Arbeit am Text: Lyrik

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Arbeit am Text: Lyrik
Texterarbeitung
Die folgenden Arbeitsschritte dienen der Erarbeitung und sind Grundlage für die
schriftliche Darstellung. Deshalb sollten die Ergebnisse jeweils stichwortartig notiert
werden. Sie haben dann genügend Material für die Niederschrift und vergessen nichts.
1. Lesen (nach Möglichkeit laut, zumindest innerlich artikuliert) - hilft beim Erfassen
von Metrum und Lautstruktur
2. Erfassen des Gegenständlichen (des Gehaltes an gegenständlicher Realität)
2.1
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2.5
2.6
2.7
2.8
2.9
2.10
2.11
Schildert das Gedicht primär eine Situation, Szenerie?
Gibt es einen oder mehrere Vorgänge?
Wird eine Handlung dargestellt, eine Geschichte erzählt (erzählerisches
Gedicht, z.B. Ballade)? (Dann müssen Methoden zur Analyse von Erzählungen
auf das Gedicht übertragen werden (z.B. Personen / Charaktere, Konflikte,
Entwicklung, Lösung))
Stehen bestimmte Gegenstände / Vorgänge im Zentrum des Gedichts, kommt
ihnen eine zentrale Bedeutung zu?
Gibt es ein bestimmtes Motiv einer bestimmten Motivgruppe: Naturlyrik (z.B.
Herbstmorgen), Großstadtlyrik (z.B. Straßenszene)
oder tritt Gegenständliches in den Hintergrund und direkter Ausdruck von
Gefühlen und seelischen Zuständen dominiert?
oder spielen weder konkrete Gegenständlichkeit noch Gemütszustände eine
Rolle (Nonsense-Gedicht, konkrete Poesie, Sprachspiele)
Wie ist die Raumdimension des Gedichtes? (z.B. in der Romantik: Sehnsucht
nach der Ferne)
Gibt es Bewegungsvorgänge im Gedicht?
Wie ist die Zeitstruktur? Erscheint das Gegenständliche z.B. als präsent,
vergangen etc.?
Gibt es eine Entwicklung im Gedicht? Brüche?
3. Erfassen des Inhalts (Sinnzusammenhang des Gegenständlichen in seiner
Beziehung zum Menschen (Lyrischen Ich, Leser)
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
Taucht ein lyrisches Ich auf? (nicht identisch mit dem Autor!)
Handelt es sich eher um die Wiedergabe einer Stimmung (Stimmungslyrik)
Welche Stimmung wird vermittelt?
Welche Gefühle oder Gedanken werden direkt ausgesprochen?
In welcher Beziehung steht das Lyrische Ich zu den gegenständlichen
Elementen? bzw. Wie wirken die gegenständlichen Elemente auf den Leser?
Welchen Anteil haben die einzelnen gegenständliche Elemente daran? Wie
hängen sie dabei miteinander zusammen?
Ergibt das Vorkommen von Farben eine bestimmte Sinnstruktur?
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3.7
Ist das Gegenständliche insgesamt bildlich zu verstehen? Wird eine
bestimmte Situation zum Großbild einer bestimmten auch begrifflich
formulierbaren Aussage (z.B. im Barockgedicht etwa der Abend
als Bild der Vergänglichkeit) oder um die Reflexion eines Ereignisses
(Gedankenlyrik)
3.8. handelt es sich dabei um ein Gedicht mit politischer Aussage (politische Lyrik)
Wichtig! Nur in solchen Fällen (3.7, 3.8) sollte eine bestimmte Intention (Aussage) dem
Autor unterstellt werden!
4. Sprachliche Form (und ihre Bedeutung, ihr Beitrag zum Sinn, zur Wirkung!!!)
4.1
4.2
4.3
4.4
Lassen sich Attribute, Adverbiale, Prädikate (Verben) nach bestimmten
Wortfeldern systematisieren? In welcher Beziehung stehen diese zueinander?
Weist die Syntax bestimmte Merkmale auf (z.B. viele Fragesätze)?
Lautstruktur:
4.3.1 Vokalisation (tauchen bestimmte Vokale gehäuft auf mit der Absicht
einen bestimmten Ton zu erzeugen?)
4.3.2 Konsonanz (auch die Konsonanten können eine beabsichtigte
Klangwirkung erzeugen)
4.3.3 Gibt es Alliterationen?
4.3.4 Findet sich Lautmalerei im Gedicht?
4.3.5 Gibt es bestimmte Lautfiguren (z.B. Anapher, Wiederholungen,)?
Tropik in ihrer Bedeutung:
4.4.1 Metaphern (einschl. Sonderformen: Personifikation, Synästhesie)
4.4.2 Metonymie
4.4.3 Bilder (größere Formen des nichtwörtlichen Sprechens, z.B.
Vergleiche, Gleichnisse, Parabeln)
4.4.4 Symbole
4.4.5 Ist die Bildlichkeit konventionell, eigenwillig-originell, verstößt sie
gezielt gegen die semantische Logik?
5. Lyrische Form (und ihre Bedeutung, ihr Beitrag zum Sinn, zur Wirkung!!!)
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5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
Metrum
Rhythmus (deckt sich nicht ohne weiters mit Metrum, besonders bei Fehlen
eines festen Metrums zu analysieren, freie Rhythmen)
Pausen (z.B. Zäsuren)
Reim
Kadenzen (= Versschlüsse)
Strophik (z.B. drei Vierzeiler)
bestimmte Gedichtform (z.B. Sonett)
6. Entsprechung von Form und Inhalt
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Beispiel
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein.
Ausarbeitung:
Gedichtinterpretation: "Der Panther", R.M. Rilke
Das Gedicht "Der Panther" von R.M. Rilke ist die genaue, einfühlsame Beobachtung
eines Panthers im "Jardin des Plantes", Paris.
Der Text erzählt nicht, er enthält keine Handlung, sondern beschreibt eine Situation. Im
Vordergrund stehen der Panther und seine Einengung durch die Stäbe des Käfigs. Die
Umgebung rückt in den Hintergrund.
Obwohl in der Beschreibung des Tieres keine Gefühle konkret genannt werden, lassen
sie sich sehr gut nachempfinden. Die ständige Kreisbewegung und das Vorbeiziehen der
Gitterstäbe zeigen, wie sich die Zeit praktisch aufhebt. Nur noch die Gefangenschaft
scheint wichtig und der "Wille" ist betäubt, so dass kein Versuch gemacht wird, die
Isolation zu verlassen. Durch diese Willenlosigkeit und die Verschwendung der Kraft in
der Kreisbewegung wirkt der Panther auf den Leser sehr lethargisch. Der Käfig
erscheint bedrückend und zeigt die Einsamkeit des Panthers. Die flüchtige Aufnahme
eines Bildes in der letzten Strophe unterstützt den Eindruck, dass die Außenwelt kaum
noch vorhanden scheint.
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Die benutzten Verben, Substantive und Adjektive lassen sich in Bewegung und Stillstand
einteilen. Trotzdem liegt zwischen diesen beiden Gruppen kein Widerspruch vor, denn
die meisten Bewegungsabläufe enthalten keine wirklich handelnde Bewegung, sondern
nur einen gleichmäßigen Vorgang, wie z.B. "dreht" oder "Vorübergehn der Stäbe", so
dass sie eigentlich auch eine Art des Stillstands sind. Nur in der letzten Strophe ist die
Bewegung etwas Aktives, eine Wahrnehmung.
Dieser Stillstand und die damit verbundene Dehnung der Zeit wird nicht nur durch die
Wortwahl, sondern auch durch den Einsatz dunkler Vokale und langgezogener Umlaute
verdeutlicht. Harte Konsonanten werden vermieden. Lautmalerei und Alliterationen
werden aber nicht verwendet.
Nur einmal wird eine Wiederholung von "tausend Stäbe" eingesetzt, um dieses Bild zu
verdeutlichen. Sehr häufig wird dagegen mit Metaphern gearbeitet. Der "müde Blick",
der "nichts mehr hält", zeigt, wie eingeschränkt die Wahrnehmung des Panthers ist. Er
kann das Gesehene nicht mehr verarbeiten. Auch der Ausdruck "Vorhang der Pupille"
und das "Bild", das durch die "Glieder" "geht", zeigen, wie wenig die Außenwelt in das
"Herz" dringt, also wirklich seelisch wahrgenommen wird. Mit einem " Tanz von Kraft,
um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht", wird die Bewegung des Tieres
verglichen. Hier wird deutlich gezeigt, dass noch immer viel Energie vorhanden ist, die
aber sinnlos verschwendet wird, weil kein Wille mehr existiert, der sie lenken könnte.
Der "weiche Gang" ist eine gebräuchliche Beschreibung für die elegante, geschmeidige
Bewegung einer Raubkatze. Die Willenlosigkeit wird auch im Ausdruck "Vorübergehen
der Stäbe" deutlich. Es scheint, als ginge die Bewegung nicht mehr vom Panther aus,
sondern vom Käfig.
Diese Eindrücke werden auch in der lyrischen Form widergespiegelt. Die drei Vierzeiler
enthalten einen Kreuzreim, der stetig zwischen weiblicher und männlicher Endung
wechselt. Auch der Rhythmus ist sehr gleichmäßig. Das Metrum ist ein fünffüßiger
Jambus. Pausen gibt es zwischen den Strophen und bei den Gedankenstrichen in der
letzten Strophe. Diese sehr gleichmäßige Form mit den immer wiederkehrenden
Elementen unterstützt das stetige Kreisen des Panthers.
Unter Berücksichtigung aller sprachlichen und inhaltlichen Elemente, lässt sich das Bild
des Panthers auf einen vereinsamten, seelisch isolierten Menschen übertragen, der
keine Kraft mehr hat, um die Wände seines "Käfigs" zu durchbrechen.
Diese Situation wird durch ein gutes Zusammenwirken der sprachlichen Mittel stimmig
und nachvollziehbar dargestellt.
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