Echoraum der Bücher - Leipziger Buchmesse

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Echoraum der Bücher - Leipziger Buchmesse
bücherleben
Das Magazin der Leipziger Buchmesse
September 2015
Echoraum der Bücher: Autoren und Verleger erinnern sich an 25 Jahre Leipzig liest +++
Streitfall Onleihe: Frank Simon-Ritz und Matthias Ulmer über die E-Book-Ausleihe
in öffentlichen Bibliotheken +++ Romane in Bildern: Belletristikverlage haben Lust auf
Comics +++ Generation Smartphone: Was das digitale Lesen für Produzenten und Vermittler bedeutet +++ Gründet und mehret euch!: Wie Start-ups die Buchbranche bereichern
Leipziger
Buchmesse
Independence Days: Unabhängige Verlage stehen für eine bunte Bücherlandschaft. In
Leipzig sind die Kleinen mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen,
ausgefallenen Leseorten echte Publikumsrenner. „UV – Die Lesung der unabhängigen
Verlage“ genießt längst Kultstatus. Im märchenhaften Jugendstil-Ambiente des LindenfelsWestflügels, übers Jahr bespielt vom Figurentheater Wilde & Vogel, lesen am Messefreitag
Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Haus platzt aus allen Nähten –
fast so, als würde ein Popfestival stattfinden.
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bücherleben | ausgabe september 2015
bücherleben | ausgabe september 2015
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Editorial
„In Leipzig entdecken die Zuhörer Sätze,
die man selber noch gar nicht als
besondere Sätze entdeckt hat.“
(Martin Walser, Die Stadt der Städte)
Die Lektüre der „Minutennovellen“, die der Ungar István Örkény
erfand, sollte idealerweise 60 Sekunden dauern. Inzwischen hat nicht
nur das Leben, sondern auch das Lesen deutlich an Fahrt gewonnen.
Mit der zweiten Ausgabe unseres Magazins wollen wir den Trend zum
Switchen, Zappen und Zoomen nicht weiter anheizen. Im Gegenteil:
Entschleunigung ist angesagt.
6 Leipzig liest
Herausgeber
Leipziger Messe GmbH
Postfach 100720
04007 Leipzig
www.leipziger-buchmesse.de
Projektteam Leipziger Buchmesse
Direktor: Oliver Zille
Tel. +49 341 678-82 40
Fax:+49 341 678-82 42
[email protected]
Projektleitung:
Julia Lücke
[email protected]
Projektkoordination, Text:
Nils Kahlefendt, Leipzig
Gestaltung, Layout:
Angela Schubert & Jo Schaller, Halle (S.)
Abbildungen: Tobias Bohm (S. 23), Dressler
(S. 16), fotolia (S. 9, 19, 21), Franziska Frenzel (S. 2/3), Ferdinando Iannone (S. 13),
Niels Kahlefendt (S. 25, 26, 27), Leipziger
Buchmesse (S. 8, 11), Mike Licht/flickr
(S. 20), Nikolas Mahler/Reprodukt (S. 17),
Richard McGuire (S. 15), Gert Mothes (Titel,
S. 7, 10, Rückseite), Alex Reuter (S. 21),
Maria-Helene Tornau (S. 24), dpa – Hendrik
Schmidt (S. 9), Philipp Wiegandt (S. 12)
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Echoraum der Bücher
Im kommenden März feiert
Europas größtes Lesefest
Geburtstag: Autoren und
Verleger erinnern sich an
Geschichten aus 25 Jahren.
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Bibliotheken
Streitfall Onleihe
Frank Simon-Ritz,
Vorsitzender des Deutschen
Bibliotheksverbands,
und Verleger
Matthias Ulmer
über die E-Book-Ausleihe
in öffentlichen Bibliotheken.
bücherleben | ausgabe september 2015
Auch wir Messemacher versuchen übers Jahr, kritischen Abstand zur eigenen Arbeit zu gewinnen: Was
lässt sich anders, vielleicht besser machen? Auf unserer sommerlichen Teamklausur – diesmal in den
unendlichen Weiten des Erzgebirges – stand eine
Frage ganz oben: Wie verändert die digitale Revolution unsere Messe, letztlich auch uns selbst? Wie
lassen sich die Chancen digitaler Transformationsprozesse für alle an der Buchmesse beteiligten
Akteure richtig ausspielen? Endgültige Antworten
gibt es nicht; wir werden uns, Stück für Stück, immer
wieder neu erfinden müssen. Klar ist: Digitales Lesen
und Schreiben wird das Bild der Leipziger Buchmesse in den kommenden Jahren weiter verändern.
2016 starten wir ein neues Projekt, das Start-ups
und neuen Geschäftsmodellen mehr Präsenz geben
wird: Auch für die Digital Natives soll Leipzig eine
feste Adresse bleiben. Dass Leser und Autoren im
Fokus stehen, ist die Konstante all unserer Bemü-
hungen – materialisiert im Lesefest Leipzig liest, das
im kommenden März seinen 25. Geburtstag feiert.
Die Monate bis dorthin halten auch für uns noch
genügend Spannungsmomente bereit. Einiges von
dem, was uns derzeit umtreibt, nimmt das aktuelle
bücherleben auf: informativ, unterhaltsam und,
wie wir hoffen, auch überraschend. Gehen Sie also,
ganz im Sinn von Martin Walser, mit uns auf Entdeckungstour. Und bleiben Sie Leipzig für deutlich
länger als eine Minute gewogen. Auf bald!
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Comic & Manga
22 Autoren
Romane in Bildern
Das Zauberwort
heißt Graphic Novel:
Andreas Platthaus
über Comics in
Publikumsverlagen.
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Digitales Lesen
24 Verlage
Generation Smartphone
Das Bedürfnis nach gut
erzählten Geschichten
ist ungebrochen, wird
allerdings längst nicht
mehr nur zwischen
Buchdeckeln gestillt.
bücherleben | ausgabe september 2015
Ihr
Oliver Zille
Direktor der Leipziger Buchmesse
www.leipziger-buchmesse.de
www.facebook.com/leipzigerbuchmesse
twitter.com/buchmesse
www.leipziger-buchmesse.de/youtube
Kindheitsmuster
Raus aus dem
Elfenbeinturm:
Nachwuchsautorin
Paula Fürstenberg und
ihr langer Weg zum
ersten Roman.
Gründet und
mehret euch!
Start-ups und Buchbranche: Die Frage
nach den Geschäftsmodellen von morgen
trifft einen Nerv.
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Leipzig
liest
Echoraum der Bücher
25 Jahre Leipzig liest: Kaum zu glauben, aber wahr – im kommenden März feiert
Europas größtes Lesefest seinen 25. Geburtstag. Wie haben Autoren und Verleger
dieses Woodstock der Literatur erlebt? Zehn Leipzig-Fans erinnern sich.
Hotel Leipzig Ich bin im Hotel aufgewachsen, in
einem Touristenort voller weiterer Hotels. Ferien- und
Nebenjobs suchte ich mir natürlich auch im Hotel,
ich kann ein Double-de-luxe-Bett in weniger als
einer Minute mit einem Classic-Leintuch beziehen.
Als ich meinen Mann kennenlernte und er erzählte,
sein Vater betreibe eine Pension auf Rügen, dachte ich,
dass das Leben eben doch verlässliche Konstanten
bietet. Diese Konstante erhalte ich aufrecht, indem wir
jährlich zur Leipziger Buchmesse Gäste beherbergen,
und obschon sie dafür nichts bezahlen müssen und
unsere Wohnung sich stark von einem Hotel unterscheidet, bin ich in den vier Tagen Hotelierin und
nichts sonst. Meine Töchter räumen bereitwillig ihre
Zimmer und übernachten bei Freundinnen, und zum
guten Service unseres Hauses gehört auch das große
Frühstücksbüfett am Sonntagmorgen für alle Gäste.
Auch Daniela Seel ist seit sieben Jahren Stammgästin
bei uns, und ich sehe sie dann weniger als Verlegerin
und Dichterin, sondern eben als Gast. Wir begegnen
uns gerade so viel, wie in einem Hotel Gast und Wirt
sich begegnen. Manchmal sind wir beide verlegen
darüber, dass wir in solch anderem Zusammenhang
aufeinandertreffen als sonst. Ich argwöhne dann, dass
ich in meinem Gastronomie-Modus ungewohnt auf
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Daniela wirke, geschäftig und beflissen. Dann stehen
wir ein paar Sekunden verlegen in der Küche und
sagen nichts, und ich trockne hektisch Töpfe ab. Oft
müssen wir auch ein bisschen darüber lachen, zum
Beispiel, wenn ich ihr sagen muss, dass dieses Mal
wegen Überbelegung Umbuchungen notwendig sind
und sie eventuell jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen muss. Ich bin aber im Herbergswesen
versiert genug, dass ich jedes Mal rasch zu meinem
Geschäft zurückfinde und Daniela frage, ob sie noch
etwas braucht. Immer ist sie zufrieden und braucht
nichts. Morgens stehe ich noch früher auf als sie, wie
es die Hoteliers eben tun, und koche Kaffee für sie.
Das ist eigentlich eine sehr schöne Beschäftigung.
Martina Hefter, geboren 1965 in Pfronten/Allgäu, lebt als Dichterin
und Performerin in Leipzig. Sie veröffentlichte zuletzt den Gedichtband „Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch“ (kookbooks, 2013).
Frl. Ursula Die schönste Lesung hatte ich 2003
zusammen mit Helmut Krausser im Einrichtungshaus
smow, wo wir „Frl. Ursula“, den letzten Roman unseres im Jahr zuvor tödlich verunglückten Freundes
Heiner Link vorstellten. Das Buch hatte zu diesem
Zeitpunkt noch kaum Aufmerksamkeit bekommen.
Wir rechneten deshalb nicht mit großem Andrang.
bücherleben | ausgabe september 2015
Same procedure as every year: Für vier Messetage ist kookbooks-Verlegerin Daniela Seel zu
Gast bei dem Schriftstellerpaar Martina Hefter
und Jan Kuhlbrodt.
Doch als wir ankamen, war das smow schon über und
über voll mit Zuhörern. Dafür, dass es keine traurige,
sondern eine sehr komische Lesung wurde, sorgte
Heiners Text, ein Sittenbild der Vorstadt voll haarsträubender Nachbarschaftserotik. Die Leipziger
Volkszeitung schrieb: „Liebe und Verführung sind
manchmal ganz schöne Irrtümer, bisweilen aber auch
kurzweilig und charmant. Ein hübsches Buch. ,Ich
wär’ froh, wenn Sie’s sich besorgen’, sagt Oswald.“ Die
Leute sind unserem Rat gefolgt, und ein Jahr später
hat sogar Elke Heidenreich den Roman besprochen,
sodass er am Ende noch ein Bestseller wurde. Dass er
unter einem günstigen Stern stand, spürten wir schon
im smow.
Georg M. Oswald, geboren 1963 im oberbayrischen Weßling,
arbeitete nach seinem Jurastudium als Rechtsanwalt und Autor
in München. Zuletzt legte er den inzwischen verfilmten Roman
„Unter Feinden“ (Piper 2012) vor. 2013 übernahm Oswald die
Leitung des Berlin Verlags.
bücherleben | ausgabe september 2015
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Das Original feiert Geburtstag:
Leipzig liest ist gelebte Literaturverführung. 1992 mit 80 Autoren
gestartet, blickt das Bücherfest auf
eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen zurück: Mit weit über 3000
Veranstaltungen ist es heute unangefochten Europas Lesefest Nummer
eins. Viele andere Lese-Initiativen im
deutschsprachigen Raum sind von
Leipzig inspiriert worden. Dem
Original hat das nicht geschadet –
im Gegenteil. Das Geheimnis des
Erfolgs? Wahrscheinlich muss man
es in der beinahe symbiotischen
Verbindung zur Stadt suchen: Die
Neugier, Leidenschaft und Leselust
der Leipziger machen Leipzig liest
einzigartig.
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Loslesen! Was Leipzig liest bedeutet, habe ich leibhaftig so richtig erst erfahren, als wir mit Klett Kinderbuch zum ersten Mal einen eigenen Stand auf der
Leipziger Buchmesse hatten. Vorher war Leipzig liest
für mich natürlich auch schön: die vor Literatur vibrierende Stadt, Lesungen an den unmöglichsten
Orten, Gespräche mit wildfremden Menschen in der
Straßenbahn über Autoren, Bücher, Verlage … dieses
unverwechselbare „Wir alle schwimmen in Literatur“Gefühl, das man an den Messetagen in dieser Stadt
erlebt wie nirgendwo sonst.
Aber am eigenen Stand erlebte ich die Bedeutung
dieser zwei Wörter noch einmal neu. Leipzig kam,
setzte sich hin und las. Nicht ganz Leipzig, das ist klar.
Aber komplette Leipziger Familien, mit zwei, drei oder
vier Kindern. Eine hat mich besonders beeindruckt.
Angeschmiegt von beiden Seiten und auf dem Schoß
sitzend, ließen sich die Kinder in aller Ruhe von ihrem
Papa ganze Bücher vorlesen, eins nach dem anderen.
Ich hatte derweil Gespräche, Termine an anderen
Orten, ich war mal auf Toilette – wenn ich zurückkam,
saßen sie immer noch da. Bis alle Bücher ausgelesen
waren. Im nächsten Jahr kamen sie wieder und lasen
wieder alles durch.
Leider sind sie jetzt zu groß geworden und kommen
nicht mehr. Auch unser Programm ist größer geworden
– es wäre jetzt schwierig, alle unsere Titel hintereinan-
Zwei für Heiner: Georg M. Oswald und
Helmut Krausser lesen im smow.
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derweg zu lesen. Aber dieses Leipzig-liest-Bild hat mich
durch die erste Zeit begleitet: Wir sind mit Klett Kinderbuch genau in der richtigen Stadt gelandet.
Monika Osberghaus, Jahrgang 1962, arbeitete als Buchhändlerin, studierte Kinderliteratur und betreute zehn Jahre die
Kinderbuchseiten der F.A.Z. Heute ist sie Verlegerin von Klett
Kinderbuch. Sie lebt mit Mann und Sohn in Leipzig.
Einige von tausend Toden In Leipzig haben wir nicht
das erste Mal aus dem versionierten E-Book „Tausend
Tode schreiben“ gelesen, aber das erste Mal in einem
offiziell literarischen Rahmen. „Wir“ ist im Falle dieses
Projekts mit mittlerweile mehreren Hundert Autorinnen und Autoren eine sehr bewegliche Größe, nicht
mal ich, die Verlegerin und Herausgeberin, bin zwingend in allen Kontexten Teil davon. Auch im Telegraph blieb bis zum Schluss offen, wer von den Mitwirkenden anwesend sein und wer darüber hinaus
lesen würde. Es ist immer ein bisschen merkwürdig,
wenn sich Netzmenschen das erste Mal „draußen“
begegnen, es dauert einen Moment, bis man die virtuelle Vertrautheit mit der physisch realen Fremdheit
vermittelt hat, und weil #1000Tode mehr noch als
Twitter- und Facebook-Freundschaften eine große
virtuelle Nähe unter den Beteiligten erzeugt, spürte
ich das in Leipzig besonders deutlich, ja, war sogar ein
bisschen überfordert, konnte ich in den meisten Fällen
doch Personen erst identifizieren,
indem ich ihren Namen laut aussprach und sie auf die Bühne bat,
Personen, von denen ich durch
ihre Texte doch Dinge wusste, die
ich von Menschen, die ich gut
kenne, nicht weiß. So begann ein
bisschen geisterhaft ein Abend, der
von uns allen, die wir anwesend
waren, als sehr lebendig erinnert
wird. Nicht unpassend für eine
E-Book-Lesung.
Christiane Frohmann, Jahrgang 1969,
arbeitet als Digitalverlegerin, Autorin
und Veranstaltungsorganisatorin in
Berlin. 2011 war sie Mitbegründerin des
E-Book-Verlags eriginals berlin, 2012
startete sie den Frohmann Verlag.
bücherleben | ausgabe september 2015
Auf Tuchfühlung mit den Lesern:
Martin Walser signiert.
Liebeserklärung Die Leipziger sind – und das auch
in der DDR-Zeit – das beste, das hellhörigste, das
reaktionsfähigste Publikum, das sich einer, der vorliest, wünschen kann. Das heißt, ich habe nirgends
lieber gelesen als in Leipzig.
Martin Walser, geboren am 24. März 1927 in Wasserburg, lebt
in Überlingen am Bodensee – und hat seinen Geburtstag schon
oft in der Messestadt gefeiert. Im zuletzt erschienenen Tagebuchband „Schreiben und Leben“ (Rowohlt 2014) finden sich
auch Notate einer frühen Leipzig-Reise im März 1981.
Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk,
dem früheren galizischen Stanislau, gilt heute als Klassiker der
ukrainischen Gegenwartsliteratur. Für seinen Roman „Zwölf
Ringe“ (Suhrkamp 2005) wurde er 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. 2014
erschien der von Andruchowytsch herausgegebene Band „Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ (Suhrkamp).
bücherleben | ausgabe september 2015
Dämonen Erstmals war ich in Leipzig zur Buchmesse
2004. Von allen Episoden jenes unvergesslichen
Besuchs ist dies die unvergesslichste:
Suhrkamp hatte mich eingeladen, auf dem legendären
Blauen Sofa zu lesen. Danach gab es einen Empfang
mit Wein. Unter solchen Umständen vergesse ich oft
die Zeit und so kommt es, dass ich üblicherweise fast
der letzte Gast bin, der weggeht.
Plötzlich finde ich mich also ganz allein im nächtlichen
Leipzig wieder, zu mitternächtlicher Stunde, in mir
rauscht der Wein, ich habe mich verlaufen, es weht ein
starker Wind und bläht die Schöße meines damals
noch langen Mantels. Irgendwo von der Seite, aus der
Dunkelheit, erreicht mich die heisere Stimme eines
obdachlosen Greises: „Gehen Sie ins Büro?“ Es kommt
mir vor, als wolle er mich veräppeln, also antworte ich
wütend: „Nein, in die Hölle!”
Er verzieht sich ängstlich. Vielleicht sehe ich wirklich
irgendwie dämonisch aus – die Schöße meines Mantels, der entschlossene Gang, die wirren Haare. Fehlen
der Huf, die Hörner, die Aureole.
Erst als mir einfällt, dass diese Straßenbahnschienen
zum Hauptbahnhof führen müssen, gelingt es mir,
das Hotel zu finden.
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Hopp, Schwiiz:
Schwingen und Literatur
Leipzig liest – ich auch Dass Leipzig liest, weiß eh
jeder, und ich, quod erit demonstrandum, auch. Und
noch etwas weiß jeder, ich auch, ich hab es nur nicht
ernst genommen: Dass nämlich, wenn der Messetag
vorüber ist, der schlechteste Moment ist, um in die
Straßenbahn Richtung Stadt zu steigen. Dann ist die
nämlich wie zur Rushhour in Tokio.
Ich tat es trotzdem und hatte das unverdiente Glück,
in dem Totalgedrängel noch einen Klappsitz zu erwischen. Auf dem saß ich also, die Tüte mit Büchern und
Prospekten zwischen den Knien und direkt vor mir
eine sehr schöne Frau, die mit dem Herrn, der neben
mir saß, sich sehr lebendig in einer Sprache unterhielt,
die ich absolut nicht erkennen konnte. Eine Weile
ergötzte ich mich an dem Rätselraten und dem Klang,
dann zog ich einen Gedichtband aus der Tüte, den mir
am Nachmittag ein befreundeter Verleger in die Hand
gedrückt hatte. Ich fing an zu lesen (s. o.).
Es dauerte nicht lange, da beugte sich die Schöne über
meinen Scheitel und sagte: „Da lesen sie aber gerade ein
sehr schönes Buch.“ Und ich: „Ehe Sie mir das erklären,
verraten Sie mir bitte, in welcher Sprache ihr beide
geredet habt.“ „Albanisch“, sagte sie, und jetzt wusste
ich auch (das erklär ich ein andermal), woher sie das
Buch kannte. Bis zum Hauptbahnhof unterhielten wir
uns über das Wunder des Gedichts, wie viel Kunst und
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Welt und Leser-Ich da auf knappstem Raum zueinander finden. Wir merkten das eigene Glück am Anderen,
und Schöneres kann es kaum geben.
Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt/Main, aufgewachsen
in Eckernförde an der Ostsee, war lange Jahre Lektor und
Geschäftsführer des Residenz Verlags in Salzburg. Im Jahr
2000 gründete er dort den eigenen Verlag Jung und Jung.
Schwingen Sägemehl ging nicht – aus feuerpolizeilichen Gründen. Sportmatten mussten genügen. In den
sogenannten „Ring“ gestiegen sind sie trotzdem, die
zwei Schweizer Schwinger, um auf der Bühne des
Schauspielhauses Leipzig im Rahmen von „Auftritt
Schweiz“ helvetische Sport-Folklore mit Literatur zu
paaren. Die Verbindung zum Wort schuf Wolfgang
Bortlik, der Schwinger-Texte von Schweizer Autoren
und eigene Schwinger-Gedichte gelesen und den
Anlass moderiert hat. Wie am Schluss der Veranstaltung einer der stämmigen Ringer den auch nicht
gerade leichtgewichtigen Autor fast in Zeitlupe kunstgerecht auf die Matte gelegt hat, war große Poesie.
Peter Bichsel hätte seine Freude gehabt.
Dani Landolf, Jahrgang 1968, hat als Journalist gearbeitet,
zuletzt als stellvertretender Chefredakteur der Berner Tageszeitung „Der Bund“. Seit 2007 ist er Geschäftsführer des
Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbands (SBVV).
bücherleben | ausgabe september 2015
Ganz Leipzig lauscht, wenn Leipzig liest Ich wohne
nicht einfach in Leipzig. Ich wohne wahlweise in der
Bachstadt, der Messestadt, der Autostadt, der Wasserstadt oder der Sportstadt. Das ist manchmal ein bisschen ermüdend. Denn es kommen immer noch neue
Titel und Namen hinzu. Ganz aktuell: Die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands.
Einen Superlativ gibt es allerdings, den kann man gar
nicht oft genug erwähnen: Leipzig liest – das größte
Lesefest Europas. Das größte Lesefest in Verbindung
mit der Buchmesse der Herzen – das ergibt bei mir
zusammen ungefähr so viel Vorfreude wie Geburtstag
und Weihnachten zusammen bei meinen Kindern.
Aber auch die Tage vor und nach Leipzig liest bleiben
literarisch geprägt: Über das ganze Jahr wirken viele
junge Literaturmacher und eine Vielzahl kleiner und
mittlerer Verlage in Leipzig. Nicht umsonst bekam
Leipzig in den Medien den Beinamen: „Ungekrönte
Königin der jungen deutschsprachigen Literatur.“
Leipzig wird erfolgreiche Literaturstadt bleiben, weil
der Standort viel früher als alle anderen auf das wichtigste Thema der Branche gesetzt hat: Literaturvermittlung. Ganz Leipzig lauscht eben, wenn Leipzig liest.
Claudius Nießen, geboren 1980 in Aachen, studierte am
Deutschen Literaturinstitut Leipzig, dessen Geschäftsführer
er seit 2008 ist. Unter dem Label Clara Park entwickelt er
Literaturveranstaltungen und berät öffentliche Einrichtungen,
Stiftungen und Unternehmen in Fragen der Kunst- und Kulturförderung. Die von ihm betreute Lange Leipziger Lesenacht
ist einer der Magneten von Leipzig liest.
Grass, zum Letzten Der 87-jährige Nobelpreisträger
hatte in den letzten Jahren seine öffentlichen Auftritte
spürbar reduziert. Größere Exkursionen mied er
möglichst ganz, denn das jahrzehntelange Pfeifenrauchen hatte seine Lunge ziemlich zugesetzt, sodass es
ohne Sauerstoffmaschine kaum noch ging. Und damit
ließ sich schlecht reisen.
Als ich ihn dann aber fragte, ob er bereit wäre, den
ersten Band der „Freipass“-Reihe, dem neuen Jahrbuch der Günter und Ute Grass Stiftung, während
der Leipziger Buchmesse vorzustellen, wurde er ganz
hellhörig. Mit der Veranstaltungsreihe verband er
nur gute Erinnerungen: volle Säle bei den Lesungen
aus seinen belletristischen Büchern des Steidl-Verlages, lebhafte Diskussionen zu den zeitgeschichtlichen Dokumentationen bei uns, darunter 2010 die
Buchpremiere im Saal des Alten Rathauses zu seiner
Stasi-Akte.
Schließlich kamen wir überein, dass ihn ein Fahrer
von uns zu Hause bei Lübeck abholte, die ganze Zeit
in Leipzig begleitete und am Folgetag wieder nach
Hause brachte. Dazwischen lagen zwei fulminante
Auftritte: seine Lesung in der überfüllten Universitätsbibliothek Albertina und eine politisch scharfe Diskussion auf dem „Blauen Sofa“ des ZDF in der großen
Glashalle der Messe vor mehr als 500 Zuhörern.
Das war am 13. und 14. März 2015. Genau einen Monat
später, am 13. April, verstarb er an einer Lungeninfektion. Die Lesung seiner
zwölfseitigen Ballade
„Netajis Weltreise“ bei
Leipzig liest war sein
Bewegender Moment:
Günter Grass in der Albertina
letzter literarischer
Auftritt. Für alle Beteiligte ein denkwürdiges
Erlebnis.
Christoph Links, geboren
1954 in Caputh bei Potsdam, ist Verleger und
Publizist. Der von ihm im
Dezember 1989 gegründete Ch. Links Verlag war
einer der ersten Independents, die nach Aufhebung
der Zensur in der DDR die
Arbeit aufnahmen.
bücherleben | ausgabe september 2015
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Bibliotheken
Onleihe:
Wie weiter?
E-Book-Ausleihe in öffentlichen
Bibliotheken: Neue Buchformate
und Nutzungsmöglichkeiten verlangen
nach neuen Regeln und Geschäftsmodellen. Wir haben zwei Akteure
der Diskussion gebeten, ihren Standpunkt zu erläutern.
Bibliotheken brauchen E-Books
Von Frank Simon-Ritz
Ein wenig überspitzt könnte man sagen, dass derjenige, der infrage stellt, dass öffentliche Bibliotheken
überhaupt ein E-Book-Angebot vorhalten müssen,
die Existenzberechtigung und Zukunftsfähigkeit
dieser Einrichtungen infrage stellt. Bibliotheken
waren schon immer dazu da, ihre Kundinnen und
Kunden mit Information, Wissen und Unterhaltung
zu versorgen – und das ganz unabhängig von den
gerade aktuellen „Datenträgern“. Wer Bibliotheken
also auf das gedruckte Buch reduzieren wollte,
würde ihnen den weiteren Weg ins Digitale verwehren. Über kurz oder lang würden sich Bibliotheken
damit zu „Papiermuseen“ entwickeln. Für Nostalgiker wären sie damit zwar immer noch ein attraktiver
Ort, aber eine aktive Rolle bei der Informationsversorgung der Bevölkerung würde ihnen damit nicht
mehr zukommen.
Um genau diese Rolle auch weiterhin spielen zu
können, brauchen Bibliotheken also dringend
ein attraktives E-Book-Angebot. Die Situation in
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Frank Simon-Ritz, Jahrgang 1962, ist seit 1999
Direktor der Universitätsbibliothek der BauhausUniversität Weimar. Seit 2012 ist er stellvertretender Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz und Mitglied des Sprecherrats des Deutschen Kulturrats, seit April 2012 Vorsitzender des
Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv).
Deutschland ist im europäischen bzw. internationalen Vergleich zwiespältig einzuschätzen. Auf der
einen Seite gibt es relativ viele öffentliche Bibliotheken, für die ein entsprechendes Angebot selbstverständlich ist. Andererseits ist es für die Bibliotheken und ihre Nutzerinnen und Nutzer immer
weniger nachvollziehbar, dass sich große Verlage
und Verlagsgruppen (Holtzbrinck) sträuben, ihre
E-Books für öffentliche Bibliotheken zu lizenzieren.
Und noch schwerer ist es zu verstehen, dass tatsächlich – ganz anders als bei gedruckten Büchern –
Verlage darüber entscheiden können, ob Bibliotheken ihre Produkte anbieten können oder nicht. Da
dies ein unhaltbarer Zustand ist, fordern Bibliotheksvertreter bereits seit 2012, dass es hier zu einer
gesetzlichen Regelung kommen muss. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien hat im Frühjahr
2015 eine klare Richtung vorgegeben, dass nämlich
– wenn es zwischen Verlagen und Bibliotheken hier
in absehbarer Zeit nicht zu einer Einigung kommt
– „aus kulturpolitischer Sicht gesetzliche Regelungen in Betracht zu ziehen sind“.
bücherleben | ausgabe september 2015
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Bibliotheksräume – real und
digital: Der im Vorfeld der Leipziger
Buchmesse vom 14. bis 17. März
2016 stattfindende 6. Bibliothekskongress lädt zur Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen und
wichtigen Zukunftsfragen des Bibliotheks- und Informationssektors
ein. Die Großveranstaltung im CCL
steht unter der Schirmherrschaft
von Kulturstaatsministerin Monika
Grütters; Gastland sind die USA.
www.bid-kongress-leipzig.de
Matthias Ulmer, Jahrgang 1964, ist geschäftsführender Gesellschafter des Verlags Eugen
Ulmer (Stuttgart). Er ist Vorstandsmitglied des
Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und befasst sich dort schwerpunktmäßig mit dem Thema Digitalisierung und
dem Dialog mit den Bibliotheken.
Bibliotheken haben E-Books
Von Matthias Ulmer
Das erfolgreichste Segment im Buchmarkt ist aktuell
die E-Book-Ausleihe der öffentlichen Bibliotheken.
Fast täglich findet man in Regionalzeitungen Fotos von
Bürgermeistern, die sich stolz am Computer bei der
Nutzung der neu eröffneten Onleihe in ihrer Kommune fotografieren lassen. Noch nie konnten Bibliotheken solche Zuwächse vermelden, noch nie gab es so
begeisterte Rückmeldungen der Nutzer, noch nie
waren die Kommunalpolitiker so stolz auf ihre Bibliotheken. Eine echte Erfolgsgeschichte. Dennoch bemüht
sich der Bibliotheksverband, in der Lobbyarbeit ein
Bild von Krisen und Gefahren zu zeichnen. Wie passt
das zusammen?
Ob im Bereich der Musik, der Filme, der Hörbücher
oder jetzt auch der E-Books: Verleih- oder Abomodelle
sind offenbar das angemessene Vertriebsmodell für
digitalisierte Medien. Sie lösen zunehmend die Kaufmodelle ab. Für Urheber und Verwerter ist es deshalb
notwendig, sich rechtzeitig umzustellen und die Refinanzierung der Medien über die neuen Vertriebskanäle
bücherleben | ausgabe september 2015
zu sichern. Auf der Suche nach angemessenen Preisund Lizenzmodellen bedeutet das zunächst: viel Experimentieren. Die E-Book-Angebote der öffentlichen
Bibliotheken sind für Leser attraktiv und kostenlos.
Das ist unschlagbar. Man kann bezweifeln, dass es
neben den 2.500 öffentlichen E-Book-Angeboten noch
Platz für kostenpflichtige kommerzielle gibt. Und da
beginnt das Problem: Wenn sich die E-Book-Nutzung
komplett auf Leihmodelle verlagert und die Kaufumsätze wegfallen, ist die Produktion von Literatur in
Form von E-Books nur möglich, wenn adäquate
Umsätze im Leihmarkt entstehen. Läuft der Leihmarkt
fast vollständig über die öffentlichen Bibliotheken,
müssen die Umsätze von den Bibliotheken finanziert
werden. Und dafür haben sie keine Gelder. Eine Urheberrechtsschranke würde zwar den Schwarzen Peter
von den Kommunen auf die Kultusminister verschieben. Das Geld – daran zweifelt niemand – werden aber
auch die nicht zur Verfügung stellen.
Es bleibt nur die Möglichkeit, gemeinsam einen Weg
zu finden, der Autoren angemessene Honorare sichert,
der die Investitionen der Verlage refinanziert, der für
Kommunen finanzierbar und für Leser attraktiv ist.
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Comic
& Manga
Romane in Bildern
Comics in Publikumsverlagen: Ausdrucksbreite und Formenspektrum des
Genres werden hierzulande gerade erst richtig entdeckt. Zunehmend mischen
auch etablierte Belletristikverlage mit. Von Andreas Platthaus
Dass sich die Einstellung von etablierten Belletristikverlagen gegenüber Comics geändert hatte, wurde
mir klar, als ich von Suhrkamp im Jahr 2008 dazu
eingeladen wurde, eine neue Reihe mit gezeichneten
Adaptionen von Literaturklassikern herauszugeben.
Dass sich doch noch nicht so viel geändert hatte,
wurde mir klar, als ich dann erstmals mit der Verlagsspitze und einigen Comiczeichnern, deren Mitwirkung ich erhoffte, zusammensaß.
Die Erwartungen an Verkaufszahlen von Comics
waren ebenso unrealistisch wie die Vorstellungen
vom nötigen Arbeitsaufwand. Bei den Auf lagen
denken Verlage gern an „Asterix“ mit seinen Millionenstartauflagen, was aber leider ein einmaliges
Phänomen ist, beim Arbeitsaufwand an die Mühe,
die für ein normales Buch von vielleicht 150 Seiten
nötig ist. Doch Zeichnen kostet meist mehr Zeit als
Schreiben – normal bei Comics sind eine bis zwei
Seiten Reinzeichnung pro Tag –, und das Schreiben
kommt ja noch dazu, weil auch eine literarische
Vorlage erst einmal so umgearbeitet werden muss,
dass man sie überhaupt zeichnen kann. Zudem war
es der Wunsch des Verlags, dass jeder seiner Comicadaptionen der vollständige Text der Vorlage beige14
geben würde, was ein groteskes Ungleichgewicht
geschaffen hätte, denn die gezeichneten Versionen
von Belletristik haben im Regelfall deutlich weniger
Seiten, weil man durch die Bilder vieles leichter darstellen kann, was literarisch ausführlich beschrieben
werden muss, und Comics generell nicht allzu textlastig sein sollten. Faktisch wären bei Umsetzung der
Idee einer Kombination von geschriebenem und
gezeichnetem Buch nur noch Erzählungen oder
Novellen für eine Adaption infrage gekommen – ein
Konzept, das wenige Jahre später die Büchergilde
Gutenberg umgesetzt hat, als sie E.T.A. Hoffmanns
„Fräulein von Scuderi“ und Arthur Schnitzlers
„Traumnovelle“ auf diese Weise herausbrachte.
Suhrkamp träumte von Frisch-,
Hesse- oder Bachmann-Adaptionen. Mit einem Wort: von
Schul-Comics, die im Deutschunterricht so gut verwertbar
wären wie im Kunstunterricht.
bücherleben | ausgabe september 2015
Hier und jetzt: Mit seiner Comicerzählung
„Here“ sprengte Richard McGuire 1989 die
Grenzen des Genres. Auf sechs Seiten
glückte es ihm, die menschliche Idee von
Zeit und Raum infrage zu stellen. 25 Jahre
später erschien die Langversion des Kultcomic bei DuMont.
Diese Erwartungen waren also dreifach unrealistisch,
und es ist wohl kein Zufall, dass sich von den damals
eingeladenen Comiczeichnern nur einer für das
Projekt gewinnen ließ: Ulf K., der allerdings erst
sechs Jahre später seine Version von Bertolt Brechts
„Geschichten vom Herrn Keuner“ fertigstellte, eine
Sammlung von kurzen Parabeln. Und doch wurde
die Suhrkamp-Graphic-Novel-Reihe ein großer
Erfolg – gewiss mehr publizistisch als finanziell –,
weil der Verlag nicht auf seinen Vorstellungen
beharrte und sich schnell von dem Konzept löste, den
Comics die Ausgangstexte beizugeben. Auch Geduld
wurde aufgebracht, denn der erste Band, Nicolas
Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Roman
bücherleben | ausgabe september 2015
„Alte Meister“, erschien erst 2011. Doch er wurde
nach Judith Schalanskys „Hals der Giraffe“ das von
der Kritik meistbesprochene Suhrkamp-Buch des
Jahres und verkaufte sich mit mehr als 10.000 Exemplaren für einen anspruchsvollen Comic glänzend.
Seitdem sind in der Graphic-Novel-Reihe des Verlags
zehn Bände erschienen, darunter Bearbeitungen von
Marcel Beyer, Robert Musil, Lewis Carroll, Mark
Twain, aber mittlerweile auch mit Volker Reiches
„Kiesgrubennacht“ eine erste eigenständige Comicproduktion.
Suhrkamp war trotzdem kein Pionier auf diesem
Feld; der Verlag genoss wegen seines literarischen
Renommees lediglich das größte Aufsehen. Als
erster großer deutscher Belletristikverlag hatte
Rowohlt bereits in den siebziger Jahren den japanischen Manga „Barfuß durch Hiroshima“ von Keiji
Nakazawa verlegt, die autobiografische Schilderung
eines Jungen, der den Atombombenangriff vom 6.
August 1945 überlebt hat. Allerdings erfüllte der Band
15
nicht die Erwartungen des Verlags, und so blieb die im
Original insgesamt vierteilige Erzählung in Deutschland für dreißig Jahre ein Torso, ehe der Comicverlag
Carlsen sie neu und vollständig herausbrachte.
Rowohlt war es aber gleichfalls, wo 1987 Ralf Königs
Schwulencomic-Komödie „Der bewegte Mann“
erschien und 1989 dann der erste, 1992 der zweite
Band von Art Spiegelmans „Maus“ – einer der größten
Comicerfolge weltweit und diesmal auch in Deutschland. Wobei das Haus den Zuschlag deshalb bekommen hatte, weil der erste deutsche Rechteinhaber, der
Zweitausendeins Verlag, einen Übersetzer engagiert
hatte, der Spiegelmans Vorlage zu frei ins Deutsche
gebracht hatte, weshalb dann die Reinbeker mit ihrem
exzellenten Ruf für Übersetzungen aus dem Englischen zum Zuge kamen. Rowohlt bescherte das ein
Buch, dem das gelungen ist, was Suhrkamp sich zwei
Jahrzehnte später auch für seine Comics erträumte:
Schullektüre in Deutschland zu werden.
Zauberwort Graphic Novel: Art Spiegelman „Meta Maus (S.
Fischer), David Mazzucchelli „Asterios Polyp“ (Eichborn), Marcel
Beyer/Ulli Lust „Flughunde“ (Suhrkamp), Erich Kästner/Isabel
Kreitz „Pünktchen und Anton“ (Dressler), Volker Reiche „Kiesgrubennacht“ (Suhrkamp) und Alison Bechdel „Fun Home“ (Kiepenheuer & Witsch).
16
„Maus“, die Geschichte von Art Spiegelmans Eltern,
die als polnische Juden Auschwitz überlebt haben
und dann nach Amerika auswanderten, wo Spiegelmans Mutter 1968 den Freitod wählte, hat den Comic
revolutioniert: in seinen erzählerischen Mitteln, aber
mehr noch in der öffentlichen Wahrnehmung.
Plötzlich wurde erkannt,
welche Möglichkeiten diese
Erzählform bot, und Leser
wie Publikumsverlage suchten
ähnliche Bücher.
Aber nur abermals Rowohlt fand auch welche, nämlich weitere Bände von Ralf König. Anderes ungewöhnliches Material jedoch gab es nicht, weil sich die
Zeichner und die Comicverlage an die seit Jahrzehnten etablierten Muster hielten, die eigentlich nur aus
den in Format und Seitenumfang genau festgelegten
Heften und Alben bestanden. Für eine „literarische
Erzählweise“, die Format und Umfang eines Comics
nach den Erfordernissen einer Geschichte gewählt
hätte, wie es bei Romanen ja
üblich ist, schien in den Comicverlagsprogrammen kein Platz zu
sein – obwohl sowohl „Barfuß
durch Hiroshima“ als auch „Der
bewegte Mann“ und „Maus“
bereits vorgemacht hatten, dass es
auch anders ging. Es musste erst
der vom Comicverlagsmarketing
zunächst in den Vereinigten Staaten, später auch in Deutschland
geprägte Begriff „Graphic Novel“
kommen, um mehr Freiheit für
die Autoren und Lektoren zu
schaffen – und das Interesse der
klassischen Belletristikverlage zu
wecken.
Aber das wäre gar nicht möglich
gewesen ohne eine weitere Voraussetzung: die Bereitschaft des
bücherleben | ausgabe september 2015
Sortimentsbuchhandels, sich auf Comics einzulassen,
die in Deutschland bislang als Kiosk- oder Bahnhofsbuchhandelsware galten – oder in speziellen Comicläden verkauft wurden. Für diese neue Einstellung
war ein Phänomen verantwortlich, das Ende der
neunziger Jahre entstand: die Manga-Begeisterung.
Die damals vor allem von den beiden großen deutschen Comicverlagen Carlsen und Ehapa aus Japan
importierten Serien stießen auf ein jugendliches
Publikum, das hier etwas ganz Neues entdeckte, das
die eigenen Eltern, die schon mit Comics aufgewachsen waren, nicht kannten und vor allem auch nicht
verstanden – zu unterschiedlich vom westlichen
Comic war die Manga-Erzählweise. Ideale Voraussetzungen also für ein veritables Jugendphänomen.
Zusätzlich fanden erstmals Mädchen gezeichnete
Geschichten, die speziell für sie konzipiert waren,
während sich die amerikanischen und europäischen
Comics klar am traditionell männlichen Publikum
orientierten. Mit diesen neuen Käuferschichten entstand auch die Möglichkeit, neue Vertriebswege zu
wählen, denn die Manga-Fans wollten gar nicht ins
alte Umfeld der Comicleser. Klassische Buchhandlungen, die es riskierten, Manga-Regale aufzustellen,
erlebten einen Ansturm jugendlicher Leser, die sonst
wohl nie den Weg dorthin gefunden hätten.
Als dann mit den Graphic Novels das nächste vielversprechende – und dazu noch „literarische“ –
Comicphänomen anstand, ließ sich der Sortimentsbuchhandel gern dafür gewinnen, und so fanden die
als anspruchsvoll vermarkteten Comics auch tatsächlich ein literarisches Publikum. Das wiederum
machte die klassischen Verlage nachdenklich. Als
einer der ersten wagte sich Knesebeck an Comics,
allerdings erst einmal 2006 mit Stéphane Heuets
Adaption von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit“ an ein Projekt, das
in Format und Umfang noch dem traditionellen
französischen Albenformat folgte. S. Fischer dagegen setzte auf die Bekanntheit von Art Spiegelman,
als der Verlag 2008 dessen Anthologie „Breakdowns“
im Überformat herausbrachte, die stark erweiterte
Neuausgabe seines Debütbands, der ursprünglich
bücherleben | ausgabe september 2015
bereits 1980 auf Deutsch bei Stroemfeld/Roter Stern
erschienen war. Zugleich wechselte Spiegelman auch
mit „Maus“ von Rowohlt zu S. Fischer. So sind wir
jetzt auch bei Comics soweit gelangt, dass Verlage
erfolgreiche Autoren abwerben.
Andere Belletristikverlage, die sich zuletzt an Comics
versucht haben, sind Kiepenheuer & Witsch mit
bislang zwei Graphic Novels von Allison Bechdel,
DuMont mit Richard McGuires „Hier“, Atrium mit
mehreren Bänden unterschiedlichster Provenienz,
Eichborn mit Tim Dinters Adaption von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ oder der Jugendbuchverlag Dressler mit Isabel Kreitz’ Comicversionen
von Erich-Kästner-Klassikern. Das Spektrum an
Namen und Themen ist breit – beste Voraussetzungen für einen anhaltenden Trend.
Andreas Platthaus, Jahrgang 1966, ist seit 1997 im Feuilleton
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig; derzeit ist er dort
stellvertretender Chef des Ressorts Literatur und literarisches
Leben. Neben dem Roman „Freispiel“ (Rowohlt Berlin, 2009) hat
Platthaus vor allem Sachbücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Publikationen zur Comic-Kultur.
»
Comics für alle: Literarische
Comics und Graphic Novels sind
am Comic-Gemeinschaftsstand
(Halle 5) und bei zahlreichen
Belletristikverlagen zu erleben.
Parallel zur Buchmesse öffnet im
März 2016 die 3. Manga-ComicCon in Halle 1 ihre Tore.
17
Digitales
Lesen
Generation Smartphone
Digitales Lesen: Das Bedürfnis nach gut erzählten Geschichten ist ungebrochen,
wird allerdings längst nicht mehr nur zwischen Buchdeckeln gestillt. Eine
Herausforderung für Produzenten und Vermittler.
„Wer die Zukunft kennenlernen will, muss 15-Jährige
fragen, die alles per Smartphone erledigen“, ist Oliver
Samwer, Vorstandsvorsitzender von Rocket Internet
und einer der erfolgreichsten deutschen Netz-Unternehmer, überzeugt. In der Tat: Ohne Internet läuft
bei Deutschlands Kindern und Jugendlichen nichts
mehr. Es ist immer da – wie die Luft zum Atmen.
Spätestens im Alter von zehn Jahren sind fast alle im
Netz unterwegs – so das Fazit einer aktuellen Studie
des Branchenverbands Bitkom. Der Bericht mit dem
Titel „Jung und vernetzt – Kinder und Jugendliche in
der digitalen Gesellschaft“ stellt fest, dass heute bereits
85 Prozent der 12- bis 13-Jährigen über ein eigenes
Smartphone verfügen; die mobile Nutzung des Internets hat sich bei Kindern von 2011 bis 2013 auf 73
Prozent verdreifacht. Dienste wie Google, Wikipedia,
YouTube, Facebook, WhatsApp oder Instagram gehören bereits bei den 10-Jährigen zum Alltag. Dreijährige „swypen“ mit den Fingern über Flachbildschirme
oder die Cover von Hochglanzmagazinen, Dreikäsehochs hören ihre Lieblings-Tracks per Spotify-Strea18
ming auf dem Schulweg, Jugendliche verabreden sich,
von den Erwachsenen unbemerkt, via WhatsAppGruppenchats zu Leseaktionen. Oder verschicken
über den seit 2014 zu Facebook gehörenden Chatdienst Sprachnachrichten, statt mühsam SMS zu
tippen. „Jugendliche, die in ihren Klassenräumen auf
interaktiven Whiteboards statt auf Kreidetafeln
schreiben, Kleinkinder, die intuitiv Tablets bedienen
können, bevor sie Bauklötze aufeinander stapeln, sind
nicht mit den Käufergruppen zu vergleichen, die
bisher den Buchmarkt bestimmten“, meint Kai Wels,
Stabsleiter Digitale Medien und Produktentwicklung
beim Berliner Beuth Verlag. Und:
„Wer die nachfolgenden
Generationen erreichen will,
muss ihr mediales Nutzungsverhalten besser verstehen als
diese selbst.“
bücherleben | ausgabe september 2015
Immer drin: Für die Digital Natives
ist das Netz immer verfügbar – wie die
Luft zum Atmen.
bücherleben | ausgabe september 2015
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Die „Generation Smartphone“, so Wels, differenziere
Content nicht mehr nach den jeweiligen Containern:
„Egal ob E-Book, Buch, Zeitung, Magazin, Social
Network, Webseite, Blog oder App – für sie ist es am
Ende nur ein weiteres Icon auf ihrem Homescreen.“
In einer Welt, die uns immer mehr Mobilität und
Flexibilität abverlangt, ist elektronisches Lesen zweifellos zukunftsfähig. Leseforscher beobachten indes
einen Wandel des Leseverhaltens – es wird flüchtiger,
fragmentarischer. Auf bruch in eine neue, aufregende Ära des multimedialen Geschichtenerzählens
oder Ende der Gutenberg-Galaxis? „Produzenten
und Vermittler sind derzeit gezwungen, sich auf
unbekanntes Terrain zu begeben“, meint Doris
Breitmoser, Geschäftsführerin des Arbeitskreises für
Jugendliteratur (AKJ), der die Auswirkungen der
Digitalisierung auf die Kinder- und Jugendliteratur
schon häufiger in seinem traditionellen FrühjahrsSymposium zur Leipziger Buchmesse in den Blick
nahm. „Dabei herrschen Goldgräberstimmung und
Unsicherheit gleichermaßen.“ Während die einen
auf größere Freiheiten für die Urheber und neue
Ausdrucksformen hofften, fürchteten andere die
Aushöhlung des Urheberrechts und das Marktdiktat
der großen Konzerne. Während auf der einen Seite
neue Chancen für die Leseförderung in Sicht kommen, wird andernorts ums Kulturgut Buch, den
Fortbestand von Bibliotheken und Buchhandel
gezittert. Zeitgemäße Leseförderung muss die Vielfalt
im alltäglichen Medienumgang von Kindern und
Jugendlichen
aufgreifen, um
diese in ihrer
Lebenswirklichkeit zu
erreichen. Aus
Sicht der Stiftung Lesen
bergen digitale
Medien – von
der K i nderbuch-App bis
zum enhanced
20
E-Book – immense Chancen, fürs Lesen zu begeistern. Um ihre Potenziale für die Leseförderung besser
zu nutzen, hat die Stiftung einen eigenen Entwicklungsbereich „Digitales Lesen“ aufgebaut. Er greift
aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung auf, entwickelt neue Modell- und Forschungsprojekte rund um
den Einsatz digitaler Medien in der Leseförderung
und bietet allen hier Aktiven Unterstützung und
Hilfestellung an, etwa in Form von Webinaren, Leseund Medienempfehlungen.
Ob es um Wikipedia-Recherchen
oder die neuesten Statusmeldungen auf Facebook geht – für die
Stiftung ist Lesen im digitalen
Zeitalter eine Schlüsselkompetenz,
um an Bildung teilzuhaben,
Informationen zu bewerten, die
Gesellschaft aktiv mitzugestalten.
Nur konsequent, dass sich auch der „Leipziger Lesekompass“, mit dem die Stiftung Lesen und die Leipziger Buchmesse seit 2012 Orientierungshilfen für
Lehrer, Erzieher und Eltern geben, nicht auf Gedrucktes beschränkt: „Wir finden, dass andere Trägermedien teilweise enormes pädagogisches und
motivatorisches Potenzial bergen“, meint Sabine
Uehlein, Programm-Geschäftsführerin der Stiftung.
„Wenn Kinder neben einer guten Geschichte auch
etwas über den bewussten Umgang mit neuen Technologien lernen können – umso besser!“
Angesichts des sich rasant verändernden Mediennutzungsverhaltens der jungen Zielgruppe tun auch
Verlage gut daran, die gegenwärtige Technologierevolution als Chance zu begreifen – und in die
Zukunft zu investieren. Dabei lässt sich sogar die
Klischeefalle umgehen, digitale Produkte als Sargnagel des gedruckten Buchs zu betrachten. Mit seiner
Multimediabibliothek LeYo! hat Carlsen die Brücke
bücherleben | ausgabe september 2015
zwischen beiden Welten geschlagen: Zu jedem Buch
der Reihe gibt es eine kostenlos herunterladbare App,
mit der Kinder ab drei Jahren Buchinhalte akustisch,
visuell und spielerisch erschließen können. „Mit einer
guten Idee“, so Stefan von Holtzbrinck, „kann man
auch heute noch sehr, sehr schnell wachsen“. Unterm
Dach der Holtzbrinck Holding loten Start-ups neue
Ge-schäftsmodelle im digitalen Umfeld aus: Der
Flatrate-Dienst skoobe etwa, über den sich zu einem
festen monatlichen Preis E-Books ausleihen lassen,
oder die Plattform LovelyBooks. skoobe (was rückwärts gelesen das Wort E-Books ergibt), wurde 2010
gegründet, ging zwei Jahre später online und bietet
heute mehr als 130.000 Bücher aus rund 1.600 Verlagen an. LovelyBooks setzt auf Lesen als Gemeinschaftserlebnis, den Austausch über Bücher – direkt
im E-Book, über Widgets, in Apps oder im Social
Web. Das kommt an: Derzeit hat die Plattform rund
165.000 registrierte Mitglieder.
Die grenzenlosen digitalen Möglichkeiten im Blick,
scheint die Branche von einem regelrechten Experimentierfieber erfasst zu sein. Aber: Wird sich der
digitale Markt mittel- und langfristig von rein bestsellergetriebenen Umsätzen emanzipieren, lassen
sich auch neue, anspruchsvolle literarische Formate
durchsetzen, von denen wir heute noch nichts ahnen?
Genau dieser Fragestellung geht der 2013 von Matthias Gatza, Ingo Niermann und Henriette Gallus
gegründete „Modellverlag“ Fiktion nach. Das von der
Bundeskulturstiftung geförderte Projekt will die sich
durch die Digitalisierung eröffnenden Chancen für
die Wahrnehmung und Verbreitung anspruchsvoller
Literatur weiterentwickeln. Dabei setzt Fiktion auf
mehreren Ebenen an: Simultan werden deutsch- und
englischsprachige E-Books publiziert, die sich nicht
nur inhaltlich gängigen Marktkriterien verweigern
– die Bücher werden auch kostenlos angeboten.
Parallel arbeitet man am Aufbau eines internationalen Autoren-Netzwerks, dem inzwischen so illustre
Namen wie Elfriede Jelinek, Douglas Coupland oder
Tom McCarthy angehören. Mit Workshops und
Kongressen für Autoren, Juristen und Verlagsprofis
will Fiktion zudem die Debatte übers Urheberrecht
bücherleben | ausgabe september 2015
Experiment: Matthias Gatza
will anspruchsvoller Literatur
den Weg ins Digitale bahnen.
vorantreiben. Für Mitgründer Matthias Gatza, Autor,
Lektor und im früheren Leben Print-Verleger, eröffnet die Digitalisierung ein spannendes Experimentierfeld: „Als ich mit 26 Jahren meinen eigenen Verlag
hatte, musste ich für jedes Buch 10.000 bis 20.000
Mark ausgeben und dazu noch den Vertrieb finanzieren. Jetzt die Chance zu haben, ästhetischen Übermut ohne diese Kosten in eine lesende Gesellschaft
zu spielen, finde ich aufregend.“
»
Digitale Welten: E-Books, Fortsetzungsromane fürs Handy, Spiele
oder Online-Datenbanken – klassische Buchverlage und Start-ups
arbeiten an neuen digitalen
Geschäftsmodellen für die Branche.
Die Messe bildet diesen Kulturwandel ab und gibt ihm neue Impulse.
Formate wie die Buchmessekonferenz, bücher.macher oder das Programm autoren@leipzig sorgen für
Austausch, Information und Vernetzung zwischen jungen Kreativen und
klassischer Verlagswelt.
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Autoren
Kindheitsmuster
Literatur entsteht nicht im Elfenbeinturm: Das Feedback von Dozenten, Freunden
und Kollegen, Autorenwerkstätten oder die „Prosa Prognosen“ der Leipziger
Buchmesse haben Paula Fürstenberg bei der Arbeit am ersten Roman wichtige
Impulse gegeben.
Als die Mauer fällt, ist Paula Fürstenberg zwei, im
Abiturjahr lockt die Ferne. Was anfangen mit all
dem Leben, das vor ihr liegt? An eine Autorenlaufbahn hat die junge, musik- und theaterbegeisterte
Potsdamerin nie gedacht. Es ist die Mutter, die ihr
– nach einem längeren Frankreich-Aufenthalt –
vorschlägt, Literarisches Schreiben zu studieren.
Eine Wahl, die alle Wege offenhält. Fürstenberg
bewirbt sich am Schweizerischen Literaturinstitut
in Biel. Seit 2006 bietet es ein dreijähriges Vollzeitstudium an, wahlweise in Deutsch oder Französisch. Im Zentrum steht die von einem Mentor
begleitete Arbeit an den eigenen Texten. Im ersten
Jahr ist der Schweizer Silvio Huonder Fürstenbergs
literarischer Sparringspartner, später wechselt sie
zu Ruth Schweikert. Auch Kommilitonen wie Marc
Anton Jahn oder Simone Lappert werden zu Begleitern der täglichen Schreibpraxis – und zu engen
Freunden.
In ihrem ersten Bieler Jahr macht Paula Fürstenberg
eine merkwürdige Entdeckung: „Ich hatte mir fest
vorgenommen, alles Mögliche auszuprobieren, von
der Short Story bis zur Lyrik. Aber bald merkte ich,
22
dass sich Motive und Figuren wiederholten. Eigentlich schrieb ich immer an der gleichen Geschichte.“
Eine Geschichte, die mit Nachgeborenschaft zu tun
hat und mit dem Leben in der DDR, das sie nur aus
Büchern und vom Hörensagen kennt. Eine biografische Spurensuche: „Eigentlich bin ich ja ein Westkind“, lacht Fürstenberg. „Aber ich bin mit Menschen aufgewachsen, die diesen Biografiebruch
in sich tragen.“ In Biel wird aus der Geschichte, die
sich nicht wegdrängen lässt, ein Romanmanuskript.
Mit dem Bachelor aus Biel in der Tasche geht Paula
Fürstenberg zurück nach Berlin. Bald steht ihr
Schreibtisch in der Bürogemeinschaft „Adler &
Söhne“. Die von DLL-Absolventen wie Katharina
Adler, Saša Stanišić und Thomas Pletzinger gegründete Kooperative aus Autoren, Lektoren und Übersetzern, die sich in Heiner Müllers ehemaliger Zigarrenhandlung im Prenzlauer Berg eingerichtet hat,
begreift den Entstehungsprozess von Literatur nicht
als einsames Werkeln im Elfenbeinturm, sondern
setzt auf gegenseitige Inspiration. Auch in „Betriebsfragen“ teilt man bereitwillig Erfahrungen: Welcher
bücherleben | ausgabe september 2015
»
Die Autorenwerkstatt Prosa
wird seit 1998 vom Literarischen
Colloquium Berlin (LCB)
ausgerichtet. Ihr Ziel ist es,
jüngere deutschsprachige
Autorinnen und Autoren, die
noch keine eigenständige Buchpublikation vorgelegt haben,
zu entdecken und zu fördern.
Im Rahmen der Reihe „Prosa
Prognosen“ werden die
Stipendiaten auf der Leipziger
Buchmesse vorgestellt.
Verlag könnte passen? Soll man
einen Agenten einschalten? FürsPaul a Fürstenberg
tenberg ist das Feedback der Kolwurde 1987 in Potslegen wichtig: „Egal, ob ich Vordam geboren und hat
bis 2011 am Schweizeschläge umsetze oder mich gegen
rischen Literaturinstiandere Positionen abgrenze: Der
tut in Biel studier t.
Ihre Arbeiten wurden
Austausch wirkt immer klärend.“
mehrfach ausgezeichAls sie 2011 erstmals öffentlich in
net, 2012 erhielt sie
ein Arbeitsstipendium
der Berliner Lettrétage aus ihrem
des Landes BrandenManuskript liest, sind alle da: die
burg. Ihr erster Roman
wird 2016 bei KiepenFamilie, Freunde. „Ein toller
heuer & Witsch (Köln)
Abend.“ Anders aufregend der
erscheinen.
Auftritt im Rahmen der „Prosa
fühlte sich gut an.“ Es wird noch einiges Wasser den
Prognosen“ auf der Leipziger Buchmesse, drei Jahre
Rhein hinunterfließen – Lektoratsrunden, Titelspäter: Nach der Teilnahme an der Autorenwerkstatt
konferenz, die Wahl des richtigen Covers – bis das
des LCB bewegt sich Fürstenberg hier schon unterm
Debüt im Herbst 2016 erscheint. Nach fünf Jahren
Radar der Verlags-Scouts, die nach neuen Talenten
Arbeit am Text gewöhnt sich die Autorin gerade ans
Ausschau halten.
Gefühl des Loslassens. „Ein Roman schluckt jede
Menge Energie und lässt wenig Platz für andere
Unter Vermittlung des Literaturagenten Florian
Projekte. Für anderes Leben.“ In einem Jahr wird
Glässing (Landwehr & Cie) fällt die Wahl schließlich
Paula Fürstenberg ihr erstes Buch in Händen halten.
auf Kiepenheuer & Witsch. „Ich bin nach Köln
Ziemlich wahrscheinlich, dass sie dann schon am
gefahren, mit meiner Lektorin Sandra Heinrici und
zweiten schreibt.
Olaf Petersenn durch die Abteilungen gegangen: Das
bücherleben | ausgabe september 2015
23
Verlage
Gründet und mehret euch!
Start-ups und Buchbranche: Die Frage nach den Geschäftsmodellen von morgen
trifft einen Nerv. Wenn sich alte und neue Ökonomie auf der Leipziger Buchmesse
begegnen, geht es auch darum, gemeinsam schlauer zu werden.
Der Mann hat Mut: Zur Leipziger Buchmesse im
März präsentierte Robert Merkel sein Startup direkt
neben dem Weltkonzern Amazon. Nach zehn Jahren
bei der 20th Century Fox und Walt Disney hat der
gebürtige Leipziger mit einem alten Kindergartenkumpel, der jetzt als IT-Spezialist arbeitet, die eigene
Firma gegründet. Mit dem Digitalverlag frankly will
die Life Media AG zwar nicht das Rad neu erfinden,
aber immerhin einen Gegenentwurf zur amerikanischen Internet-Unternehmenskultur etablieren. Eine
Art „YouTube für Publishing mit angeschlossenem
iTunes-Store“, scherzt Merkel. Doch der Jungunternehmer meint es ernst. frankly ist Verlag, E-BookStore und soziales Netzwerk in einem. Die Tugenden
traditionellen Verlegens sollen mit den neuen technologischen Möglichkeiten in Einklang gebracht
werden – zum Nutzen von Autoren und Lesern.
„Wir waren zu jung, als Napster die Musikindustrie
revolutionierte“, meint Merkel selbstbewusst – für
das eigene Startup sei die alte Buchstadt genau der
richtige Ort. „Das Neue wird hier entstehen.“
Nicht nur auf der Messe oder den Berliner Buchtagen,
dem jährlichen Gipfeltreffen der Branche, fällt es ins
Auge: Die jungen Tüftler werden wahr- und ernst
genommen – auch von Büchermenschen, die mit der
hippen Gründerszene nicht per se verbandelt sind.
Alles ist möglich, Denken
mit Scheuklappen war gestern.
Kreativer Kopf: Robert Merkel
startet in Leipzig den Digitalverlag frankly.
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Frank Maleu, Gründer der E-Book-Boutique Minimore, tüftelt gemeinsam mit der Mainzer Agentur
bureau23 an einem Weg, wie sich E-Books einfach,
bücherleben | ausgabe september 2015
Thinktank: Der startup club des
Börsenvereins bringt junge Gründer und
klassische Verlagswelt zusammen.
sicher und ohne aufwendige technische Voraussetzungen lokal handeln lassen. Im Laden laden,
womöglich gleich bar bezahlen – warum eigentlich
nicht? Über die App des Berliner Start-ups MediaSpot können mit Hilfe der iBeacon-Technologie
E-Books, Hörbücher und Magazine an ausgewählten
Orten kostenlos gelesen und gehört werden, derzeit
wird das Angebot schon an rund 150 Orten der
Hauptstadt und in der Flotte von berlinlinienbus.de
genutzt. Nun wollen die Berliner auch das stationäre Sortiment für die Technik begeistern. Klaus
Rössler und Stefan Fischerländer, die Frankfurter
Gründer von bookvibes, schrauben derweil an
etwas, das sie gewitzt „Emotional Internet of
Things“ nennen. Eine App, die Emotionen aus
Büchern extrahiert: „Mit unserer Webanwendung
können wir die emotionale DNA jedes Buchs
bestimmen – und so ein Netzwerk aus Lesern,
Händlern und Autoren schaffen.“
bücherleben | ausgabe september 2015
Die Frage nach den Geschäftsmodellen von morgen
trifft ganz offensichtlich einen Nerv. So ging bookvibes die ersten Schritte in der vom Forum Zukunft
im Börsenverein und dem Arbeitskreis Elektronisches Publizieren (AKEP) gestarteten Initiative
protoTYPE. Ein Beispiel, das zeigt, wie zarte Projektpflänzchen zu ernsthaften Business-Ideen reifen
können. Über vier Jahre konnten Vor- und Quer-
Kostenlos lesen in der Buchhandlung vor Ort
oder im Linienbus: Daniel Schiebe und Claudio Preil
(MediaSpot) setzen auf iBeacon-Technologie.
25
denker der Buch- und Medienwelt hier ihre Ideen
jeweils sechs Monate lang bis zur Projektreife vorantreiben. Mit seinem im Sommer 2014 gegründeten
startup club möchte der Börsenverein jungen Unternehmen den Zugang zur Buchwelt erleichtern – und
ihnen zugleich als wichtige Partner Gehör verschaffen. Letztlich geht es um ein Umfeld, in dem sich
Start-ups gut aufgehoben fühlen – mit praktischen
Angeboten, die ihnen Kontakte, Werkzeuge und
Wissen an die Hand geben, nicht zuletzt auch darüber, wie die oft zu unrecht als konservativ gescholtene Branche tickt. Dorothee Werner, die als Leiterin
der Abteilung Unternehmensentwicklung im Börsenverein protoTYPE und den startup club verantwortet, arbeitet inzwischen mit jungen Gründern
und etablierten Unternehmen an der Weiterentwicklung dieser Bausteine. Entstehen soll eine Plattform, die innovationsrelevantes Wissen zur Verfügung stellt, potenzielle Kooperationspartner vernetzt, Kontakte zu Förderinstitutionen vermittelt,
kurz: handfesten Mehrwert für Start-ups und klassische Unternehmen bietet.
Startkapital: Volker
Oppmann (LOG.OS)
weiß, was junge
Gründer brauchen.
26
Günter Faltin, Buchautor und Professor für Entrepreneurship in Berlin, ist, logisch, ein Start-up-Fan.
Wobei er weniger die „schnellen Jungs“ im Auge hat,
die „beim Entry gleich an den Exit denken“.
Faltin rät Gründern, nicht auf
Wunder oder den Anruf vom
Großkonzern zu warten, sondern
auf die eigene Kreativität zu
bauen: „Wir sind das Kapital!“
Doch gilt nicht andererseits der gute alte Spruch:
Ohne Moos nix los? Seinen Verlag Onkel & Onkel
finanzierte Volker Oppmann 2007 privat. Bei seinem
ehrgeizigen Projekt LOG.OS, einer gemeinnützigen
E-Book-Plattform, ist nicht der schnelle Return-onInvest, sondern Idealismus gefragt. Was wohl für die
Buchbranche im Allgemeinen gilt: Die zu erwartenden Margen sind nicht so gewaltig, als dass VentureHeuschrecken magnetisch angezogen würden. Passen also Finanzinvestoren überhaupt in diese Landschaft? Wie findet man als Gründer private Kapitalgeber? „Das Klinkenputzen, die Suche nach den
passenden Partnern dauert“, meint Samuel Ju, der als
Student der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften
an der Entwicklung der E-Learning-Software BRAINYOO beteiligt war und Anfang 2012 zusammen mit
einem Freund die E-Learning-Plattform Repetico
gründete. „Das ist wertvolle Zeit, die in der kreativen
Arbeit fehlt.“ Ju hatte Glück: Jonathan Beck,
Geschäftsführer bei C. H. Beck, hat als privat agierender Business Angel die Gründung von Repetico
begleitet. Jens Klingelhöfer, der seine Firma bookwire
mit Hilfe branchenfremder Investoren gründete,
verweist auf die hierzulande prinzipiell schwierige
Finanzierungslandschaft: Entweder tropft der Geldhahn nur spärlich – oder er sprudelt überreich. EUProgramme sind zudem meist an eine Mindestkapitalquote gebunden – und damit für Firmen, die von
null starten, wenig hilfreich. Unternehmen in der
Frühphase hilft das sogenannte INVEST-Wagniskapital: Unter bestimmten Bedingungen können private
bücherleben | ausgabe september 2015
Geldgeber 20 Prozent ihres Investments als Zuschuss
erhalten – derzeit sind noch mehr als 100 Millionen
Euro aus dem Bundesprogramm abrufbar. Ebenso
entscheidend wie die Investmenthöhe ist allerdings
auch die richtige Chemie zwischen Start-up und
Geldgeber. Versteht der das Business nicht, in das er
einsteigt, kann das die „Hölle auf Rädern“ sein, warnt
Volker Oppmann: „Ein ausgemusterter Procter-&Gamble-Manager mag für Pampers funktionieren –
aber nicht für Bücher.“ Gesucht und rar: Risikobereite
Leute mit Stallgeruch, die auch branchenunerfahrenen Neulingen Türen öffnen.
Von der Lehramtsstudentin zur Sozialunternehmerin:
Lisa Eineter gründete das Start-up Schmökerkisten.
Auch für Lisa Eineter ist der Austausch mit anderen
Gründern, die Integration in bestehende Netzwerke
wichtig. In kaum zehn Jahren hat die Berlinerin mit
ihren Ex-Kommilitonen ein florierendes Bildungsunternehmen geschaffen, eben wagt sie die Ausgründung eines neuen Start-ups. Mit Schmökerkisten will
die studierte Mathe- und Deutschlehrerin Sprachförderung in den Fachunterricht bringen: „In unseren Kisten stecken keine Schulbücher, sondern Nachschlagewerke, Romane, Lexika, Spiele, DVDs oder
CD-ROMs, die bei den Schülern die Motivation für
ein Thema rauskitzeln können“, erklärt Eineter. Der
Bedarf ist da: 130 Schmökerkisten wurden in der im
Frühjahr 2014 gestarteten Pilotphase verkauft; im
August 2014 lief der deutschlandweite Vertrieb an.
bücherleben | ausgabe september 2015
Wenn Eineter in den SpeedDatings des startup clubs auf
etablierte Player trifft,
geht es nicht um den fixen Deal,
eher um Vernetzung.
Davon profitieren auch die klassischen Unternehmen
der Branche: Gelungene Beispiele wie Bastei Entertainment, Oettinger34 oder die digitalen UllsteinImprints Midnight und Forever zeigen, dass man
gelebte Start-up-Kultur nicht
nebenbei in die Old Economy verpf lanzen kann. Es braucht geschützte Räume, in denen das
Neue wachsen kann. „Grow or go
home!“, heißt es hemdsärmelig im
Silicon Valley. Doch ist es nicht
vielmehr so, dass alte und neue
Ökonomie voneinander lernen
müssen? Rita Bollig, bei Random
House verantwortlich fürs digitale
Geschäft, bringt es zwischen zwei
Leipziger Blitz-Dates auf den
Punkt: „Für uns ist es wichtig,
nicht im eigenen Saft zu schmoren. Die Vitalität, die Geschwindigkeit und Effizienz der jungen
Wilden sind enorm. Wenn dazu noch gut durchdachte Geschäftsideen kommen, sollte man als traditionelles Unternehmen schon genau hinschauen.“
»
Große Bühne für Gründer: Zur
Buchmesse im März 2016 werden
sich Start-ups und etablierte Player
aus der Buch- und Medienbranche
auf einer eigenen Plattform präsentieren. Ein innovatives Standbaukonzept erleichtert den Firmen den
Zugang zu Publikum und Fachbesuchern. Der Buchmarkt braucht
Innovationen – die Leipziger Buchmesse zeigt sie.
27
*Martina Hefter
Autorin & Performerin, Leipzig
28
bücherleben | ausgabe september 2015
MLBM0263
Auch Daniela Seel ist seit sieben
Jahren Stammgästin bei uns,
und ich sehe sie dann weniger
als Verlegerin und Dichterin,
sondern eben als Gast.*

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