anzüge Machen MänneR

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anzüge Machen MänneR
Genüsslichesmassanzüge
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Anzüge machen Männer
Der Anzug ist der treue Begleiter des
Mannes. Ob Financier, Türsteher oder Bestatter – ein Herrenanzug lässt sie Kompetenz und Zuverlässigkeit ausstrahlen.
Was die Engländer früh kultivierten, hat
modisch nicht an Relevanz verloren. Der
Trend nach Massanzügen bestätigt dies.
S
chon Gottfried Keller wusste: Kleider
machen Leute. Träger von gepflegten Herrenanzügen wirken kompetent, seriös und vertrauenswürdig. Aus
der Geschäftswelt ist die Kombination
von Sakko­ und Hose­ nicht mehr wegzudenken. Und selbst an so manchem
Freizeitanlass­ wird das Tragen­ des stilvollen Klassikers vorausgesetzt. Je nach
modischer Gesinnung und Budget
zieren­ Markennamen wie Hugo Boss,
Armani oder Zara die Etikette auf dem
Innenfutter. Es sei denn, der Anzug ist
massgeschneidert.
schinen über die ersten Serienanzüge. Bis zu
diesem Zeitpunkt trugen Männer und Frauen­
ausschliesslich handgefertigte Kleidung.
Auch der Begriff Anzug hatte damals noch
eine andere, eine praktische, Bedeutung. Gemeint war eine als Einheit getragene Kleidung
wie beispielsweise der Arbeitsoverall oder die
Militäruniform.
Individualität vor Masse Ein Verständniswandel fand in den letzten Jahren auch hinsichtlich Massanzügen statt. Was bis Mitte
der 90-er Jahre noch als elitär und extravagant galt, umschmiegt heute vermehrt auch
Konstruktionen entgegen. Dank der neuen
automatischen Vermessungstechnik können­
Massanfertigungen heute zu Preisen angeboten werden, die nicht viel höher sind als die
der Konfektionsware. Die Nachfrage nach
Massarbeit jedenfalls wächst stetig – und mit
ihr der Markt.
Doch büssen Massanzüge nicht an Prestige
ein, wenn die Preise sinken? Soltermann dazu:
«Das mag sein, doch bei unseren Kunden stelle ich selten Prestigegedanken als Kaufmotivation fest. Zu uns kommen zum Beispiel auch
Studenten, die für ihre ersten Bewerbungsgespräche die richtige Kleidung suchen.» Seine
Kundschaft sei breit gefächert, und es gehe ihr primär darum, optisch das Beste
aus ihrem Anzug rauszuholen. Dadurch,
dass er und seine Mitarbeiter sowohl in
Schnitt, Stoff, Farbe und Passform auf
spezifische Wünsche und die Persönlichkeit des Kunden eingehen können,
erhalte dieser den auf ihn optimal zugeschnittenen Anzug.
Neues Kundenbewusstsein Thatsuits
und viele andere Hersteller von «Mass
Vom Rüschenrock zur Uniform Im
Customization» beschäftigen dafür ausVorbürgertum hüllte sich der Adel in
gebildete Schneider und Modefachleute.
prunkvolle, farbenkräftige und voluDer Kunde wird in der Schweiz beraminöse Stoffkreationen. Damit stellte
ten und vermessen. Die eigentliche Herer seinen hohen Gesellschaftsrang zur
stellung findet im Ausland statt. ZuSchau. Mit Ende der Französischen Rerück im Schweizer Atelier verpassen die
volution forcierten vor allem die EngSchneider dem Stück vor Ort den letzländer ein neues Modebewusstsein.
ten Schliff. Änderungsarbeiten werden
Man hatte genug von der französischen
ebenfalls in der eigenen Schneiderei vor
Hofkultur. Neu waren Schlichtheit, DeOrt vorgenommen. Die hochwertigen
zenz und Körperbetontheit angesagt.
Stoffe bezieht Soltermann von namhafImmer tragbar und elegant sollte die
ten Webereien wie Cerruti oder Vitale
Kleidung sein. Aus diesem Bedürfnis
Barberis aus Italien, Australien und der
heraus entstand der Herrenanzug. BeSchweiz. Damit könne er hohe Qualität
stehend aus Jackett, Hose und allenfalls
garantieren und wisse genau, womit er
Weste, galt er fortan als gesellschaftsfähig. des Normalverdieners Körper. Seit einiger es zu tun habe. Dass unter den Konsumenten
Inspiriert wurde die neue Mode unter ande- Zeit, so scheint es, schiessen in der Schweiz das Bewusstsein für faire Produktionsmethorem vom Sportgewand des englischen Adels, und anderen europäischen Ländern Massbe- den gewachsen ist, merkt auch Soltermann.
der Dandy wirkte denn auch als Botschafter. kleidungsfirmen wie Pilze aus dem Boden. «Neue Kunden konfrontieren mich häufig
Seine Lebensphilosophie prägte die Grund- Haben Männer ein neues Modebewusstsein mit Fragen dieser Art. Und das ist gut so.» Er
idee des Anzugs massgeblich. Der «englische entdeckt, oder ist Kleidung nach Mass preis- kenne­alle seine Zulieferer im Ausland und leStutzer» lebte nach dem Grundsatz, stets ad- werter geworden? «Beides ist der Fall», meint ge seine­Hand dafür ins Feuer, dass seine Nääquat und schick gekleidet zu sein. Diesen Markus Soltermann, Geschäftsführer von herinnen unter guten Arbeitsbedingungen
Anspruch haben auch heutige Anzugträger. Thatsuits, einem Zürcher Massbekleidungs- produzieren. Die Produktion der DamenÜberhaupt hat das mehrteilige Dress in den hersteller. «Heute sucht der Konsument wie- kleidung findet in Hamburg statt, jene der
letzten 150 Jahren keine monumentalen Ver- der vermehrt das Individuelle. Wer sich in Männerkollektion in China. Der Kunde müsänderungen erfahren.
einer Leistungsgesellschaft wie der unseren se kritisch sein und hinterfragen. Dies gelte
Monumental waren dafür die Fortschritte,­ behaupten will, muss sich von seinen Kon- auch für massgeschneiderte Urlaubssouvenirs
die in der Produktion erzielt wurden. Mit der kurrenten abheben.» Und da der erste Ein- aus Thailand, die im Übrigen nicht zwingend
Verbesserung der Nähmaschine und dem druck bekanntlich zählt – erst recht in Zeiten von schlechter Qualität sein müssen. «Doch
Auftreten der ersten leistungsfähigen mecha- des harten Wettbewerbs – seien sowohl Hülle­ viele tappen in Touristenfallen und kommen
nischen Webstühle um das Jahr 1850 herum als auch Kern entscheidend.
mit entsprechend billiger Ware­nach Hause»,
begann das Zeitalter der Konfektion, der se- Dem vermehrten Wunsch nach Individu- warnt Soltermann. Ob einen ein solcher Anrienmässigen Produktion von Kleidungsstü- alität kam in den 90-er Jahren die Entwick- zug in bestem Licht erscheinen lässt, sei dahin
cken. In den Fabriken ratterten die Nähma- lung einer Software für dreidimensionale gestellt.
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