Sparpolitik und Bildungsreformen

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Sparpolitik und Bildungsreformen
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Jürgen Oelkers
Sparpolitik und Bildungsreformen*)
1. Drei Szenarien
Mein Vortrag wird sich mit drei Szenarien beschäftigen, denen durchaus
unterschiedlicher Realitätsgehalt zukommt. Ich werde zunächst auf das sehr realistische
Szenario der kantonalen „Sparpolitik“ eingehen (2), dann auf das offenbar nicht mehr ganz so
realistische Szenario staatlicher Reformpolitik (3) und schliesslich auf ein möglichst
realistisches Szenario, das Leistungsabbau und Qualitätsverlust in ein Verhältnis setzt (5).
Dazwischen komme ich auf die besonderen Entwicklungsaufgaben von Berufsschulen zu
sprechen, die einen Wandel im Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung auslösen
könnten (4). Ich werde also nicht nur über die Sparpolitik und ihre Folgen sprechen, sondern
das Thema im grösseren Zusammenhang der Entwicklung der Bildungssysteme behandeln,
wobei ich an verschiedenen Stellen auch auf den internationalen Wettbewerb eingehe. Es ist
inzwischen ein Irrtum anzunehmen, Bildung sei ein kantonales oder höchstens ein nationales
Thema.
Daher habe ich den Titel „Sparen in der Bildung“ erweitert zu „Sparpolitik und
Bildungsreform“. Das Thema des Vortrages ist nicht ganz leicht, nicht nur weil viele
Emotionen im Spiel sind, sondern weil es viele Unwägbarkeiten gibt und Sicherheiten nicht in
der Vergangenheit gefunden werden können. Ich werde mich im Folgenden eher zu
grundsätzlichen Problemen äussern, wohl wissend, dass gerade bei diesem Thema das
Tagesgeschäft die Fakten schafft. Aber Sie haben sich einen Vertreter der Allgemeinen
Pädagogik eingeladen, keinen Politiker und auch keinen Haushaltsexperten. Ich gehe davon
aus, dass die politische Diskussion in einem gewissen Abstand zur wissenschaftlichen erfolgt
und erfolgen muss, ohne hier einfach zwei verschiedene Welten anzunehmen. In gewisser
Weise sind beide Seiten aufeinander angewiesen, was den Abstand dann produktiv macht.
2. Das Szenario der „Sparpolitik“
Wenn Kürzungen im Haushalt als „Sparpolitik“ bezeichnet werden, so ist das
eigentlich irreführend, denn es geht nicht um Sparen im wörtlichen oder im gewohnten Sinne.
Das deutsche Verb „sparen“ ist sprachgeschichtlich alt, es geht zurück auf das germanische
Adjektiv *spara, das sich mit „ausreichend“ übersetzen lässt. Gemeint sind Rücklagen, die für
Notzeiten „ausreichend“ sein müssen. Daher meint „sparen“ in einer ersten und
hauptsächlichen Bedeutung „zurücklegen“, also nicht gebrauchen und „auf Vorrat halten“ für
den Fall, dass die Zeiten schlechter werden. Ressourcen gehen auf diese Weise nicht verloren,
sondern werden nur nicht genutzt.
*)
Vortrag auf der Generalversammlung des Vereins der Lehrpersonen an Berufsschulen im Aargau (VLBA) am
9. März 2004 in der Berufsschule Lenzburg.
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Das war die Verhaltensmaxime in einer Vorratswirtschaft; in einer
Verbrauchswirtschaft mit nicht-linearer Steuerung ist das nicht mehr gemeint. Bei der
Sparpolitik wird kein Geld auf die „hohe Kante“ gelegt, wie man so schön sagt, sondern es
werden Mittel gestrichen, die kaum zurückkommen werden. Das Einsparen ist ein Verlust,
keine Rücklage für schlechte Zeiten. Das würde gute Zeiten voraussetzen, die fiskalisch nicht
vorhanden sind oder nicht sein sollen. Weniger Mittel sollen anders verteilt werden, und das
ist kein „Sparen“ im klassischen Sinne. Andererseits sind staatliche Haushalte keine
Sparkassen, sondern politische Instrumente, deren Gebrauch unterschiedliche Zielgruppen
voraussetzt, die von sich aus keinen Ausgleich anstreben.
Wenn im Bildungsbereich Kürzungen der Budgets und diesem Sinne „Sparen“
angesagt ist, erhebt sich sogleich von allen Seiten Protest. Bildung wird als sakrosankt
behauptet, weil davon nichts weniger als die Sicherung des Standortes abhängig gemacht
wird. Aber das gilt für Sicherheit, Verkehr oder Gesundheit auch, für alle existentiellen
Bereiche der Gesellschaft, so das es nicht zufällig schwer fällt, Prioritäten zu setzen. Wer
diese Bereiche gegen einander ausspielt, dürfte Mühe haben, zu irgendeiner Lösung zu
kommen, die verträglich ist; andererseits liegt die Priorität auch nicht auf der Hand, also wäre
gegen die Interessen anderer Gruppen durchsetzbar. Bildung ist nur solange
„standortsichernd“, wie andere Interessen nicht berührt sind und die Diskussion abstrakt
bleiben kann.
Sanierungen der Haushalte sind politische Grössen, die als Staatsbürger einsieht, wer
als Betroffener dagegen angeht. Man kann aber nicht Steuervorteile entgegen nehmen und
staatliche Leistungen auf dem gewohnten Stand halten. Diese Schizophrenie oder sanfter:
dieses Dilemma ist insofern leicht auflösbar, als die Folgen nie akut sind. Sie treten nicht mit
dem politischen Entschluss ein, sondern zeigen sich wenn, dann langfristig. Bildungssysteme
verändern nie sofort, alle Massnahmen, Kürzungen wie Investitionen, haben keine
unmittelbaren Wirkungen, die tatsächlichen Folgen des Abbaus staatlicher Leistungen sind
also schwer absehbar. Unmittelbar berührt ist aber die Öffentlichkeit, die eine
Beeinträchtigung der Bildungsversorgung befürchtet und leicht zu Protest und Widerstand
bereit ist. Der Protest wird mit abstrakten und vielfach emotionalen Formeln geführt wird, die
generellen Niedergang erwarten, ohne sich auf klare Zahlen einzulassen, die auf der anderen
Seite oft auch gar nicht vorhanden sind.
Das Gegenteil ist nie der Fall, Erhöhungen der Bildungsbudgets stossen nie auf
Protest. Das ist solange nicht bemerkenswert - Zuwächse erfreuen immer -, als Zyklen
erwartet werden können. Auf Verlust erfolgt Gewinn, aber wir sind nicht an der Börse,
sondern im Kontext staatlicher Haushalte, also im Bereich politischer Vorgaben, die sich
nicht zyklisch selbst ausgleichen, sondern die Einsparungen als Folge von Steuersenkungen
vorsehen. Sparen im Sinne von Haushaltssanierung ist nicht eo ipso schlecht. Das Problem ist,
wen es trifft und wie intelligent dabei vorgegangen wird. Ein Risiko ist die
Gefahrenabschätzung, bestimmte Folgen sieht man, andere aber nicht, auch nicht, wenn man
genau hinschaut. Wenn allerdings wie im Kanton Zürich das Bildungsbudget in vier Jahren
um 470 Millionen Franken gekürzt werden soll, dann wird das spürbar sein, so oder so. Es ist
nicht eine Schraube hier, eine Schraube da, sondern ein substanzieller Leistungsabbau, der
politisch gewollt ist.
Was in der öffentlichen Diskussion fast nie angesprochen wird, ist die Frage, warum
im Bildungsbereich vergleichsweise leicht gekürzt werden kann, wenn erst einmal die
öffentliche Aufregung sich gelegt hat. Eine Antwort auf diese Frage betrifft die Standards der
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Bildung. Weil zu wenig wirklich normiert ist, kann leicht die Klassengrösse herauf gesetzt,
der Lektionenfaktor verändert, können die Budgets für Schulversuche gestrichen und
Angebote ausserhalb des Unterrichts reduziert werden. Die einzelne Massnahme ist kaum
spürbar, auch das gesamte Paket wirkt nicht sofort, die Mittel können gestrichen werden, weil
substantielle Bereiche nicht berührt sind, die sich bei Lichte aber sehr flexible Grössen
erweisen, die keine definitiven Standards kennen. Das Geld aber kommt nicht zurück.
„Schulqualität“ ist heute eher ein nomineller Ausdruck, bei dem unklar ist, ab welcher
Klassengrösse er nicht mehr erreicht werden kann, wie veraltet die Lehrmittel sein dürfen,
welche Minimalmotivation bei den Schplern unabdinglich ist, wie viel faktischen Lohnverlust
die Lehrkräfte hinnehmen können, ohne die Unterrichtsqualität zu beeinträchtigen, was ein
leistungsgerechter Anstieg des Lohnes ist, welche Qualität in der Mensa ausreicht und ab
wann die Lehrkräfte zu Recht sagen, sie seien ausgebrannt. Alles das ist vage bestimmt und
mit grossen Zumutungsflächen ausgelegt, ohne dass definitive Grenzen, die nicht
unterschritten werden dürfen, vorhanden wären.
Daher haben die Haushaltskürzungen den absehbaren Effekt, vermehrt über Standards
der Schulqualität nachzudenken und dabei auch die Forschungsanstrengungen zu verstärken.
Wenn „Qualität“ nur vage definiert ist, fallen die Kürzungen, auch wenn sie schmerzhaft
erscheinen, kaum ins Gewicht, weil das Tagesgeschäft ja nicht berührt ist. Schule findet statt,
auch wenn die Lehrkräfte den Verdacht haben, mit jeder Runde werde es etwas schlechter.
Aber die Zumutbarkeit ist dehnbar und das System bricht nicht zusammen. Klare Standards
würden aber den Verlust deutlich markieren, weil Standards nur dann Sinn machen, wenn sie
unverzichtbar sind für das Erreichen einer bestimmten Qualität. Nur so kann die zentrale
bildungspolitische Frage beantwortet werden, ob Leistungskürzungen zugleich
Qualitätsverlust mit sich bringen.
Was heisst nun aber Sparpolitik konkret? Meine Zahlen beziehen sich auf den Kanton
Zürich, aber sie illustrieren sicher die zentralen Trends auch in anderen Kantonen. Das Sparen
im Bildungsbereich wird begründet mit dem mittelfristigen Finanzausgleich des kantonalen
Haushaltes. Das ist eine komplizierte Verwaltungsmassnahme, die das Budget der
Bildungsdirektion genau betrifft wie das aller anderen Direktionen. Der Rahmen für den
Abbau im Bereich der Volksschule lässt sich wie folgt fassen:
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80 bis 90% der Ausgaben sind Personalkosten.
Die Klassengrössen sind in den letzten Jahren gesunken.
Eine Veränderung der Richtgrösse bei der Klassenstärke ist nicht vorgesehen.
210 Millionen Franken pro Jahr werden für sozialpädagogische und verwandte
Massnahmen ausserhalb der Schule/des Klassenzimmers.
Es gibt vier bewegliche Faktoren: Lohn, Klassengrössen, Lektionen, Anteile
Kanton/Gemeinden bei der Finanzierung,
Weil von den vier beweglichen Faktoren nur zwei wirklich „beweglich“ sind, nämlich
Klassengrössen und Lektionenzahl, wird man hier ansetzen. Die Klassengrössen werden
mittels Lektionenfaktor mindestens technisch erhöht, die Lektionenzahl wird für die
Lehrkräfte erhöht und für die Schüler gesenkt. Die Lehrkräfte erteilen mehr Unterricht, die
Schüler erhalten weniger, nicht allen Fächern, sondern dort, wo der geringste Schaden
vermutet wird, also ausgehend von den Randfächern.
Daher sollen im Kanton Zürich von den 20 Lektionen Handarbeitsunterricht während
der ersten sechs Schuljahre vier entfallen, was zu massiven Protesten in der Bevölkerung
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geführt hat. Der Protest erfolgte, obwohl der Handarbeitsunterricht im Kanton Zürich die
höchste Dotierung auf Primarschulstufe im interkantonalen Vergleich hat und obwohl der
Unterricht auch nach der Kürzung noch in jedem Jahr der Primarschule erteilt wird.
Eigentlich wäre der Verlust also hinnehmbar, aber offenbar soll den Anfängen gewehrt
werden. Die Furcht gross, dass die Kürzungen leicht den Charakter einer Lawine annehmen
könnten. Sie beginnen klein und enden mit einem gewaltigen Abgang. Das Beispiel zeigt,
dass sich in der Bevölkerung Widerstand gegen den Abbau staatlicher Leistungen im
Bildungsbereich regt, wenngleich dieser Widerstand eher pauschale Argumente für sich hat,
die konkret wenig besagen.
Dass Bildung als wichtiger und oft ausschlaggebender Standortfaktor angesehen wird,
hat seine Berechtigung, bedeutet aber im konkreten Spargeschehen nur wenig. Das Problem
ist wiederum, dass unklar ist, ab wann der Standortfaktor Bildung tatsächlich gefährdet ist und
wie weit sich Abbau gar nicht auswirkt. Diese Unbestimmtheit der roten Linie ist die
eigentliche Gefahr, denn „Sparen“ impliziert Weitersparen, weil tatsächlich nicht genau
festgelegt ist, welche Leistungen verzichtbar sind und welche nicht. Die Verteilung von
Lektionen auf Fächer geht nicht von Standards aus, sondern folgt einem historischen
Verteilungsschlüssel, der keine Angaben darüber macht, wie viel und welcher Unterricht
notwendig ist, um eine bestimmte Kompetenz zu erreichen. Daher kann letztlich auch im
Kernbereich gespart werden, was, nochmals gesagt, nur dann verhindert werden kann, wenn
verbindliche Standards vorhanden sind, die nicht angetastet werden dürfen, wenn eine
bestimmte Qualität erreicht werden soll.
Es gibt eigentlich kein Äquivalent zum „Kerngeschäft“ eines Unternehmens, selbst
wer den Unterricht als das Kerngeschäft der Schule bezeichnet, setzt eine Schule voraus, die
nichts mehr mit der Lektionenschule der fünfziger Jahre zu tun hat. Nicht ohne Grund sind
die 210 Millionen Franken, die im Kanton Zürich jedes Jahr für sozialpädagogische und
anverwandte Massnahmen im Bereich Kindergarten und Volksschule ausgegeben werden,
eine kritische Grösse. Die Mittel gehören integriert, damit sich die Schule in Richtung gezielte
und rechtzeitige Förderung aller Kinder und Begabungen entwickeln, also mehr, als in der
Vergangenheit möglich war, ihren Charakter als Unterrichtschule verändern kann.
Sparpotential ist damit nicht gegeben. Ich komme auf dieses Problem zurück, weil sich daran
zweierlei zeigen lässt, die sinnvolle Verlagerung der Mittel und der Widerstand dagegen.
Gespart wird im Kanton Zürich nicht nur in der Volksschule. Nach dem Prinzip der
umgekehrten Giesskanne, also der zurückgenommenen Subvention, sind alle Schularten
betroffen, wenngleich nicht gleichgewichtig. Im Bereich der Gymnasien und Berufsschulen
sind im Kanton Zürich folgende Massnahmen vorgesehen:
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Veränderung des Lektionenfaktors der Gymnasien: Abbau pro Schule zwischen 50
und 100 Lektionen pro Woche.
Folge: Reduktion von besonderen Unterrichtsformen wie Projektwochen,
Reduktion im Freifachangebot, Reduktion von Halbklassen, teilweise Reduktion
obligatorischer Lektionen (Reduktion von 33 auf 30 Lektionen pro Klasse)
Hauswirtschaftskurse Langzeitgymnasium: komplette Streichung
DMS/FMS: Die alte DMS verliert 4-5 Lektionen und die FMS (Fachmittelschule)
wird knapper geplant
Freiwilliger Instrumentalunterrichts: Erhöhung des Elternbeitrags
Weiterbildung Berufsschulen: Kursgelder werden erhöht
Gesundheitsschulen tertiärer Bereich: Kürzung der Pauschalen, Lohneinsparungen
bei den Lernenden; Strukturentwicklung Richtung Zentren
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Man sieht, besonders betroffen sind die Gymnasien, aber auch für die anderen Schulen
könnte es so weitergehen. Es würde immer ein Stück weit und dosiert etwas schlechter, das
System würde nicht zusammenbrechen, aber Sparmöglichkeiten könnte man immer finden.
Ohne wirkliche Standards ist es schwer zu sagen, ab wann definitiv Schluss ist mit Sparen im
Bildungsbereich. Und die Massnahmen stellen ein ausgewogenes Paket dar, die Verwaltung
hat keine martialische Kürzung vorgelegt, sondern macht durchaus schonende Vorschläge, die
den Kernbereich nicht tangieren sollen. Aber der Kernbereich lässt sich nicht einfach an der
Stundentafel ablesen, sondern setzt eine Gesamterfahrung Schule voraus, die nicht der
Verwaltungslogik folgt.
Nicht ohne Grund ist seit zehn Jahren von „Qualitätssicherung“ die Rede, wobei
immer ein Zusammenhang zwischen Unterricht, Schulorganisation und dem Erfahrungsfeld
Schule gesehen wurde. Inzwischen sind die Lehrkräfte, die anfänglich sehr skeptisch
eingestellt waren, auf diesen Zusammenhang eingestellt und haben die
Reformherausforderungen angenommen. Eine der Schlüsselfragen wird sein, wie die politisch
intendierten und durchgesetzten Reformen zur Sparpolitik passen, also was aus dem BuschorEffekt wird, wenn Reformen nicht zum Kerngeschäft zählen und die Budgets sinken. Diese
Frage wird mich in einem zweiten, etwas längeren Schritt beschäftigen. Er soll auch zeigen,
welche Entwicklungen man abbrechen müsste und wie das System zurückfallen würde, wenn
tatsächlich eine langfristige Politik des Abbaus staatlicher Leistungen betrieben wird. Sie sind
nicht einfach durch private Angebote zu ersetzen, sondern fehlen dann einfach.
3. Das Szenario „Reformpolitik als Qualitätssicherung“
Reformen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Wenn von „Qualitätssicherung“
gesprochen wird und wenn die damit verbundenen Massnahmen zu echten Verbesserungen
führen sollen, also zu Reformen führen, die sich lohnen, dann ist das nicht kostenneutral und
kann nicht mit sinkenden Haushalten durchgeführt werden. Entsprechend ist die kritische
Frage, ob die verschiedenen Massnahmen zur Qualitätssicherung wirklich notwendig sind
oder nicht vielmehr einen Luxus darstellen, auf den man in Zeiten knapper Kassen verzichten
kann, ohne einen wirklichen Qualitätsverlust zu erleiden. Womöglich waren die Massnahmen
nur teuer und nicht besonders wirksam, was dann eine carte blanche zum Verzicht wäre.
Zugleich wäre damit zugestanden, dass die die Schulqualität nicht von
Organisationsentwicklung abhängt.
Das populäre Argument lautet, „früher“ ging es auch ohne erweiterte Schulleitungen,
interne oder externe Evaluationen, Zielsteuerung, Bildungsstandards oder
Mitarbeitergesprächen, und bei erheblich grösseren Klassen war die Qualität sicher nicht
schlechter. Populär ist auch, dass die neuen Instrumente der Qualitätssicherung aus den
Unternehmen stammten und für Schulen ungeeignet seien. Hier begegnen sich
reformpädagogische und konservative Argumente, ohne dass ein innerer Ausgleich stattfinden
müsste. Es genügt die Abwehr des „Unpädagogischen“ und das Unbehagen am
betriebswirtschaftlichen Jargon. Doch das ist nicht sehr überzeugend, das Argument ist im
Kern nostalgisch, hat Verhältnisse vor Augen, die nicht wiederkehren werden und übertreibt
die Abwehr. Im Blick auf überzeugende Problemlösungen sollten staatliche Schulen von
Unternehmen lernen können, und sei es nur, weil Flexibilität nicht gerade ihre Stärke ist.
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Die Grundidee der „Qualitätssicherung“ ist in Konzepten des New Public
Managements entwickelt worden, also entstammt Ansätzen zur Reform der öffentlichen
Verwaltung (vgl. etwa OSBORNE/PLASTRIK 2000). Die zentrale Frage war und ist, wie das
Verwaltungshandeln effizienter werden kann, ohne länger mit der Erfüllung von
Dienstvorschriften und einem Platz in der Hierarchie gleichgesetzt zu werden. Erstrebenswert
sollte nicht länger der nächsthöhere Platz in der Hierarchie sein, sondern die Wirksamkeit der
Massnahmen. Dabei stand deutlich die Verbesserung der Effizienz im Vordergrund, also nicht
bloss die empirische Erhebung von mehr weniger wirksamen Faktoren, sondern deutlich die
Verbesserung des Verwaltungshandelns, bis hin zur Frage, was ausgelagert werden kann und
was nicht.
Die Frage, ob und wenn ja, wie die Regeln des New Public Managements auf Schulen
übertragen werden können, ist seit Mitte der neunziger Jahre in der Schweiz intensiv
diskutiert worden und hat zu vergleichsweise gross angelegten Versuchen geführt, die
überwiegend mit positiven Resultaten verbunden waren. Viele Kantone haben inzwischen
erweiterte Schulleitungen eingeführt, sind dabei, die herkömmliche Schulaufsicht zu ersetzen,
lassen Leistungsmessungen durchführen, entwickeln Standards und Zielvorgaben, stellen die
Finanzierung auf Globalbudgets um und verlangen regelmässige Mitarbeiterbeurteilungen. In
bestimmten Kantonen sind sogar lohnwirksame Beurteilungen eingeführt worden, wenngleich
mit eher gemischten Resultaten (vgl. EvaMAB 2003). Auch die Skepsis gegenüber externen
Evaluationen scheint verschwunden. Natürlich sind Schulen keine Unternehmen, aber sie
müssen sich gleichwohl im Blick auf ihre Effizienz und die Ökonomie ihrer Massnahmen
beurteilen lassen.
Das Wort „Qualitätssicherung“ ist eigentlich falsch. Es geht nicht die Bewahrung der
Bestände, sondern um die Entwicklung des Systems, das auf ganzer Linie wettbewerbsfähig
gemacht werden muss. Hinter den Anstrengungen steht die Einsicht, dass Bildung mehr und
mehr nicht nur zu einem Standort-, sondern zu einem Wettbewerbsfaktor geworden ist, der
sich nicht mit einer glorreichen Vergangenheit beruhigen kann, sondern der immer neu
angepasst werden muss. Qualitätssicherung hat also nichts zu tun mit der Verwaltung des
Status Quo und ist schon gar nicht als „Besitzstandswahrung“ zu verstehen, vermutlich das
konservativste Element im ganzen Bildungssystem. Aber in der gegebenen internationalen
Wettbewerbssituation kann auch das Schweizer Bildungssystem nicht so bleiben, wie es
historisch geworden ist, sondern muss sich vergleichen lassen und entwickeln, damit
verändern und ausbauen. Das verlangt Investitionen und verträgt keinen langfristigen Abbau.
Was ist nun aber „Qualitätssicherung“? Qualitätssicherung hat viele Aspekte und
Faktoren, aber immer wieder werden folgende Elemente als besonders bedeutsam
herausgestellt:
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Aufbau von Schulleitungen mit Kompetenzen und Weisungsbefugnissen,
höchst mögliche Transparenz des schulischen Angebots,
Verbesserung der internen Kommunikation und Abstimmung von Standards,
Mitarbeiterbeurteilung und interne Evaluationen,
regelmässige externe Evaluationen,
Offenlegung der dabei erzeugten Daten
und Zielvereinbarungen im Blick auf die nächste Etappe der Schulentwicklung.
Das sind Instrumente einer professionellen Schulentwicklung, die heute international
üblich sind. Die Entwicklung in der Schweiz vollzieht nur nach und adaptiert, was in
skandinavischen oder angelsächsischen Systemen vor fünfzehn oder zwanzig Jahren
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begonnen wurde. Dass diese Systeme in internationalen Leistungsvergleichen besser
abschneiden, hat auch damit zu tun, dass Massnahmen zur Qualitätssicherung wesentlich
früher ergriffen und konsequent verwirklicht wurden (OELKERS 2003). Die Regel ist: Wenn
die Qualität verbessert werden soll, dann müssen die Bildungssysteme auf dieser Linie
modernisiert werden. Und entgegen der Verwaltungslogik - Kein einziges Element der
Qualitätssicherung lässt sich verordnen, alle müssen überzeugend und mit Aufwand
entwickelt werden.
Eine in der Diskussion zu wenig beachtete Funktion dieser Instrumente ist, dass sie die
Intransparenz des schulischen Geschehens überwinden sollen. Von der Leistungsbeurteilung
bis zu den Kriterien des guten Unterrichts ist im Schulalltag zuviel undurchsichtig und zu
wenig wirklich explizit, also von Eltern, Schülern und Kollegen nachvollziehbar. Die
tatsächlichen Kriterien zum Beispiel der Notengebung sind oft nur den Lehrkräften bekannt,
während Schüler hier nicht selten Schicksale erleben, die auf ihre Schulkarriere nachhaltigen
Einfluss ausüben. Soll sich das ändern, muss Transparenz zur Grundregel werden, und zwar
nach Innen und Aussen gleichermassen. Und das ist im Blick auf die durchschnittliche
Realität der Schulen erheblich leichter gesagt als wirklich getan.
Die Notwendigkeit dieser neuen Formen und Verfahren der Systementwicklung lässt
sich am Beispiel der Schulleitungen darstellen. Schulleitungen neuer Art sollten echte
Kompetenzen und Weisungsbefugnisse erhalten, vorausgesetzt eine dazu passende
Ausbildung und eine auf persönliche Qualität zugeschnittene Anstellung. Schulleitung ist ein
besonderer Beruf, nicht die Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit mit leicht variierten Mitteln.
Soll „Schulentwicklung“ mehr sein als eine rhetorische Zumutung, dann muss sie sich konkret
fassen und an den Zielen messen lassen. Umgesetzt würde das zum Beispiel bedeuten,
Jahresprogramme für den Fachunterricht zu entwickeln, in denen präzise bestimmt ist, was
das inhaltliche Curriculum ausmacht und wie die Leistungen bewertet werden. Transparent
sind Anforderungen aber nur dann, wenn zugleich der absehbare Lernaufwand kalkuliert
werden kann, und dies vor Beginn der Beurteilungsperiode. Die Fächer müssten sich im Blick
auf die Anforderungen, die an die Schüler gestellt werden, abstimmen, so dass die Schüler
individuell ihren Lernaufwand, von dem der Erfolg massgeblich abhängig ist, abklären und
einteilen könnten. Verlangt wird dabei ein komplexes Management, das über Befugnisse
verfügen muss, die sich nicht auf die Leitung von Sitzungen beschränken darf.
Genereller gesagt und auf Unterricht bezogen: Die Schulentwicklung vor Ort muss
mit dem Umfeld abgestimmt sein und Akzeptanz finden, das verlangt Führung, weil
allgemeine Ziele vertreten werden und der Unterricht inhaltlichen Standards verpflichtet ist,
die nicht beliebig individualisiert werden können. Lehrmittel reichen zur Steuerung nicht aus,
die Ziele und Standards des Unterrichts müssen abgestimmt sein, transparent dargestellt
werden und sich überprüfen lassen. Gemeinsame Richtlinien für die Notengebung - für viele
Schulen heute keine Praxis - sind dabei nur der Anfang. Mit einer Formel lässt sich das auch
so sagen: Mehr Autonomie für die einzelne Schule verlangt im Gegenzug mehr Leitung und
eine andere Form von Kontrolle.
Die Entwicklung einer Schule muss vor dem Hintergrund einer fortlaufenden
Evaluationen ihrer Stärken und Schwächen erfolgen, Lehrkräfte und Schulleitung müssen
bereit sein, sich auf eine Analyse ihrer Schwächen einzulassen, was vermutlich als der
heikelste Punkt der gesamten Entwicklung angesehen werden kann. Intern ist das weitgehend
unmöglich, und zwar aufgrund der Logik der Kollegialität, die ausschliesst, die Bezeichnung
und Zuschreibung von Schwächen hinzunehmen, ohne Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Schwächen sind Kränkungen des Selbstbildes, aber nur die Analyse von Schwächen garantiert
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Qualitätssicherung. Und Stärken sind keine, wenn sie lediglich von Selbstbehauptungen
ausgehen, wie sie Leitbilder dann darstellen, wenn sie Ziele mit Wunschprosa verwechseln.
Die Evaluation der Schule ist eine Seite, die Einschätzung der Qualität der Lehrkräfte
eine andere, die Leistungsbeurteilung der Schülerinnen und Schülerinnen eine dritte.
Schulentwicklung ist nur möglich, wenn die Fähigkeiten der Lehrkräfte kein Tabuthema mehr
sind, sondern regelmässig gecheckt und fortlaufend verbessert werden. Das setzt eine
veränderte Schulkultur voraus, die die vorhandenen Potentiale der Lehrkräfte nicht nur nutzt,
sondern auch entwickelt. Das „Einzelkämpfertum“ der Lehrkräfte kann nicht zugleich heftig
beklagt und stillschweigend genutzt werden, um das Zustandekommen der Unterrichtsqualität
möglichst intransparent zu halten. Letztlich müssen die Lehrkräfte das wollen, was nur dann
der Fall ist, wenn Beurteiltwerden keinen Bedrohungscharakter hat, nicht mit Nachteilen
verbunden ist und als Vorteil für den eigenen Unterricht erfahren wird.
Die Unterrichtsqualität und so die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hängen
sehr weitgehend von den Fähigkeiten und dem Geschick der Lehrkräfte ab. Die professionelle
Kompetenz entsteht massgeblich in den ersten Berufsjahren (LARCHER KLEE 2002), die mit
besonderen Ausbildungsprogrammen unterstützt werden müssen. Generell ist persönliches
Coaching nötig, um für fortlaufende Verbesserung der unterrichtlichen Fähigkeiten zu sorgen.
Ohne das Management einer verantwortlichen Schulleitung wäre das dem individuellen
Fortbildungswillen überlassen, der nicht vom Bedarf der Schule, sondern vom persönlichen
Bedürfnis ausgeht. Künftige Schulleitungen müssen imstande sein, für gezielte
Personalentwicklung zu sorgen, was nur möglich ist, wenn die Schulen über ausreichende
Budgets verfügen.
Aber es geht nicht nur um die Arbeit der Lehrkräfte. An vielen Projekten der
Schulentwicklung fällt auf, dass sie nur auf Schule bezogen sind, die ja seit den achtziger
Jahren als die grundlegende Handlungseinheit des Systems verstanden wird. Diese Optik hat
eine unerwünschte Nebenfolge, die Schülerinnen und Schüler kommen nicht mehr vor. Das
Qualitätsmanagement bezieht auf die Leitung der Schulen, auf die Lehrkräfte, die Eltern, die
Schulpflege, die Öffentlichkeitsarbeit, aber nicht auf diejenigen, denen der ganze Aufwand
gilt, nämlich die Schüler, deren Rolle auf seltsame Weise unberührt zu sein scheint von allen
Reformen. Ihre Leistungen sind interessant, aber nicht ihre Rolle, genauer: die Leistungen
werden auf eine Schülerrolle bezogen, die nicht selbst entwickelt werden muss. Das
überrascht, weil „Entwicklung“ doch das Credo sein soll.
In den heute üblichen Modellen der Organisationsentwicklung wird oft übersehen, wie
abhängig der Erfolg jedes Unterrichts von den Schülern ist. Interessant ist, dass sich nur die
Lehrkräfte und nicht auch die Schüler „professionalisieren“ sollen. Die Schüler leben und
arbeiten in Rollenmodellen des 19. Jahrhunderts, während sie als Kinder und Jugendliche an
den Konsumkulturen des 21. Jahrhunderts teilhaben. Wer den Einfluss der schulkritischen
und zum Teil schulzynischen Jugendkultur auf die Einstellungen und Lernhaltungen der
heutigen Schülerinnen und Schüler vor Augen hat, muss hier ein erstrangiges Problem sehen
und nicht einen Nebenschauplatz, der vom Kerngeschäft ablenkt. Auch die Rede vom
„Kerngeschäft“ im übrigen bezieht sich ausschliesslich auf die Lehrkräfte, als hätten die
Schüler kein solches Kerngeschäft und als es für sie nicht zunehmend schwieriger, sich auf
dieses Geschäft einzulassen.
Für die Arbeit der Lehrkräfte gibt es keinen sichtbaren Ausdruck, vergleichbar den
Noten, die die Schüler erhalten. Der Unterricht ist auf die Leistungen der Schüler
zugeschnitten; was genau die Qualität der Lehrkräfte dazu beiträgt, dass die Leistungen
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zustande kommen, ist wesentlich nicht sichtbar. Allein die Gestaltung der sozialen
Beziehungen in einer Klasse, der Umgang mit zum Teil ganz neuen Konflikten oder die
Strategien der Stressbewältigung verlangen hohe Kompetenzen, die wenn, dann informell
gewürdigt werden. Belastungen sind individuelles Schicksal, die Schule hat immer noch kein
wirkliches Konzept für diesen Teil der Personalentwicklung, mit dem sich auf den
zunehmenden persönlichen Verschleiss reagieren liesse. Hinzukommt, dass die auch hier die
Konstruktion des 19. Jahrhunderts zunehmend mehr aufgelöst wird. Der Lehrerberuf ist
immer weniger attraktiv als Lebensberuf, und dies nicht nur, weil die Belastungen
unkalkulierbar erscheinen, sondern weil die Lebenskonzepte nicht mehr zu den
Anstellungsbedingungen passen.
Das gilt mutatis mutandis auch für die Schüler, deren persönlicher Aufwand für das
Erbringen von Leistungen eben so wenig in Rechnung gestellt wird wie das Stresserlebnis, die
Härten einer Anstrengung oder die Wahl subversiver Strategien. Die vorliegenden Vorschläge
sind einseitig auf die Lehrkräfte ausgerichtet, ohne die Anforderungen zu benennen, die sich
für die Schülerinnen und Schüler stellen, wenn sich Schulen mit Instrumenten wie
Zielsteuerungen, Leistungstests und fortlaufender Beurteilung entwickeln sollen. Die Rolle
„Schülerin“ und „Schüler“ selbst ist diffus und schwankt zwischen starkem Gelenktwerden
und übertriebener Eigenverantwortung. Wofür die Schüler genau zuständig sind und was
ihren Auftrag ausmacht, ist nirgendwo explizit. Die Praxis wird de facto zwischen der
einzelnen Lehrkraft und den jeweiligen Schülern ausgehandelt, wobei keine klaren
Spielregeln definiert sind. Die checks and balances in den Beziehungen werden überwiegend
von den Lehrkräften definiert und dominiert, die Macht der Schüler artikuliert sich oft nur
subversiv, es gibt keine oder viel zu wenig regelmässige Bilanzen, bei den die
Qualitätseinschätzungen der Schüler wirkliches Gewicht erhielten.
Aber Schulerfolg hängt ganz wesentlich davon ab, dass die Schüler wissen und
einsehen, warum sie lernen, was sie lernen. Die viel zitierte und oft falsch beschworene
„Motivation“ der Schüler ist nicht zuletzt eine Folge transparenter und nachvollziehbarer
Leistungserwartungen, für die gute Gründe und nicht Allerweltserklärungen zur Verfügung
stehen müssen. Oft verstehen die Schüler nicht, was die Ziele des Unterrichts sind, und noch
öfter wissen sie nicht, ob die Ziele erreicht wurden oder nicht. Negative Einschätzungen der
Schüler über Sinn und Zweck eines Themas oder einer Unterrichtseinheit werden von den
Lehrkräften vielfach nicht wahrgenommen oder gelten als unbegründeter Widerstand. Das
Potential der fortlaufenden Beobachtungen und Bemerkungen der Schüler zum
Unterrichtsgeschehen wird kaum genutzt, weil Feedbackformen entweder gar nicht bestehen
oder Scheinveranstaltungen sind.Weitreichende Reformen der Schulorganisation wie zum
Beispiel die Umstellung auf Standards und Evaluationen sind eine ohne darauf eingestimmte,
professionelle Schülerschaft, die die Entwicklung mit trägt und die lernt, ob und wie sie
davon profitiert, nicht zu haben.
Von ihren Anstellungsbedingungen her gesehen leben eigentlich auch die Lehrkräfte
im 19. Jahrhundert. Niemand entwirft mehr sein Leben auf dreissig und mehr Jahre hin,
während Lehrkräfte unter der Voraussetzung angestellt werden, dass sie froh sein können,
eine Stelle zu erhalten und daher dankbar sein müssen, wenn sie dreissig und mehr Jahre ohne
Rotation an ein- und demselben Ort verbringen dürfen. Genauer: Sie müssen dankbar sein,
wenn sie ihre Stelle
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über dreissig Jahre lang
mit nicht nachlassendem Eifer,
nimmermüde und bescheiden
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am gleichen Ort
und möglichst ohne grosse Lohnforderungen ausüben können.
Niemand lebt so, und vermutlich haben auch Lehrkräfte in früheren Epochen diese
Erwartungshaltung immer unterlaufen. Auf der anderen Seite stehen die realen Aufgaben des
Geschäfts. Was von den Lehrkräften abverlangt wird, ist ein vieler Hinsicht paradox. Sie
müssen
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individuell fördern und gesellschaftliche Selektionsentscheide treffen,
Verständnis für die Schüler aufbringen und Disziplin durchsetzen,
Interesse für ihren Unterricht erzeugen und voraussetzen,
Grenzen setzen und sie verschieben,
allen Schülern gerecht werden, ohne mit allen gleich gut arbeiten zu können.
Ein schwieriger bis ziemlich unmöglicher Job also, von dem viele Beobachter sagen,
dass sie froh seien, ihn nicht machen zu müssen. Die Lehrkräfte geben in Belastungsstudien
immer wieder an, dass ihr zentrales Stresserlebnis die Diskrepanz zwischen Ideal und
Wirklichkeit sei, die pädagogisch und nicht profan erwartet wird.
Würden Schulen befreit von ihren Idealen Dienst nach Vorschrift machen, würde das
System unmittelbar danach zusammen brechen. Aber Idealisierungen haben auch
Belastungsfolgen, weil sie die schmale Grenze zwischen Engagement und Selbstausbeutung
nicht genau bezeichnen. Wann Lehrkräfte zuviel tun, müssen sie jeweils selbst bestimmen,
und dies unter der Voraussetzung, dass alle zentralen Aufgaben des Berufsfeldes
unabschliessbar sind und sich zugleich nur schwach routinisieren lassen
(FORNECK/SCHRIEWER 2001). Die Steuerung durch unliebsame Überraschungen scheint
zuzunehmen, generell scheint die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit grösser zu werden,
auch in dem Sinne, dass Lehrkräfte die Annäherung an die ideale Unterrichtseinheit immer
weniger erleben.
Personalentwicklung muss hier ansetzen, also vom Berufsalltag ausgehen, aber eben
nicht nur von Berufsalltag der Lehrkräfte, sondern gleichermassen vom Berufalltag der
Schüler. Die Professionalisierung des Schülerberufs ist - auch in der internationalen Literatur
- nicht vorangebracht worden. Es gibt kaum Hinweise auf eine sinnvoll veränderte
Schülerrolle, die sich auf die erwartbaren Entwicklungen von Schulorganisation und
Unterricht beziehen würden. Schüler werden nicht ausreichend auf veränderte
Leistungserwartungen vorbereitet, erhalten keine besonderen Funktionen in Lernprogrammen
und sind in den Leitbildern von Schulen nur rhetorisch präsent. Natürlich sagt kein einziges
Schulleitbild, dass die Schüler nicht im Mittelpunkt stehen, aber was diese Formel konkret
besagen soll, wozu sie verpflichtet, was sie einschliesst und was sie ausschliesst, wird
erstaunlich wenig thematisiert.
Zur Qualitätssicherung insgesamt gesagt: Das alles kostet Geld, und es sind dies
Investitionen, also Zusatzausgaben in einem Bereich, der das meiste Geld für Löhne ausgibt,
die zu kürzen die nicht wenige Lehrkräfte veranlassen würde, das System zu verlassen, sobald
sich eine günstige Gelegenheit bietet. So läuft man Gefahr, nicht mehr das Personal zu
bekommen, das man braucht, nämlich belastbare Lehrkräfte, die auf Entwicklung und nicht
auf Kürzung eingestellt sind. Der Lohn ist eine sehr sensible Grösse. Man kann hier nicht
kürzen ohne irreparablen Verlust an Motivation und Know How. Ohne hoch motiviertes
Personal kann es keine Schulentwicklung geben, aber das Personal ist ebenso wie ihr Beruf
anspruchsvoller geworden.
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Bei der Beurteilung der Situation sollte vor allem die Wettbewerbssituation eine Rolle
spielen. In Kanada, Australien und Finnland, auch in England, wird investiert, nicht einfach
mit der Logik der Verwaltung gekürzt. Und wenn gelegentlich zu lesen ist, dass Finnland mit
geringeren Bildungsausgaben eine weit höhere Qualität erzeugt, dann wird nicht nur
übersehen, dass die Lebenshaltungskosten im Vergleich mit der Schweiz unterschiedlich sind,
vor allem wird übersehen, dass ein beträchtlicher Teil der Ausgaben nicht aus dem
Bildungsbudgets, sondern aus den Sozialbudgets bestritten wird, eben weil die Schule nicht
nur unterrichten, sondern zugleich fördern und dafür soziale Dienste bereit stellen. Die hohe
Qualität hängt davon ab, nicht von den finnischen Wintern.
Bevor ich auf meine Schlussfolgerungen zu sprechen komme, bin ich meinem
Publikum eine Spezifizierung schuldig. Ein Grossteil dieser Massnahmen sind in
Berufsschulen verwirklicht oder sind dabei, verwirklicht zu werden. Was sind dann noch
Entwicklungsaufgaben der Berufsschulen und was haben sie zu tun mit Sparpolitik?
4.. Die Entwicklungsaufgaben von Berufsschulen
Die heute übliche Zuordnung zur Sekundarstufe II darf über die Unterschiede nicht
hinwegtäuschen: Berufsschulen haben in bestimmten Hinsichten andere
Entwicklungsaufgaben als Gymnasien, wobei ich am Ende meines Vortrages auch etwas über
die Gemeinsamkeiten sage. Aber das Ziel der Berufsschulen ist nicht die allgemeine
Hochschulreife, sondern die Vorbereitung auf Berufe, einschliesslich von Angeboten zur
Weiterbildung in den Berufen. Dass dieser Anteil wächst, verweist auf das Problem, denn
offenbar heisst Vorbereitung auf den Beruf nicht länger zureichende Ausrüstung für die
Ausübung des Berufs. Es gibt keinen Beruf mehr, der mit der Ausbildung auskäme, was dann
aber Fragen aufwirft, in welchem Verhältnis Ausbildung und Weiterbildung stehen sollen,
wenn gleichzeitig Berufswechsel zur Regel werden. Diese Fragen zu beantworten, wird ein
erstrangiger Beitrag zur Qualitätssicherung sein.
In der Schweiz werden derzeit 60% der Lehrverhältnisse im traditionellen Gebiet des
Veredelungssektors ausgebildet, der noch etwa 20% der Betriebe ausmacht, während rund
70% der Betriebe im tertiären Dienstleistungsbereich nur etwa 20% der Lehrverhältnisse
ausbildet. Die Nachfrage der Zukunft gilt neben den niederschwelligen Tätigkeiten deutlich
Beschäftigten mit hoher und breiter Allgemeinbildung, die vielfach wechseln und umlernen
können, ohne sich mit einmal gelernten „Grundlagen“ zufrieden zu geben. Die Besonderheit
oder die Isolierung der Berufsbildung schwächt sich in dem Masse ab, wie sich dieser Prozess
durchsetzt. Die starre Trennung zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung wird also
durch die Entwicklung der Arbeitsmärkte und konkreter: der Beschäftigungsverhältnisse
porös.
Der Grund ist ein verändertes Verhältnis von Arbeit und Lernen: Wenn man überhaupt
noch von „Berufen“ sprechen kann, so ist Lernen nicht mehr nur die Vorbereitung darauf,
sondern die Grundlage der Berufstätigkeit selbst. Die didaktische Differenz von Lernen und
Arbeit löst sich auf, weil Berufsarbeit wesentlich zur Lernarbeit geworden ist. „Beruf“ heisst
einfach kontinuierliche Problemlösung unter je neuen Voraussetzungen, nicht mehr
Anwendung des ein- für allemal Gelernten. Nach der Ausbildung ist man nicht „fertig“,
sondern nur für den Anfang qualifiziert; der Beruf selbst besteht aus ständigem Weiterlernen,
wer sich dieser Bedingung nicht anpasst, verliert; die steigende Nachfrage nach
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Weiterbildung zeigt die Kalkulation von Kunden, die nicht verlieren wollen. Daher ist nicht
einfach „Bildung“ die Ressource der Zukunft, sondern Lernfähigkeit, die imstande ist,
Kompetenzen an je neue Situationen anzupassen und zu entwickeln, ohne noch einen
lebenslangen Beruf auszuüben.
Das verändert Bildung dramatisch, weil die Privilegien schrumpfen und stumpf
werden. Zeugnisse und Berechtigungen sind im 19. Jahrhundert eingeführt worden, um die
Zugänge zu einzelnen Berufen kontrollieren zu können. In dieser Hinsicht besteht zwischen
einer Industrielehre und der Niederlassung eines Arztes kein Unterschied, der Erfolg des
Lernens wird durch Patente bescheinigt, mit denen spezifische Privilegien verbunden sind.
Patente dieser Art sind immer abschliessend; sie bescheinigen berufliche Kompetenz nicht
unter dem Vorbehalt weiterer Lernprozesse, sondern eröffnen einen definitiven Berufszugang.
Aber es ist kein Zufall, dass „Kompetenz“ heute mehr und mehr in Form von persönlichen
Portfolios beschrieben wird. Dabei spielen nicht Abschlussnoten die entscheidende Rolle,
sondern die Qualität permanenter Lernprozesse. Anders wäre es zum Beispiel unmöglich
gewesen, innerhalb kurzer Zeit ganze Ausbildungsgenerationen von Sekretariatskräften auf
Computerprogramme umzustellen.
Das Beispiel zeigt noch etwas: Lernfähigkeit bezieht sich auf selbstverantwortete und
auch weitgehend selbst organisierte Ausbildung, die von starren didaktischen Programmen
mehr und mehr abrückt und sich auf immer neue, kurzfristige Anfordernisse einstellt.
Dadurch verändert sich nicht nur der Zeithorizont der Ausbildung, sondern auch die
Zuständigkeit, die nicht mehr einfach auf Schulen übertragen werden kann, die abschliessend
regeln, was an Lernen notwendig ist und was nicht. Die schulischen Lernquanten werden in
Konkurrenz treten zur individuellen Lernarbeit, die sich selbst auszurüsten versteht, und dies
nicht mehr pauschal für „Leben“ oder „Beruf“ ohne jede Frist, also auf fiktive Weise
„lebenslang“, sondern für bestimmte Anforderungen, die sich situativ stellen, also die genutzt
oder verpasst werden können. In gewisser Hinsicht wird man tatsächlich der eigene
Bildungsunternehmer, der sich auf Nachfrage einzustellen versteht und am besten selbst
Nachfrage erzeugt.
Das setzt vor allem die Institutionen der Allgemeinbildung unter Druck, die wesentlich
mit starren didaktischen Programmen arbeiten und auf Selbstorganisation kaum oder nur
unzureichend eingestellt sind. Das Problem der Allgemeinbildung besteht darin, dass ihre
Verwendbarkeit nicht abgesehen werden kann. Die Volksschule hat eine sehr vage
Nutzenkalkulation, was sich nicht zuletzt daran zeigt, welche Argumente angeführt werden,
wenn Senkungen der staatlichen Ausgaben angekündigt werden. Um nochmals auf das
Zürcher Beispiel einzugehen: Es ist nicht sehr überzeugend, wenn ein vergleichsweise hoch
dotiertes Fach wie Handarbeitsunterricht gegen vergleichsweise moderate Kürzungen mit dem
Hinweis auf die „Ganzheitlichkeit“ des Lernens und unter Rückgriff auf Pestalozzis Formel
„Kopf, Herz und Hand“ verteidigt wird. Daten für diese Rechtfertigung stehen nicht zur
Verfügung, wirkliche Standards gibt es nicht, die Verwendung des Gelernten ist unklar, das
Fach selbst erscheint eher in einer sentimentalen Perspektive - kein Wunder also, dass hier
zuerst gekürzt wird.
Generell kann Verwendbarkeit nicht heissen, vom Angebot auf den Nutzen zu
schliessen. Das Problem ist immer, wie schulische Lerninhalte anschliessend genutzt werden.
In der fachdidaktischen Diskussion ist inzwischen klar geworden, dass viele Schüler Physik
oder Chemie allein für die Schule und genauer: für die Prüfungen lernen, ohne dass ein
nachhaltiger Effekt erzielt werden würde. Auch sehr aufwändigen und für die Dauer der
Schulzeit erfolgreichen Mathematikunterricht vergisst man, wenn anschliessend für das
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Gelernte kein Anwendungsbedarf besteht. Und es wäre eine eigene Studie wert
herauszufinden, was vom Musikunterricht in staatlichen Schulen bleibt, wenn nutzbare
Kompetenz eher in den privaten Musikschulen entsteht. Neurophysiologen sagen bekanntlich;
use it or lose it.
Auch hier lautet das zentrale Stichwort Lernfähigkeit. Die inhaltlichen Bestimmungen
von „Allgemeinbildung“ muss auf Standards und Niveausicherung gerichtet sein, nicht oder
nur im Blick darauf auf die Vermittlung von lexikalischen Gehalten, die heute den Grossteil
des Unterrichts ausmachen, obwohl sie vielfach ausserhalb der Schule frei zugänglich sind.
Das Lexikalische wird nivelliert angeboten, während sich die persönliche Lernfähigkeit am
Niveau entscheidet. Das verlangt nicht nur Differenzierungsfähigkeit im Angebot der
Schulen, sondern vor allem individuelles Vorankommen, das überflüssige Erfahrungen
vermeiden kann. Damit entsteht ein neuartiger Effizienzdruck, der Leerlauf bestraft, und
vermutlich ist das die grösste Herausforderung für den Umbau unserer Bildungssysteme.
Das Tagesgeschäft ist vom Spar- und nur in dieser Hinsicht vom Effizienzdruck
bestimmt. Aber dabei dürfen die langfristigen Probleme und Aufgaben nicht aus dem Blick
verloren werden. Letztlich wird es darauf ankommen, genau zu bestimmen, was an
schulischer Qualität erreicht und erhalten bleiben soll. Kürzen kann man an jeder nahezu jeder
Stelle, während es vom öffentlichen Konsens abhängt, welche Schule wir haben wollen und
welche nicht. Abschliessend gebe ich einige Hinweise, wie das möglich sein könnte und was
auf jeden Fall vermieden werden muss.
5. Das Szenario „Leistungsabbau und Qualitätsverlust“
Leistungsabbau ist nicht einfach dasselbe wie Qualitätsabbau. Nicht jeder Verzicht auf
bestimmte Leistungen führt quasi automatisch zum einem Qualitätsverlust. Die „Qualität“
einer Schule ist eine schwer berechenbare Gesamterfahrung, nicht einfach die Summe aller
Elemente, die sich mit einfach mit dem Abbau einzelner Elemente linear reduziert. Um diesen
Prozess beurteilen zu können, wird man ihn sehr genau beobachten müssen, möglichst mit
guten Datenerhebungen, die wiederum ein Kostenfaktor sind. Aber wir wissen nicht, was es
heisst, wenn Gymnasium von 33 auf 30 Lektionen pro Woche zurückgehen, wenn
Instrumentalunterricht selbst bezahlt werden muss, die Kurskosten der Erwachsenenbildung
steigen oder die Lohnangleichung auf der Sekundarstufe II verhindert wird. Es gibt keine
Studien in diesem Bereich, aber ohne objektivierende Daten können die tatsächlichen Effekte
nicht eingeschätzt werden. Welcher Qualitätsabbau stattfindet, steht nicht einfach aufgrund
der Kürzungssumme fest.
Fest steht dagegen, was auf jeden Fall verhindert werden muss, nämlich dass eine
schleichende Auszehrung stattfindet und das Zutrauen abhanden kommt, am lohnenden
Objekt zu arbeiten. Bei aller Kritik waren die letzten fünf Jahre in vielen Schulhäusern von
einer Aufbruchstimmung begleitet, die mit dem politischen Willen zu echten Veränderungen
zu tun hat. Es ging voran, nicht zurück, und gelegentlich wurde selbst der normale Krebsgang
der Schulentwicklung überwunden. Lehrkräfte brauchen Ziele, und sie müssen sich für eine
Zukunft engagieren, die ihnen sinnvoll erscheint.
Schleichende Auszehrung heisst letztlich, die anspruchsvolle Angebotsschule peu à
peu zur alten Lektionenschule zurückzusparen. Das setzt die alten Schüler voraus, die heute
schwer zu finden sein dürften. Wenn gesagt wird, das Kerngeschäft genüge eigentlich, dann
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rechnet man mit Schülerinnen und Schülern, die es nicht mehr gibt und die auch nicht
wiederkehren werden. Heutige Kinder und Jugendliche sind Teil einer expandierenden
Konsumkultur, in der schulische Leistungserwartungen zu Randfaktoren der Erfahrung
werden. Sie werden umgangen oder müssen mit hohem Aufwand durchgesetzt werden, wobei
die Lehrkräfte oft frustrierende Dauerverhandlungen ohne Ergebnis in Kauf nehmen müssen.
Die Schulfähigkeit wird oft nicht mehr in den häuslichen Milieus erzeugt, vielmehr müssen
die Schulen dafür selber sorgen, ohne dafür auch ausgestattet zu sein. Das heisst, Schule
halten wird ohne wachsende Zusatzleistungen immer weniger möglich, während genau die
zusätzlichen Leistungen vom Abbau bedroht sind.
Die Schulen müssen sich selbst und ihren Unterricht für die Schüler attraktiv machen.
Der Schulbesuch versteht sich nicht mehr von allein, und dies umso weniger, je mehr nur die
Lektionenschule erfahren wird. Nur bestimmte Gruppen oder Lerntypen können sich darauf
noch ohne Unterstützung einstellen. Gleichzeitig wird Schulerfolg ohne Förderung zu einer
knappen Grösse, die Schule muss die Schüler für ihre Anliegen sensibel machen und sie auf
sich einstimmen, und das bei sehr heterogenen Schülerkulturen, die sich nicht von selbst
vertragen. Die moderne Schule muss Lern- und zugleich Erfahrungsraum sein, und sie muss
ebenso wohl Standards des Lernens abverlangen wie Vielfalt der Erfahrung bieten. Das ist ein
schmaler Grat, den zu halten, Aufwand verlangt. Wer also die Bildung auf das alte System
zurückbauen möchte, handelt sich Probleme ein, die eigentlich längst gelöst sind. Die heutige
Schule kann immer noch nicht genug, aber sie kann weit mehr als früher, und sie ist
entsprechend aufwändiger und teurer.
Dabei muss auch auf Abgrenzung Wert gelegt werden, Schulen müssen sich gerade als
offener und vielfältiger Erfahrungsraum für heutige Kinder und Jugendliche unterscheiden.
Die heutigen Probleme der Verschulung sollten offen und offensiv angegangen werden.
Schulen sind nicht das, was in Southpark davon ankommt, Unterricht ist kein Videogame,
und Pokémon ist in schulischer Hinsicht vermutlich nur sehr begrenzt ein Lerngewinn. In
einer Erfahrungswelt, die strenge Grenzen kaum noch kennt, muss das deutlich gesagt
werden. Schule ist eine Abgrenzung, sie ist kein Ort des Konsums, sondern der Bildung, und
das muss auch gegen Unlustgefühle deutlich werden. Es gehört zur Kommunikation der
Schülerrolle, dass Unterricht ernsthafte Einstellungen verlangt und dass Lernhaltungen nicht
vom Himmel fallen. Sie entstehen nicht nebenbei und auch nicht einfach durch ständige
Aufforderung, die eher die Lehrkräfte belastet als die Schüler motiviert.
Wenn heute so oft von „früher“ die Rede ist, dann sollte auch deutlich gesagt werden,
dass die Schule in ihrer Bedeutung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft stark
zugenommen hat. Es ist eben nicht mehr so wie „früher“. Wer keinen Schulabschluss hat, fällt
bei Beginn der beruflichen Karriere aus der Gesellschaft heraus, wer einen schlechten
Schulabschluss hat, verfügt über mindere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und wer den
falschen Abschluss hat, dem sind von vornherein die meisten Karrieren verschlossen.
Gleichzeitig werden in bestimmten Bereichen die Abschlüsse entwertet. Die Schule nimmt
daher auch in ihrer negativen Bedeutung zu, wie jeder sieht, der sich mit einem
Volksschulabschluss auf eine Lehrstelle bewirbt und als erstes einen Test machen muss.
Assessments entwerten den Abschluss und geben zugleich die Standards vor, auf die sich
Schulen einstellen müssen, wenn sie den Wettbewerb mit den Testbüros gewinnen wollen.
Gleichzeitig wachsen die Schwierigkeiten im System. Sie liegen nicht nur bei den
Übergängen von der Schule in den Beruf, sondern beziehen sich auf alle Schnittstellen, die
nicht wirklich konsekutiv gestaltet sind. Schülerkarrieren sind nicht auf den fortlaufenden
Aufbau der Kompetenz eingestellt, sondern auf Neuanfänge je nach Wechsel der Stufe oder
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der Lehrkraft. Was diese Doppelspurigkeiten kosten, ist nie berechnet worden, überhaupt ist
unklar, wie Verluste durch Schulbesuch sich in Gesamtrechnungen niederschlagen sollen, so
dass es dann auch nicht erstaunt, dass derartige Rechnungen nicht vorliegen.
Was die erwähnten sozialpädagogischen Dienste kosten, ist dagegen gut bekannt.
Wenn diese Dienste im Kanton Zürich trotz der hohen Kosten immer noch weitgehend
ausgelagert sind, dann weil sich damit massive Interessen der Anbieter verbinden. Es handelt
sich um jahrelange, immer wiederkehrende und nicht geprüfte Kurse ausserhalb von Schule
und Unterricht, die Einkommen sichern. Das Zürcher Projekt zur Reintegration der Sozialen
Dienste (RESA) hat in den letzten Jahren kaum Fortschritte gemacht, obwohl diese
Integration eigentlich vorrangig sein sollte. Integrative Systeme sind international
erfolgreicher als exklusive, die mehr kosten und weniger leisten, nämlich den Unterricht nicht
erreichen und sehr diffuse Effekte haben. Legastheniekurse verbessern nicht zwingend die
Leistung im Unterricht, weil sie darauf gar nicht bezogen sind. Ebenso wenig hilft ein
Verhaltenstraining, das schulisches Verhalten gar nicht zum Gegenstand hat. Hier ist also
Umsteuerung nötig, nicht Einsparung.
Probleme bestehen auch im Blick auf die Integration der verschiedensten Kulturen,
Gruppen und Interessen, die sämtlich den Schulalltag erreichen und doch in der Normalform
des Unterrichts gar nicht vorgesehen sind. Dabei spielen nicht nur Herkunft und Sprache eine
Rolle, sondern mindestens ebenso Zugehörigkeit und Desinteresse. Ein dauerhaftes Interesse
für Schule und Unterricht verlangt komplexe Stützsysteme, die vielfach nicht vorhanden sind,
weil die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Jugendkulturen Schulferne und
Desinteresse belohnt. Eigentlich setzt Unterricht Interesse voraus, nicht die mühsame Balance
von Desinteresse, während eine zentrale Integrationsleistung darin besteht, angesichts sehr
heterogener Voraussetzungen Interesse zu wecken und zu stabilisieren, ohne von allen
Schülern annähernd das Gleiche erwarten zu können.
In diesem Sinne ist Qualitätsanpassung fortlaufend notwendig. „Qualität“ ist keine
starre Grösse, die wächst oder schrumpft, Voraussetzung für die Bildung heutiger
Schülerinnen und Schüler - und das meint „Qualität“ vor allem - sind komplexe Prozesse des
Aushandelns und der Anpassung, die hohen zusätzlichen Aufwand verlangen und die keinen
Nürnberger Trichter zur Verfügung haben. Das verlangt auch neue institutionelle Lösungen,
nicht zur Massnahmen zur Qualitätsentwicklung. Die Schule als Gesamtanbieter
pädagogischer Leistungen, die zwischen verschiedenen Orten vernetzt sind, wäre das Modell
der Zukunft. Ein Schritt in diese Richtung sind die Bildungszentren des Kantons Zürich, die
Vernetzungen im Bereich der Sekundarstufe II entwickeln, also zwischen Gymnasien und
Berufsschulen, zwei Kulturen, die bislang eher wenig miteinander gemein haben wollten und
sich nunmehr beide bewegen müssen, um zu neuen Lösungen zu kommen (OELKERS 2001).
Die Grundidee, „Bildungszentren“ einzurichten und zu entwickeln, entspricht einer
internationalen Forderung, die auch die OECD vertritt, nämlich eine stärkere Verknüpfung
zwischen der allgemeinen und der berufsbezogenen Bildung. Diese Absicht bezieht sich auf
zwei Kulturen, die bislang kaum Gemeinsamkeit zeigen mussten oder wollten. Trotz dieser
Unterschiede gibt es gute Gründe für die Erprobung von Bildungszentren. Die Aufteilung
zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung ist nur im Sinne eines massvollen
Nacheinander mit neuen Mischungsverhältnissen aufrechtzuerhalten. Das inhaltliche Angebot
bis zum Abschluss der Sekundarstufe I lässt sich als qualifizierte Allgemeinbildung fassen,
die, wie gezeigt, vor allem der Entwicklung von Lernfähigkeit und Lernniveaus dienen muss.
Wie das anschliessende Angebot aussehen soll, ist nicht mehr lediglich eine Frage der
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überkommenen Schulformen, die nach „Bildung“ einerseits, „Arbeit“ andererseits
unterschieden worden sind.
Gegenüber „eingleisigen“ Schulen haben Bildungszentren - im Modell gedacht - vor
allem den Vorteil der profilierten Kooperation und intelligenten Durchlässigkeit. Dieser
Vorteil wird aber nur dann in nennenswertem Umfang genutzt, wenn die Organisation darauf
eingestellt ist, also Standards definiert sind und für Modularisierung gesorgt ist. Zudem
müssen Probleme vorhanden sein, die sich mit Formen der Kooperation besser lösen lassen
als mit individuellen Anstrengungen. Als Entwicklungsprojekt benötigen Bildungszentren,
weil sie eine parallele Schnittstelle bearbeiten, lokale Trägergruppen, die über einen hohen
inneren Konsens verfügen.
Die Bildungszentren sollten auch die Durchlässigkeit innerhalb der grossen Sektoren
der Berufsbildung erproben, sofern dies vor Ort möglich ist. Das Problem besteht nicht allein
zwischen der Gymnasial- und der Berufsbildung, sondern auch innerhalb der Berufsbildung,
die, anders als die Gymnasien, nicht nur unterschiedliche Profile kennt, sondern die in
verschiedene Sektoren und Kulturen unterteilt ist. Wenn in Zukunft flexible Wechsel der
beruflichen oder besser der Erwerbstätigkeiten zur Regel werden, kann die Berufsbildung
nicht einfach nach Sparten und Sektoren unterschieden werden, die wenig bis nichts
miteinander zu tun haben. Letztlich wird die Verzahnung mit dem Berufsfeld und dessen
Entwicklung ausschlaggebend sein. Das ist nicht billig und zugleich ein lohnendee Ziel.
Literatur:
EvaMAB: Wissenschaftliche Evaluation der Mitarbeiterbeurteilung für Lehrkräfte der
Zürcher Volksschule. Bericht im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. ETH
Zürich: Institut für Arbeitspsychologie. Ms. Zürich 2003.
FORNECK, H.J./SCHRIEVER, F.: Die individualisierte Profession. Belastungen im Lehrerberuf.
Bern 2001.
LARCHER KLEE, S.: Identitätsentwicklung von Lehrer/innen in ihrem ersten Berufsjahr.
Begleitung der Berufseinführung: qualitative und quantitative Längsschnittuntersuchung.
Diss. Phil. Universität Zürich, Pädagogisches Institut (Fachbereich pädagogische Psychologie
I) Ms. Zürich 2002.
OELKERS, J.: Was und wie sollen Jugendliche im Jahr 2006 auf der Sekundarstufe II lernen?
Expertise zuhanden des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes der Bildungsdirektion des
Kantons Zürich. Zürich 2001.
OELKERS, J.: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.
Weinheim/Basel/Berlin: Beltz 2003.
OSBORNE, D./PLASTRIK, P.: The Reinventor’s Handbook. Tools for Transforming Your
Government. San Francisco: Jossey Bass 2000.

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