Weser Kurier, 18.1.2016

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Weser Kurier, 18.1.2016
24
Sport
MONTAG
18. JANUAR 2016
52. BREM ER S IXDAYS: VIER TEAMS S TREITEN AN DEN LETZTEN ZWEI TAGEN DES RENNENS UM DEN GESAMTSIEG
LOGENSCHNACK
Winken
und Knuddeln
Sie fühlen sich wie Brüder: Fab Morvan (links) und John Davis.
Speedy darf eigentlich nicht reden. Dafür
hat der Tiger seine beste Freunde Inga. Sie
kann die Zeichensprache, das Nicken und
Kopfschütteln des Maskottchen der Bremer
Sixdays deuten. „Speedy hat viel Spaß, weil
so viele Leute hier sind“, sagt sie. Besonders
über Kinder freue sich Speedy, manche
seien ganz schüchtern und gäben ihm nur
die Hand, manche rennen gleich auf den dicken Bauch zu und umarmten den Tiger. Da
nickt auch Speedy zustimmend – und geht in
die Pause.
Während Speedy ohne sein schweres Kostüm pausiert, ist der Grünen-Abgeordnete
Ralph Saxe auf dem Sprung zur Landesmitgliederversammlung seiner Partei. Dort wird
er später am Sonntag zusammen mit KaiLena Wargalla als neues Führungsduo in
den Landesvorstand gewählt. Trotzdem:
Einen Besuch bei den Sixdays lässt sich der
Radsport-Fan Saxe nicht nehmen. „Ich bin
eigentlich immer sonntags hier“, sagt er. Das
Fahrrad ist für Saxe das liebste Fortbewegungsmittel. „Klapprad, Rennrad, Straßenrad. Ich habe eigentlich alles Zuhause“, sagt
er. Ob er sich auch auf das Mini-Oval in der
ÖVB-Arena traut? „Meine Kinder wollten
eigentlich, aber vor ihnen ist jemand gestürzt. Da hatte sich das erledigt.“
Braun gebrannt sitzen Wilfried Hautop,
Vorstand Stiftung Martinshof, und seine
Frau an einem der Logentische. Sie sind
frisch aus dem Thailandurlaub im kalten Bremen gelandet. Die beiden lieben die Atmosphäre beim Sechstagerennen. Es sei die perfekte Mischung aus Sport und Fest. Hautop
unternimmt mit seiner Frau gerne Radtouren. „Altersbedingt mittlerweile mit dem
E-Bike“, sagt er. 100 Kilometer könne man
mit dem Zweirad fahren, bevor es wieder an
die Steckdose muss. Für Hautop zählt bei seinem E-Bike nicht nur die Entlastung: „Ich
bin auch viel schneller wieder zu Hause,
ELS·HEK
wenn ich mal ungeduldig werde.“
FOTO: ROLAND SCHEITZ
Gesicht und Stimme
von Milli Vanilli
W
V ON A N D R EA S L ES C H
ie oft er schon gefragt worden ist, ob
er jetzt wirklich singt? „Sie kennen
doch sicher den Ausdruck: Wenn
ich jedes Mal zehn Cent bekäme, sobald
mir einer diese Frage stellt, dann wäre ich
reich“, sagt Fab Morvan. Nein, eigentlich
sagt er das letzte Wort seiner Antwort
nicht, er singt es – mit einer wunderbar weichen, souligen Stimme. Morvan tritt an diesem Sonntagnachmittag bei den Sixdays in
der ÖVB-Arena auf, mit seinem Partner
John Davis. Die beiden beginnen gerade
eine neue Karriere, aber noch kommen sie
von der Vergangenheit nicht los.
Morvan war ein Teil des Popduos Milli
Vanilli, das in den späten 80er-Jahren
große Erfolge feierte und dann durch einen
Skandal zerbrach – als herauskam, dass
Morvan und sein Mitstreiter Rob Pilatus keines ihrer Lieder selbst gesungen hatten.
Sie hatten nur getanzt und die Lippen zum
Playback bewegt. Pilatus starb kurz danach an einer Überdosis Alkohol und Drogen. Davis war auch ein Teil von Milli Vanilli, aber kein sichtbarer. Er war eine der
echten Stimmen der Band.
Vor zwei Jahren haben Morvan und Davis sich in Los Angeles wiedergetroffen, zufällig, nach Jahren ohne Kontakt, und bald
danach haben sie beschlossen, es noch mal
miteinander zu versuchen – diesmal ohne
Tricks. Das Wiedersehen sei absolut prickelnd gewesen, erzählt Morvan: „Wir haben sofort gespürt, wie sehr wir einander
ähneln. Wir sind wie Brüder. Wir sind füreinander bestimmt.“ Davis berichtet: „Das
war echte Magie.“ Er glaubt: „Gott hat uns
zusammengebracht.“ Wer erlebt, wie die
beiden Sänger beim Interview im Hotel harmonieren und später beim Auftritt auf der
Bühne, der ahnt: Da ist was dran. Da haben
sich zwei gefunden, die sich jahrelang
nicht mal gesucht hatten. „Face meets
Voice“ nennen sie sich, und das trifft es:
Morvan war ja das Milli-Vanilli-Gesicht,
Davis die Milli-Vanilli-Stimme.
In Bremen singen sie die Hits von damals, „Baby Don’t Forget My Number“,
„Girl I’m Gonna Miss You“, „Girl You
Know It’s True“. Aber sie arbeiten auch an
neuen Liedern. An Liedern, die nichts mit
der Vergangenheit zu tun haben. Davis
sagt: „Die Medien versuchen ständig, in
der Vergangenheit etwas Neues zu entdecken. Aber es ist doch immer dieselbe Geschichte. Ja, wir haben getan, was wir getan haben. Wir waren jung damals, wir waren naiv, und jeder wollte das große Geld
machen und ein schönes Leben haben.“
Nun, da sie wieder vereint sind, nur anders als damals, wollen Morvan und Davis
der Welt beweisen, dass sie zusammen so
viel mehr sein können als zwei Figuren
eines Skandals. Morvan hat nach der MilliVanilli-Zeit als Produzent und DJ gearbeitet, Davis ist ein höchst erfolgreicher Sänger, Bassist und Komponist. „Zusammen
wollen wir den Menschen durch unsere
Musik ein Lächeln ins Gesicht zaubern“,
sagt Morvan. „Wir wollen der Soundtrack
ihres Lebens werden.“ Aber wie gut singt
er denn jetzt wirklich, der Mann, der früher
nur so getan hat, als ob? „Er singt großartig“, sagt Davis. „Als ich das erste Mal
mit ihm im Studio war, habe ich gesagt:
Wow! Es hat mich umgehauen.“
Ein ganz
normaler Tatort
Alle sind müde. Auch Christian Grasmann.
Trotz eines Sturzes fährt er – und kämpft mit
Kenny De Ketele weiter um den Gesamtsieg.
Die größten Konkurrenten: Mørkøv/Kneisky.
Zur Entspannung schaut er am Sonntagabend
Krimis. Die Schweiger-Tatorte mag er nicht, sondern die, „die ganz normal sind: Irgendwer wird
ermordet, dann suchen sie den Mörder, man
überlegt hin und her, dann wird er gefasst.“ ELS
Wie der Tag für Grasmann weiterging, lesen Sie
online in unserer Serie „Ein Fahrer – Sechs
Tage“ unter www.weser-kurier.de/sixdays
Gern geknuddelt:
Das Sixdays-Maskottchen Speedy.
FOTO: ROLAND SCHEITZ
Stand nach dem 4. Tag
Sie harmonieren prächtig miteinander: der Belgier Kenny De Ketele (rechts) und Christian Grasmann, der bei seinen 60. Sixdays am Ende erstmals ganz oben auf dem Siegertreppchen stehen könnte.
O
V ON JÖ R G N I E M E Y E R
b sich erst der Reifen von der
Felge gelöst hat und dann geplatzt ist oder ob er erst geplatzt ist und dann von der
Felge sprang, weiß Christian
Grasmann nicht. „Ich habe
nicht mal realisiert, dass ich gestürzt bin“, sagt der 34-Jährige.
Nach einem Knall hatte er sich
in der Nacht zuvor während der
Großen Jagd an der Bande wiedergefunden – das Rennrad zwischen den Beinen. Da war der
Sonntag gerade eine halbe Stunde alt. Und es war ungewiss, ob
der Traum von Christian Grasmann vom ersten Sixdays-Sieg
seiner Karriere soeben mit dem
Reifen geplatzt war.
Vor einem Jahr war Grasmann auch auf der Bremer Bahn
gestürzt – viel schwerer sogar.
Er spuckte Blut, musste ins Krankenhaus. Der Sturz jetzt verlief zum Glück
glimpflich. Die Innenseiten der Beine
schmerzen am Sonntagnachmittag zwar
noch, aber ansonsten ist der Münchener unversehrt. Der Traum vom Gesamterfolg, gemeinsam mit dem Belgier Kenny De Ketele,
ist noch nicht vorbei. Am Ende des Sonntags,
nach super anstrengendem Sonnabend und
FOTO: FRANK KOCH
Grasmanns Traum
wenig Schlaf vor dem Frühschoppen der Sixdays, sind Grasmann und De Ketele Zweite.
Ausgestattet mit besten Chancen auf Platz
eins am Dienstag – und mit viel Lob von der
Konkurrenz. „Die fahren sehr gut“, sagt der
Däne Jesper Mørkøv, der mit seinem französischen Partner, dem Weltmeister Morgan
Kneisky, als Führender in die Montagnacht
geht. „Grasi hat es endlich
mal verdient“, sagt Vorjahressieger Marcel Kalz, der mit
dem Dänen Alex Rasmussen
aktuell auf Rang drei steht.
Trotz schlimmer Probleme
des Berliners mit seinem
wund gescheuerten Gesäß.
Auch Erik Weispfennig traut
Grasmann und De Ketele den
Sieg zu. „Der Vorteil liegt bei
ihnen“, sagt der Sportliche
Leiter, „sie haben eine
Runde Vorsprung und fahren
ganz, ganz stark.“
Den
Rundenvorsprung
machten Mørkøv und Kneisky am Sonntag noch wett,
weil sie für das Überschreiten der 200Punkte-Marke in der Gesamtwertung eine
Bonusrunde erhielten. Gut möglich, dass die
Anzahl der Bonusrunden am Schlusstag sogar entscheidend sein wird. Grasmann/De
Ketele werden die 200er-Grenze noch überschreiten, die 300er-Grenze aber nicht.
Scheitern auch Mørkøv/Kneisky und Ras-
mussen/Kalz an 300, spricht vieles für Grasmann/De Ketele.
Grasmann scheint sich mit diesen Rechenspielchen nicht zu beschäftigen. „Ich denke,
ehrlich gesagt, auch nicht an den Gesamtsieg.“ Und er sagt, dass er nach seinem Sturz
am frühen Sonnabend auch nicht an 2015
denke, als er sich anschließend durch die weiteren Tage des Rennens quälte. Grasmann
2016: Das ist ein extrem entspannter Radprofi, der den Rest seiner Karriere einfach
nur noch genießen will. „Zwei Jahre möchte
ich noch wie ein Sportler und nicht wie ein
Hobbyfahrer leben“, sagt er. Deshalb hat er
sich als Manager des internationalen Teams
Maloja Pushbikers, dem zum Beispiel auch
die Sixdays-Kollegen Kalz, Heßlich, Burkart
oder Lampater angehören, Entlastung verschafft. Mehr Unterstützer bedeuten mehr
Zeit für die eigene Laufbahn als Aktiver.
Grasmanns Gleichung geht offenbar auf.
Sein Kopf, sagt er, sei frei fürs Radfahren.
„Ich nehme mir jetzt die Zeit, zu schlafen,
wenn ich schlafen will – und die Zeit, mich
voll aufs Radfahren zu konzentrieren.“ Mit
Kenny De Ketele hat er nun auch noch einen
Partner bekommen, mit dem er gewinnen
kann. „Kenny ist so etwas wie der Traumpartner für mich“, sagt Grasmann. „Wir haben
beide zusammen mehr als 600 Renntage bei
Sechstagerennen auf dem Buckel, entsprechend locker fahren wir.“ Grasmann freut
sich über das perfekte Zusammenspiel mit
dem Belgier auf der Bahn. Und genau so
wichtig für ihn: „Wir haben Spaß miteinander.“ Spaß, der dem Team mit der Nummer 2
auf dem blauen Trikot anzumerken ist. Es attackiert
zwar
nicht
so
viel
wie
Mørkøv/Kneisky oder das spanisch-niederländische Duo Sebastian Mora/Yoeri Havik.
Aber das müssen Grasmann/De Ketele auch
nicht. Sie profitieren von der Erfahrung ihrer
insgesamt 113 Sixdays – und gelegentlich
auch von der Unterstützung ihrer Gegner.
Weil Grasmann und Kalz nicht nur Kontrahenten, sondern auch Kumpels sind, attackieren ihre Teams das Feld während der Sixdays-Jagden oft gemeinsam. Diese Taktik
spart im gegenseitigen Windschatten Kräfte,
die die häufig allein attackierenden Mørkøv/
Kneisky zusätzlich aufbringen müssen. Doch
Mørkøv hat mit derartigen Allianzen kein
Problem. „Wir sind noch jung und mögen es,
Druck zu machen“, sagt der 27-Jährige und
lacht herzlich. Mit 28 ist Marcel Kalz nur unwesentlich älter.
Mørkøv, im Vorjahr mit Kneisky Zweiter,
reicht die Favoritenrolle an Grasmann und
Kalz weiter. „2015 hatte uns in Bremen keiner auf der Rechnung, da waren wir die Überraschung“, sagt der Däne, „aber jetzt guckt
jeder auf uns.“ Erik Weispfennig sieht das
ein bisschen anders. Der Sportliche Leiter erwartet einen Vierkampf – vielleicht mit den
schlechtesten Voraussetzungen für Kalz/Rasmussen, weil der Berliner so angeschlagen
ist. „Meine Sitzprobleme werden nicht kleiner“, sagt Kalz, „viele Fahrer haben mir gesagt, dass sie schon ausgestiegen wären.“ Er
gucke nicht mehr auf Platz eins, sondern
Programm Montag
Abendprogramm
18.55 Uhr: UIV-Cup (U23) 3. Etappe
20.00 Uhr: Vorstellung der Sixdays-Fahrer
20.15 Uhr: Ausscheidungsfahren
20.30 Uhr: Kleine Jagd
21.05 Uhr: Sprinter Rundenrekord
21.20 Uhr: Siegerehrung UIV-Cup (U23)
21.30 Uhr: Dein Rennen (Männer/Frauen)
21.50 Uhr: Derny 1. Vorlauf
22.05 Uhr: Sprinter 1. Rennen
22.10 Uhr: Derny 2. Vorlauf
22.25 Uhr: Sprinter 2. Rennen
22.30 Uhr:
22.50 Uhr:
22.55 Uhr:
23.50 Uhr:
0.20 Uhr:
0.30 Uhr:
0.35 Uhr:
0.40 Uhr:
1.05 Uhr:
Mannschaftsausscheidung
Sprinter Keirin
Große Jagd
Show: Beat Club-Show
La-Ola-Sprint
Sprinter Team-Sprint
Sprinter Tagessiegerehrung
500-Meter-Zeitfahren
Australisches
Ausscheidungsfahren
1.10 Uhr: Keirin
1.15 Uhr: Tagessiegerehrung
wolle vor allem dem Bremer Publikum etwas
zurückgeben, „das mich immer so großartig
unterstützt hat“.
Stapelt der Titelverteidiger etwa tief? Die
gesundheitlichen Probleme belasten ihn natürlich. Weil er nicht richtig sitzen könne, verspanne sein Rücken, sagt er. Das leuchtet
ein. Aber so wie Rasmussen und Kalz am
Sonntag die Große Jagd dominierten, sind
sie keinesfalls abzuschreiben. „Ja, wir wollten dieses Zeichen setzen“, sagt Kalz. Aber
er sagt auch, dass er die Schmerzen nur in
den Jagden mit Medikamenten bekämpfe.
„Ich kann ja nicht die ganze Zeit mit einem
betäubten Hintern rumrennen. Durch die anderen Wettbewerbe quäle ich mich durch.“
Quälen ist das Stichwort, unter dem am
vierten Tag die meisten Fahrer litten. Der
Sonnabend mit dem Kidsday-Nachmittag
und der Nacht bis halb drei war lang, der
Schlaf vor dem Sonntag-Frühschoppen entsprechend kurz. Verständlich, dass die Jagden nicht ganz so spektakulär verliefen wie
an den Tagen zuvor – als beispielsweise
auch Yoeri Havik nach einem Sturz mit Sebastian Mora noch triumphiert hatte.
„In solchen Momenten steckt der Körper
voller Adrenalin“, sagt Grasmann. Deswegen habe er seinen Sturz so weggesteckt.
„Der Schmerz ist elementarer Bestandteil
des Radsports“, sagt Grasmann auch. Eine
Erfahrung, die er zur Genüge gemacht hat.
Vielleicht wird er als Ausgleich dafür Dienstag mit seinem ersten Sixdays-Sieg belohnt.
Fahrer
1. Mørkøv/Kneisky
2. Grasmann/De Ketele
3. Rasmussen/Kalz
4. Mora/Havik
5. Stroetinga/Müller
6. Pirius/Graf
7. Heßlich/Muntaner
8. Burkart/van Zijl
9. Wotschke/Freuler
10. De Pauw/Liß
11. Blaha/Kraus
12. Barth/Kankovsky
Eine Randsportart
im Fokus: Scannen
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Multimedia-Reportage zu den Sixdays.
Runden
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