KinderarbeiterInnen und TV in Pakistan

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KinderarbeiterInnen und TV in Pakistan
FORSCHUNG
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Sayed Ibadullah Rashdi/Aijaz A. Khooharo/Rajab A. Memon
KinderarbeiterInnen und
Fernsehen in Pakistan
Eine Analyse des Fernsehverhaltens von KinderarbeiterInnen in der Provinz Sindh
In der pakistanischen Provinz Sindh
wurden 300 KinderarbeiterInnen
zu ihrer Fernsehnutzung befragt.
Die meisten von ihnen gaben an,
Satellitenfernsehen zu haben und
an Arbeitstagen durchschnittlich
92 Minuten fernzusehen.
E
lektronische Medien kamen mit dem ersten offiziellen Radiosender, der im Juli
1927 in Bombay eingerichtet wurde,
nach Britisch-Indien. 1964 nahm das
Fernsehen als erstes in Lahore seinen
Betrieb auf. Im November 1967 begann das Karachi TV Center mit der
Ausstrah­lung seiner Sendungen. Dies
brachte das Fernsehen in die Provinz
Sindh. Während der frühen 1980erJahre änderten sich die Vorgaben
des staatlichen Fernsehsen­ders PTV
dahin gehend, ideologischen und religiösen Interessen mehr Raum zu geben. Dadurch nahm die Popularität
des Staatsfernsehens ab und ebnete
den Weg für Videorekorder und Sa­
tellitenfernsehen. Seit 2005 kamen
mehrere private Fernsehsender hinzu.
Zurzeit gibt es im Wesentlichen 6 Arten von Fernsehsendern:
1. Pakistan Television (PTV) und seine
globalen Kanäle verbreiten Nachrichten, offizielle Bekanntgaben und z. T.
Unterhaltungsprogramme;
2. Die Sender Star und Zee TV strahlen
hauptsächlich indische Spielfilme,
Fernsehfilme und Dokumentarfilme
zu kulturellen und Umweltthemen aus;
3. Die wichtigsten englischsprachigen
Nachrichten- und Filmsender wie die
BBC, CNN und Fox TV bieten internationale Nachrichten und Reportagen an; HBO und STAR strahlen auch
Spielfilme, Sport- und Unterhaltungssendungen aus;
4. Islamische Kanäle wie Haq und
SAMA TV zeigen durchgehend Reden
islamischer Gelehrter, Rezitationen
aus dem Koran und religiöse sowie
Qawwali-Lieder;
5. Privatsender in der Sprache Urdu wie
GEO, ARY oder AAJ senden zumeist
Nachrichten und Kommentare für ein
muslimisches Publikum;
6. Kanäle in der Sprache Sindhi strahlen
Nachrichten, Musik und Fernsehfilme
aus. Insgesamt ist die Kommunika­
tionsstrategie der Sindhi-Kanäle säkular ausgerichtet, aber die Themen ihrer
Fernsehfilme werden zumeist von der
Feudal- und Dacoit- (d. h. Räuberbanden-)Kultur inspiriert, die in einigen
ländlichen Gebieten vorherrscht.
Die Studie
Viele internationale Studien versuchen, die Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder und Teenager zu
bestimmen. Bislang gibt es aber nur
eine veröffentlichte Studie über Satellitenfernsehen und sozialen Wandel in
Sindh, und zwar von Shaikh (2007).
Er stellt fest, dass das Satellitenfernsehen zwar die Grundstruktur der
Sindhi-Gesellschaft nicht stark beeinflusst hat, dennoch aber Einfluss auf
deren äußere Hülle hatte. Die Mehrzahl der als Teil des Samples der Studie befragten Menschen berichtete,
dass sich ihre Haltung zur Bildung
für Mädchen, zur Musik, zu Traditio-
nen, zu Hausausstattung, Architektur
und Kleidung, zur lokalen Küche und
zu kulinarischen Gewohnheiten geändert habe. Die vorliegende Studie
hatte das Ziel, erstmalig die Nutzung
des Fernsehens durch KinderarbeiterInnen sowie die sozioökonomischen
Auswirkungen des Fernsehens in
städtischen wie ländlichen Gebieten
der pakistanischen Provinz Sindh zu
untersuchen. Dieser Artikel enthält
Felddaten, die sich auf folgende Forschungsziele beziehen:
•• Feststellen der Fernsehzeiten und
der Beliebtheit verschiedener Sendungen sowie der soziokulturellen Auswirkungen des Satellitenfernsehens
auf KinderarbeiterInnen in Sindh.
•• Festhalten der Wahrnehmungen
der Kinder und ihrer Eltern, was die
Auswirkung verschiedener Arten von
Fernsehkanälen und Sendungstypen
auf die Persönlichkeitsentwicklung,
Arbeitsethik, Bräuche und das Wertesystem der Kinder angeht.
•• Vorschlagen von Richtlinien für
ein säkulares und kulturell angemessenes Programmangebot des Satellitenfernsehens im pakistanischen
Sindh.
Diese Studie war eine Stichprobenerhebung mit deskriptivem Ansatz.
Nach Tätigkeiten gegliedert setzte
sich das Sample aus 60 Hausmädchen
und 30 Armreifmacherinnen zusammen. Das Sample der 210 männlichen Kinderarbeiter bestand aus 30
Armreifmachern, 30 Hotelgehilfen,
30 Schneidergehilfen, 60 Aushilfen
in der Müllbeseitigung und Kanalrei-
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nigung, 30 Mechanikergehilfen und
30 Teppichwebern. Die Mehrzahl der
Müllbeseitiger gehörte Minderheiten
(Christen und Hindus) an, während
sich die Gruppe der Teppichweber
in der abgelegenen Re­gion der TharWüste in Sindh sowohl aus Muslimen
als auch aus sogenannten Sched­uled
(Low) Caste Hindus, d. h. Hindus,
die zu einer von der Verfassung des
Landes anerkannten (niederen) Kaste
gehören, zusammensetzte.
Sozioökonomisches Profil
Durchschnittsalter
Das Alter der KinderarbeiterInnen
betrug im Durchschnitt 13 Jahre und
reichte von 10 bis 15 Jahren. Ein
Altersvergleich nach Berufen zeigte keine signifikanten Unterschiede
(siehe Tab. 1).
Familiengröße und arbeitende
­Familienmitglieder
Eine durchschnittliche Familie bestand aus 7,65 Mitgliedern (2,93
Söhne, 2,72 Töchter und 2 Eltern).
Der männliche Bevölkerungsanteil
war also größer. Unter den arbeitenden Familienmitgliedern waren im
Durchschnitt 1,32 Söhne (45 %) und
0,47 (17 %) Töchter.
Mittleres Monatsein­kommen
Als durchschnittliches Monatseinkommen der KinderarbeiterInnen
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wurden 1.752
Pakistanische
Rupien (PKR)
errechnet, was
gerade mal rund
21 US-Dollar
entspricht. Das
höchste Monatseinkommen
(2.930 PKR, ca.
35 USD) wurde
von Hotelgehil- 2 der befragten Kinder: Schneidergehilfe (li.) und Teppichweber (re.)
fen angegeben,
während das niedrigste (884 PKR,
Auswirkungen des
ca. 10,50 USD) für Mechanikerge­Satellitenfernsehens
hilfen verbucht wurde. Das monatliche Einkommen der Väter betrug
4.620 PKR, während das der Mütter Besitz von Fernsehgeräten
nur etwa 2.378 PKR betrug – also 82 % der Haushalte besaßen Fern50 % des Einkommens der Ehemän- sehgeräte; in etwa derselbe Anteil
ner. Die Kinder stammten somit aus verfügte auch über Kabelanschluss.
Familien, bei denen die Eltern über Die große Mehrheit der Kinderarbeiein Pro-Kopf-Einkommen von täglich terInnen hatte also Zugang zu Ka0,40 US-Dollar verfügten.
nälen des Satellitenfernsehens. Bei
den Teppichweber-Kindern aus Thar
Schulbildung
betrug der Anteil der Familien, die
Insgesamt gaben 38 % der Kinder- Fernsehgeräte besaßen, nur 13 %. Die
arbeiterInnen und 35 % der Eltern meisten dieser Kinder hatten keinen
aus dem Sample an, einige Jahre Zugang zu Kabelfernsehen.
Schulbildung auf Grund- und Mittelstufenniveau genossen zu haben. Fernsehzeiten
Der höchste Anteil an Schulbildung Bei 63 % der Kinder lag die beliebtes(80 %) wurde bei den Armreifma- te Fernsehzeit in der Hauptsendezeit
chern verzeichnet, während keiner des Abendprogramms (18 bis 20 Uhr)
der Hotelgehilfen eine Schulbildung (siehe Tab. 2). Etwa ein Zehntel
genossen hatte. Nur ein Teppichweber (11 %) der Befragten (hauptsächlich
gab an, über irgendeine Schulbildung die Hotelgehilfen) gab an, am Vormitzu verfügen (siehe Tab. 1).
tag von 10 bis 12 Uhr fernzusehen.
Die Fernsehdauer betrug an arbeitsfreien Tagen (freitags) 195 Minuten.
Das war mehr als doppelt so viel wie
an Arbeitstagen (92 Minuten). Der
höchste durchschnittliche Fernsehkonsum (2 Stunden) wurde von Hotelgehilfen angegeben, während bei
den Müllbeseitigern die niedrigste
Durchschnittsdauer (1 Stunde) verzeichnet wurde.
Tab. 1: Schulbildung der befragten Kinder und ihrer Eltern
Gründe für den Fernsehkonsum
Ein Drittel (33 %) der KinderarbeiterInnen aus dem Sample gab an,
zur Unterhaltung fernzusehen. Eine
­ähnliche Antwort – als Freizeitver-
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Fernsehheld, Tänzer oder Filmstar
zu werden.
Tab. 2: Wann und wie lange sehen die befragten Kinder fern?
gnügen – gaben 29 % der Kinder;
Fernsehen zum Zeitvertreib nannten
27 %. Nur 2 % der Kinder meinten,
dass sie fernsahen, um Wissen zu erwerben und verschiedene Fertigkeiten
zu erlernen. Ein hoher Prozentsatz der
Schneidergehilfen, die vergleichsweise älter waren als die übrigen Kinder,
machte den Hauptteil derjenigen aus,
die angaben, wegen des Wissenserwerbs fernzusehen.
Rangliste der Fernsehsender
Insgesamt rangierten die Sindhi-Kanäle auf dem 1. Platz, gefolgt von
indischen Urdu-Kanälen, Sendern
mit Zeichentrickformaten, pakistanischen Urdu-Sendern und englischen
Spielfilmkanälen. Die ­Sindhi-Sender
kamen vor allem bei den Hotelgehilfen, Schneidergehilfen und Teppichwebern auf den 1. Platz. Die große
Mehrheit der Jungen aus allen Berufen liebte indische Spielfilme, SindhiFernsehfilme, englische Actionfilme
und Sindhi-Musikkanäle. Keiner der
Befragten gab eine signifikante Vorliebe für religiöse Privatsender und
die Nachrichtensender in englischer
Sprache und Urdu an.
Lieblingssendungen
Insgesamt nahmen indische Spielfilme in Hindi den 1. Rang ein, während
Fernsehfilme in Sindhi den 2. Rang
erreichten, gefolgt von Zeichentricksendungen (3. Rang), indischen Fernsehfilmen (4. Rang), Sportsendungen
(5. Rang), Sindhi- und Urdu-Musik
(6. Rang), englischsprachigen Sen-
dungen (7. Rang), Nachrichten und
Sendungen zu aktuellen Themen
(8. Rang) sowie von religiösen Sendungen (9. Rang). Sindhi-Fernsehfilme und Spielfilme in Hindi und
Englisch wurden der Spannung und
Action wegen bevorzugt.
Ungefähr die Hälfte (51 %) der Kinder nannte HeldInnen aus Spiel- und
Fernsehfilmen als beliebteste Persönlichkeiten, gefolgt von SportlerInnen
(28 %), PolitikerInnen (15 %), SängerInnen/MusikerInnen (5 %) und
LehrerInnen (2 %). HeldInnen aus
Spiel- und Fernsehfilmen wurden am
häufigsten von Müllbeseitigern bevorzugt (84 %), gefolgt von Hotelgehilfen (62 %). Ein signifikanter Anteil
der Hotelgehilfen (23 %) nannte Sindhi-, Urdu- oder Hindi-SängerInnen
als beliebteste Persönlichkeiten. Dies
spiegelt die Wirkung der Musikalben
und Filmvideos wider, die in Hotels in
städtischen wie ländlichen Regionen
rund um die Uhr abgespielt werden,
um Kunden anzulocken.
Einfluss auf die Lebensziele
Ein relativ großer Anteil der Kinder
strebte nach gutem Essen (85 %), gu­
ter Kleidung (87 %) und Hausaus­
stattung (80 %), wie es in ihren
Lieblings­sendungen, die eine elitäre
Kultur abbilden, gezeigt wird. Etwa
53 % der Kinder wollten ein(e) Action- und romantische(r) HeldIn der
Fernseh- und Spielfilme in Urdu oder
Hindi sein. Ein proportional höherer
Anteil (75 %) der als Müllbeseitiger
arbeitenden Jungen strebte danach,
Wahrnehmungen der Eltern
Eltern im Allgemeinen und Väter
im Besonderen beklagten sich, dass
englischsprachige Sendungen, indische Filme sowie Fernsehserien in
Sindhi bei ihren Jungen gewaltbereite Einstellungen und unmoralisches
Verhalten begünstigt hätten. Mütter
waren mit der Arbeitsethik ihrer Mädchen unzufrieden und beklagten deren
mangelndes Interesse, ihren Anteil
an der Hausarbeit zu übernehmen.
Eltern muslimischer Kinder zeigten
sich besorgt über die besonders bei
Jungen vorherrschende Tendenz, sich
von der Religion und den traditionellen Werten – Respekt vor den Eltern
und arrangierte Hochzeiten – abzuwenden.
LITERATUR
Amin, Mohammad: Pakistan Lacks Adequate System
of Child Labor Statistics. In: The Daily DAWN,
Karachi, July 14, 2008.
ILO-IPEC: Activating Media to Combat the Worst
Forms of Child Labor. Project Completion Report.
Ministry of Information and Broadcasting, Government of Pakistan (Hrsg.). Islamabad, 2009.
Shaikh, Mohammad Ali: Impact of Satellite Television on Social Change in Sindh. Ph. D. Dissertation,
University of Karachi, Pakistan, 2006.
DIE AUTOREN
Sayed Ibadullah
Rashdi ist Professor und Direktor
des Center for Rural Development
Communication
(CRDC) an der University of
Sindh, Jamshoro, Pakistan.
D r. A i j a z A l i
Khooharo ist Associate Professor
für Angewandte
Statistik an der
Sindh Agriculture
University, Tando Jam, Pakistan.
D r. R a j a b A l i
Memon ist emeritierter Professor der
Rural Social Sciences am CRDC.