KinderarbeiterInnen und TV in Pakistan
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KinderarbeiterInnen und TV in Pakistan
FORSCHUNG 40 23/2010/2 Sayed Ibadullah Rashdi/Aijaz A. Khooharo/Rajab A. Memon KinderarbeiterInnen und Fernsehen in Pakistan Eine Analyse des Fernsehverhaltens von KinderarbeiterInnen in der Provinz Sindh In der pakistanischen Provinz Sindh wurden 300 KinderarbeiterInnen zu ihrer Fernsehnutzung befragt. Die meisten von ihnen gaben an, Satellitenfernsehen zu haben und an Arbeitstagen durchschnittlich 92 Minuten fernzusehen. E lektronische Medien kamen mit dem ersten offiziellen Radiosender, der im Juli 1927 in Bombay eingerichtet wurde, nach Britisch-Indien. 1964 nahm das Fernsehen als erstes in Lahore seinen Betrieb auf. Im November 1967 begann das Karachi TV Center mit der Ausstrahlung seiner Sendungen. Dies brachte das Fernsehen in die Provinz Sindh. Während der frühen 1980erJahre änderten sich die Vorgaben des staatlichen Fernsehsenders PTV dahin gehend, ideologischen und religiösen Interessen mehr Raum zu geben. Dadurch nahm die Popularität des Staatsfernsehens ab und ebnete den Weg für Videorekorder und Sa tellitenfernsehen. Seit 2005 kamen mehrere private Fernsehsender hinzu. Zurzeit gibt es im Wesentlichen 6 Arten von Fernsehsendern: 1. Pakistan Television (PTV) und seine globalen Kanäle verbreiten Nachrichten, offizielle Bekanntgaben und z. T. Unterhaltungsprogramme; 2. Die Sender Star und Zee TV strahlen hauptsächlich indische Spielfilme, Fernsehfilme und Dokumentarfilme zu kulturellen und Umweltthemen aus; 3. Die wichtigsten englischsprachigen Nachrichten- und Filmsender wie die BBC, CNN und Fox TV bieten internationale Nachrichten und Reportagen an; HBO und STAR strahlen auch Spielfilme, Sport- und Unterhaltungssendungen aus; 4. Islamische Kanäle wie Haq und SAMA TV zeigen durchgehend Reden islamischer Gelehrter, Rezitationen aus dem Koran und religiöse sowie Qawwali-Lieder; 5. Privatsender in der Sprache Urdu wie GEO, ARY oder AAJ senden zumeist Nachrichten und Kommentare für ein muslimisches Publikum; 6. Kanäle in der Sprache Sindhi strahlen Nachrichten, Musik und Fernsehfilme aus. Insgesamt ist die Kommunika tionsstrategie der Sindhi-Kanäle säkular ausgerichtet, aber die Themen ihrer Fernsehfilme werden zumeist von der Feudal- und Dacoit- (d. h. Räuberbanden-)Kultur inspiriert, die in einigen ländlichen Gebieten vorherrscht. Die Studie Viele internationale Studien versuchen, die Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder und Teenager zu bestimmen. Bislang gibt es aber nur eine veröffentlichte Studie über Satellitenfernsehen und sozialen Wandel in Sindh, und zwar von Shaikh (2007). Er stellt fest, dass das Satellitenfernsehen zwar die Grundstruktur der Sindhi-Gesellschaft nicht stark beeinflusst hat, dennoch aber Einfluss auf deren äußere Hülle hatte. Die Mehrzahl der als Teil des Samples der Studie befragten Menschen berichtete, dass sich ihre Haltung zur Bildung für Mädchen, zur Musik, zu Traditio- nen, zu Hausausstattung, Architektur und Kleidung, zur lokalen Küche und zu kulinarischen Gewohnheiten geändert habe. Die vorliegende Studie hatte das Ziel, erstmalig die Nutzung des Fernsehens durch KinderarbeiterInnen sowie die sozioökonomischen Auswirkungen des Fernsehens in städtischen wie ländlichen Gebieten der pakistanischen Provinz Sindh zu untersuchen. Dieser Artikel enthält Felddaten, die sich auf folgende Forschungsziele beziehen: •• Feststellen der Fernsehzeiten und der Beliebtheit verschiedener Sendungen sowie der soziokulturellen Auswirkungen des Satellitenfernsehens auf KinderarbeiterInnen in Sindh. •• Festhalten der Wahrnehmungen der Kinder und ihrer Eltern, was die Auswirkung verschiedener Arten von Fernsehkanälen und Sendungstypen auf die Persönlichkeitsentwicklung, Arbeitsethik, Bräuche und das Wertesystem der Kinder angeht. •• Vorschlagen von Richtlinien für ein säkulares und kulturell angemessenes Programmangebot des Satellitenfernsehens im pakistanischen Sindh. Diese Studie war eine Stichprobenerhebung mit deskriptivem Ansatz. Nach Tätigkeiten gegliedert setzte sich das Sample aus 60 Hausmädchen und 30 Armreifmacherinnen zusammen. Das Sample der 210 männlichen Kinderarbeiter bestand aus 30 Armreifmachern, 30 Hotelgehilfen, 30 Schneidergehilfen, 60 Aushilfen in der Müllbeseitigung und Kanalrei- FORSCHUNG 23/2010/2 nigung, 30 Mechanikergehilfen und 30 Teppichwebern. Die Mehrzahl der Müllbeseitiger gehörte Minderheiten (Christen und Hindus) an, während sich die Gruppe der Teppichweber in der abgelegenen Region der TharWüste in Sindh sowohl aus Muslimen als auch aus sogenannten Scheduled (Low) Caste Hindus, d. h. Hindus, die zu einer von der Verfassung des Landes anerkannten (niederen) Kaste gehören, zusammensetzte. Sozioökonomisches Profil Durchschnittsalter Das Alter der KinderarbeiterInnen betrug im Durchschnitt 13 Jahre und reichte von 10 bis 15 Jahren. Ein Altersvergleich nach Berufen zeigte keine signifikanten Unterschiede (siehe Tab. 1). Familiengröße und arbeitende Familienmitglieder Eine durchschnittliche Familie bestand aus 7,65 Mitgliedern (2,93 Söhne, 2,72 Töchter und 2 Eltern). Der männliche Bevölkerungsanteil war also größer. Unter den arbeitenden Familienmitgliedern waren im Durchschnitt 1,32 Söhne (45 %) und 0,47 (17 %) Töchter. Mittleres Monatseinkommen Als durchschnittliches Monatseinkommen der KinderarbeiterInnen 41 wurden 1.752 Pakistanische Rupien (PKR) errechnet, was gerade mal rund 21 US-Dollar entspricht. Das höchste Monatseinkommen (2.930 PKR, ca. 35 USD) wurde von Hotelgehil- 2 der befragten Kinder: Schneidergehilfe (li.) und Teppichweber (re.) fen angegeben, während das niedrigste (884 PKR, Auswirkungen des ca. 10,50 USD) für MechanikergeSatellitenfernsehens hilfen verbucht wurde. Das monatliche Einkommen der Väter betrug 4.620 PKR, während das der Mütter Besitz von Fernsehgeräten nur etwa 2.378 PKR betrug – also 82 % der Haushalte besaßen Fern50 % des Einkommens der Ehemän- sehgeräte; in etwa derselbe Anteil ner. Die Kinder stammten somit aus verfügte auch über Kabelanschluss. Familien, bei denen die Eltern über Die große Mehrheit der Kinderarbeiein Pro-Kopf-Einkommen von täglich terInnen hatte also Zugang zu Ka0,40 US-Dollar verfügten. nälen des Satellitenfernsehens. Bei den Teppichweber-Kindern aus Thar Schulbildung betrug der Anteil der Familien, die Insgesamt gaben 38 % der Kinder- Fernsehgeräte besaßen, nur 13 %. Die arbeiterInnen und 35 % der Eltern meisten dieser Kinder hatten keinen aus dem Sample an, einige Jahre Zugang zu Kabelfernsehen. Schulbildung auf Grund- und Mittelstufenniveau genossen zu haben. Fernsehzeiten Der höchste Anteil an Schulbildung Bei 63 % der Kinder lag die beliebtes(80 %) wurde bei den Armreifma- te Fernsehzeit in der Hauptsendezeit chern verzeichnet, während keiner des Abendprogramms (18 bis 20 Uhr) der Hotelgehilfen eine Schulbildung (siehe Tab. 2). Etwa ein Zehntel genossen hatte. Nur ein Teppichweber (11 %) der Befragten (hauptsächlich gab an, über irgendeine Schulbildung die Hotelgehilfen) gab an, am Vormitzu verfügen (siehe Tab. 1). tag von 10 bis 12 Uhr fernzusehen. Die Fernsehdauer betrug an arbeitsfreien Tagen (freitags) 195 Minuten. Das war mehr als doppelt so viel wie an Arbeitstagen (92 Minuten). Der höchste durchschnittliche Fernsehkonsum (2 Stunden) wurde von Hotelgehilfen angegeben, während bei den Müllbeseitigern die niedrigste Durchschnittsdauer (1 Stunde) verzeichnet wurde. Tab. 1: Schulbildung der befragten Kinder und ihrer Eltern Gründe für den Fernsehkonsum Ein Drittel (33 %) der KinderarbeiterInnen aus dem Sample gab an, zur Unterhaltung fernzusehen. Eine ähnliche Antwort – als Freizeitver- FORSCHUNG 42 23/2010/2 Fernsehheld, Tänzer oder Filmstar zu werden. Tab. 2: Wann und wie lange sehen die befragten Kinder fern? gnügen – gaben 29 % der Kinder; Fernsehen zum Zeitvertreib nannten 27 %. Nur 2 % der Kinder meinten, dass sie fernsahen, um Wissen zu erwerben und verschiedene Fertigkeiten zu erlernen. Ein hoher Prozentsatz der Schneidergehilfen, die vergleichsweise älter waren als die übrigen Kinder, machte den Hauptteil derjenigen aus, die angaben, wegen des Wissenserwerbs fernzusehen. Rangliste der Fernsehsender Insgesamt rangierten die Sindhi-Kanäle auf dem 1. Platz, gefolgt von indischen Urdu-Kanälen, Sendern mit Zeichentrickformaten, pakistanischen Urdu-Sendern und englischen Spielfilmkanälen. Die Sindhi-Sender kamen vor allem bei den Hotelgehilfen, Schneidergehilfen und Teppichwebern auf den 1. Platz. Die große Mehrheit der Jungen aus allen Berufen liebte indische Spielfilme, SindhiFernsehfilme, englische Actionfilme und Sindhi-Musikkanäle. Keiner der Befragten gab eine signifikante Vorliebe für religiöse Privatsender und die Nachrichtensender in englischer Sprache und Urdu an. Lieblingssendungen Insgesamt nahmen indische Spielfilme in Hindi den 1. Rang ein, während Fernsehfilme in Sindhi den 2. Rang erreichten, gefolgt von Zeichentricksendungen (3. Rang), indischen Fernsehfilmen (4. Rang), Sportsendungen (5. Rang), Sindhi- und Urdu-Musik (6. Rang), englischsprachigen Sen- dungen (7. Rang), Nachrichten und Sendungen zu aktuellen Themen (8. Rang) sowie von religiösen Sendungen (9. Rang). Sindhi-Fernsehfilme und Spielfilme in Hindi und Englisch wurden der Spannung und Action wegen bevorzugt. Ungefähr die Hälfte (51 %) der Kinder nannte HeldInnen aus Spiel- und Fernsehfilmen als beliebteste Persönlichkeiten, gefolgt von SportlerInnen (28 %), PolitikerInnen (15 %), SängerInnen/MusikerInnen (5 %) und LehrerInnen (2 %). HeldInnen aus Spiel- und Fernsehfilmen wurden am häufigsten von Müllbeseitigern bevorzugt (84 %), gefolgt von Hotelgehilfen (62 %). Ein signifikanter Anteil der Hotelgehilfen (23 %) nannte Sindhi-, Urdu- oder Hindi-SängerInnen als beliebteste Persönlichkeiten. Dies spiegelt die Wirkung der Musikalben und Filmvideos wider, die in Hotels in städtischen wie ländlichen Regionen rund um die Uhr abgespielt werden, um Kunden anzulocken. Einfluss auf die Lebensziele Ein relativ großer Anteil der Kinder strebte nach gutem Essen (85 %), gu ter Kleidung (87 %) und Hausaus stattung (80 %), wie es in ihren Lieblingssendungen, die eine elitäre Kultur abbilden, gezeigt wird. Etwa 53 % der Kinder wollten ein(e) Action- und romantische(r) HeldIn der Fernseh- und Spielfilme in Urdu oder Hindi sein. Ein proportional höherer Anteil (75 %) der als Müllbeseitiger arbeitenden Jungen strebte danach, Wahrnehmungen der Eltern Eltern im Allgemeinen und Väter im Besonderen beklagten sich, dass englischsprachige Sendungen, indische Filme sowie Fernsehserien in Sindhi bei ihren Jungen gewaltbereite Einstellungen und unmoralisches Verhalten begünstigt hätten. Mütter waren mit der Arbeitsethik ihrer Mädchen unzufrieden und beklagten deren mangelndes Interesse, ihren Anteil an der Hausarbeit zu übernehmen. Eltern muslimischer Kinder zeigten sich besorgt über die besonders bei Jungen vorherrschende Tendenz, sich von der Religion und den traditionellen Werten – Respekt vor den Eltern und arrangierte Hochzeiten – abzuwenden. LITERATUR Amin, Mohammad: Pakistan Lacks Adequate System of Child Labor Statistics. In: The Daily DAWN, Karachi, July 14, 2008. ILO-IPEC: Activating Media to Combat the Worst Forms of Child Labor. Project Completion Report. Ministry of Information and Broadcasting, Government of Pakistan (Hrsg.). Islamabad, 2009. Shaikh, Mohammad Ali: Impact of Satellite Television on Social Change in Sindh. Ph. D. Dissertation, University of Karachi, Pakistan, 2006. DIE AUTOREN Sayed Ibadullah Rashdi ist Professor und Direktor des Center for Rural Development Communication (CRDC) an der University of Sindh, Jamshoro, Pakistan. D r. A i j a z A l i Khooharo ist Associate Professor für Angewandte Statistik an der Sindh Agriculture University, Tando Jam, Pakistan. D r. R a j a b A l i Memon ist emeritierter Professor der Rural Social Sciences am CRDC.