Realitätsfernes Träumen und traumatische Realitäten im Filmgenre

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Realitätsfernes Träumen und traumatische Realitäten im Filmgenre
Sommerfest der Stipendiaten (25. VII. 2009)
Exposé zum Thema:
Referent: Benedikt Aigner
Realitätsfernes Träumen und traumatische Realitäten im Filmgenre
Horror – oder: Einblicke in die Häresie der Trostlosigkeit
„Der Film strahlt die Erscheinung des Entsetzlichen an, dem wir sonst im Dunklen begegnen,
macht das in Wirklichkeit Unvorstellbare zum Schauobjekt“1. Auf diese Formel brachte anno
1940 in einem Aufsatz Das Grauen im Film Siegfried Kracauer seine allgemeine Theorie des
Films. Dabei wird das singuläre Potential dieses Mediums wichtig, die Realität festzuhalten damit zeichnet sich das Medium Film durch etwas Monströses aus. Weiter heißt es in diesem
Aufsatz, dass die „eingewurzelte Neigung des Films [man denke „des Horrorfilms“] zu grauenerregenden Stoffen [...] ästhetisch durchaus legitim“2 ist. Die Wahrnehmung des Schauderhaften und Schrecklichen zum Zweck des versuchsweisen Probehandelns wird durch die Objektivierung des Grauenerregenden qua Verbildlichung im Medium Film überhaupt erst ermöglicht.
• Ungewöhnliche Produktionsfreudigkeit im Bereich des Horrorfilms seit etwa dem Jahr 2000
Aus einer ganzen Reihe von Filmen seien 11 genannt – in Klammern finden sich Erscheinungsjahr und Regisseur: DOG SOLDIERS (2002 Neil Marshall), 28 DAYS LATER (2002
Danny Boyle), WRONG TURN (2003 Rob Schmidt), HOUSE OF 1000 CORPSES (2003
Rob Zombie), das Remake: The TEXAS CHAINSAW MASSACRE (2003 Marcus Nispel),
THE DESCENT (2005 Neil Marshall), HIGH TENSION (2005 Alexandre Aja), THE
DEVIL’S REJECTS (2005 Rob Zombie), das Remake: THE HILLS HAVE EYES (2006 Alexandre Aja), 28 WEEKS LATER (2007 Juan Carlos Fresnadillo) und das Remake THE
LAST HOUSE ON THE LEFT (2009 Dennis Iliadis).
• Unterscheidung der Termini HORROR und SPLATTER
Der Begriff HORROR rekurriert auf eine Filmgattung, dient also als kategorialer Einordnungsbegriff und differenzierende Gattungsbezeichnung Ù Der Terminus SPLATTER hat im
Sinne der Genreeinteilung keine Bedeutung (ist also damit auch kein Subgenre des HORROR), sondern markiert eine genreübergreifende Darstellungskategorie. Auch andere Genres
bedienen sich gerne des bildästhetischen Programms des SPLATTER, z.B. Western, Kriegsfilm oder Hongkong-Eastern. Zu nennen wären Regisseure wie Sergio Corbucci, Sam Pek1
Siegfried Kracauer: „Das Grauen im Film“ (1940), in: S.K.: Kino, Essays, Studien, Glossen zum Film,[Hrsg.]
von Karsten, Witte, Frankfurt / Main 1974, p. 26.
2
Ibid., p. 26 f.
1
kingpah, John Woo, Paul Verhoeven, Ridley Scott, Mel Gibson u.a. Die Aufbereitungsfigur
des SPLATTER nimmt gezielt die Zerstörung des menschlichen Körpers ins Visier, wobei der
Begriff ein haptisches Empfinden (Spritzen von Blut, Aufplatzen von Köpfen und Organen)
onomatopoetisch wiederspiegelt.
• Zu Geschichte und Entwicklung des Horrorfilms
Eine Zäsur bei der Entwicklung des Horrorgenres markiert der Film BLOOD FEAST (1963).
Mit ihm beginnt das Genre, sich von abstrakten Körperdarstellungen sowie –verwundungen
zu lösen und symbolische Paraphrasen des filmischen Körpers in ganz konkrete Zeichnungen
desselben (incl. seiner Verletzung) zu übersetzen. Das materiale Potenzial des Körpers wird
aufgegriffen und seitdem fest in das Horrorgenre integriert. → 70er Jahre: Ära des Exploitation-Kinos, in der groteske Zerstückelungsphantasien, Zergliederungsideen und Phantasmagorien dominieren. Filme aus dieser Ära referieren möglicherweise auf eine tief sitzende Skepsis
gegenüber politischen unbefriedigend verlaufenden Ereignissen. → 80er Jahre: Ein neuer
Tonfall fundiert den Horrorfilm. Authentische Kompositionen von Gewaltszenen und die realitätsnahe Aufbereitung von Wunden und Verwundungen erreichen ihren Höhepunkt. Ebenso
nimmt sich das Genre neuer Themen an: Das Übernatürliche, Phantastische und Paranormale
dominieren. Sog. Teufelsfilme hatten sich bereits in den 70ern angekündigt, z.B. THE EXORCIST (1974) oder THE OMEN (1976), jetzt HELLRAISER (1986). → Zweite Hälfte der
80er Jahre: Erneute Richtungsänderung des Genres – Das Komische und Skurrile konfigurieren das ästhetische Erzähltableau, z.B. THE EVIL DEAD II (1986) oder BAD TASTE (1987)
.
• ‚Personal‘ des Horrorfilms
Frankenstein, Mumie, Dracula, Kannibalen, Zombies, serienmordende Soziopathen, teenyjagende Slasher, Vampire, verrückte Outlaws, degenerierte Hillbillies, Werwölfe, hinterwäldlerische Rednecks, arbeitslose Schlachterdynastien.
• Subgenres des Horrorfilms nebst jeweils 1 Beispiel
Vampirfilm (VAMPIRES 1998) • Werwolffilm (DOG SOLDIERS 2002) • Kannibalensplatter
(ANTHROPOPHAGUS 1980) • Zombiefilm (NIGHT OF THE LIVING DEAD 1968) • Teufelsfilm res. Dämonenfilm (HELLRAISER 1986) • Survival-Horror (WRONG TURN 2003) •
Teeny-Slasher (HALLOWEEN 1980) • Torture-Porn (HOSTEL 2005) • Terrorfilm (THE
STRANGERS 2008)
• Strategische Überlegungen betreffend das Erzählprogramm und perspektivische Techniken
Darstellung des Terrors, des Schrecklichen, Grauenvollen, Erschütternden und Scheußlichen,
sowie des Desaströsen und Ruinösen → Schockanter Effekt auf den Betrachter soll erzeugt
werden • Tendenz zur Unübersichtlichkeit, kameratechnisch analysiert; Genre der Nähe, es
dominieren Nah- und Halbaufnahmen, nur wenige sog. establishing shots (gutes Beispiel für
die genannten Beobachtungen wäre Luis Bunuels UN CHIEN ANDALOU) • Gewalt wird
immer häufiger zweckungebunden eingesetzt → Tabubrüche werden gezielt forciert und
stringent verfolgt. Dabei haben sich Regisseure etliche Manierismen gestattet, die zuweilen
sogar eine Rezeptionsverweigerung des Zielpublikums nach sich zogen. Besonders der italienische Horrorfilm zeichnet sich durch eine „Hyperrealisierung in der Darstellung“ aus • Der
Grad der Authentizität des filmisch Vermittelten soll weiter erhöht werden • Verschiedene
Größen bei den Kameraeinstellungen: medium und close shots bzw. close-up und detail shots.
2
• Die „Mutter“ aller Horrorfilme: THE EVIL DEAD (1982 Sam Raimi)
Der Film ist eine Debütproduktion von Raimi, es handelt sich um seine Abschlussarbeit an
der Filmschule. Diesen Film zeichnen in herausragender Weise ingeniöser Einfallsreichtum
sowie gewitzte Kreativität aus. Von 1984 bis 1994 war der Film in Deutschland durch die
Staatsanwaltschaft München beschlagnahmt und verboten worden; dieses Urteil wurde jedoch
seitens des Bundesverfassungsgerichts 1994 voll revidiert. Die juristische Auseinandersetzung
um den Film und die durch sie entstehenden Mythen, die sich bald um THE EVIL DEAD
rankten, verliehen Raimis Erstling viel Exklusivität und erhöhte seinen Kultstatus nur noch
weiter. • Der Film wird in vielfacher Modulation durch das zentrale Motiv des Sehens strukturiert (man beachte die stilgenerierenden, suggestiven Kamerafahrten während des Films sowie
überhaupt die geradezu renitente Kamerabeweglichkeit) → Leimotivisch moduliert werden
Kameraeinstellungen, Betrachterperspektiven und Blickwinkel • Perfide ist die visuelle Vereinnahmung des Rezipienten, die der Film dadurch erreicht, dass die Perspektive des Bösen
mit dem Blick des Zuschauers identisch gesetzt wird, also eine subjektlose Point-of-ViewKamera mit der Perspektive des Betrachters vollständig kongruiert.
• Filmempfehlung aus dem Genre Horror
THE DESCENT von Neil Marshall aus dem Jahre 2005
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