Ansehen - Berliner Dom

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Ansehen - Berliner Dom
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Domprediger Michael Kösling
Pfingstsonntag, 19. Mai 2013, 18 Uhr
Predigt über 4. Mose 11, 11-12.14-17.24-25
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei
mit euch allen.
Haben Sie Charisma? Sind Sie begnadet? Haftet Ihnen etwas Besonderes an? Etwas, was Sie von anderen
unterscheidet? Was Sie besonders gut können? Und nur Sie? Seien Sie nicht so bescheiden! Sie strahlen
etwas Besonderes aus. Ich kann das bis hier oben spüren. Sie verfügen über so etwas wie Präsenz. Gibt
es Dinge, die Ihnen einfach so zufliegen, ohne dass sie etwas dafür können? Was steckt in Ihnen? Wofür
brennen Sie? Was ist Ihre Leidenschaft? Was treibt sie an? Wofür sitzen sie gerne bis tief in die Nacht
noch am Schreibtisch, verschicken E-Mails oder recherchieren für das nächste Projekt, studieren
Kennzahlen und ersinnen Strategien? Was verlangt Ihre Aufmerksamkeit und nur Ihre? Kein anderer
könnte das so gut wie Sie. Ihre Begeisterung kennt keine Grenzen. Es gibt ja solche Menschen. Die
gehen ganz in einer Sache auf. Haben sich ihr verschrieben mit Haut und Haaren. Dafür leben sie und
tragen Verantwortung. Für diese Menschen, die Macher, die alles gewuppt kriegen, für die Begnadeten
unter uns ist der Predigttext wie ein Spiegel. Und wenn Sie die Eingangsfrage nach Ihrem Charisma für
sich noch nicht abschließend beantworten konnten, hören Sie jetzt gut zu.
Predigttext 4. Mose 11, 11-12.14-17.24-25
Und Mose sprach zu dem HERRN: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor
deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst? Hab ich denn all das Volk empfangen oder
geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das
du ihren Vätern zugeschworen hast? Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.
Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe,
damit ich nicht mein Unglück sehen muss. Und der HERR sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den
Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die
Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist,
der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen
musst. Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des HERRN und versammelte siebzig Männer aus den
Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte. Da kam der HERR hernieder in der Wolke und redete
mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf
ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.
Gnade. Charisma, ist Anmut und Schönheit. Ist Geschenk und Gunst. Ist etwas, was über uns kommt.
Für das wir nichts können, außer dankbar zu sein. Gnade ist Begeisterung. Sie zielt darauf, sie
anzunehmen und etwas aus ihr zu machen, zu nutzen, was wir bekommen haben und was uns nun
gehört. Ins Werk zu setzen, was wir selbst sind. An dieser Gnade zweifelt Mose. Er ist sich nicht mehr
ganz so sicher. Natürlich ist er einer dieser besonderen Menschen. Seine Geschichte ist bekannt. Mose.
Der Prophet. Der sich wehrt gegen seine Berufung: Wer bin ich denn dass ich zum Pharao gehe. (Ex 3,
11) Der jemanden braucht, der für ihn spricht, Aaron seinen Bruder. Der dann merkt, dass etwas in ihm
steckt, der erfährt, dass er zu etwas in der Lage ist. Der sich Gott nähern darf, mit ihm spricht, ihn
versteht und überbringen kann, was Gott will. Mose, der Mittler zwischen Volk und Gott. Der das Volk
aus Gefangenschaft und Zwang hinausführt. Begabt, ein ganzes Volk zu führen. Was macht eine so
große Verantwortung mit einem? Wie verändert sich ein Charakter, wenn man erst einmal weiß, wie
gut man ist. Wenn man privilegiert ein Amt innehat, sein Charisma spürt und im Dunstkreis der Macht
Gottes leben darf. Bei ihm ja ein- und ausgehen kann. Dort steht, wo kein anderer stehen darf. Mose ist
am Ende. Er kann nicht mehr. Wir würden heute sagen: Er ist ausgebrannt, wünscht sich sogar den
Tod, der besser wäre als seine Situation jetzt, aus der er nicht heraus kann, die seine Kräfte übersteigt.
Er kann das alles nicht tragen. Nicht allein. Das Schicksal eines ganzen Volkes! Unter dieser Last, an
dieser Verantwortung droht Mose zu zerbrechen. Der charismatische und geistbegabte Führer, droht
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auszufallen. Indirekt kündigt er seinen Job. Ich stelle mir Mose in seiner Situation so vor, dass er an
seinem eigenen Leben nicht mehr beteiligt ist. Er hat sich in seiner Leidenschaft verloren, ist in der
Aufgabe und Verantwortung ganz aufgegangen, ist sich seiner Gnade nicht mehr sicher. Und wenn er
sich den Tod wünscht, nicht einmal mehr seines Lebenssinns.
Das kann jedem von uns ja auch ganz schnell passieren, dass wir an allem beteiligt sind nur nicht mehr
an uns selbst. Das kann im Job passieren oder in der Familie, in allen Lebensbezügen, in denen wir uns
aufopfern. Bei der Pflege der kranken Mutter oder dem Projekt des Jahres. Wenn wir den Erwartungen
zu genügen suchen, die andere an uns stellen. Dann werden wir zu den berühmten Helikoptermüttern,
oder den leistungsorientierten, erfolgreichen Karrieristen. Dann werden wir ganz wichtig und ganz
großartig. Die Fehlertoleranz geht gen null. Das geht eine Weile lang gut. Doch nicht auf ewig, nicht
immer und an jedem Ort. Wir suchen uns bald selbst. Auch das kann über uns kommen: Dunkle Wolken
der Niedergeschlagenheit, der Vergeblichkeit, der Ausweglosigkeit und der Zweifel am Sinn. Wir sind
Mose dann nicht ganz unähnlich. Und dann wird da eine Sehnsucht geboren, tief im Herzen, eine
Ahnung auf dem Grund unserer Seele nach Verwandlung, Transzendierung. Dass wir neu und anders
werden können. Dass wir nicht aus uns selbst und von unseren Aufgaben her leben, oder den
Erwartungen der anderen, sondern von der Gnade, die in uns liegt. Wir träumen den Traum von der
Übereinstimmung mit uns selbst, mit Gott und den anderen Menschen. Von dem, was wir einmal
geschenkt bekommen haben. Dass wir wieder leidenschaftlich, charismatisch, begeistert sind, dass in
uns wieder dieses Feuer brennt. Indem Mose darauf achtet und dieser Sehnsucht in seinem Hilferuf
Ausdruck verleiht, ist er ein wahrhaft frommer Mann. Vorbild für alle, die an den Fetisch der eigenen
Großartigkeit glauben, an ihre Unbegrenztheit und ewige Stärke. Mose achtet auf sich und seine
Gnadengaben, dass das Feuer in ihm nicht erlischt. Er gibt damit Gott die Ehre. Und er lebt damit aus
der Gnade, aus dem Geist. Aus dem Geist leben heißt sich seiner Gaben, seines Charismas bewusst zu
sein und sich gleichzeitig nicht zu überschätzen. Geistlich leben heißt, auf sich zu achten, damit man
die anderen nicht aus dem Blick verliert, noch Gott und sich selbst. In dieser Geschichte leuchtet das
wahre Charisma des Mose auf.
Gott sieht das genauso. Der Hilferuf des Mose bleibt nicht ungehört. Hilfe naht. In Form von siebzig in
Verzückung geratenen Helfern. Selbst geistbegabt. Während Mose also endlich kürzer tritt, treten die
anderen auf den Plan und hören gar nicht mehr auf. Erkennen Sie sich in einem oder einer der Siebzig?
Die große Zahl ist Indiz dafür, dass der Geist Gottes, seine ruach, das Leben selbst, auf alle übergehen
kann. Und da kommen wir zur Eingangsfrage zurück. Haben sie eigentlich so ein Charisma? Genauso
schwer, wie auf diese Gabe zu achten, damit sie nicht verloren geht, ist ja, sich dieser erst bewusst zu
werden. So ganz offen liegen die Dinge nicht da. Du sag mal, habe ich eigentlich Charisma? diese Frage
stellt man ja nicht so einfach und wenn, dann ja auch nicht jedem, eigentlich kann man sie so recht
niemandem stellen, ohne dass sie irgendwie blöd klingt. Auch die Selbstschau vor dem Spiegel bringt
wenig Erkenntnis zu Tage: Schaut mich da etwa jemand Charismatisches an? Sieht so ein begnadeter
Tänzer aus, oder ein begeisterter Musiker, ein leidenschaftlicher Liebhaber? Wird es still, wenn dieser
Mann den Raum betritt?
Wie können wir uns also so sicher sein, dass überhaupt irgendeine Gnadengabe in uns liegt, aus der wir
geistbegabt und leidenschaftlich leben können. Gottes Geist berührt unser Herz in intimer
Verborgenheit. Öffentliche Pfingstwunder sind eher selten und kein alleiniger Beweis einer wie auch
immer gearteten Geistbegabung. Sie ereignet sich vielmehr mitten im Leben. Manchmal unter dem
Druck von Entscheidungen, ein anderes Mal nach langem Suchen. Auf jeden Fall da, wo sich das Leben
zur Freiheit hin öffnet. Wo ein Ermöglichungsraum aufgespannt wird, ein inspirierter Raum in dem wir
sein können, wie wir uns in unseren besten Momenten ahnen. Wo wir uns geistlich begegnen, ohne die
Ausübung von Herrschaft übereinander, wo niemand den anderen manipulieren möchte, wo wir uns
selbst gemäß sein können. Wo der Maßstab unseres Handelns die göttliche Liebe selbst ist. Und das
wäre die Bezugsgröße, der Maßstab für unsere Kirche. Wenn in ihr niemand Herrschaft über den
anderen ausübt, wenn Hilferufe gehört werden und Hilfe gewährt wird, würde der Geist in der Kirche
wirken durch uns Geistbegabte. Dann werden die Welt, die Menschen zum Spiegel unseres Charismas.
Dann strahlt auf uns zurück, was tief in uns lodert und leuchtet: Das Pfingstfeuer der göttlichen Liebe.
In diesen seltenen biografischen Sequenzen, wo uns das gelingt, in diesen Momenten leben wir aus der
Gnade und sind uns ihrer ganz sicher. Beschenkt. Dann sind wir anmutig schön, verwandelt und wie
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neu geboren. Dann erfüllt sich, was uns versprochen wurde, als wir aus Taufe gehoben wurden: eine
neue Kreatur ist geboren.
Die Frage nach Ihrem Charisma, Ihrer Geistbegebung ist also beantwortet in den Augenblicken in denen
ein Stück vom Reich Gottes aufscheint. Ist also nicht beantwortet darin, dass Sie eine leidenschaftliche
Tänzerin sind, sondern darin, dass sie anderen, Niedergeschlagenen und Mutlosen das Tanzen lehren.
Nicht der Ausweis, dass Sie ein begnadeter Redner sind, sondern dass Sie anderen, den Stummen und
Unterdrückten, denen, die nach Worten ringen, eine Stimme verleihen. Sie haben Charisma nicht in
Ihrer eigenen Präsenz, sondern darin, anderen, den Übersehenen, den Verdrängten Präsenz zu
verschaffen. Haben Sie Charisma? Sie können sich sicher sein.
Amen.
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