Zurück in der Vergangenheit. Das Design von Produkten ändert sich

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Zurück in der Vergangenheit. Das Design von Produkten ändert sich
Zurück in der Vergangenheit.
Das Design von Produkten ändert sich kontinuierlich. Teilweise schon nach einigen Monaten oder
Jahren wirken manche Formen unmodern, verlieren ihren ästhetischen Wert und werden im Keller
abgestellt oder entsorgt. Die Möbel, das Handy, das Auto werden einfach alt. Man will nicht mehr
ein Handy oder ein Auto haben, das dem aktuellen Stand der Technik nicht mehr entsprechen. So
werden auch Möbel aussortiert, die altmodisch wirken, und unabhängig davon, ob diese kaputt sind
oder nicht. Auch wenn das Handy noch perfekt funktioniert, trennt sich sein Besitzer von ihm
zugunsten eines neuen Models.
Aber nach einigen Jahren gewinnen plötzlich manche veraltete Produkte wieder an Wert. Die
Exemplare, die von der Mülltonne verschont wurden und einige Jahre im Keller oder im Haushalt
eines älteren Opas überlebt haben, sind plötzlich gesucht und werden für viel Geld gehandelt.
Deren Design wird von einigen Menschen besonders geliebt.
Ich versuche mich damit auseinanderzusetzen warum das veraltete Design wieder sein Wert gewinnt
und eine eigene Ebene in der modernen Welt des Designs besitzt.
Wenn man über veraltete Produkte spricht, die wieder hochgeschätzt werden, muss man zwei
Gruppen unterschieden. Zur Gruppe Vintage gehören Produkte, die älter als 20 Jahre sind. Wenn ein
Produkt über 50 Jahre alt ist, bekommt es einen historischen Status. Man spricht über Retro, wenn
ein Produkt die Form von früher hat, aber in unsere Zeit hergestellt ist. Ich werde die Gruppe Vintage
und Retro unter die Lupe nehmen.
Wir leben in der Welt der Digitalisierung. Noch nie in der Geschichte hat der technische Stand sich so
progressiv entwickelt. Neue Materialien, neue Möglichkeiten die Technik kompakt zu gestalten,
neue Technologien um komplexe Formen herzustellen haben dem Gestalter neue Horizonte eröffnet.
Früher hat man die Karosserie eines Autos auf dem Zeichenbrett entworfen. Das hat ihr Design auf
einfache geometrische Formen beschränkt. Heutzutage hat der Einsatz von CAD-Programmen es
ermöglicht, ganz komplexe geschwungene Formen zu entwickeln, die auf dem Zeichenbrett schwer
vorstellbar sind.
Das ist das Beispiel, wo man den technischen Vorschritt und ihm folgendes Design positiv betrachten
kann. Dieses mächtige Werkzeug zeigt aber auch die andere Seite der Medaille. Design entwickelte
sich bis zu dem Stand, der nah an der gefährlichen Grenze ist, an der Menschen Emotionen aufgrund
der Interaktion mit dem Produkt verlieren. Genau das ist der Grund, warum sich viele den alten
Produkten wieder zugewendet haben. Man will nicht ein kahles Touchscreen berühren, um etwas
einzuschalten, sondern kräftig an einem Hebel drücken, der das dann auch noch mit einem leichten
Quietschen begleitet. Man will kein stilles E-Auto fahren, sondern das Brummeln und Vibrieren des
laufenden Motors spüren gepaart mit dem Duft der Abgase. Es geht um die Emotionen, die
Menschen spüren, wenn sie mit dem Produkt interagieren. Genau das bieten die älteren Produkte
mit dem entsprechenden Design. Der Nutzer fühlt sich durch die Berührung, Geräusche und Gerüche
angesprochen. Die Rückkopplung solcher Produkte ist ein fruchtbarer Boden, die vielseitigen
Emotionen zu erleben. Genau das fehlt den modernen Produkten, die meistens nur auf die optische
und auditive Erfahrung durch den Nutzer reduziert sind.
Besonders bemerkbar ist der Trend verschiedene Geräte durch Smartphone zu steuern. Dies erklärt
sich dadurch, dass man dem Nutzer den Komfort geben möchte die Geräte mit dem minimalsten
Aufwand zu bedienen, teilweise ohne aufzustehen. Was für sich genommen nicht schlecht ist.
Menschen, die in einer so komfortablen Welt wohnen, in der die Bedienung von Geräten ohne
Anstrengung möglich ist, suchen manchmal eine handfeste Herausforderung. Es gibt Menschen, die
bereit sind einen Teil dieses Komforts abzugeben, um mehr Emotionen zu erleben. So, zum Beispiel
einen echten glänzenden Messingwasserhahn drehen und dabei das Lichtspiel auf den gelben Metall
beobachten, als einfach die Hände unter einem sensorgesteuerten Wasserhahn zu waschen.
Ein anderes Beispiel kommt aus der Autoindustrie. Warum stehen in Deutschland OffroadEnthusiasten-Schlange um einen Lada Niva zu kaufen? Diese russische Offroad-Ikone wurde vor 40
Jahre entwickelt, um durch die russische Taiga zu pflügen. Er erfüllt nur schwer die europäischen
Umweltnormen, hat keine Airbags, stinkt neu bestialisch nach Plastik und spätestens nach drei
hundert Kilometern ist die eigene Wirbelsäule auf die Hälfte geschrumpft. Viele deutsche Lada Niva
Fans sind der Meinung, dass „das Design einfach geil ist, seine Offroad-Eigenschaften nur durch den
Mut des Fahrers begrenzt sind und man ihn auch mit dem Hammer in tiefsten Afrika reparieren
kann“. In Russland schüttelt man über diese Begeisterung nur mitleidvoll den Kopf. Noch erstaunter
ist man in Russland über die japanische Begeisterung an einem ebenso knorrigen und ebenso
unbequemen Dinosaurier aus russischer Produktion. Der UAZ „Brotkasten“, den ich als Allradversion
einer alten VW-Busses beschreiben würde, wird seit 50 Jahren nahezu unverändert hergestellt und
lässt sich dennoch im Hi-Tech-Land Japan unproblematisch verkaufen. Warum ziehen diese beiden in
den 60er und 70er Jahre entwickelten Autos, die sich nahtlos in die Reihe Land Rover Defender, Jeep
Wrangler und Mercedes G einfügen, so viel Aufmerksamkeit auf sich?
Low-Tech ist in der Lage Emotionen zu wecken. Aber woran liegt das?
Erstens, durch die einfache Konstruktion, das Fehlen von elektronischen Hilfelein glaubt sich der
Autobesitzer in der Lage das Auto selbst zu reparieren und regelmäßige Servicearbeiten selbst
durchführen zu können. Dies ist das, was dem Besitzer das Gefühl gibt, stolz auf sich zu sein. Die
modernen Autos sind nur im Service zu reparieren und erlauben nicht sich als Held der Reparatur zu
fühlen. Wie gesagt, man kann die Ölwechsel selber machen, man muss nicht.
Zweitens, das Fehlen des technischen Fortschritts verleiht dem Produkt Authentizität. Der Nutzer
muss aber auch in der Bedienung Nachteile hinnehmen.
Produkte, für die man auch den Begriff „oldstyle“ verwendet, werden für ihre Seltenheit geschätzt,
weil sie nicht mehr produziert werden. Genauso wie Produkte, die von ihren Herstellern unter
Missachtung modischer Trends seit Jahrzehnten unverändert produziert werden. Sie verkörpern
Individualität.
Aber was passiert, wenn irgendein Hersteller ein seit Jahrzeiten bewehrtes Produkt nachahmt?
Etwas, was genau so wie früher aussieht, das Design von früher aber mit moderner Technologie
versehen ist?
Wenn ein Porsche seine alte Form behält, aber nicht mehr sein Motor klassisch mit Luft gekühlt,
sondern mit Wasser, so stieg dennoch der Wert der Luftgekühlten schnell um mehrere Zehntausend
Euro. Dieser Schritt musste aber sein, um die strengen Abgaswerte zu erfüllen. Doch andererseits
gibt es Menschen, die keinen großen Wert auf alte Technik legen, sondern modernen bevorzugen,
denen aber die alten Formen sehr wichtig sind. Dies sind die Käufer des von BMW hergestellten
neuen Mini Cooper und des neuen VW Beatle, die die Formensprache ihrer Großväter
wiederaufnehmen und als Retroprodukte erfolgreich vermarktet werden. Das Retroprodukt
emanzipiert sich von seiner Entwicklungsgeschichte.
Auf den anderen Seite gibt es Menschen, denen die Form völlig unwichtig ist, deren Interesse es ist,
zum Bespiel, die IT-Technologie in ihren Anfängen nachzuvollziehen. So ist der sehr bekannte
Minicomputer Raspberry Pi entstanden. Das Gerät ist nichts anderes, als ein ganz kleiner Computer
mit minimalem Speicher. Er lässt sich durch weitere Module erweitern. Man kann ihn mit allen
möglichen anderen Geräten als Steuereinheit verbinden. Hier hat der Nutzer die Freiheit selbst die
Hardware zu bestimmen und kann die Steuerung frei programmieren. Genau so wie früher konnten
die Menschen ihre Computer upgraden, indem sie zusätzliche Modulen in den Systemblock ihres
Computers eingesetzt haben. Das Gerät hat einen sehr großen Erfolg auf dem Markt. Sein modernes
Gegenteil wäre der Laptop, dessen Leistungsfähigkeit dem Raspberry Pi um Welten übertrifft, der
sich aber nur im Service reparieren lässt und bei dem ein Hardware Upgrade meistens nicht möglich
ist. Für eine größere Leistung muss man einen anderen Laptop kaufen. Den Käufer eines Raspberry Pi
ist die einfache, aber bewerte Technik wichtiger als die Form. Der Käufer gehört zu Kategorie
„Oldschool“, wo wir wieder bei Lada Niva angekommen wären.
Die Hersteller konnten Erfolgsgeschichten für ihre Produkte verzeichnen, indem sie bewusst in der
Entwicklungsgeschichte einen Schritt zurück gemacht haben, um den Menschen etwas
wiederzuholen, was ihnen lieb und teuer ist. Bei Retroprodukten funktionier dies auf der
psychologischen Ebene sehr gut. Ein Grund dafür ist die emotionale Rückkopplung, die wir schon
betrachtet haben, aber auf der anderen Seite wird die Gesellschaft in Europa älter. Die Nachahmung
alter Produkte bringt seinem Nutzer die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend zurück. Solche
Produkte berühren unbewusst die tiefe psychologische Ebene. Der alternde Nutzer möchte aber
andererseits den modernen Komfort der heutigen Technik nicht vermissen. Das ist der Macht der
Retroprodukte.
Aber worin liegt die Faszination von Produkten, die 50 Jahre oder weitaus alter sind? Teilweise leben
nur noch wenige Menschen, die diese Produkte alltäglich verwenden mussten, wie, zum Beispiel die
Petroleumlampe. Oftmals hat eine bestimmte Geschichtsperiode eine faszinierende Anziehungskraft
für die, die später geboren sind. So findet man zahlreiche Beispiele in historischen Rollenspielen, bei
denen sich die Teilnehmer, zum Beispiel in Ritterkleidung des Mittelalters zeigen, um die Zeitgeist
dieser Periode nachzuerleben. Dabei wird auf jedes kleinste Detail Wert gelegt. Welches Design
hatten die verwendeten Utensilien, wie man sich früher ausgedrückt hat und welchen kulturellen
und politischen Stellenwert diese Zeitperiode hatte. So ist es möglich Verhaltensmuster und Werte zu
erfahren, die in der modernen Welt zu selten sind. Das Design ermöglicht es, Teile der alten Zeit in
die Moderne zu übernehmen.
Darüber hinaus ist es so auch möglich nicht nur Werte aus früheren Zeitperioden, sondern auch aus
anderen Kulturen zu übernehmen. Zum Beispiel der romantisierte amerikanische Cowboy. Seine
stark ausgeprägte Männlichkeit, der Stil seiner Kleidung mit Stiefel und Hut, seinen Mustang, der
später als Automobileikone wiedergeboren wurde und heute reizenden Absatz in Europa findet und
so das Lebensgefühl von Amerika in die Welt exportiert.
Psychologische Gründe können die Emotionen bei der Interaktion mit alten Produkten oder seinen
Nachahmungen verstärken.
Für uns als Industriedesigner können diese Erkenntnisse gute Dienste leisten. Wir müssen eine
Balance finden zwischen dem, was uns die neue Technologien bieten, um ein Produkt zu gestalten
und dem, was der Nutzer erleben möchte. Der aktuelle technische Stand beherrscht nicht zwingend
das Design. Produktdesigner muss ein feines Gefühl entwickeln und spüren wie viel Modernes wäre
dem Nutzer an die Hand geben möchte, ohne ihm sämtliches Vertrautes zu nehmen. Nicht alle
Produkte müssen möglichst komfortabel sein. Und nicht alle Produkte müssen nach alten Prinzipien
funktionieren, um Emotionen zu wecken.
Schafft der Produktdesigner diese Gradwanderung, ist dies eine gute Voraussetzung, dass die Gestalt
seines Produktes einem breiten Spektrum von Menschen gefallen wird.
SS 2016
Grigoreva Anastasia