text erzählt nicht, er enthält keine Handlung, sondern beschreibt eine Situation. Im Vordergrund stehen der Panther und seine Einengung durch die Stäbe des Käfigs. Die Umgebung rückt in den Hintergrund. Obwohl in der Beschreibung des Tieres keine Gefühle konkret genannt werden, lassen sie sich sehr gut nachempfinden. Die ständige Kreisbewegung und das Vorbeiziehen der Gitterstäbe zeigen, wie sich die Zeit praktisch aufhebt. Nur noch die Gefangenschaft scheint wichtig und der "Wille" ist betäubt, so dass kein Versuch gemacht wird, die Isolation zu verlassen. Durch diese Willenlosigkeit und die Verschwendung der Kraft in der Kreisbewegung wirkt der Panther auf den Leser sehr lethargisch. Der Käfig erscheint bedrückend und zeigt die Einsamkeit des Panthers. Die flüchtige Aufnahme eines Bildes in der letzten Strophe unterstützt den Eindruck, dass die Außenwelt kaum noch vorhanden scheint. 3 www.poekl-net.at - Gritas Deutsch-Seiten Die benutzten Verben, Substantive und Adjektive lassen sich in Bewegung und Stillstand einteilen. Trotzdem liegt zwischen diesen beiden Gruppen kein Widerspruch vor, denn die meisten Bewegungsabläufe enthalten keine wirklich handelnde Bewegung, sondern nur einen gleichmäßigen Vorgang, wie z.B. "dreht" oder "Vorübergehn der Stäbe", so dass sie eigentlich auch eine Art des Stillstands sind. Nur in der letzten Strophe ist die Bewegung etwas Aktives, eine Wahrnehmung. Dieser Stillstand und die damit verbundene Dehnung der Zeit wird nicht nur durch die Wortwahl, sondern auch durch den Einsatz dunkler Vokale und langgezogener Umlaute verdeutlicht. Harte Konsonanten werden vermieden. Lautmalerei und Alliterationen werden aber nicht verwendet. Nur einmal wird eine Wiederholung von "tausend Stäbe" eingesetzt, um dieses Bild zu verdeutlichen. Sehr häufig wird dagegen mit Metaphern gearbeitet. Der "müde Blick", der "nichts mehr hält", zeigt, wie eingeschränkt die Wahrnehmung des Panthers ist. Er kann das Gesehene nicht mehr verarbeiten. Auch der Ausdruck "Vorhang der Pupille" und das "Bild", das durch die "Glieder" "geht", zeigen, wie wenig die Außenwelt in das "Herz" dringt, also wirklich seelisch wahrgenommen wird. Mit einem " Tanz von Kraft, um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht", wird die Bewegung des Tieres verglichen. Hier wird deutlich gezeigt, dass noch immer viel Energie vorhanden ist, die aber sinnlos verschwendet wird, weil kein Wille mehr existiert, der sie lenken könnte. Der "weiche Gang" ist eine gebräuchliche Beschreibung für die elegante, geschmeidige Bewegung einer Raubkatze. Die Willenlosigkeit wird auch im Ausdruck "Vorübergehen der Stäbe" deutlich. Es scheint, als ginge die Bewegung nicht mehr vom Panther aus, sondern vom Käfig. Diese Eindrücke werden auch in der lyrischen Form widergespiegelt. Die drei Vierzeiler enthalten einen Kreuzreim, der stetig zwischen weiblicher und männlicher Endung wechselt. Auch der Rhythmus ist sehr gleichmäßig. Das Metrum ist ein fünffüßiger Jambus. Pausen gibt es zwischen den Strophen und bei den Gedankenstrichen in der letzten Strophe. Diese sehr gleichmäßige Form mit den immer wiederkehrenden Elementen unterstützt das stetige Kreisen des Panthers. Unter Berücksichtigung aller sprachlichen und inhaltlichen Elemente, lässt sich das Bild des Panthers auf einen vereinsamten, seelisch isolierten Menschen übertragen, der keine Kraft mehr hat, um die Wände seines "Käfigs" zu durchbrechen. Diese Situation wird durch ein gutes Zusammenwirken der sprachlichen Mittel stimmig und nachvollziehbar dargestellt. 4